Rück- und Ausblick Die DDR und Österreich waren durch die politischen Verhältnisse im Nachkriegseuropa gesellschaftlich wie ökonomisch sehr verschieden geprägt. Auf dem Sektor des Musik- theaters führte dies über lange Strecken zu diametralen Zielvorstellungen. In der Realität hatten beide Länder bei moderner Musik jedoch oft mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen. Das fundamentale Problem der Oper in den Jahren nach 1945 war die Frage nach ihrem Stellenwert in einer Gesellschaft, die vor allem mit der Besei tigung der Kriegsfol- gen, dem Wiederaufbau und der Erlangung eines gewissen materiellen Wohlstands be- schäftigt war. Die musikalische Avantgarde stieß bei vielen Menschen auf Desinteresse, ja unverhohlene Ablehnung. Auf der anderen Seite lehnten viele Vertreter der Avantgarde nach 1945 den gängigen Musikgeschmack des Publikums ab. Oper erschien ihnen als ein Relikt der Vergangenheit. Komponisten, die nach 1945 noch Opern schrieben, machten sich in den Augen mancher ihrer Zunftgenossen des Renegatentums verdächtig. Tatsäch- lich schien die Oper im klassischen Sinn an einem Punkt angelangt, an dem die Krise des gesamten Metiers nicht mehr zu verbergen war. »Die Konstatierung eines vollkommenen Bruchs zwischen dem traditionalistischen Publi- kum der Oper und ihrer gesellschaftlichen und musikalischen Situation trifft zu. Was heute noch an Opern für Opernhäuser geschrieben wird, scheint mir durchwegs ein Kompromiß, der zwar durch jene Situation vorgezeichnet, in sich selbst aber unmöglich ist.«1487 So fasste der Philosoph und Musiksoziologe Theodor W. Adorno 1968 das angespannte Verhältnis zwischen dem Opernoutput zeitgenössischer Komponisten und der Rezeption seitens des Publikums zusammen. Die Krise hatte seiner Ansicht nach einen soziolo- gischen Aspekt: » ... den der Krise des Bürgertums insgesamt, wie denn die Oper eine spezifisch bürgerliche Form war.«1488 Adorno wählte bei seiner Feststellung bereits zu diesem Zeitpunkt die Vergangenheitsform, denn diese Krise existierte in seinen Augen seit Jahrzehnten, was ihn zu dem Schluss brachte: »Offensichtlich hat die Opernform selber keinen richtigen Ort mehr … Die Diskrepanz zwi- schen wahrhaft aktueller Oper und Publikum ist innerhalb des Bestehenden kaum zu ver- ändern.«1489 1487 Adorno, Theodor W.: Zu einer Umfrage: Neue Oper und Publikum (1968), in: Musikalische Schriften VI, S. 494. 1488 Adorno, Theodor W.: Konzeption eines Wiener Operntheaters (1969), in: ebenda, S. 496. 1489 Adorno: Neue Oper, in: ebenda: S. 494. M. Kraus, Die musikalische Moderne an den Staatsopern von Berlin und Wien 1945–1989, DOI 10.1007/978-3-476-04353-5, © Springer-Verlag GmbH Deutschland, 2017 Rück- und Ausblick 483 Konsequenterweise solidarisierte Adorno sich mit dem Diktum von Pierre Boulez, der kurz zuvor – metaphorisch – dafür plädiert hatte, die Opernhäuser in die Luft zu spren- gen. Dass die in seinen Augen letzten bedeutenden Opernwerke, Schönbergs »Moses und Aron« und Bergs »Lulu«, Fragmente geblieben waren, sah Adorno als symptomatisch für das gesamte Genre und dessen Verfall an. Adornos mitunter apodiktische Thesen sind heutzutage umstritten. Er war jedoch unzweifelhaft ein luzider Beobachter und analytischer Kritiker seiner Zeit, der überdies dem Medium Oper prinzipiell wohlwollend gegenüberstand. Dennoch konnte er gegen Ende seines Lebens – er starb 1969 – seine Enttäuschung und gleichzeitig auch seine Ratlosigkeit darüber nicht verbergen, dass die Oper in ihrer traditionellen Form sich nicht mehr weiter entwickelte, sondern an einen Punkt gelangt war, der seiner Ansicht nach final war. Ähnlich skeptisch hatte sich bereits 1950 Bertolt Brecht gezeigt. Seiner Meinung nach war der »Rosenkavalier« von Richard Strauss (1911) die letzte unbestreit- bar erfolgreiche deutsche Oper. Und Brecht gab dem Publikum Recht: »das publikum kommt aus mit den älteren werken. Ich versuche zu argumentieren, daß diese eben die alte funktion der oper besser erfüllen und eine neue funktion nicht gefunden worden ist. Die opern des revolutionären bürgertums (DON JUAN, ZAUBERFLÖTE, FIGARO, FIDELIO) waren aufrührerisch; es gibt keine anstrengung der oper in solcher richtung nach 1912.