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Peter Utz Kultivierung der Katastrophe Literarische Untergangsszenarien aus der Schweiz Wilhelm Fink Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Umschlagabbildung: Friedrich Dürrenmatt: Die Katastrophe (1966). Öl mit Guache auf Papier. © Centre Dürrenmatt Neuchâtel / Schweizerische Eidgenossenschaft Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. © 2013 Wilhelm Fink Verlag, München (Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn E-Book-ISBN 978-3-8467-5458-0 ISBN der Printausgabe 978-3-7705-5458-4 Inhalt 1. Einleitung: Im Kaleidoskop der Katastrophen . 9 Die Katastrophen im Keller (9) – Die Katastrophe: ein kulturelles „Ereignis“ (10) – Der Beitrag der Literatur zur Kultivierung der Katastrophe – zehn Thesen (14) – Die schweizerische Katastrophenkultur und ihre literarischen Alpenapokalypsen (17) – Im Kaleidoskop der Katastrophen (20) 2. Wenn in der Schweiz die Welt untergeht – das Verhältnis von Lokalem und Universellem . 25 Einleitung (25) – Grenzüberschreitende Erschütterungen: die Schweiz, das Erd- beben von Lissabon und Pestalozzis Erdbebentraum (28) – Der Freiheitsheld als Katastrophenretter: Schillers „Wilhelm Tell“ (32) – Ein himmlisches Donnerwetter und sein irdischer Ort: Jeremias Gotthelfs „Die Wassernot im Emmental am 13. August 1837“ (37) – Adolf Wölflis weltumspannende Unglücksfälle (39) – Welt- schöpfung aus dem Nichts: Robert Walsers „Welt“ (42) – Die Flammenschrift als Film- skript: Blaise Cendrars’ „La fin du monde filmée par l’ange Notre-Dame“ (44) – Im Radio der spanische Bürgerkrieg: Akustische Weltöffnungen bei Charles Ferdinand Ramuz (47) – Expresszüge in den Untergang: Zollinger und Dürrenmatt (50) – Die Sterne und der Gestank: Universalisierung und Re-Lokalisierung im Spätwerk Dürrenmatts (53) – Ins schwarze Loch: katastrophische Mise en abîme des Theaters in Dürrenmatts „Dichterdämmerung“ (57) – Welt-Literatur aus der Schweiz: Max Frischs „Der Mensch erscheint im Holozän“ (60) 3. Der Kitt der Katastrophen . 65 Einleitung (65) – Der Bergsturz von Goldau 1806 – ein Gründungsereignis der schweizerischen Katastrophenkultur (69) – Einübung der Solidarität: die patrioti- sche Dividende der nationalen Sammelaktionen im 19. Jahrhundert (74) – Die „getreuen Schweizerherzen“ und ihr trüber „Bodensatz“: Gotthelfs ambivalente Diagnose der Katastrophensolidarität (77) – Gottfried Kellers ungeschriebene Kata- strophen (80) – Das Ende der Katastrophensolidarität, der Anfang einer neuen Ro- manform: „Présence de la mort“ von Charles Ferdinand Ramuz (82) – Der Einzelne in der Massenflut: Charles Ferdinand Ramuz’ „L’inondation“ und Regina Ull- manns „Hochwasser“ (83) – Einspruch gegen die Kameraderie der Katastrophe: Gio- vanni Orelli und Fabio Pusterla (87) 6 INHALT 4. Die Katastrophe im Blick. Literarische Betrachtungen zur Schweiz auf der Zuschauerbank . 93 Einleitung (93) – Thesen zur Dramaturgie der Zuschauerbank (95) – Beschaulicher Schiffbruch: die Dialektik von Idylle und Katastrophe im 18. Jahrhundert (96) – Helvetische Einübung des Zuschauens (98) – Die ferne Katastrophe am heimischen Himmel: der Ausbruch des Krakatau 1883 (100) – Carl Spittelers „Schweizerischer Standpunkt“ 1914 (101) – Im Gewitter der „Geistigen Landesverteidigung“: Albin Zollinger (103) – Max Frischs Standortsbestimmung 1945 (104) – Der Chor auf dem „Balcon sur l’Europe“ (107) – Thomas Hürlimanns Inszenierungen des Zu- schauens (110) 5. Silentium, Lawinengefahr! – die Katastrophendarstellung als Herausforderung von Bild und Text . 115 Einleitung (115) – Wie visualisiert man die Lawine? (118) – „Silentium“ – die Lawine als Ohrenkatastrophe (126) – Die Lawine im literarischen Augenzeugen- bericht (130) – Die Lawine als Kalenderblatt bei Johann Peter Hebel (131) – Die Lawine im alpinen Dorfroman von Margrit Schriber (134) – Im Redestrom der Lawine: Maurice Chappaz (136) – Die Lawine als Gleichnis und Geheimnis bei Adalbert Stifter (138) – Eine positive Katastrophe: Meinrad Inglins Novelle „Die Lawine“ (141) – Robert Walsers Epilog auf die helvetische Lawinenkultur (145) 6. Noahs Arche, die Sintflut und die alpine Insel . 