TECHNISCHE UNIVERSITÄT MÜNCHEN Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Lernen aus der Geschichte? Die Bedeutung der nationalsozialistischen Kindereuthanasie für die gegenwärtige Debatte um Sterbehilfe bei behinderten Neugeborenen. Sarah Lorenz-Stromp TECHNISCHE UNIVERSITÄT MÜNCHEN Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Lernen aus der Geschichte? Die Bedeutung der nationalsozialistischen Kindereuthanasie für die gegenwärtige Debatte um Sterbehilfe bei behinderten Neugeborenen. Sarah Lorenz-Stromp Vollständiger Abdruck der von der Fakultät für Medizin der Technischen Universität München zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Medizin genehmigten Dissertation. Vorsitzender: Univ.-Prof. Dr. D. Neumeier Prüfer der Dissertation: 1. Priv.-Doz. Dr. G. H. K. Hohendorf 2. Univ.-Prof. Dr. D. von Engelhardt Die Dissertation wurde am 09.03.2010 bei der Technischen Universität München eingereicht und durch die Fakultät für Medizin am 22.09.2010 angenommen. Für Zoé ICH MÖCHTE DICH INSTÄNDIG BITTEN Ich möchte dich inständig bitten So sehr ich kann All dem gegenüber, was in deinem Herzen ungelöst ist, geduldig zu sein und zu versuchen die Fragen an sich zu lieben, wie verschlossene Räume, wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Suche jetzt nicht nach den Antworten, Die dir jetzt nicht gegeben werden können, weil du noch nicht fähig wärst sie zu leben. Und es geht darum alles zu leben Jetzt lebe die Fragen! Vielleicht wirst du allmählich, ohne es zu bemerken eines fernen Tages in die Antwort hineinwachsen. R. M. Rilke INHALT 1 Einleitung 7 2 Stand der Forschung 11 3 Quellen und Methoden 15 4 Kindereuthanasie in der NS-Zeit im Spiegel der historischen Forschung 18 4.1 Vorgeschichte und Propaganda 18 4.1.1 Sozialdarwinismus, Rassenhygiene, Eugenik 18 4.1.2 Der Euthanasiediskurs 22 4.1.3 Lebensbewertung und die Vorbereitung zur Euthanasie in der nationalsozialistischen Propaganda 30 4.2 Das Reichsausschussverfahren / Die Kinderfachabteilungen 39 4.3 Beispiele für Kinderfachabteilungen – Stätten der Euthanasie und Forschung 53 4.4 Die Haltung der Angehörigen sowie der Umgang mit ihnen am Beispiel Heidelberg 78 4.5 Der Einfluss der Kirche – zwischen Anpassung und Widerstand 85 4.6 Die Nachkriegszeit – Was wird aus den Tätern? 100 5 Wo stehen wir heute? Gesellschaft, klinische Praxis und moralphilosophischer Diskurs in der Reflexion 109 5.1 Der Umgang mit Behinderung im gesellschaftlichen Kontext – 1945 bis heute 109 5.2 Entscheidungskonflikte am Lebensbeginn 124 5.2.1 Die Einbecker Empfehlungen 124 5.2.2 Die Behandlungspraxis in Kliniken – Auswertung einer empirischen Untersuchung von Mirjam Zimmermann 128 5.3 Ethische Positionen 137 5.3.1 Die Position Singers – Jeder Mensch ist ersetzbar 137 5.3.2 Die Position Hoersters – Die Geburt als Grenze für das Recht auf Leben 141 5.3.3 Die Position Merkels – Die Entscheidung zwischen Leben und Tod als Interessensabwägung 145 6 Lernen aus der Geschichte? - Ethische Grundfragen und das Geschichtsargument in der Debatte um Früheuthanasie und selektive Abtreibung 149 6.1 Catel und Singer – Beklemmende Parallelitäten 149 6.2 Wer entscheidet? 153 6.3 Töten als ärztliche Handlung 158 6.4 Die Ambivalenz der Eltern 162 6.5 Die grundsätzliche Entscheidung über Lebenswert 164 6.6 Tödliches Mitleid – Die emotionale Komponente der Entscheidung 174 6.7 Das Slippery-Slope-Argument – Auf der schiefen Bahn von der Fragestellung des Lebensrechtes zur Praxis des Krankenmordes 179 6.8 Die Verschärfung der ökonomischen Situation 192 7 Die Heiligkeit des menschlichen Lebens – Sterbehilfe als Sterbebeistand 196 8 Diskussion 202 9 Zusammenfassung 209 10 Anhang – Persönliche Betroffenheit 220 11 Referenzen 223 11.1 Literaturverzeichnis 223 11.2 Einbecker Empfehlungen, revidierte Fassung 1992 243 11.3 §218 StGB Schwangerschaftsabbruch 246 11.4 §218 a StGB Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs 246 12 Lebenslauf 247 13 Danksagung 248 1 Einleitung Der Umgang mit schwerstem Leid und Tod gehört zu den schwierigsten Kapiteln im menschlichen Leben. Der Wunsch, dem Elend schwer Leidender und Sterbender ein Ende zu setzen, die Reaktionen und Gefühle der Umstehenden, die es nicht länger mit ansehen können, sind so alt wie die Menschheit. Neu hingegen ist der gesellschaftliche und medizinische Kontext, in welchem dieselben Fragen heute im Rahmen der Diskussion um Euthanasie oder Sterbehilfe gestellt werden. Die gegenwärtige Auseinandersetzung ist einerseits gekennzeichnet vom hohen technischen Fortschritt mit seinen Verfahren der Lebensverlängerung, der modernen Apparatemedizin und andererseits vom gleichzeitig stattfindenden Auflösungsprozess festgefügter Wertesysteme wie beispielsweise die Eingebundenheit in einen religiösen Glauben1. Insbesondere am Lebensbeginn, im Umgang mit schwerstbehinderten