SEPTEMBER 2019 | WWW.VINUM.EU | PREIS: 13.80 CHF CH September 2019 CH September 09 DOSSIER INTERNATIONALE WEINPRÄMIERUNG ZÜRICH 2019 Grand Prix du Vin Suisse Winzer gehen fremd Winzerlegende Ernst Loosen Nordpiemont Wein in der Literatur Riesling Champion 2019 in der Literatur Wein Nordpiemont Loosen Ernst Winzerlegende gehen fremd Winzer Suisse Prix du Vin Grand Wein – Spannung pur ! Grands Crus auf Papier: Wenn Wein zu Literatur wird Nördliches Piemont: Crus mit der Frische der Berge Winzerlegende: Riesling-Tycoon «Ernie» Loosen 1909_COVE_INT.indd 1 07.08.19 14:17 Alto Piemonte Der andere Nebbiolo Die Rebsorte Nebbiolo ist Basis einiger der renommiertesten Weine der Welt: Barolo und Barbaresco. Aber die ursprüngliche Heimat der Traubensorte liegt nicht in der Langhe im Herzen des Piemont, sondern weiter im Norden – im Alto Piemonte. Dort erlebt sie als Spanna gerade eine Wiedergeburt. Text: Christian Eder 34 VINUM SEPTEMBER 2019 1909_REPO_Nordpiemont_INT.indd 34 07.08.19 10:55 Foto: Siffert/weinweltfoto.ch Foto: SEPTEMBER 2019 VINUM 35 1909_REPO_Nordpiemont_INT.indd 35 08.08.19 15:39 ALTO PIEMONTE «Das Wunderbare in Boca und anderen Gemeinden ist, dass es immer noch eine grosse Anzahl verwilderter Rebberge gibt, die still im Wald schlummern.» och im 19. Jahrhundert waren viele len Maggiorina-Reberziehungssystem gezogen der Hügel des Nordpiemont zwischen wurden: Es vereint vier Reben in einem Strunk, N Gattinara und den Alpen, Boca und die sich dann in die vier Himmelsrichtun- dem Lago Maggiore in den Händen der Neb- gen ausdehnen und einen Kelch bilden. Sei- biolo-Traube. Schon die Römer fanden im ne neuen Pflanzungen seien allerdings meist zweiten Jahrhundert bei Novara Reben vor, im Guyot, erklärt Künzli, obwohl das schattige Plinius der Ältere erwähnte gar eine Rebsorte Maggiorina-System in Zeiten des Klimawan- spanis aus dieser Gegend. Spanna heisst Neb- dels unweigerlich Vorteile besitze. Aus seinen biolo deshalb in Teilen des Alto Piemonte noch Maggiorina-Reben mit Croatina, Nebbiolo und heute. Später, im 16. Jahrhundert, waren Weine zehn weiteren zum Teil auch weissen Sorten aus Gattinara, Ghemme oder Lessona an den keltert er aber einen kirschfruchtigen gemisch- europäischen Fürstenhofen geschätzt. Und ten Satz, den er einfach «Maggiorina» nennt. erst von hier aus soll die Rebsorte Nebbiolo Und er ist ständig auf der Suche nach neuen auch ihren Weg in die südlichere Langhe ge- besonderen Lagen. Künzli: «Das Wunderbare funden haben. in Boca und anderen Gemeinden ist, dass es Tausende von Hektar standen in den Hü- immer noch eine grosse Anzahl aufgelassener geln des Alto Piemonte unter Reben, bis die Rebberge gibt, die still im Wald schlummern. Industrialisierung und die folgende Landflucht Theoretisch könnte man sie jederzeit wieder dem Weinbau den Garaus machte: In der Tex- revitalisieren, nur sind die Besitzrechte in die- tilindustrie von Biella und in den Fabrikhallen sem Gebiet mit Realteilung sehr kompliziert: von Fiat in Turin war mehr Geld zu verdienen Ein Rebberg oder ein kleines Stück Land mit als auf den steilen Hügeln des Alto Piemonte. 