SZ Vom 19.April 2016 Seite 12 Bayern (GSID=3265032)

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12 HF2 FEUILLETON Dienstag, 19. April 2016, Nr. 90 DEFGH KLASSIKOLUMNE Die doppelte Pflicht Der erste Klang fährt dem Hörer krei- schend und bedrohlich in die Ohren. Aber, das ist kein Stück von Stockhau- Ohne Integration gibt es keine Lösung der innenpolitischen Konsequenzen der Flüchtlingskrise. sen, Boulez oder Lachenmann, es ist Sie kann aber nur gelingen, wenn sie nicht verordnet, sondern mit den Betroffenen ausgehandelt wird. Von Philipp Ther 200 Jahre älter und stammt von Jean- Féry Rebel, einem Barockkomponisten am französischen Königshof. Rebel hat ie gegenwärtige Debatte über die nehmen; in Ungarn attackierte die eigene was wissen wir heute über die Interessen dabei ganz einfach sechs Terzen, also Flüchtlinge folgt einer dramatisie- Regierung die Freiwilligen als Fluchthel- der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten? Ha- völlig konsonante Bausteine, übereinan- D renden Dialektik, die aus der Feder fer, das schreckt von weiterem Engage- ben sie eine Stimmein der öffentlichen De- dergestapelt und so einen absolut disso- eines Theaterautors stammen könnte. Die ment ab, die FPÖ argumentiert ähnlich ag- batte? Können Sie an dem Integrationsge- nanten Megasound erhalten. Dieser Flüchtlingskrise, die aus historischer Sicht gressiv gegen die österreichischen „Gut- setz mitwirken, das doch auf sie zuge- Klang ist ideal, um das Chaos zu zeich- gar nicht so krisenhaft oder außergewöhn- menschen“). schnitten sein soll? Vielleicht ist das auch nen, und so heißt denn auch der erste lich ist, spaltet seit einem Jahr die Gesell- Aber statt einer Willkommenskultur, gar nicht erwünscht, denn dann würde Satz von Rebels Orchestersuite „Les schaft und Politik in Deutschland und Eu- die auf einem schwammigen Kulturbegriff sich schnell herausstellen, dass zum Bei- Éléments“. Zwar walzt Rebel seine ropa. Daher bedarf es der dialektischen beruht, bedarf es nun durchdachter Inte- spiel für die Integrationskurse, an denen ei- Klangerfindung breit aus, danach aber Aufhebung dieser Spaltung und diese liegt grationskonzepte. Historisch betrachtet gentlich alle Asylbewerber teilnehmen soll- ist wieder Barock wie gehabt angesagt – im Begriff der Integration. Würde man ei- bestimmten vier Dimensionen den Verlauf ten, im Jahr 2015 weniger als zehn Prozent Großmeister Jordi Savall hat dieses ne Meinungsumfrage erstellen, was die von Integration. Die rechtliche Gleichstel- der benötigten Plätze zur Verfügung stand Stück jetzt zusam- Deutschen, die Österreicher oder andere lung(in Form grundlegender sozialer Rech- (hier verspricht das Integrationsgesetz of- men mit Gewitter- europäische Nationen von der Integration te und/oder der Staatsbürgerschaft), die fenbar Besserung). Bei den Sprachkursen musiken von Lo- halten, würde man vermutlich sehr hohe Ausstattung mit Wohnraum und das alltäg- liegt das Problem ebenfalls im Angebot cke, Vivaldi, Tele- Zustimmungswerte erhalten. Sogar AfD- liche Lebensumfeld, die berufliche Integra- und nicht in der Nachfrage, die man selbst- mann, Marais und oder FPÖ-Wähler würden wohl antworten, tion sowie schließlich, als höchste Stufe verständlich zur Pflicht erklären kann, et- Rameau für seine dass sie eine (normativ verstandene) Inte- der Integration (sofern man diese in Stufen wa im Blick auf die Gewährung von Sozial- Plattenfirma Alia gration irgendwie gut und wichtig finden. betrachten will, denn oft verläuft sie nicht leistungen. Doch die aufnehmende Gesell- Vox aufgenommen. Weil diese Aufgabe so wichtig ist, hat sie als linearer Prozess) das Heiratsverhalten schaft müsste das dann ihrerseits als Ver- jüngst der Gesetzgeber in die Hand genom- bzw. die Vermischung mit der Mehrheitsge- pflichtung verstehen und entsprechende Ist das Neue, das Rebel mit seinem Cha- men. Das Bundesinnenministerium hat sellschaft. Solange ein Großteil der Flücht- Angebote bereitstellen. osklang vorführt, nun eine Angelegen- jetztdie ersten Eckpunkte für ein Integrati- linge im Lager sitzt und nicht einmal einen heit der Jugend oder des Alters? Rebel onsgesetz veröffentlicht, offenkundig in Antrag auf Asyl stellen darf, kann die Inte- Zwangsassimilation im Befehlston war jedenfalls über 70 Jahre alt, als er der Erwartung, dass man Integration ge- gration nicht beginnen. Das Lager ist der stößt bei den Betroffenen sich dieses Wagnis traute. Andere sind setzlich verordnen oder jedenfalls regulie- Antipode der Inklusion, es ist ein Symbol schon jünger frecher. So die in Toronto ren kann. In eine ähnliche Richtung geht der Exklusion, das die lange Geschichte unweigerlich auf Skepsis geboren Gitarristin Laura Young,die die „Integrationspflicht“, die jüngst von der Flüchtlinge im modernen Europa lei- seit zwei Jahren am Mozarteum in Salz- der deutschen Wirtschaft und diversen Po- der allzu oft begleitet