Blick Nach Süden

Blick Nach Süden

Corinna Jäger-Trees, Hubert Thüring (Hg.) Blick nach Süden Literarische Italienbilder aus der deutschsprachigen Schweiz chT Schweizer Texte Neue Folge Herausgegeben von Corinna Jäger-Trees (Bern) Dominik Müller (Genf) Mireille Schnyder (Zürich) Hellmut Thomke (Bern) Peter Utz (Lausanne) Christian von Zimmermann (Bern) Band 55 Blick nach Süden Literarische Italienbilder aus der deutschsprachigen Schweiz Herausgegeben und mit einer Einleitung von Corinna Jäger-Trees und Hubert Thüring Redaktionelle Mitarbeit: Louanne Burkhardt Die Veröffentlichung dieses Buches wurde vom Legat Hans Walter der Familien Marianne und Joseph A. Kurmann-Walter, Michael Kurmann, Erich und Käthi Walter-Egloff und Claudia Walter unterstützt. Weitere Informationen zum Forschungsprojekt, zu den behandelten Autorinnen und Autoren, ausführliche Angaben zu Primär- und Sekundärliteratur sowie zahlreiche Illustrationen finden sich unter www.blick-nach-süden.ch. Die Homepage wird mit neuen Erkenntnissen aktualisiert. Forschende sind eingeladen, Ergänzungen unter den dort angegebenen Mail-Adressen einzureichen. Weitere Informationen zum Verlagsprogramm: www.chronos-verlag.ch Umschlagbild: Gunter Böhmer, Idealvedute. Fondazione Ursula e Gunter Böhmer, Comune di Collina d’Oro / Montagnola. Nachlass Hans Walter, Schweizerisches Literaturarchiv (SLA), Bern. © 2019 Chronos Verlag, Zürich Print: ISBN 978-3-0340-1542-4 E-Book (PDF): DOI 10.33057/chronos.1542 Inhalt Einleitung Teil I: Forschungsbeiträge «Irdisches Vergnügen in Gott». Zwischen Mythos und Realität – Joseph Viktor Widmanns Italienreisen Corinna Jäger-Trees 39 «Es war Fremde, es war neue Welt und neue Luft» Grenzüberschreitungen in den Süden bei Hermann Hesse Christoph Gellner 57 «Ein […] Eidgenosse […] wird das Käppi lüften. Alle Achtung!» Heinrich Federers Beziehung zur italienischen Landschaft und Kultur, mit einigen Reflexionen zu seiner Rezeption im Faschismus Anna Fattori 75 Zerstörte Südlandträume nach dem Ersten Weltkrieg Jakob Christoph Heers Roman Heinrichs Romfahrt Dominik Müller 107 Auf nach Italien! Emmy Hennings’ Poetik des Reisefeuilletons Christa Baumberger 129 Verzeichnung des inneren Südens. Italien im Werk Otto Nebels Bettina Braun 141 Zeitverschiebungen. Ossip Kalenters Italien-Impressionen Lucas Marco Gisi 163 «[M]eine Italienreise an Hand alter Sachen». Hans Walter und das abgründige Souvenir aus dem Wunschland Julia Maas 181 Es führt kein Weg nach Rom. Ulrich Bechers Italien Ulrich Weber 197 – 5 – «Man soll nicht von einem ganzen Volk reden! Nun tue ich es doch: ich liebe das italienische». Zu Max Frischs Italienbild Annarosa Zweifel Azzone* 211 «Ich betrat Rom, und der Schleier zerriss» Italien im literarischen Werk von Kuno Raeber Christiane Wyrwa und Matthias Klein 227 Bildungsfluchten mit Bildungsgepäck Paul Nizons Italienreisen zwischen Literatur und Kunstgeschichte Pino Dietiker 241 Markus Werner: Zündels Abgang südwärts Zündel – ein Antiheld Stephan Oswald 261 «Unruhe des ersehnten Horizonts» Narrative des Südens in der Prosa von Gertrud Leutenegger Silvia Henke 273 Regen in Rom, Canzoni am Jurasüdfuss Literarischer Grenzverkehr zwischen der Deutschschweiz und Italien in den Werken von Dante Andrea