DIE ERGEBNISSE DER UNTERSUCHUNG Die vorliegende Untersuchung hat sich die Aufgabe gestellt, einen Beitrag zum Pro­ zeß des Wandels einer totalitär zu einer autoritär verfaßten Gesellschaft zu geben. Sie ist von der Absicht geleitet, empirisch erschlossenes Material einmal als solches auszu­ breiten, das heißt gesellschaftliche Strukturen und Prozesse realsoziologisch zu be­ schreiben. Zum anderen ist das empirische Material in einen Deutungszusammenhang gestellt worden, das heißt, es ist systematisch gegliedert, in korrelierbare Daten und Merkmale umgeformt und in ein Bezugssystem eingeordnet worden. über den bloßen Aufweis von Fakten soll diese Studie damit ebenso hinausgehen, wie beabsichtigt ist, in der Sowjet- und insbesondere in der DDR-Forschung bisweilen anzutreffende, empi­ risch nicht genügend abgesicherte Spekulationen zu vermeiden. Der damit beschrittene theoretische und methodische Weg ist als »kritisch-positiv« be­ zeichnet worden. Mit einer solchen Charakterisierung soll zum Ausdruck gebracht werden, daß es das Anliegen der vorliegenden Analyse eines autoritären Systems ist, über einen Teilbereich der Gesellschaft die realgesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Struktur und in ihren Tendenzen aufzuspüren und zu berücksichtigen. Darüber hinaus soll der Deutung dieser Wirklichkeit durch die in ihr selbst verwurzelten Denker Raum gegeben werden. Schließlich ist der Versuch unternommen worden, die Einzelanalysen in einen die marxistisch-leninistische Gesellschaftslehre berücksichtigenden Bezugsrah­ men einzuordnen. Vorstellung und Begriff des Konflikts beziehungsweise des »Wider­ spruchs«, der »Abweichung« sind damit in das Zentrum der Untersuchung gerückt: Unter der Voraussetzung, daß jede Industriegesellschaft stets ein konfliktdurchzogenes Ganzes, daß eine sich wandelnde, ehemals totalitär verfaßte Gesellschaft in besonders starkem Maße ein solches, von konfligierenden Interessen durchherrschtes Ganzes dar­ stellt, scheint es geboten, Konflikte und Differenzierungen sowohl im real gesellschaft­ lichen als auch im ideologischen Raum zunächst einmal möglichst gen au zu beschreiben. Einzelne realgesellschaftliche Strukturen und Konfliktlagen sind begrifflich erfaßt worden. Dem Typus der großgesellschaftlichen Organisation der SED, die ihrerseits von bestimmten Bedingungen der Industriegesellschaft geprägt wird, steht die aus den politischen Geheimbünden des 18. und 19. Jahrhunderts erwachsene Parteiorganisa­ tion gegenüber; unter soziologischem Aspekt sind die Sub gruppen der institutionali­ sierten Gegenelite, die Parteifachleute und die revisionistischen Ideologen, von den Vertretern der strategischen Clique zu unterscheiden; im ideologischen Bereich ist das ideologische Dogma dem institutionalisierten Revisionismus in seinen verschiedenen Ausprägungen konfrontiert. Das gegenwärtig erreichte Stadium des geistigen und sozialen Wandels der DDR­ Gesellschaft beziehungsweise der SED-Führungsgremien ist hier, unter Zuhilfenahme eines von Likert und A. G. Meyer entwickelten Kontinuums, mit dem Begriff »kon­ sultativer Autoritarismus« charakterisiert worden: Eine autoritäre politische Entschei­ dungselite ist, im Gegensatz zur totalitären Elite, unter den Bedingungen der tech­ nischen Zivilisation gehalten, immer wieder und immer mehr Fachleute heranzu­ ziehen, um die komplizierten Zusammenhänge einer industriellen Gesellschaft noch analysieren zu können, um mit Informationen versorgt zu werden und um die Kon- Die Ergebnisse der Untersuchung 325 trolle über dieses System nicht zu verlieren. Eine konsultativ-autoritäre Entschei­ dungselite ist jedoch, im Vergleich mit dem partizipativen Typ der autoritären Elite, nur zögernd bereit, sich demokratischer Partizipation zu öffnen. Die vorliegende Untersuchung und der in ihr enthaltene Deutungsversuch ist auf einen Teilbereich der DDR-Gesellschaft bezogen. Sie weist darüber hinaus auf die Dialektik von Dynamik und Beharrung innerhalb des ganzen Systems hin. Die möglicherweise auf totalen Umsturz der etablierten Herrschaft zielenden Kräfte, die in der DDR­ Gesellschaft wie in jedem anderen Sozialsystem ebenfalls vertreten sein mögen, sind in dieser Studie nicht berücksichtigt worden - und dies nicht nur aus methodischen Gründen; denn die vorliegende Arbeit scheint einen Nachweis dafür erbracht zu haben, daß die DDR-Gesellschaft in zunehmendem Maße als ein sich im Prozeß des Wandels sozial stabilisierendes System angesehen werden kann. Eine realsoziologische Analyse des Widerstandes gegen ein autoritäres Herrschaftssystem, wie sie für historische Formen totalitärer Herrschaft ihre Berechtigung hat, ist deshalb in dieser Studie nicht durchgeführt worden. Nach diesen allgemein-resümierenden Bemerkungen seien noch einmal einige Einzel­ ergebnisse der vorliegenden Untersuchung in