Aufs Arbeitsamt“

Aufs Arbeitsamt“

DEUTSCHLAND A. MELDE / CONTRAST PRESS MELDE PRESS Ostdeutscher Minister Ortleb (Januar 1994), ostdeutsche Ministerin Merkel: „Wir können viele Dinge allein“ Die Bürgerrechtler Angelika Barbe Abgeordnete (SPD), Stephan Hilsberg (SPD) oder Wolfgang Ullmann (Bündnis 90) fielen in Bundestagsdebatten und -gremien durchaus auf, blieben aber Solisten. Aufs Uwe Lühr, der 1990 als einziger Li- beraler ein Direktmandat in Halle ge- wonnen hatte, mußte als FDP-Gene- Arbeitsamt ralsekretär abdanken, weil Klaus Kin- kel Parteichef wurde: „Der Kinkel Der Frust ist groß, doch die mei- brauchte keinen mehr, der sich um die sten ostdeutschen Parlamentarier Ost-West-Integration kümmert.“ Daß sie Ostdeutsche seien, mit anderen Er- wollen wieder in den Bundestag. fahrungen und Biographien, meint Rolf Schwanitz (SPD), „hielten wir für ie Debatte über seinen Kanzler- die Geschäftsgrundlage“. Zu spät sei Etat Anfang September war in ihnen klargeworden, übt Uwe Küster Dvollem Gang, als Helmut Kohl (SPD) Selbstkritik, „daß es nicht nur einfiel, daß sich jetzt eine Ostdeutsche reicht, fleißig am Schreibtisch zu sit- am Rednerpult des Bundestages gut zen“. machen würde. Wo denn die Angela DARCHINGER Anfangs fanden die Ostdeutschen in Merkel sei, herrschte er seinen Staats- Ostabgeordnete Enkelmann ihren Parteien sogar Gehör. Die SPD minister Anton Pfeifer an. Kleiner Triumph legte fest, daß in jede Arbeitsgruppe Die einzige ostdeutsche Frau in der Fraktion einer der 35 Ostgenossen Kohls Kabinett war in ihrem Dienstwa- Udo Haschke, riß es von den Sitzen delegiert werden sollte. Schwanitz saß gen auf dem Weg zu einem Interview hoch: „Genau, genau“, rief der anson- nicht nur der Fraktionsgruppe „Deut- beim Norddeutschen Rundfunk. Über sten stille Mann, der für den nächsten sche Einheit“ vor, er mußte in zehn Autotelefon erreichte Pfeifer die plötz- Bundestag nicht mehr kandidiert, anderen Kommissionen, Ausschüssen lich Begehrte. „Sofort zurück“, befahl „weil Politik eine moderne Kampf- und Gremien mitarbeiten. er der Ministerin für Frauen und Ju- sportart ist“. Auch die Union ließ sich für ihre gend: „Reden“. Für einen Augenblick gab es ein um- Neulinge eine Besonderheit einfallen. Mitten auf der vierspurigen Straße fassendes Wir-Gefühl bei sämtlichen Die Sprecher der 63 konservativen ließ Merkel ihren Fahrer wenden. Ostdeutschen, die es nach Bonn ver- Ostdeutschen durften dienstags, jeweils Zehn Minuten später stand sie vor schlagen hat. Das tat ihnen gut, so hät- um sieben Uhr morgens, dem Kanzler- dem Plenum des Bundestages und re- ten sie es gern öfter gehabt. amtschef Friedrich Bohl ihre Wünsche dete zu den Abgeordneten. Sie wetter- Sie denken, reden und handeln im- und ihre Sicht der Dinge vortragen. te gegen westliche Borniertheit, lobte mer noch anders. Aber solche Ge- In beiden Großparteien hatten die die Menschen in den neuen Bundeslän- meinsamkeiten machten aus 140 ost- Ostdeutschen sogar ein Vetorecht bei dern, die „Unglaubliches“ leisteten. deutschen Abgeordneten – immerhin allen Themen, welche die ehemalige Und sie forderte alle Ostabgeordneten, mehr als ein Fünftel aller 662 Parla- DDR betrafen. Ausgeübt wurde es egal ob sie der SPD, der CDU oder mentarier – noch keine politische häufig, beachtet selten. der FDP angehörten, zur Solidarität Kraft. Dazu brauchte es allseits akzep- Da forderte Johannes Nitsch (CDU) auf, denn „wir können viele Dinge al- tierter Leitfiguren. Die sich dazu taug- Sonderkonditionen für sein Braunkoh- lein“. lich glaubten – Lothar de Maizie`re, leland Sachsen, als seine Fraktion in Das kam an. Sozialdemokratische Günther Krause –, sind schnell wieder informeller Runde über den Aufbau Ossis nickten zustimmend, christdemo- abgetreten: wegen alter Stasi-Kontakte der neuen Länder diskutierte. Als die kratische Abgeordnete, wie den Jenaer oder neuer Affären. Reform der gesamtdeutschen Verfas- 72 DER SPIEGEL 41/1994 sung gerade beschlossen war, fiel Kon- rad Elmer (SPD) ein, daß der Begriff „Mitmenschlichkeit“ fehle; seine Inter- vention blieb unberücksichtigt. Die Kluft zwischen den Alt-Profis und den parlamentarischen Neulingen wuchs beständig über die vier Jahre. Und auch unter den Ostdeutschen sei „Entsolidarisierung“ zu bemerken ge- wesen, fiel der Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth auf. Der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäk- ker ermunterte die Ostabgeordneten, sie sollten sich und die Menschen zu Hause nicht „als Objekt und Instru- ment“ der Politik mißbrauchen lassen. Ein einziges Mal haben die Ostdeut- schen versucht, über Parteiengrenzen hinweg gemeinsam die Initiative zu er- greifen. Das war 1990, da forderten sie unisono schnelle und unbürokratische Hilfe für die Verwaltung in den neuen Bundesländern. Ihr gemeinschaftlicher Antrag blieb schon in den Fraktionen stecken. Im Mai 1991 versuchte der ehemali- ge DDR-Außenminister Markus Mek- kel (SPD) vergebens, einen Stern- marsch aus Ostdeutschland nach Bonn zu organisieren. Im Juni 1991 wollte er alle Ostabgeordneten an einem Run- den Tisch zusammenbringen, keiner kam. Meckel erklärt den Mangel an Soli- darität mit der schnellen Vereinigung: „1990 war zu kurz, um Freundschaften zu schließen.“ Im Bundestag seien die Ostdeutschen in den Bann der Freund- Feind-Politik geraten: „Ab dann ging es nur noch um die eigenen Erfolge.“ Auch kleine Triumphe zählten. Dag- mar Enkelmann (PDS) freute sich, daß sie von Journalisten zur „Miß Bundes- tag“ gekürt wurde. Der Brandenburger Jörg Ganschow (FDP) schaffte es in die Schlagzeilen, weil er einem Rechts- radikalen in Eisenhüttenstadt einen Kinnhaken verpaßte. Rainer Ortleb (FDP) vereinsamte in seinem Bildungsministerium und muß- te zurücktreten. Forschungsminister Paul Krüger (CDU) blieb selbst Kabi- nettskollegen unbekannt. Die Parla- mentarischen CDU-Staatssekretäre Sa- bine Bergmann-Pohl (Gesundheitsmi- nisterium) und Ulrich Klinkert (Umwelt) sowie Joachim Günther (FDP, Städtebau) waren brave Erfül- lungsgehilfen ihrer Minister. Dennoch wollen zwei Drittel der bis- herigen Ostabgeordneten nach dem 16. Oktober wiederkommen, sie kandidie- ren erneut für den Bundestag. Die ei- nen haben trotz alledem Spaß an der Politik gewonnen, den anderen geht es schlicht um ihre Existenz. Wenn er nicht wieder in den Bun- destag gewählt werde, gibt Clemens Schwalbe (CDU) unumwunden zu, „dann muß ich aufs Arbeitsamt“. Y DER SPIEGEL 41/1994 73.

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