Franzetti und Franco Supino Hubert Thüring 287 Spiegelungen in Urs Faes’ umbrischer Landschaft Urs Bugmann 323 Muttermythen: Urs Widmers Italianità Ulrich Weber 339 Teil II: Autorenbeiträge Im Gespräch mit Federico Fellini Dieter Bachmann 355 Kleines italienisches Wörterbuch Christina Viragh 373 – 6 – Der Emigrant blickt aus dem Norden zurück nach Süden Oder: Der Blick nach Süden, durchgespielt anhand einer Lektüre von Das Lachen der Schafe Francesco Micieli 383 Ein Chamäleon wie Zelig Erinnerung an Der Großvater (1985) Dante Andrea Franzetti 389 Blick nach Süden – Blick zurück! Franco Supino 395 Terzo, Quarto, Quinto Patric Marino 399 Dank – 7 – Italienkarte. ‹Italien von den Alpen bis Neapel, Handbuch für Reisende von Karl Baedeker, 1903.› Nachlass Henrich Federer / Sammlung Kindlimann, Schweizerisches Literaturarchiv, Bern. Einleitung Als Rector Müslin, der Held von Joseph Viktor Widmanns Reiseerzählung Rector Müslins italiänische Reise (1881), im «Schnellzug» in Rom einfährt und die «wirkliche Kuppel» des Petersdoms entdeckt, sagt er, um keinen «Allarm zu erregen, kein Wörtchen», aber es scheint, «als blinke eine Träne in seinem Auge».1 In der stillen Ergriffenheit durch das monumentale Rom klingt noch das wortreiche Pathos von Johann Wolfgang von Goethes Einzug in der «Hauptstadt der Welt» am 1. November 1786 nach.2 Kaum aus dem Bahnhof, sind Müslin und sein Reisebegleiter «gewissermaßen erstaunt, in dieser von unserer Phantasie längst geschauten Stadt das Leben und Treiben einer gewöhnlichen europäischen Großstadt anzutreffen».3 Sicher ist seitdem das Gewöhnliche der Welthauptstadt zunehmend in den literarischen Blick der europäischen Italienreisenden geraten und hat bisweilen, prominent in Rolf Dieter Brinkmanns Rom, Blicke (1979), ihren Glanz gänzlich verschluckt. Und die Fluten des Tourismus und der medialen Vermittlung haben das monumen- tale Rom längst selbst zu etwas Gewöhnlichem verwaschen. Wer, wie Dante Andrea Franzetti, im Jahr 2012 über Rom schreibt, muss sich daher nicht wundern, wenn die Leute, denen man erzählt, «man schreibe an einem Buch über Rom», einen entweder «angähnen» oder im «besten Fall» «bissig» meinen: «Ach, wie originell».4 Doch wie kaum einem Italien-Text der Gegenwart sonst gelingt es Franzetti mit dem Buch, Rom als einen Ort zu entdecken, an dem auch das Gewöhnliche selbst zu etwas Staunenswer- tem wird, welches das Monumentale nicht verdrängt, sondern neu zur Gel- tung bringt. Schon der Titel, Zurück nach Rom, stellt die Unzeitgemässheit selbstbewusst aus, während es sich dann aber vollkommen auf der Höhe der aktuellen «Gotham City»5 bewegt und die Tiefendimension der urbs aeterna doch zwanglos mitträgt. 1 Joseph Viktor Widmann, Rektor Müslin in Italien (1881), Basel u. a.: Rhein-Verlag, 1924, S. 146 f. 2 Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise (1816–1829), in: ders., Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hg. von Erich Trunz, München: Beck, 111994, Bd. 11, S. 125. 3 Widmann, Rektor Müslin in Italien (Anm. 1), S. 148. 4 Dante Andrea Franzetti, Zurück nach Rom, Basel: Lenos, 2012, S. 160. 