Etudes De Nuages

Etudes De Nuages

Violeta Dinescu Etudes de nuages Marie-Claudine Papadopoulos Violine Sinnbilder permanenter Metamorphose »Etudes de nuages« von Violeta Dinescu »Ich habe immer schon gern den Wolken zuge- keit und Temperatur, abhängig, so unterliegt sehen. Nichts in der Natur kommt ihrer Vielfalt die Entstehung von Klängen unterschiedlichen und Dynamik gleich, nichts erreicht ihre sublime Bedingungen im Spannungsverhältnis zwischen vergängliche Schönheit«, bemerkt der Wolken- Natur und Kultur. Auch das Zwitschern der Vögel, enthusiast Gavin Pretor-Pinney in seinem Buch das unwillkürliche Knarren von Holz und das »Wolkengucken«. Darin lenkt er aus verschie- Rauschen der Bäume im Wind weisen, ebenso denen Perspektiven den Blick auf die Wolken, wie bestimmte Maschinen- oder Alltagsgeräu- die, so bedauert er, »von den meisten Leuten sche, musikalische Qualitäten auf. Dagegen kaum wahrgenommen werden, und wenn doch, hatte Musik im engeren Sinne als vom Menschen dann als Verhinderer eines perfekten Sommer- bewusst betriebene Klangerzeugung ihren Aus- tages«. Mit kleinen Modifikationen ließen sich gangspunkt in rituell-kultischen Handlungen, Pretor-Pinneys Worte mühelos auch auf Klänge die erst durch die Beteiligung von Klängen ihre übertragen: »Ich habe immer schon gern den magischen Wirkungen entfalten. Aus diesem Klängen zugehört. Nichts kommt ihrer Vielfalt Impuls heraus entwickelten sich, im Verein mit und Dynamik gleich, nichts erreicht ihre sublime der Imitation von Klängen aus Natur und Kultur, vergängliche Schönheit.« mannigfaltige musikalische Richtungen. Sind Wolkenbildungen – jenseits poetischer So gegensätzlich diese Richtungen mitunter Betrachtung – von atmosphärischen und kli- auch anmuten, so sind sie doch über einen maß- matischen Einflüssen, zumal von Luftfeuchtig- geblichen Aspekt, quer durch die Epochen und 2 Kulturkreise, miteinander verbunden – über die ihres Strebens nach der »Natur des Klanges« nur phänomenale sinnliche Kraft der Töne selbst, die konsequent. Klänge fasst sie als »Lebewesen« auf, jenseits wortgebundener Bedeutungen Emotio- die sich der absoluten Kontrolle ihres »Schöpfers« nen auslösen, Gedanken beflügeln, im Innersten entziehen und ihre eigenen Geschichten erzäh- berühren (können). Darüber hinaus sind jedem len – und das kommt in ihren »Etudes de nuages« einzelnen Ton existenzielle Dimensionen einge- eindringlich zur Geltung. Ja, Dinescu spürt in schrieben, da sich in seinem Er- und Verklingen ihren »Wolkenetüden« einer Obsession nach, die Werden und Vergehen widerspiegeln. Klänge ihr seit der Kindheit präsent ist, denn ab einem korrespondieren unmittelbar mit der Vergäng- bestimmten Augenblick in ihrem Leben betrach- lichkeit als zentraler menschlicher Erkenntnis, tete sie »die Wolken in narrativen Kontexten«. die wiederum eine wesentliche Voraussetzung Schon viele Künstlerpersönlichkeiten vor ihr für die Ausprägung von Religionen und Künsten wurden von »Wolken« fasziniert und inspiriert: war und ist. Maler wie John Constable und Caspar David Friedrich, Dichter und Schriftsteller wie Johann Wolfgang von Goethe, William Shakespeare, »Figuren des Flüchtigen« Samuel Beckett, Bertold Brecht, Charles Baude- Auch Wolken sind