Erinnerung gebracht: Im organisationspolitischen Bereich, im Zuge der Analyse ausgewählter Organe des Parteiapparates der SED, konnte seit den Jahren 1962/63 eine Verlagerung der leitenden Prinzipien vom Politischen zum Gesellschafts- und Wirtschafts­ politischen hin beobachtet werden. Dieser Wandel im Organisationssystem der SED kommt einmal in der Einrichtung der zentralen wie der regionalen Büros für Industrie und Bauwesen zum Ausdruck. Wenn auch ihr Tätigkeitsbereich bereits im Jahre 1964 wieder eingeschränkt und die Büros und Kommissionen im Laufe des Jahres 1966 ganz aufgelöst worden sind, ist mit ihrer Installierung im Parteiapparat doch die übernahme exekutiver Funktionen im wirtschafts­ und gesellschafts politischen Raum durch Parteifachleute eingeleitet worden. Durch die zahlreichen »operativ« zu lösenden Aufgaben der Büros ist zudem funktionale Autorität (im Sinne Heinz Hartmanns) und damit eine steigende Mobilität auch in das Organisationssystem der SED eingedrungen. Ein weiterer Nachweis der Umstrukturierungen innerhalb des Parteiapparates im oben gekennzeichneten Sinne konnte durch die Analyse des Zentralkomitees der SED gegeben werden. Das »höchste Gremium der Partei zwischen den Partei­ tagen«, das jahrelang als Akklamations- und Deklamationsgremium fungiert hat, wandelt sich gegenwärtig mehr und mehr zu einem fachbezogenen Koordina­ tions- und Transformationsgremium, in dem Beschlüsse des Politbüros im Kreis von Parteifunktionären und (Partei-)Fachleuten sachlich diskutiert und für die Weiterleitung »nach unten« vorbereitet werden. Die Analyse des Zentralkomi­ tees der SED scheint damit realgesellschaftliche Merkmale der im 1. Kapitel die­ ser Arbeit aufgewiesenen Organisationsform des »konsultativen Autoritarismus« bestätigt Zu haben. - Die strategische Führungsgruppe der SED hat nichts unversucht gelassen, den zwar von ihr selbst initiierten, dann jedoch in zunehmendem Maße eigene Schwerkraft gewinnenden Prozeß der Umgestaltung des Parteiapparates zur großgesellschaftlichen Organisation zu kontrollieren, wenn nicht zum Teil wie­ der rückgängig zu machen. Die Einrichtung der Arbeiter-und-Bauern-Inspektio­ nen, der Produktionskomitees, der Kontrollorgane vor allem innerhalb des Büros für Industrie und Bauwesen und schließlich die zeitweilige Aufwertung der Ideo­ logischen Kommission sind in diesem Zusammenhang ebenso zu betonen wie die Auflösung der Büros und Kommissionen. - Der aufgezeichnete Prozeß des Wandels in der Parteiorganisation wird vor 326 Die Ergebnisse der Untersucbung allem in der vergleichenden Analyse der sozialstrukturellen Zusammensetzung der Zentralkomitees der SED in den Jahren von 1954 bis 1963 manifest. Dabei ist in erster Linie die Zusammensetzung des Zentralkomitees nach Alter, nach dem Schul- beziehungsweise dem Ausbildungsabschluß, dem erlernten beziehungs­ weise ausgeübten Beruf zu vergleichbaren Zeitpunkten untersucht worden. Im einzelnen konnten an diesem begrenzten Material wesentliche Erscheinungsfor­ men des gesamtgesellschaftlichen wie des innerparteilichen Wandels - die Ab­ lösung der älteren Generation, der Aufstieg der fachlich geschulten (Partei-)Funk­ tionäre und die zunehmende berufliche Mobilität - nachgewiesen werden. Entgegen einer bisher im Westen gelegentlich vertretenen Auffassung konnte im Zuge dieser Analysen herausgearbeitet werden, daß es auch in kommunisti­ schen Parteiapparaten unter den Bedingungen einer industriellen Gesellschaft vergleichsweise »normale« Abgänge gibt; daß Behauptungen, die dieses wesent­ liche Strukturmerkmal eines sich wandelnden Parteiapparates außer acht lassen, an einem Idealtypus totalitärer Herrschaft orientiert sind, der von der real­ gesellschaftlichen Entwicklung bereits überholt worden ist. Ein weiteres Ergebnis des UI. Kapitels ist darin zu sehen, daß mit dem Vor­ rücken jüngerer fachlich geschulter Parteifunktionäre sowohl ein Prozeß der »Verfachlichung« als auch eine klarere Trennung der Funktionsbereiche von Partei und Staat als in den zurückliegenden Jahren festzustellen ist: Die in der herkömm• lichen Totalitarismusforschung häufig behauptete Austauschbarkeit der Positionen in totalitär verfaßten Gesellschaften scheint unter den Bedingungen einer sich wan­ delnden Gesellschaft nicht mehr im bisher angenommenen Maße gegeben zu sein. - Im Zuge des stärkeren Auseinanderrückens und damit einer gewissen Verselb­ ständigung der Groß organisationen in Partei und Staat lassen sich, im Licht der Analyse der Sozialstruktur, Machtzentren der strategischen Clique wie solche der Parteifachleute, der institutionalisierten Gegenelite, erkennen. Während die strategische Clique nach wie vor die eigentlichen politischen Entscheidungsgre­ mien: das Politbüro, das Sekretariat des Zentralkomitees, die Positionen der
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