Wahrnehmung des Fremden: China in deutschen und Deutschland in chinesischen Reiseberichten Vom Opiumkrieg bis zum Ersten Weltkrieg Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg/Brsg. vorgelegt von Liu Jing aus Qinglong V. R. China WS 2000 / 2001 Gutacher: Herr Prof. Dr. Wolfgang Reinhard Gutacher: Herr Prof. Dr. Bernd Martin Tag der Prüfung: 12.07.2001 Danksagung Die Arbeit, die im Wintersemester 2000/01 von der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg i. Br. als Dissertation angenommen wurde, haben Prof. Dr. Wolfgang Reinhard und Prof. Dr. Bernd Martin betreut. Ihnen bin ich zu bleibendem Dank verpflichtet. Ich möchte an dieser Stelle Prof. Leatitia Böhm und PD Dr. Helmut Zedelmaier, die mich ursprünglich ermutigt, meine Aufmerksamkeit der Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen zuzuwenden, den wärmsten Dank sagen. Für die Förderung der Allgemeinen Stiftung Freiburg und hier besonders des Stiftungsdirektors Lothar Böhler, Prof. Dr. Hellgard Rauh und Edith Wäger sei für ihre finanziellen Unterstützungen gedankt, was mir die Möglichkeit gab, ohne materielle Sorgen die Arbeit fertigzustellen und zu publizieren. Ein besonderes Wort des Dankes gilt einigen Freunden, Ursula Seidler, Günter Sokol, Sabine Schmidt und Margit Florl-Mahmoudi, die mir beim Korrekturlesen geholfen haben. Mein innigster Dank gilt jedoch meinem verstorbenen Bruder, ohne dessen Anteilnahme und Unterstützung, insbesondere bei der Beschaffung von chinesischem Material, ich meine Arbeit nicht hätte abschließen können. Freiburg, Oktober 2003 Liu Jing II Inhaltsverzeichnis 1. Fragestellung und Methode 2 2. Deutschland und China: Ein historischer Überblick 14 2.1. Von den ersten Kontakten bis zum Zeitalter des Kolonialismus: Deutschland und seine Beziehung zu China 14 2.1.1. Industrielle Revolution, Reichsgründung und das kaiserliche Deutschland 21 2.1.2. Die Kolonialismusdebatte 25 2.1.3. Der deutsche Imperialismus und Kolonialismus in China (1840-1914) 29 2.2.1. Europäischer Imperialismus in Ostasien. Taipingtianguo. Bemühungen um den Wiederaufbau 52 2.2.2. Reform- und Yihetuan-Bewegung 65 2.2.3. Die republikanische Revolution der Staatsverfassung 1911 79 3. Deutsche Reiseberichte über China 82 3.1. Deutsche Reisende und ihre Berichte 82 3.1.1. Die christliche Mission 91 3.1.2. Das Kolonialprogramm von Ferdinand von Richthofen 99 3.2. Grundzüge des Chinabildes 108 3.2.1. Reiseverkehrsmittel 108 3.2.2. Alltag und Kultur 111 3.2.3. Kunst 121 3.2.4. Sitten und Gebräuche 127 3.2.5. Hafenstädte 135 3.2.6. China als strategisches Objekt 145 3.2.7. Qingdao 159 3.2.8. Der chinesische Mensch: Äußeres, Mentalität und Charakter 172 4. Chinesische Reiseberichte über Deutschland 190 4.1. Gesandtschaftsreisende und ihre Berichte 190 4.2. Grundzüge des Deutschlandbildes 199 4.2.1. Deutschland und seine Staatsverfassung 199 4.2.2. Industrie- und Werftenstädte 207 4.2.3. Wissenschaft und Kultur 219 4.2.4. Landschaftsromantik: Das Rheinland 223 4.2.5. Sitten und Gebräuche 226 4.2.6. Die deutsche Frau 230 4.2.7. Der deutsche Mensch: Mentalität und Charakter 231 4.3. Bild und Realität: Zusammenfassung 237 III 5. Schlussbetrachtung 241 Biographische Angaben über die wichtigsten der in der Arbeit behandelten Verfasser von Reiseberichten 244 IV 1. Fragestellung und Methode Wer Beijings Altstadt besucht, für den steht die "Verbotene Stadt", der ehemalige Kaiserpalast mit seinen weltberühmten Kunstwerken aus dem alten China, im Mittelpunkt des Interesses. Ein Reisender am Ende des 19. Jahrhunderts gab in einem kleinen Büchlein folgende Schilderung: Aus der Schulzeit ist wohl noch erinnerlich, daß in der Mitte des vorigen Jahrhunderts 'Peking', die Residenzstadt des Kaisers von China, für die grösste Stadt der Welt gehalten wurde; daß China das grösste Bauwerk der Welt in seiner Grenzmauer besitzt, daß die Chinesen Opiumraucher sind; daß die Männer Zöpfe tragen; daß ein Teil der Frauen sehr kleine Füsse haben usw. Aus dem Zirkus und anderen Vorstellungen sind die Jongleur- und andere Künste der Chinesen den geschätzten Lesern wohl durch persönliche Anschauung bekannt.1 Auf der anderen Seite verdeutlicht ein chinesischer Reisender seine großen Schwierigkeiten mit dem europäischen Essen und gibt hygienische und diätetische Tips: Besonders schwierig ist es für diejenigen, die kein Rind- oder Lammfleisch essen. Denn im Westen ißt man es täglich. Auch in anderen Speisen werden Butter und Käse beigemischt. Reis kann man zwar auf dem Schiff bekommen, aber sobald man das Schiff verlässt und ans Land kommt, wird man Reis schwer finden. Auch wenn man Reis serviert bekommt, schmeckt er scheußlich, da man Curry und Butter hineintut. Brot ist nur mit anderen Beilagen genießbar. Vor dem Hauptgericht bekommt man eine Rindfleischsuppe, sonst bekommt man bei den folgenden vier oder fünf Gängen keine Suppe mehr. Die Europäer trinken zum Essen kalten Wein und kaltes Wasser. Die Chinesen vertragen zwar ein bißchen Wein, aber auf keinen Fall kaltes Wasser.2 Diese beiden Textpassagen sind typisch für das, wie deutsche Chinareisende bzw. chinesische Deutschland- bzw. Europareisende im 19. Jahrhundert die jeweils andere Kultur wahrgenommen haben. