Alfred Andersch

Alfred Andersch

Norman Ächtler (Hg.) Alfred Andersch Engagierte Autorschaft im Literatursystem der Bundesrepublik J.B. Metzler Verlag Der Herausgeber Norman Ächtler, Dr. phil., ist Literatur- und Medienwissenschaftler am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Die Publikation wurde finanziert durch die Martha Pulvermacher Stiftung. ® MIX Papier aus verantwor- tungsvollen Quellen ® www.fsc.org FSC C083411 Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-476-02638-5 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein- speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © 2016 J. B. Metzler Verlag GmbH, Stuttgart www.metzlerverlag.de [email protected] © Andersch Erben/Diogenes Verlag AG Zürich für die Texte von Alfred Andersch © Annette, Korolnik, Carona/Schweiz für die Bilder und Zeichnungen von Gisela Andersch sowie das Umschlagbild. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart (Foto: Annette Korolnik, Carona/Schweiz) Satz: pp030 – Produktionsbüro Heike Praetor, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany Inhalt Einleitung: Alfred Andersch – Engagierte Autorschaft im Literatursystem der Bundesrepublik Norman Ächtler 1 I Literatur und Engagement im Kontext Die Werkentwicklung des Autors Alfred Andersch: Der veränderte Engagement- Begriff im Spiegel medialer Bezüge Volker Wehdeking 43 Alfred Andersch – Literatur, das Politische betreffend Klaus R. Scherpe 60 Alfred Anderschs Die Kirschen der Freiheit: Literaturgeschichte im Plural Matthias Schöning 73 II Poetik der Beschreibung Die Entscheidung zum Abschied: Freiheit als Erfolg beim jungen Andersch Andreas Solbach 91 Zwischen Existenzialismus und Strukturalismus, Engagement und Degagement – Alfred Anderschs Poetik des Beschreibens Norman Ächtler 111 Gleichnishaftes Erleben – Alfred Anderschs metaphysische Topographien und die Hörspielästhetik der 1950er Jahre Christian Sieg 132 »Diese Unruhe ist es, die in den geglückten Reisebüchern tickt.« Alfred Anderschs Italien Joanna Jabłkowska 148 III Versuche der Aufarbeitung Realitätsreferenzen, inadäquate Erzähler und verantwortungsfreie Zonen: Zu Alfred Anderschs Roman Efraim im Kontext des Diskurses der Holocaust- und Lagerliteratur Sascha Feuchert 163 Alfred Anderschs Artikel 3 (3) – Über engagierte Lyrik, Metapher und Erinnerungs- kultur 1976 Joachim Jacob 178 VI Inhalt »Franz Kien bin ich selbst« – Alfred Anderschs Der Vater eines Mörders und die ›Rehabilitierung‹ des Rex Carsten Gansel 196 Vom Existenzialismus light zur verdeckten Selbstkritik. Biografie, Diskurs und Ästhetik bei Alfred Andersch Markus Joch 212 IV Medienpolitik und Intermedialität »Von der Zumutung höchster Ansprüche« – Die Rundfunkarbeit von Alfred Andersch am Beispiel des Frankfurter Abendstudios. Ein Bericht aus dem Rundfunkarchiv Hans Sarkowicz 231 Scrambling – Alfred Andersch und die Ästhetik der Maschinen Arndt Niebisch 252 Alfred Andersch, André Bazin, Film Janelle Blankenship / Tobias Nagl 269 »Sie macht etwas im Raum, ich in der Zeit.« Zum Künstlerpaar Gisela und Alfred Andersch Norman Ächtler / Peter Erismann 289 V Einflüsse und Einflussnahme Im »Niemandsland« der Literatur zwischen rechts und links. Zum Briefwechsel zwischen Alfred Andersch und Ernst Jünger Jan Robert Weber 313 Arno Schmidt / Alfred Andersch – Szenen einer Freundschaft Jan Philipp Reemtsma 332 VI Alfred Andersch: Texte und Dokumente 1. Ein erster Anlauf zum Sansibar-Stoff? Eine Landschaftsskizze des jungen Andersch: Anblick der Nordsee (Husum), 30.8.1943 339 2. Im Geist der »offenen Diskussion« – Anderschs Rundfunk-Konzept: Das Mitternachtsstudio (1948) 340 3. »Eine komplexe Bemühung des Werdens« – Andersch als Herausgeber der deutschen Nachkriegsliteratur: Sorgen eines Herausgebers (1953) 346 4. »Schwere Unterlassungssünden« – Andersch und die Gruppe 47: Betrifft: Die Gruppe 47 (1963) 354 5. Nachkriegsliteratur und antifaschistischer Widerstand – Andersch als Brückenbauer nach Italien: Die andere Achse (1964) 357 Inhalt VII 6. »Erzählen in kleinen und kleinsten Abschnitten« – Anderschs »pointillistische« Schreibweise: Disposition zu Winterspelt (1971) 359 7. »Auch in unserer fast totalen Bürokratie ist es noch die Person, die Einfluss nehmen kann.