20 oder 30 Eigentümern ist keine Seltenheit.» «So wurden die Rebberge aufgegeben und über Aushängeschild von Le Piane ist allerdings die Jahre und Jahrzehnte hat sich der Wald die der Boca DOC, eine finessenreiche Terroir-In- Hügellagen zurückerobert», sagt Christoph terpretation aus 85 Prozent Nebbiolo und dem Künzli, «so als ob hier niemals Wein angebaut Rest Vespolina, mehr als drei Jahre im Holzfass worden wäre.» ausgebaut. Dem steht der «Mimmo» zur Seite, Nur einige wenige Güter hätten die Zeiten nach dem Spitznamen Antonio Cerris benannt, überdauert, erzählt der ehemalige Schwei- ein Blend aus zwei Drittel Nebbiolo und einem zer Weinhändler weiter. Wie das von Antonio Croatina. Künzli: «In den hochgelegenen Reb- «Mimmo» Cerri in der Gemeinde Boca. Der letz- bergen auf Montalbano, Santuario und Traver- te Produzent des einst renommierten Anbau- sagna erreicht die Croatina ebenfalls viel Dich- gebietes Boca kelterte dort auf nicht einmal ei- te und Charakter.» nem Hektar legendäre Nebbioli. Künzli und der Ansonsten ist das Nordpiemont Nebbio- Önologe Alexander Trolf kamen 1988 zum ers- lo-Gebiet: Die Rebsorte erreicht auf den Por- ten Mal mit dem toskanischen Winzer Paolo de phyrböden – Überreste eines Supervulkans Marchi nach Boca, um Cerri zu besuchen, und aus den Zeiten vor der Entstehung der Alpen – verliebten sich Wein und Reben. Künzli: «Cerri Komplexität, die hervorragende Tannin- und machte einst schon extrem langlebige und ele- Säurestruktur sorgt für Langlebigkeit. Das be- gante Weine, die man sonst nur in der Langhe weisen noch heute alte Jahrgänge von Produ- fand.» Wenige Jahre später – 1998 – übernahm zenten wie Sella, Antoniotti oder Travaglini in Künzli schliesslich das Gut mit seinem halben den Anbaugebieten von Lessona, Bramaterra Hektar Rebbergen und dem Keller und machte oder Gattinara. Denn Boca, die kleine Region sich auf die Suche nach weiteren kleinen Par- zwischen dem Valle Sesia und dem Orta-See, zellen. Heute nennt er rund neun Hektar in Po- ist nur eine von fast einem Dutzend DOC- und sitionen zwischen 420 und 520 Metern Mee- DOCG-Appellationen des Nordpiemont. Alle- reshöhe sein Eigen. samt sind sie eingebettet in eine wilde hügeli- ge Landschaft mit Kastanien- und Eichenwäl- Reberziehung dem Klimawandel anpassen dern sowie Kirschbäumen und dazwischen Christoph Künzli wandert mit uns durch sei- liegen immer wieder kleine Dörfer und Städte. ne Reblagen oberhalb von Boca mit ihren zum Kühle Winde aus dem Norden und Wärme von Teil hundertjährigen Reben, die im traditionel- den Ebenen im Süden bringen Frische und 36 VINUM SEPTEMBER 2019 1909_REPO_Nordpiemont_INT.indd 36 08.08.19 15:39 Bramaterra ist ein ausgedehntes Gebiet am Fluss Sesia: Porphyr trägt zum mineralischen Charakter der Weine des Anbaugebietes bei. Christoph Künzli kultiviert seine Rebberge im DOC- Gebiet von Boca, im Norden des Alto Piemonte. Die Hügellagen vulkanischen Ursprungs und die Höhenlage sorgen für elegante und charaktervolle Nebbioli. Der Nebbiolo gehört zu den an- spruchsvollsten Rebsorten, was Boden und Lage betrifft. Er gedeiht nicht nur auf den kalkhaltigen Mergel- böden der Langhe, sondern auch auf Porphyr im Norden des Piemont. Gattinara ist neben Ghemme eine der beiden DOCG-Zonen des Alto Piemonte. Die DOCG Gattinara gehört zu den kleinsten Appellationen