ein Inbegriff für Vergänglich- laire und Hans Magnus Enzensberger, und Kom- keit, auch ihre Formationen und Konstellationen ponisten wie Arnold Schönberg, Frédéric Chopin verwehen – wie Klänge ziehen sie bei aufmerk- und Ferruccio Busoni, die sich an »Wolkenmusik« samer Betrachtung eine verlöschende Spur (der versuchten. Als »Versuche« oder »Studien« über Erinnerung) hinter sich her. »Das scheinbar Ewige Wolken begreift auch Violeta Dinescu ihre sieben ist flüchtig, das scheinbar Flüchtige ist ewig, das »Wolkenetüden« für zwei bis sechzehn Violinen – ist«, so der Autor und Kunsthistoriker Florian Schicht für Schicht eingespielt von der französi- Illies, »die große Botschaft, wenn man zum Him- schen Geigerin Marie-Claudine Papadopoulos. mel blickt.« Dass sich die rumänische, seit 1982 in Neben ihren eigenen Erinnerungen und »Erleb- Deutschland lebende Komponistin Violeta Dine- nissen« mit Wolken ist für Dinescu besonders scu den Wolken widmet, ist vor dem Hintergrund Klaus Reicherts produktiv zwischen literarischen 3 Reflexionen und wissenschaftlichen Ansätzen ihrer Helle und Schwärze, Heiterkeit und Verlo- pendelndes Buch »Wolkendienst – Figuren des renheit, Fülle und lumpigen Schäbigkeit.« Flüchtigen« eine Quelle der Anregung. Davon Der wolkenlose Himmel ist auch ein leerer Him- beeinflusst, lässt sie in ihren »Wolkenetüden« mel. Erst die Wolken geben ihm Konturen, wie zwar das »impressionistische« Spiel der Farben, bereits christlich-allegorischen Darstellungen zu Formen und Figuren keineswegs außen vor, vor entnehmen ist, in denen Gott und die Engel auf allem aber tastet sie sich in spirituelle und exis- Wolkenbänken thronen. Der »leere Himmel« ist tenzielle Sphären vor. die Folie, auf der sich das Spiel der Wolken in all seinem Reichtum, seiner Dramatik oder medi- tativen Beschaulichkeit vollzieht – so wie das »Denn was ist euer Leben? Schweigen der »leere Himmel« ist, den die Töne Ein Dampf ist’s …« bevölkern. Violeta Dinescu beschränkt sich in »Im Gras, das über Ursachen / und Folgen wächst, / ihren »Etudes de nuages« auf ein Instrument. Sie muss jemand ausgestreckt liegen, / einen Halm entfacht komplexe und bizarre Geigenklänge, die zwischen den Zähnen, / und in die Wolken star- als Regungen, Stimmungen und »Gedanken« wie ren« (Wislawa Szymborska: »Ende und Anfang«). Traumgespinste an die Oberfläche des Bewusst- Dieses Gedicht stellt Klaus Reichelt der Einleitung seins treten. seiner Schrift »Wolkendienst« voran, worin er im Die »Wolkenetüde I« für zwei Violinen setzt mit Weiteren den britischen Schriftsteller und Maler rauer, kratziger Gestik wie aus dem Nichts ein. John Ruskin (1819–1900) zitiert, der die Wolken Spiralförmig ziehen die Klänge ihre Bahnen, mit dem Menschenleben vergleicht: »›Denn was streben in die Höhe, himmelwärts. Metapho- ist euer Leben? Ein Dampf ist’s, der eine kleine risch scheinen in intensiver Zwiesprache die Zeit währt, darnach aber verschwindet‹, wie es im Wolken als Sinnbilder permanenter Metamor- Jakobus-Brief heißt. Menschenleben und Wolken phose auf, im Spannungsfeld aus Wandel und sind ihrer Natur nach verwandt: in ihrer Flüchtig- Wiederkehr, Schönheit und Bedrohung. Mal keit, ihrem Dahineilen, ihren großen und kleinen, zieren feine