hat. Überhaupt erscheint es ratsam, Integra- burg unterrichtet. Für ihre neueste litikern gefordert wurde. Aber was bedeu- Auf die Dauer noch wichtiger ist die be- tion als Angebot zu betrachten und den Be- Platte hat sie einen Komponisten ge- tet eigentlich Integration? reits genannte Partizipation. Um die ist es griff nicht mit Pflichten, Zwängen und wählt, der vor 100 Jahren gestorben ist, Sie ist ein zwei- oder mehrseitiger Pro- ist nicht gut bestellt, so lange Flüchtlinge Sanktionsdrohungen zu überfrachten, die absolut nichts für die Gitarre kompo- zess, keine einseitige Anpassung einer Min- in erster Linie als Empfänger von Zuwen- in diesem Kontext fehl am Platz sind und niert hat und dessen Stücke auch nie derheit an die Mehrheit wie bei einer Assi- dungen betrachtet werden, seien es staatli- anders kommuniziert oder umgesetzt wer- den Eindruck erweckt haben, dass sie milation. Auf dieser Einsicht gründet die che Sozialleistungen oder gut gemeinte pri- den können. Wenn Integration zu einer für die Gitarre geeignet sein könnten. wissenschaftliche Auseinandersetzung vate Spenden, für die meist mit dem Bild Chiffre für eine Zwangsassimilation ver- Die Rede ist von Max Reger, dessen mit Integration, die auf den französischen elender und schicksalsergebener Flüchtlin- kommt und im Befehlston eingefordert Musik von Interpreten gern spätroman- Soziologen Emile Durkheim zurückgeht. ge geworben wird. Zu diesen Bildern sei wird, muss man damit rechnen, dass sie tisch dick aufgemotzt wird. Laura Er interessierte sich vor gut hundert Jah- hier nur kurz angemerkt, dass syrische bei den Betroffenen auf Skepsis stößt. Stra- Young hat bei Gramola jetzt zum ren dafür, was eine Gesellschaft zusam- Flüchtlinge, die auf der Balkanroute nach fen kann man androhen, aber sie werden 100-Jahr-Jubiläum am 11. Mai eine gan- menhält, wenn ihre traditionellen Bindun- Deutschland kamen, acht Staatsgrenzen das Fernziel der Integration beschädigen, ze Platte mit Regers Nicht-Gitarren-Mu- genverloren gehen (und zwar durch die Ar- und eine Entfernung von mehr als 4000 Ki- wenn sie damit in einen direkten Zusam- sik vorgelegt, bei der man in keinem beitsteilung des modernen Kapitalismus, lometern überwinden mussten. Inwieweit menhang gebracht werden. Außerdem Moment das Gefühl hat, dass die Musik davon handelte sein Buch von 1893). Durk- kann man die offensichtlich vorhandene sind Drohungen letztlich nur Ausdruck der gar nicht für Gitarre geschrieben wur- heim vertrat das Ideal einer integrierten Energie dieser Menschen für eine Integrati- eigenen Unsicherheit, die auch die bereits de. Es handelt sich um eine Auswahl Gesellschaft, Desintegration war der nega- onmobilisieren? Wird die Aufnahmegesell- ansässige Bevölkerung verängstigt und aus Stücken für Violine oder Cello solo. tiv besetzte Gegenbegriff dazu. Insofern schaft dies auch zulassen? spaltet. Unter den Flüchtlingen, die gerade Ja mehr noch: Laura Youngs Reger ist beruht der heutige normative Konsens Sämtliche historischen Fälle, die heute jetzt am Anfang bleibende Erfahrungen eindeutig ein Südländer, der mit roman- über die Integration als Endziel der Flücht- als Beispiele einer gelungenen Integration mit der Mehrheitsgesellschaft und ihrem tischer Emphase lingspolitik auf einem sehr alten Begriffs- gelten können, beruhten auf der Partizipa- Staat machen, können sie Tendenzen zur Sonnenunter- und verständnis. tion der Flüchtlinge. Als Ende des 17. Jahr- Abkapselungbegünstigen und zur Heraus- Mondaufgänge am hunderts 170000 Hugenotten aus Frank- bildung jener Parallelgesellschaften beitra- Mittelmeer be- Die Hugenotten, die nach reich flohen (fast 100000 von ihnen über gen, die seit Jahren beschworen werden. schwört. Selbst die Preußen flohen, hatten dort Frankfurt am Main, das damals etwa Man kann aus der Geschichte nicht Fugen künden hier 30000 Einwohner zählte – das kann man leicht lernen, aber man kann zumindest von Zephir und Vertreter in Hof und Regierung tatsächlich als Flüchtlingskrise bezeich- die Wiederholung vergangener Fehler ver- Pinienduft. nen), entsandten sie Vermittler oder beauf- meiden. Dazu gehört, dass die Zwangsassi- Zwei führende Soziologen des zwanzigs- tragten bereits emigrierte Interessensver- milation von Zuwanderern oder Minderhei- Eine ähnlich überraschende Paarung ten Jahrhunderts, Talcott Parsons und Ni- treter, um über die Bedingungen der Auf- ten noch keinem modernen Staat gelun- haben sich auch die Geigerin Patricia klas Luhmann, entwickelten Begriff und nahme und der Ansiedlung zu verhandeln. gen ist, egal wie er organisiert war. Integra- Kopatchinskaja und der Dirigent Teo- Debatte weiter, indem sie Integration funk- Der wichtigste aufnehmende Staat im Al- tion ist ein langfristiger Prozess, der oft dor Currentzis ausgedacht, beide lie- tionalistisch betrachteten, als Inklusion

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