Italiens und umfasst Fotos: Siffert/weinweltfoto.ch, z.V.g. Siffert/weinweltfoto.ch, Fotos: das gesamte Gemeindegebiet der Kommune Gattinara. SEPTEMBER 2019 VINUM 37 1909_REPO_Nordpiemont_INT.indd 37 08.08.19 15:39 ALTO PIEMONTE «Das Alto Piemonte hat grosses Potenzial. Vor allem aus Nebbiolo kann man hier in besonderen Lagen ganz unverwechselbare Weine schaffen.» doch auch Struktur in die Weine. In Kombina- Wurzeln voranzutreiben, und die hier gekel- den 60 Weinbauern der Associazione Produt- tion mit den vulkanisch-mineralischen Böden terten Weine dadurch finessenreich und fili- tori Agricoli Ossolani bewirtschaftet, ist die sorgt das im besten Fall für elegante, fast nörd- gran wirken. Beweise für diesen eigenen Bra- Cantine Garrone eines der wenigen verblie- liche Kreszenzen. materra-Charakter sind die Spitzenweine von benen Weingüter dieser historischen Anbau- Le Pianelle, Antoniotti oder Colombera & Ga- zone. Die Trauben werden auf den Rebbergen Geschichte neu geschrieben rella (das Gut des Le-Pianelle-Önologen Cris- mit Blick auf die schneebedeckten Alpengip- Einige historische Güter haben das im- tiano Garella). fel zum Teil noch auf der Pergola – hier «Top- mer bewiesen und stets die Fahne des Alto Aber man kann natürlich nicht vom Alto Pi- pia» genannt – gezogen. Nebbiolo, 1309 als Piemonte hochgehalten, aber erst vor rund emonte sprechen, ohne Gattinara und Ghem- «Prunent» im Val d’Ossola erstmals erwähnt, 20 Jahren begann die Geschichte des moder- me Tribut zu zollen: In den beiden einzigen ist die wichtigste Rebsorte und steht zum Teil nen Alto Piemonte: Immer mehr junge Win- DOCG-Zonen des Nordpiemont hat der Wein- noch in Steillagen auf uralten Direktträgern. zer begannen seitdem die alten Rebberge zu bau selbst in den Zeiten des Niedergangs ei- «1300 Arbeitsstunden sind in diesen Weingär- revitalisieren und neue zu bepflanzen. Ein nen Fuss in der Tür behalten. Das Potenzi- ten pro Jahr und Hektar nötig», erzählt Mat- Motor dieser Entwicklung war sicher Paolo de al des Gebiets ist auch gestandenen Barolisti teo Garrone, der Önologe des Gutes. Im alten Marchi. Die Familie des Besitzers eines der re- bewusst. Einer hat sogar investiert: Roberto Weinkeller der Familie reifen das Aushänge- nommiertesten Weingüter des Chianti Classi- Conterno, der Monfortino-Macher aus Mon- schild des Gutes, der Nebbiolo Prünent, und co – Isole e Olena – besass Rebberge in Lessona, forte d’Alba, ist seit 2018 Besitzer des 27 Hekt- die anderen Weine. Verkauft werden sie dann die Paolo unter dem Namen Poprieta Sperino ar grossen Weinguts Nervi, dem er bereits seit in der eigenen Vinothek in Domodossola. wiederbelebte. Heute führt sein Sohn Luca 2012 als Berater zur Seite stand. das Gut und zählt mit seinen Lessona-DOC- Nervi wurde 1906 gegründet und ist das Zeitreise in der Flasche Weinen zu den Aushängeschildern der Regi- älteste noch existierende Weingut in diesem Auch Christoph Künzli nennt in Boca mit- on. Anders als in den umliegenden Appellati- Gebiet mit den porphyr- und tonhaltigen Bö- ten auf dem Hauptplatz eine Vinothek sein onen sind allerdings die Böden der Rebberge den. Die Struktur der Weine erinnert
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