Schleier(wolken) den Horizont der plötzlichen oder langsamen Veränderungen, in Wahrnehmung, mal werden sanfte Schäfchen- 4 wolken feurig angestrahlt, dann türmen sich gesellschaftlichen Realität in Rumänien darge- Cumuluswolken auf, von grellen Blitzen durch- stellt haben. Später betrieb Dinescu, gemeinsam zuckt. Wie Pfeile kreuzen und queren melodi- mit der Musikethnologin Emilia Comişel, selbst sche Fragmente das »Wolkenmeer«, schmiegen Feldforschung und unternahm eigene Expedi- sich an, stoßen durch, gelangen ins Freie, um sich tionen in die extrem vielfältigen – mitunter von sogleich wieder zu verhüllen, in wechselseitiger einem Dorf zum nächsten sich unterscheiden- Umgarnung und Durchdringung. den – Folklore-Landschaften ihres Heimatlandes. Seit früher Jugend beschäftigt sie sich aber auch mit Mathematik. Auf mathematisch-analyti- Mathematik und Volksmusik schen Verfahren basierende Kompositionstech- Obwohl die »Etudes de nuages« an spontane niken markieren bei ihr keinen Gegenpol zur Impulsivität gemahnen, sind sie exakt durch- Volksmusik, die für sie jenseits von Nostalgie organisiert. Aus der reizvollen Vereinigung von und romantisierenden Tendenzen angesiedelt strukturellem Denken und Anknüpfungspunkten ist. Zum einen leistete die Volksmusik (nicht nur an »alte« Traditionen speist sich die Musik von die des Balkanraums) historisch einen wichtigen Violeta Dinescu, die trotz früher Übersiedlung Beitrag beim Überschreiten der Schwelle zur nach Deutschland die für sie Identität stiftende »Moderne«; und zum anderen ist sie bis heute mit rumänische Folklore im Herzen trägt. Mehr noch: ihren ungewöhnlichen Spielweisen, ihrer spezifi- Elemente daraus sind für sie essenziell, wenn- schen Harmonik und vielfach heterophon gestal- gleich sie keine Zitate verwendet, sondern den teten Melodik ein bedeutender Faktor der Ton- »Geist« und die »Farben«, ja, das »Wesen« dieses kunst geblieben. Die Heterophonie als zwischen Repertoires einfließen lässt, was indes auf intuiti- Homophonie (Mehrklang oder Mehrstimmigkeit ver Ebene geschieht. Verwurzelt ist diese Haltung auf vertikaler Ebene) und Polyphonie (Mehrklang in Kindheitseindrücken, in denen sich volksmu- oder Mehrstimmigkeit auf horizontaler Ebene) sikalische Allusionen und Naturbilder – wozu schwebender Satztechnik, in der in Grundzügen eben auch Wolken zählen – miteinander verwo- identische Tonbewegungen sich in voneinander ben und womöglich auch einen Kontrapunkt zur abweichenden Stimmen entfalten, ist zudem 5 auch im rumänisch-byzantinischen Kirchenge- Wie ein Rückzugsgebiet erscheint vor diesem sang, einer weiteren zentralen Inspirationsquelle Hintergrund das latente Versinken in Phasen Violeta Dinescus, verbreitet. dynamischer Reduktion, wie ein Atemholen vor dem nächsten »Wolkenbruch« der Klänge. Vio- leta Dinescu schildert aber keine Gewitterstim- Zarte Anmut und mungen nach dem Vorbild von Ludwig van Beet- seelische Erschütterung hovens sechster Sinfonie (»Pastorale«). Fernab Strenge Konstruktion und Klangsinnlichkeit von jeder Tonmalerei bleibt der Strom der Musik sind für sie ebenso wenig ein Widerspruch wie in den »Etudes de nuages«, sich windend und Mathematik

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