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die gegenseitige Wahrnehmung der jeweils fremde Kultur und Gesellschaft, Chinas in deutschen und Deutschland in chinesischen Reiseberichten, zu untersuchen. Warum reiste man nach China 1 F. Seifarth: Schilderung von Land und Leuten, Berlin/Leipzig 1900, S. 1. 2 Yuan Zuzhi: (Anweisungen für Reisen nach Übersee), in: (Sammlung geographischer Werke im Studierzirkel ), hrsg. von Wang Xiqi, 16 Bde., Shanghai 1877-1897, hier Bd. 6, 11. Reihe, S. 482. 2 bzw. Deutschland? Was bedeutete den Reisenden das jeweils andere Land? Was haben sie hier und dort bewundert, was haben sie verurteilt? Von welchen Gesichtspunkten aus bildeten die Reisenden ihre Urteile und Vorurteile, und: lässt sich darin eine Entwicklung erkennen? Das Thema ist so umfangreich, daß eine zeitliche Beschränkung notwendig ist. Gegenstand der Untersuchungen ist der Zeitabschnitt von 1840 bis 1914. Die Arbeit setzt mit dem Opiumkrieg ein und thematisiert die 75 Jahre bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der Untersuchungszeitraum 1840 - 1914 ist das klassische Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus, als sich Preußen/Deutschland wie andere industrielle Pioniermächte auch in China Einflußsphären sicherten, um sich Rohstoffe und wirtschaftlich ergiebige, neue Absatzmärkte zu erschließen und militärisch-maritime wie handelspoliti sche Stützpunkte zu gewinnen. Der Untersuchungszeitraum 1840 – 1914 ist in Deutschland durch die Revolution von 1848/49, die Agrarrevolution und industrielle Revolution, die Reichsgründung von 1871, durch den Rüstungsaufbau des Heeres und der Flotte sowie schließlich durch die Kolonialpolitik und den Imperialismus geprägt. In China war die politische Situation im Untersuchungszeitraum durch die imperialistische Durchdringung Chinas seitens der mit Hilfe ihrer militärischen, industriellen und wirtschaftlichen Machtposition überlegenen westlichen Industriemächte und die reformerischen bzw. revolutionären Bewegungen geprägt, durch den Opiumkrieg, 1839-1842, 1856-1860, durch , d. h. "Das himmlische Reich des Höchsten Friedens", 1851-1864, die Selbststärkungsbewegung, 1861-1894, von 18981, - Bewegung in den Jahren 1900/01 und von 19112. Letztere führte zum Sturz der Qing-Dynastie und veränderte die wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in China grundlegend. Gegenstand der Arbeit sind die Begegnungen deutscher Reisender mit China und den Chinesen, chinesischer Reisender mit Deutschland und den Deutschen, ihre Eindrücke, Erlebnisse und Beobachtungen im Blick auf das politische System, die Verfassung, das Wirtschaftssystem, die Infrastruktur, Technologie, Religion, Mission, den Alltag und die Kultur, schließlich das Land und die Bevölkerung. Dabei sind insbesondere die jeweiligen spezifischen Interessenschwerpunkte und entsprechenden Inhalte 1 (die Wuxu-Reform), was nach dem chinesischen Kalender das Jahr 1998 bezeichnet. 2 (die Xinhai-Revolution), was nach dem chinesischen Kalender das Jahr 1911 bezeichnet. 3 herauszuarbeiten und die die Wahrnehmung prägende Urteilsbildung, vor allem Vorurteile, im historischen Kontext des Imperialismus zu interpretieren. Weiterhin soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit die in den Beschreibungen im Vordergrund stehenden Themen im Verlauf des Untersuchungszeitraums konstant blieben oder in welcher Weise sie durch andere ergänzt bzw. verdrängt wurden. Auch die politischen Entwicklungen Chinas und Deutschlands spiegeln sich in den Reisebeschreibungen wider, so z. B. die Übernahme Qingdaos als deutsche Kolonie sowie die Haltung Chinas zu den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Auseinandersetzungen mit Deutschland und den anderen Kolonialmächten. Der die deutschen Chinareisenden und ihre Berichte prägende historische Kontext ist der Imperialismus. Er schuf überhaupt erst die Voraussetzungen für Reisen nach China. Die Reisenden unterstützten den deutschen Imperialismus in China allein schon physisch durch ihre Anwesenheit bzw. durch die Aufgaben, die sie nach China führten. Die Reiseverfasser waren keineswegs neutrale Beobachter. Daß ihre Darstellung von kolonialpolitischen Interessen bestimmt war, zeigt sich etwa daran, daß sie besonders diejenigen Gebiete Chinas eingehend bereisten und beschrieben, die für die deutsche Kolonialpolitik von besonderem Interesse
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