5 Ebd., S. 9. – 9 – Hypothesen zu den Beziehungen Schweiz – Italien Fast hundertfünfzig Jahre trennen die literarischen Italien-Erfahrungen von Widmann (1842–1911), dem Theologen, Pädagogen, Schriftsteller und späteren einflussreichen Feuilletonredakteur von Der Bund, der seine erste Italienreise 1865 unternahm, und Franzetti (1959–2015), dem Sohn eines in die Schweiz immigrierten Italieners und einer Schweizerin, der nach dem Studium der Germanistik, Romanistik und Soziologie als Lehrer und in Rom als Journalist arbeitete und 2012 noch einmal literarisch nach Italien zurückkehrte. Dass sie damit die Epoche des 1861 politisch geeinten Italien umspannen, dass sie beide Deutschschweizer sind und dass in ihren Texten ein anderes Italien als dasjenige der dominanten Goethe-Tradition der (antiken) Kunst-, der Natur- und Selbst- erfahrung in den Blick gerät, markiert drei Koordinaten der Thesen, die den unter dem Titel Blick nach Süden versammelten Forschungen zugrunde liegen: Gibt es und welches sind die spezifischen Bedingungen und effektiven Beson- derheiten der deutschsprachigen Literatur der Schweiz zu Italien im Kontext der dominanten deutschen Tradition seit 1861? Wie wirken sich einerseits die ausgeprägten Züge der Goethe-Erfahrung und andererseits die besonderen his- torischen, geografischen, politischen und sozialen Nachbarschaftsbeziehungen mit der (noch jungen) Schweizer Demokratie auf die literarische Thematisierung, Performierung und Reflexion aus? Wie gestaltet sich dabei das Wechselverhältnis von Eigenem und Fremden mit zunehmendem interkulturellem Austausch? Es muss zum Vornherein klar sein, dass die Eigentümlichkeiten und Unter- schiede nicht in essenziellen Kategorien der kulturellen oder nationalen Iden- tität gefasst werden können. Vielmehr kann auch für den kleineren Zeitraum von der Gründung Italiens 1861 bis in die Gegenwart von breit gestreuten, je historisch, geografisch und biografisch geprägten und daher vielfältig gebro- chenen Blicken ausgegangen werden. Gleichwohl lassen sich, im Sinn einer unvollständigen Reihe von Hypothesen, ein paar gemeinsame Bedingungen nennen, die in den Texten der deutschschweizerischen Italienliteratur als Faktoren je in besonderer Weise produktiv werden können. Die Unterschiede zu den Bedingungen der nichtschweizerischen deutschsprachigen Länder und Regionen für den relevanten Zeitraum, als die moderne Konjunktur der Italien- reisen Schwung aufnahm, bis in die Gegenwart, sind nicht kategorial, sondern als Tendenzen aufzufassen, was in minderem Mass auch für die verschiedenen deutschsprachigen Regionen der Schweiz selbst gilt. 1. Die alte Eidgenossenschaft der Waldstätte pflegte aufgrund des Han- delsverkehrs über den Gotthard bereits ein Nachbarschaftsverhältnis zu den südlich des Gotthards befindlichen Gebieten. Seit dem 15. Jahrhundert wurde das Tessin, in verschiedene Vogteien gegliedert, von den eidgenössischen Orten – 10 – erobert und unterworfen, 1798 Teil der Helvetischen Republik und 1803 mit der Mediationsakte als eigentlicher Kanton Tessin verfassungsmässig begrün- det.6 Auf diese Weise stand die Schweiz nördlich der Alpen – abgesehen von den europäischen Pilger- und Bildungsreisen, an denen insbesondere die Schweizer der kulturellen Zentren (Städte, Klöster) teilnahmen – seit Jahrhunderten

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