Neugeborenen, stellen sich diese Fragen mit besonderer Brisanz: Wann ist es sinnvoll, eine Behandlung abzubrechen? Bei welchen Neugeborenen mit Behinderung führt man eine lebensrettende Maßnahme wie eine Operation durch und bei welchen nicht? Wie ist eine Schmerztherapie sinnvoll zu dosieren? Wer entscheidet und übernimmt damit die Verantwortung für Handlungen und Unterlassungen und ihre oft weitreichende Konsequenz? Darf man ein Kind mit einer schwersten Behinderung ohne Aussicht auf Besserung aus Mitleid unter Umständen auch töten? In dieser Arbeit soll die ethische Debatte um den Umgang mit schwerstbehinderten Neugeborenen vor dem Hintergrund der Geschichte der nationalsozialistischen Kindereuthanasie beleuchtet werden. „Es ist die Frage, ob wir aus der Geschichte zu lernen verstehen“, sagte Alexander Mitscherlich (1908-1982) bereits 1947 als eines der Mitglieder der deutschen Ärztekommission, die im Auftrag der deutschen Ärztekammern den Nürnberger Prozess beobachtet hat. 1 Vgl. Zimmermann-Acklin, Markus (1997): Euthanasie, S. 13. 7 „Ich glaube, daß wir einer solchen Aufgabe nicht Herr werden können, wenn wir uns allein moralisch […] distanzieren. Dies ist gewiß ein Leichtes. Aber es ist nutzlos für uns, sobald wir an die dunkle Zukunft unseres Jahrhunderts denken, in dem sich vielleicht erneut Situationen ergeben könnten, die eine ähnliche Kälte und Achtlosigkeit gegenüber dem Lebensrecht im Augenblick schwächerer oder mißachteter Menschen mit sich brächten.“2 Mitscherlich betont in der Auseinandersetzung mit der Geschichte die Bedeutung der Involvierung der eigenen Person. Gelingt es nicht, uns in echter, persönlicher Weise mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, ist die Gefahr einer Wiederholung jederzeit gegeben. Lehrreich war in diesem Zusammenhang die Debatte um den australischen Philosophen Peter Singer (geb. 1946), die Ende der 1980er Jahre entbrannte und leider Beispiel gelten muss, wie die Aufarbeitung der Geschichte nicht geschehen sollte. Singer wurde als Vertreter der aktiven Sterbehilfe bei schwerstbehinderten Neugeborenen aufgrund seiner Anschauungen heftig kritisiert. Aufgrund massiver Proteste der Behindertenverbände musste er bei Tagungen wieder ausgeladen werden und wurde zum Teil sogar tätlich angegriffen3. Peter Singer wehrte sich publizistisch. Er gestand den Deutschen aufgrund ihrer Vergangenheit zwar eine besondere Empfindlichkeit zu, allerdings warnte er innerhalb der deutschen Euthanasiedebatte vor einem „ausgeprägten Fanatismus“, der in seiner Radikalität „der Geisteshaltung zu ähneln beginnt, die den Nationalsozialismus ermöglichte“4. Singer schob damit die ihm und seiner Philosophie zur Last gelegten Nazi-Analogie wiederum den Deutschen in die Schuhe – nicht unbedingt die bessere Antwort. Dass die Geschehnisse in Deutschland aber auch bei Singer nicht ganz ohne Wirkung geblieben sind, lässt die Tatsache vermuten, dass in der 2. Auflage seiner Schrift „Praktische Ethik“, die 1994 veröffentlicht wurde, folgender Absatz nicht mehr erschien: 2 Beide Zitate aus: Mitscherlich, Alexander (1947): Bericht über Nürnberger Ärzteprozeß, S. 52. 3 Vgl. Christoph, Franz (1989): (K)ein Diskurs über „lebensunwertes Leben“!, S. 240-242. 4 Singer, Peter (1994): Wie man in Deutschland mundtot gemacht wird, S. 444. 8 „Die Nazis haben fürchterliche Verbrechen begangen; aber das bedeutet nicht, daß alles, was die Nazis taten, fürchterlich war. Wir können die Euthanasie nicht nur deshalb verdammen, weil die Nazis sie durchgeführt haben, ebensowenig wie wir den Bau von neuen Straßen aus diesem Grund verdammen könnten.“5 Zu hoffen bleibt, dass die Singer-Kontroverse dennoch zumindest den Effekt gehabt hat, dass das Reden über das Tabu der Euthanasie zu einem Reden über die Euthanasie selbst führte. Peter Singer stellte auch fest, dass der Versuch ihn „mundtot“ zu machen, seine „Praktische Ethik“ in Deutschland wesentlich populärer machte, als es akademische Vorträge jemals vermocht hätten6. Wie man an diesem Beispiel sieht, erschöpft sich die Auseinandersetzung mit der Geschichte allzu leicht in der Suche nach den Schuldigen, nach Einzelpersonen, die für alles Übel verantwortlich gemacht werden können. Ungleich wichtiger ist es für die heutige Diskussion jedoch, zu untersuchen, inwieweit die Medizin als Wissenschaft und therapeutische Praxis in der damaligen Zeit lediglich instrumentalisiert wurde, oder ob es in den Traditionen des medizinischen Denkens und Handelns nicht vielleicht Aspekte - und insbesondere auch Wertsetzungen - gibt, die weit über die Zeitgrenzen 1933 und 1945 hinausreichen und die in irgendeiner Weise den grausamen Verbrechen an kranken Kindern, welche innerhalb dieser Zeitspanne geschehen sind, Vorschub geleistet haben. Sollte es solche Aspekte geben, so
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