«1490 Die Berliner und die Wiener Staatsoper schlugen nach 1945 anfangs ähnliche Wege ein, um die generelle Misere der modernen Oper möglichst zu verdecken. Beide Instituti- onen konzentrierten ihren Spielplan auf das klassische Repertoire, das angesichts der zerstörten Infrastruktur beider Häuser völlig neu aufgebaut werden musste. Moderne Werke standen nach der Wiederaufnahme des Spielbetriebs an beiden Häusern fürs Erste nicht auf dem Spielplan. Erst mit Hindemiths »Mathis der Maler« (1948) und Einems »Dantons Tod« (1949) kamen in Berlin zwei moderne Opernwerke von Bedeutung auf die Bühne, deren Aufführung auch als Zeichen gedacht war, dass die Kunstdogmen des Nationalsozialismus endgültig der Vergangenheit angehörten. Es sollte sich allerdings rasch zeigen, dass das Zeitalter der Kunstdogmen mit dem Ende des Faschismus im Os- ten Deutschlands keineswegs vorbei war. In Wien war die Situation insofern anders, als man anfangs kulturpolitisch vor al- lem eine starke Abgrenzung gegenüber Deutschland betrieb und dafür einen Öster- reich-Mythos »erfand«, an dessen Legende das gesamte politische Spektrum des Landes von katholischer Seite (Friedrich Funder) bis hin zu den Kommunisten (Ernst Fischer) strickte. Diesen kulturellen »nation building«-Prozess versuchte der komponierende Staatsoperndirektor Franz Salmhofer vor allem mit eigenen, spezifisch österreichisch gehaltenen Kunstprodukten zu befriedigen. Damit erzielte er in Wien einen ungleich größeren Erfolg beim Publikum als sein junger Komponistenkollege Gottfried von Ei- nem mit »Dantons Tod«, den die Staatsoper dank der Initiative Egon Hilberts 1947 von den Salzburger Festspielen übernahm. Beide, Salmhofer wie Hilbert, hatten divergie- rende Vorstellungen von einer modernen österreichischen Kultur. Was sie jedoch einte, war das Narrativ von der gloriosen Vergangenheit der ehemaligen Kaiserstadt Wien mit 1490 Brecht: Arbeitsjournal (29.4.1950) Bd. 2, S. 922 Immerhin bemühte sich Brecht zur gleichen Zeit gemeinsam mit Paul Dessau mit dem »Lukullus« um eine neue, proletarische Opernform. 484 Rück- und Ausblick Österreich als legitimem kulturellen Erben des gesamten Habsburgerreiches, welches die recht dürftig anmutende Nachkriegsgegenwart des Landes zu verdecken half. Das öster- reichische Kulturleben stellte sich ganz in den Dienst des eindringlichen Appells Leopold Figls in seiner Weihnachtsansprache 1945: »Glaubt an dieses Österreich!« Der »Glaube« sollte für Jahre das Zentrum österreichischer Kulturpolitik bleiben. Der Aspekt des »nation-building« erhielt für die Deutsche Staatsoper erst ab 1949 verstärkte Bedeutung. Der Bildungs- und Kultursektor wurde nach Gründung der DDR völlig umgestaltet, mit dem Ehrgeiz, sich auf kultureller Ebene als das »bessere« Deutsch- land zu gerieren. Die Absetzung von »Dantons Tod« durch die Sowjetische Militär- administration machte deutlich, dass die Zeiten einer gewissen Liberalität in Kunstfragen, wie sie in den ersten Jahren nach 1945 geherrscht hatten, der Vergangenheit angehörten. Als staatliche Institution wurde die Staatsoper immer mehr zum kulturellen Aushänge- schild der DDR, gleichzeitig aber auch zum Erfüllungsgehilfen und Befehlsempfänger staatlicher Kulturpolitik. Bei den Ereignissen rund um die Uraufführung von »Das Verhör des Lukullus« 1951 machte die politische Führung erstmals deutlich, was sie unter staatskonformer Kunst verstand, und welche Mittel sie gegen Werke einsetzte, die ihren Vorstellungen nicht ent- sprachen. Allerdings zeigten die Ereignisse rund um »Lukullus« auch, welch hohe ideolo- gische Relevanz man kulturellen Fragen in der DDR einräumte. Brecht und Dessau beug- ten sich dem Kunstverstand der in diesen Fragen eindeutig kleinbürgerlich denkenden Staatsführung. Sie taten es in der Überzeugung, damit dem Sozialismus zu dienen. Dass ausgerechnet dieser neue »Lukullus« langfristig zu einem regelrechten Nationalwerk der DDR – dem einzigen auf dem Gebiet der Oper – werden sollte, wurde ihm bei seiner schweren Geburt wahrlich nicht gesungen. Dies zeigt aber auch deutlich einen generellen Mechanismus: kritische Kunstwerke werden nach anfänglich vehementer Ablehnung im Laufe der Zeit sehr oft zu kulturellen Meilensteinen, ja nachgerade zu identitätsstiftenden nationalen Erinnerungsorten erhoben. In Österreich hatte nicht die Arbeiterklasse das Sagen auf dem staatlichen Kultur- sektor, sondern wohlbestallte Beamte unter Führung von ÖVP-Ministern; sie taten dies in traditionell-kameralistischer Manier. Dementsprechend war auch der Spielplan der Staatsoper getragen von der Vorstellung einer Kunst, die dem Publikum geistige Erhe- bung und Unterhaltung auf Basis abendländischer Werte bieten sollte. Die Bühne wurde dabei gerne zum spirituellen Raum stilisiert, in dem mit Vorliebe »Welttheater« geboten wurde. Bei modernen Werken dominierten christlich gefärbte Themen sowie biblische und antike Mythen; auch Klassisches oder Historisch-Volkstümliches erfreute sich gro- ßer Beliebtheit. Diese »Wende zum Geistigen« sah der Musik- und Kulturwissenschaftler Andreas Liess 1956 in einem Essay für die »Blätter der Wiener Staatsoper« als Zeichen der Zeit. Das innere Zentrum, so postulierte er, »… auf das sich alles bezieht, enthüllt sich als ein sakrales. Es ist eben die re-ligio, die Rück- bindung der Dinge und allen Geschehens, die nach dem Fall des einseitigen cartesianischen Menschen unserem Blick wieder sichtbar wird.«1491
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