149 Einleitung (149) – Scheuchzers aufgeklärte Arche (150) – Bodmers blasser Noah (153) – Gotthelfs grandiose Gründungsgeschichte der Schweiz (155) – Die felsige Friedens- insel im Ersten Weltkrieg und ihre Fehlfarben (156) – Flut ohne Arche: Ramuz (162) – Cendrars: Die Arche landet im Weltkompost (164) – Zollingers schlingernde Ar- chen (165) – Die „volle“ Flüchtlingsarche im Zweiten Weltkrieg (167) – Max Frischs gestrichene Sintfluten (168) – Prekäre Propheten: Die Noah-Figuren von Hugo Lo- etscher und Urs Widmer (171) – Eine Arche der virtuellen Welt: Hans Boeschs „Der Kiosk“ (174) – Christoph Geisers Aufbruch „Über Wasser“ (175) 7. Die Schweiz und ihre Brandstifter . 177 Einleitung (177) – Zündende Weltenbrände im lokalen Dialekt: Johann Peter Hebel und Mani Matter (179) – Gotthelfs feurige Fingerzeige und die Brandversi- cherungen (180) – Feuer in der alpinen Dorfidylle (183) – Der Funke und der Fort- schritt: J. C. Heer, Eduard Rod, Jakob Wiedmer (184) – Versicherte Unglücksfälle: Jakob Bosshart, Jakob Bührer, Charles Ferdinand Ramuz (187) – Dürrenmatts sa- tyrische Spiele mit dem Feuer (190) – Heimatlose Brandstifter: Frank Wedekinds „Der Brand von Egliswyl“ (192) – Robert Walsers zügelnde Flammen- schauspiele (193) – Brandstiftung als Zivilisationskritik: Meinrad Inglins „Grand INHALT 7 Hotel Exzelsior“ (195) – Friedrich Glausers „Katastrophensucht“ (197) – Frischs „Herr Biedermann und die Brandstifter“ und sein mehrfaches Nachzünden (200) 8. An der Demarkationslinie von Natur und Kultur . 205 Einleitung (205) – Schutz- oder Bannwälder: Helvetisches Gespräch über Bäume (207) – Gottfried Kellers visionärer Zorn (211) – Der geschlagene Baum, der geschla- gene Held: Jakob Bosshart, Meinrad Inglin, Jon Semadeni und Walter Kauer (213) – Das Glück im Schlamm: Silvia Andreas Erzählung „Die Rüfe“ (217) – Charles Ferdinand Ramuz: Die große Angst und die größere Stille in den Bergen (218) – Cécile Lauber: Stumme Natur und verschluckte Aktualität (222) – Der Rückzug der „Geistigen Landesverteidigung“ in die Gebirgsnatur (224) – Das Dilemma einer naturalisierten Geschichte: Kurt Guggenheims „Wir waren unser vier“ (226) – Aus- wege aus der alpinen Aporie (228) 9. Die große Unruhe im kleinen Land . 233 Einleitung (233) – Ein Bild erstarrter Unruhe: Gottfried Kellers „Der grüne Hein- rich“ (235) – Die unruhige Jahrhundertwende (237) – Schriftspuren der Unruhe bei Robert Walser (239) – Blitzableiter der Unruhe: Alfred Fankhausers „Die Brüder der Flamme“ (243) – Ein Epochenroman: Albin Zollingers „Die große Unruhe“ (244) – Otto F. Walters literarisches Soziogramm einer unruhigen Uhrmacherstadt (247) – Kurt Martis „Herzohr“ für die Katastrophenängste seiner Zeit (248) – Pflaster- steine und Bewegungsfreiheit: Reto Hännys Bericht über die Zürcher „Unruhen“ (251) – Unruhige Geologie: Emil Zopfi (253) – Anhaltende literarische Beunruhigun- gen (254) 10. Apokalyptische Autorschaft . 257 Einleitung (257) – Seismographen: Max Frisch, Kuno Raeber, Hermann Burger (259) – Propheten der Unglücks – unglückliche Propheten (263) – Weltschöpfer aus dem Untergang (269) – Ausbrüche der Kreation (273) Literaturverzeichnis . 277 Primärliteratur (277) – Sekundärliteratur (281) Nachweis der Abbildungen . 291 Index . 293 Dank . 297 1. Einleitung: Im Kaleidoskop der Katastrophen Die Katastrophen im Keller Katastrophen sind Teil jener Kultur, die sie bedrohen. Der Begriff der „Katastro- phe“ markiert die Grenzlinie zwischen der Natur und der Kultur, und er entsteht mit dieser Grenzziehung: Seit die menschliche Kulturarbeit die „Natur“ hinter Zäune und Dämme zurückdrängt, kann sie diese auch überschreiten. Seit der Mensch das Feuer nutzt, kann es auch sein Haus zerstören. Dies versteht er dann als „Katastrophe“. In ihr erfährt die Kultur nicht nur, wie fragil ihre innere Ord- nung ist, sondern auch, wie nahe ihr das bleibt, was sie ausgrenzt. In der Katastro- phe reißt die Außenhaut der Kultur. Diese Nähe fasst die Schweizer Autorin Gertrud Leutenegger in ihrem Roman Pomona (2004) in ein schlichtes Bild: Die Ich-Erzählerin steigt bei ihren Gedächt- nis-Exkursionen in den Keller ihrer Kindheit. Dort sind die Äpfel auf ausgelegten Zeitungen gelagert, die „Berner Rosen“ nebst vielen anderen einheimischen Sor- ten. Die Mutter vermeidet dabei, besonders bei den blass-dünnhäutigen „Klaräp- feln“, dass sie durch die Druckerschwärze verunreinigt würden. Deshalb wechselt sie die Zeitungsseiten aus, bringt „irgend ein Katastrophenbild mit zuviel Drucker- schwärze oder allzu fett gedrucktem Titel über die Weltlage“ zum Verschwinden. Sie verhindert damit, dass diese auf der Schale der Äpfel Spuren hinterlassen oder gar ins Fruchtfleisch

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