
DOI 10.6094/helden.heroes.heros/2015/01/05 Alice Spinelli 37 Der Antiheld Astolfo und die Entheroisierung der Ritterepik zwischen Mittelalter und Renaissance* 1. Der theoretische Rahmen: Auch lässt die polysemische griechische Präpo- ein heuristischer Vorschlag zur sition ,antí‘ per se mehrere Artikulationsformen dieser charakterbestimmenden Gegensätzlich- Definition des Antihelden keit zu. Zugunsten der theoretischen Synthese reduziere ich die Problematik auf zwei grund- Wer der Frage nachgehen will, was genau im sätzliche Deutungsoptionen – obwohl es nahe- diachron sich wandelnden und transnational liegt, dass sich in der literarischen Praxis facet- ausgeweiteten Gattungsbereich der Ritterepen tenreichere Beispiele finden, die über die hier und -romane einen Antihelden ausmacht, unter- vorgeschlagene Klassifizierung hinausgehen. nimmt in vieler Hinsicht ein ambitioniertes For- Das Präfix ‚Anti-‘ markiert entweder eine ‚quali- schungswagnis. Die Schwierigkeit eines solchen tative Opposition‘, d. h. die Umkehrung positiver Unterfangens resultiert nicht nur daraus, dass Eigenschaften zu ihren negativen Pendants – sich die Sekundärliteratur zur Antiheldentheo- was eine Art ,dämonische‘ Übergröße gar nicht rie – soweit ich weiß – kaum mit dieser Tradition ausschließt; oder der Gegensatz wird als ‚quan- 1 auseinandergesetzt hat. Hinzu kommt das me- titative Privation‘ aufgefasst, d. h. als Mangel thodologische Grundproblem, dass sich das he- an jenen positiven Eigenschaften, die in einem roische Wertegerüst der mittelalterlichen ‚Chan- kulturhistorisch spezifischen Referenzrahmen sons de Geste‘ und der aus der Hybridisierung zu erwarten wären – was eine Skalierung ,in mi- von karolingischem Versepos und höfischem nore‘ der handelnden Gestalt notwendigerweise Roman entstandenen frühneuzeitlichen ,poemi voraussetzt. Da wir für die erste der beiden Rea- 2 epico-cavallereschi‘ keineswegs auf einen ein- lisationsformen des Antiheroischen bereits über heitlichen Tugendkatalog zurückführen lässt. die Bezeichnung ,Antagonist‘ bzw. ,Bösewicht‘ Ganz im Gegensatz zur Vorstellung eines mani- verfügen,3 halte ich es in dem vorliegenden Zu- chäischen Repertoires fester Verhaltensmuster sammenhang für definitorisch produktiver, unter hat sich das epische Ritterethos der Dynamik der Kategorie des episch-ritterlichen Antihelden der [Kultur-]Geschichte und der Weltanschau- lediglich den letzteren Figurentypus zu verste- ungen nicht entziehen können. Mit den Worten hen – „the man who is given the vocation of fail- von Jean-Claude Vallecalle, der sich mit dem ure“ (Cuddon 46).4 Thema der Heldenkonstruktion in den französi- Das Defizit an hervorragenden Qualitäten, schen und franko-italienischen Roland-Epen be- das den Antihelden den Anforderungen seiner schäftigt hat: „Rien n’est plus fragile, malgré les Gesellschaft sowie deren Verhaltenskodex nicht apparences, que l’heroïsme épique“ (Vallecalle gerecht werden lässt und ihn dadurch zum steti- 1423). Überdies bestimmen ethische Aporien gen Scheitern verurteilt, impliziert nicht zwangs- [vor allem die komplizierte Ausbalancierung von weise eine komische Tonlage – man denke nur ‚fortitudo‘ und ‚sapientia‘] das Kriegsverhalten an die ,Nichtsnutze‘ bzw. die ‚Taugenichtse‘ der von Roland selbst, dem ‚miles Christi‘ par ex- Moderne. Allerdings lässt sich de facto beobach- cellence, bis zum kathartischen Selbstopfer bei ten, dass in der Ritterliteratur des Mittelalters und Roncesvalles. Je problematischer der affirmati- der Frührenaissance die Misserfolge antiheroi- ve Gegenpol der Antithese, desto schwerer fällt scher Handlungsfiguren normalerweise komisch die Aufgabe, den komplementären Begriff des konnotiert sind.5 Da die literarische Komik eine ,Antihelden‘ zu fassen – ein Begriff, der gerade sehr heterogene Phänomenologie kennt [ihr aufgrund seiner nur relationalen Definierbarkeit Wirkungsspektrum reicht von der Ironie bis zur ex negativo einen festen dialektischen Anker- Parodie, vom Lächeln bis zum Lachen], bedarf punkt benötigt. es hier jedoch weiterer Ausdifferenzierungen, helden. heroes. héros. Alice Spinelli 38 um das Untersuchungsfeld meines Beitrags sogenannten heroisch-komischen Tradition. Da- zu beschränken. Dazu berufe ich mich auf ein rin spielen die grotesken Spezifika einer ,bachtin- Unterscheidungspaar, das Jauss im Anschluss ianischen‘ ,verkehrten Welt‘ und eine sprachlich an Baudelaire und Freud formuliert hat. Jauss zugespitzte Drastik die maßgebliche Rolle. Auf zufolge kann man in der abendländischen Lite- der anderen Seite findet sich eine auf höchs- raturgeschichte zwei differente Ausprägungen tem Kunstniveau von Matteo Maria Boiardo und des „komischen Helden“ erkennen:6 zum einen Ariost vertretene Filiation, die im Gegensatz dazu den „grotesken Helden“ (Jauss 109), bei dem die skurrilen und