« – Andersch und die Berufsverbote: Dokumentation des Brief- wechsels mit Peter Glotz (1979/80) 362 Beiträgerinnen und Beiträger 369 Personenregister 371 Einleitung: Alfred Andersch – Engagierte Autorschaft im Literatursystem der Bundesrepublik Norman Ächtler 1. Alfred Andersch 100 – Vom Wandel eines Autorenbildes in der medialen Öffentlichkeit Als Alfred Andersch am 21. Februar 1980 nach langer Krankheit 66-jährig verstorben war, herrschte in der bundesrepublikanischen Publizistik weitgehende Einigkeit in der Würdigung seines Lebenswerks. Die Nachrufe befestigten durchweg die beiden Säulen, die das öffentliche Bild des Autors Alfred Andersch noch weit über seinen Tod hinaus tragen sollten: die Leistungen als Literaturvermittler und die Bedeutung als exponierter Vertreter einer gesellschaftskritischen littérature engagée im Mediensystem der Bundes- republik. An Andersch wurde gedacht als eine »Gründer- und Schlüsselfigur der deut- schen Nachkriegsliteratur«1, wobei sich das Epitheton des ›engagierten Autors‹ stets auf seine Doppelrolle bezog: »Wie kein anderer hat Alfred Andersch […] den Typus des engagierten Schriftstellers in der Bundesrepublik, ja im gesamten deutschsprachigen Raum verkörpert«, so Helmut Heißenbüttel.2 Selbst einer der schärfsten Andersch-Kri- tiker, Marcel Reich-Ranicki, fand sich in bester Übereinstimmung mit so unterschied- lichen Kommentatoren wie Joachim Kaiser, Armin Mohler oder Fritz J. Raddatz, als er in Bezug auf Anderschs Tätigkeit beim Rundfunk und als Herausgeber betonte: »Er war rund zehn Jahre lang einer der wichtigsten Organisatoren des literarischen Lebens in der Bundesrepublik […] und spielte hier wie da als Förderer junger deutscher Schriftsteller und als Mittler der noch unbekannten ausländischen Literatur eine außergewöhnliche Rolle.«3 Hinsichtlich von Anderschs Poetologie des literarischen Engagements formu- lierte Wolfram Schütte: »Das Einzigartige […] von Anderschs Werk bestand in der pro- vozierenden Behauptung und literarischen Praxis, wonach die strengste Vorstellung von künstlerischer Qualität und die radikalste Imagination von Politik sich nicht gegenseitig ausschließen. Ästhetik ist Widerstand.«4 Und Fritz J. Raddatz sekundierte in einer Postu- men Liebeserklärung: »[D]as ständig Anstößige an der Figur Alfred Anderschs war – daß nämlich Kunst ohne politisches Gewissen nicht auskommt.«5 Wie fest das Bild vom engagierten Autor und Literaturmanager in der medialen Öffentlichkeit noch bis in die 1 N.N.: Gestorben – Alfred Andersch, in: Der Spiegel (25.2.1980), S. 237. 2 Helmut Heißenbüttel: Meister der langen Wege, in: Stuttgarter Zeitung (23.2.1980); wiederabge- druckt in: Über Alfred Andersch, hg. von Gerd Haffmans, 3., vermehrte Neuausgabe, Zürich 1987, S. 266–268, Zitat: S. 267. 3 Marcel Reich-Ranicki: Der enttäuschte Revolutionär. Zum Tod des Schriftstellers Alfred An- dersch, in: FAZ (23.2.1980); wiederabgedruckt in ebd., S. 273–278, Zitat: S. 275. 4 Wolfram Schütte: Stolz und einsam, in: Frankfurter Rundschau (23.2.1980); wiederabgedruckt in ebd., S. 281–285, Zitat: S. 283 f. Vgl. ebenso positiv noch Ders.: Distanz & Nähe. Zum 80. Geburts- tag von Alfred Andersch, in: Frankfurter Rundschau (4.2.1994), S. 7. 5 Fritz J. Raddatz: Postume Liebeserklärung, in: Die Zeit (29.2.1980); wiederabgedruckt in: ebd., 2 Einleitung 1990er Jahre verankert war, zeigen die Jubiläumsbeiträge zum 75. (1989) und noch zum 80. Geburtstag (1994). Weiterhin wird Anderschs »Schlüsselrolle«6 bei der Förderung der deutschen Nachkriegsliteratur anerkannt ebenso wie seine »zentrale Intention, die gesellschaftliche Verantwortung von Literatur zu verteidigen, ohne ihren Anspruch als Kunst aufzugeben.«7 Unter die literarischen Texte, die als gültiger Kernbestand des Œuvres allgemein an- erkannt wurden, zählte zum einen Anderschs ›Bericht‹ über seine Desertion aus der Wehrmacht 1944 Die Kirschen der Freiheit (1952), den Reich-Ranicki angesichts seiner provokanten Wirkung innerhalb der Wiederaufrüstungsdebatte der frühen 1950er Jahre als »eine moralische und politische Tat, ja mehr noch: ein zeitgeschichtliches Ereignis« wertete.8 Zum anderen sind es die zum internationalen Bestseller avancierte Wider- standsparabel Sansibar oder der letzte Grund (1957) um die Rettung einer Jüdin und einer Barlach-Plastik kurz vor Kriegsbeginn sowie die ›Eine Schulgeschichte‹ untertitel- te, autobiografisch grundierte Erzählung Der Vater eines Mörders (1980), die Andersch noch kurz vor seinem Tod abgeschlossen hatte. Dass die beiden letzteren Erzähltexte als herausragende Beispiele der (west-)deutschen Nachkriegsliteratur gehandelt wurden, lässt sich an der festen Verankerung im Schulkanon über mehr als zwei Jahrzehnte hin- weg festmachen. Ihre Kanonisierung erfolgte mitunter deshalb, weil dort in besonderem Maße verhandelt scheint, was Erhard Schütz als das spezifische Merkmal

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