burlesken Elemente [wenn das Komische „der Heraufsetzung des materi- es solche überhaupt gibt] zwar nicht überwie- ell Leiblichen der menschlichen Natur“ (Jauss gen lässt, doch in die ritterliche Welt idealitäts- 104) – exemplarisch bei Rabelais – entspringt störende Handlungsfiguren mit ,gegenbildlich‘- und seitens des Lesers in der „distanzaufhe- komischen Verhaltensweisen einführt. benden Partizipation“ des „Lachens mit“ (Jauss Auf diesem zweiten Gattungsstrang, in dem 107) resultiert; zum anderen den „unheroischen das eingangs entworfene Antiheldenmuster mit Helden“ (Jauss 108–109), bei dem die Komik der Figur Astolfo ganz plastisch in Erscheinung durch „die Herabsetzung eines Helden aus er- tritt, liegt der Schwerpunkt meiner Kurzanaly- warteter Vollkommenheit und vorgegebener Ide- se. Unberücksichtigt bleibt also die erste Text- alität“ (Jauss 104) entsteht: „Der komische Held gruppe, auch wenn ihre Exponenten [v. a. Pulcis ist nicht an sich selbst, sondern vor einem Hori- Morgante] im engen intertextuellen Verhältnis zont bestimmter Erwartungen, mithin im Hinblick zu der ‚cantari‘-Tradition sowie mit Boiardos In- darauf komisch, daß er diese Erwartungen oder amoramento de Orlando stehen. Allerdings lässt Normen negiert“ (Jauss 105). Wirkungsästhe- sich eine derartige Einschränkung auch dadurch tisch erzeugt diese „Komik der Gegenbildlich- rechtfertigen, dass die hyperbolische Hetero- keit“ (Jauss 105) ein „Lachen über“ (Jauss 107), doxie des Karnevalesken einen nur vorläufigen das meistens ein distanzschaffendes Überlegen- Tabu bruch darstellt und deswegen paradoxer- heitsgefühl des Rezipienten ausdrückt. weise ein relativ geringes gattungsinternes In- Offensichtlich passt letzterer Figurenentwurf novationspotenzial besitzt.8 Über die weniger am besten zu der oben umrissenen Definition extreme, dennoch graduell an Bedeutung ge- des Antihelden als eines dem sozialen Standard winnende Unkonventionalität komisch-antiheroi- nicht gewachsenen ,hässlichen Entleins‘. Bei scher Außenseiter der ,Gegenbildlichkeit‘ kommt dem ,grotesken Helden‘ wird indessen der Man- hingegen ein irreversibler Unterminierungspro- gel an nobilitierenden Merkmalen und Fertigkei- zess zustande, der das Fiktionsuniversum der ten durch ein Übermaß kreatürlicher Eigentüm- legendären Ritter ohne Furcht und Tadel seines lichkeiten sowie durch ludisch-hedonistische, überlegenen Stellenwertes nach und nach be- hemmungslose Ausschweifungen und ‚exploits‘ raubt und es letztendlich von innen auflöst. konterkariert und in den Hintergrund gerückt. Gleichwohl ließe sich die von Jauss festge- stellte Opposition in der Praxis der gattungs- historischen Beschreibung nuancieren: So 2. ‚Nomen‘ – ‚omen‘: weisen viele Protagonisten des von Jauss der Wortgeschichte und Figurengenese ‚Komik der Gegenbildlichkeit‘ zugeschriebenen Travestie-Genres, z. B. in den dialektalen Tas- In der Hoffnung, mit diesen Abgrenzungen die so-Parodien des italienischen Barock, deutlich konzeptionelle Ausrichtung meiner exemplari- derb-groteske Züge auf [Lust am übertriebenen schen Untersuchung hinreichend klar gemacht zu Trinken und Essen; eine alles bestimmende Kör- haben, wende ich mich der fiktionalen Ritter figur perlichkeit, die gerne ein triviales Imaginarium Astolfo und ihrer literaturhistorischen Entwick- skatologischer und sexueller Allusionen mit sich lung zu.9 Schon Astolfos Name lohnt eine nähe- bringt]. Ich möchte daher vorschlagen, die Po- re Betrachtung: Denn ‚am Anfang war das Wort‘, larität zwischen ,grotesker‘ und ,gegenbildlicher‘ könnte man wohl im [ganz profanen] Bezug auf [Anti-]Helden-Komik in eine skalierbare, dem seine literarische Genese feststellen. Dominanzkriterium unterworfene Relation zu Der ursprünglich langobardische Eigen name überführen.7 Davon ausgehend kann man zwei ‚Aistulf‘ [lat. ‚Astolfus‘, it. ‚Astolfo‘] wandelte sich parallel wirkende Haupttendenzen der Dehero- im Altfranzösischen zu ‚Estout‘.10 Daraus ent- isierung des epischen Ritters in der italienischen stand eine homophonische Interferenz mit dem Renaissanceliteratur beschreiben. Auf der einen Adjektiv ‚estout‘, „téméraire, présomptueux, in- Seite lässt sich eine ,karnevaleske‘ Gattungs- sensé“ (Godefroy 631); und der Gleichklang linie ausmachen, von Luigi Pulcis Morgante führte zu einem semantischen Kurzschluss. Die- über Teofilo Folengos makkaronische Schel- ser ist zwar etymologisch unbegründet [das Ad- mendichtungen bis zu Alessandro Tassonis La jektiv stammt vermutlich aus dem germanischen secchia rapita als Stamm- und Hauptwerk der ‚stolt‘, dt. ‚stolz‘, eventuell gekreuzt mit dem lt. helden. heroes. héros. Der Antiheld Astolfo und die Entheroisierung der Ritterepik ‚stultus‘, ‚dumm‘], hatte aber die automatische nicht näher charakterisiert, geschweige
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