11/2 · 2011 Unrecht und Recht Recht und Gesetz Unrecht und Recht – Recht und Gesetz Die Reichskammergerichtsakten im Historischen Archiv der Stadt Wetzlar Der Reichstag zu Worms im Jahre 1495 hatte die Ein- Bundesarchiv. Die Prozesse, die den Kreis Wetzlar betrafen, richtung eines Kammergerichtes zur Folge. Im Zuge der wurden nach Koblenz, später ins Hessische Hauptstaatsarchiv Reichsreform unter Kaiser Maximilian I. sollte auch eine nach Wiesbaden abgegeben. Nur die Akten der auf die Stadt Rechtsreform den Ewigen Landfrieden sichern. Als oberstes Wetzlar bezogenen Reichskammergerichtsprozesse blieben in Gericht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war der Stadt. Hier werden sie noch heute im Archivgebäude des es vorrangig bei Landfriedensbrüchen, für Fälle der Rechtsver- Reichskammergerichts, in dem seit 1907 u. a. das Historische weigerung, für Klagen gegen Reichsunmittelbare, aber auch als Archiv der Stadt Wetzlar untergebracht ist, verwahrt. Sie bilden Berufungsinstanz gegen Urteile von Stadt- und Landgerichten einen eigenen Bestand, da sie nicht zu den Archivalien städti- zuständig. Nachdem das Reichskammergericht in Frankfurt scher Provenienz gehören. konstituiert worden und in den Folgejahren zunächst an wech- Leider ist die Aufteilung der Reichskammergerichtsakten auf selnden Orten ansässig war, verlegte es 1526 seinen Sitz dau- die verschiedenen Archive sehr ungenau abgewickelt worden, erhaft nach Speyer. Hier blieb es, bis es angesichts drohender so dass manche Prozesse teilweise in Wetzlar und teilweise Zerstörung im Pfälzischen Erbfolgekrieg die Stadt verlassen in Wiesbaden, manchmal sogar in anderen Archiven lagern. musste. Nach kurzzeitiger Zuflucht in Frankfurt siedelte sich Auch etliche Prozesse, die von Wetzlarern geführt wurden, das Reichskammergericht schließlich 1689 in der Reichsstadt sind leider nicht im Historischen Archiv verblieben, sondern Wetzlar an. Im Jahre 1690 nahm das Gericht seine Tätigkeit ein- gelangten in andere Archive. geschränkt, drei Jahre später in vollem Umfang wieder auf. Die Wetzlarer Reichskammergerichtsakten umfassen 202 Pro- Obwohl ein Teil der Akten des Reichskammergerichts 1681 nach zessakten (183 Prozesse und 19 Nachträge), hinzu kommen Frankfurt in Sicherheit gebracht worden war, fielen dennoch Miscellanea und Bauakten, vor allem den Archivbau betref- bei der Besetzung Speyers den französischen Truppen zahllo- fend. Seit 1986 liegt ein von Jost Hausmann verfertigtes Re- se Prozessakten in die Hände. Nach deren Rückgabe wurden pertorium der Prozessakten der Stadt Wetzlar vor. Die Stadt sie in Aschaffenburg aufbewahrt, da es in Wetzlar, am neuen und ihre Einwohner sind auffallend oft in Prozessen vor dem Sitz des Reichskammergerichts, dafür keine Unterbringungs- Reichskammergericht vertreten. Dies liegt daran, dass das Ge- möglichkeit gab. In Wetzlar hatte man sogar Schwierigkeiten, richt seit 1690 fast wie ein „territoriales Obergericht“ für den die aus Frankfurt herbeigeschafften und die nach Wiedereröff- Raum Wetzlar in Anspruch genommen wurde. Das Personal nung des Gerichts neu entstehenden Akten ordnungsgemäß des Reichskammergerichts hatte zudem das Privileg, Verfah- einzulagern. Die Akten waren auf Stadttürme, Speicher und ren vor dem Reichskammergericht zu führen und nicht z.B. ähnliche ungeeignete Gebäude verteilt. Schließlich begann vor dem Stadtgericht. man im Jahre 1782 mit dem Bau eines Reichskammergerichts- In den im Historischen Archiv der Stadt lagernden Prozessen Archivgebäudes, um die Akten aus Aschaffenburg und jene aus waren 22-mal Bürgermeister und Rat der Stadt Wetzlar die den verschiedenen städtischen Lagerstätten in einem geeigne- klagende Partei, aber auch häufig geistliche Institutionen wie ten Gebäude zu vereinigen. Bis zur Auflösung des Heiligen Rö- das Marienstift (in 20 Fällen) oder das Franziskanerkloster, das mischen Reiches im Jahre 1806 arbeitete das Reichskammer- Jesuitenkolleg oder die reformierte Gemeinde. Verschiedene gericht und produzierte Prozessunterlagen. Der Archivneubau Zünfte klagten gegen Bürgermeister und Rat oder die Schöffen konnte bis dahin allerdings nicht vollendet werden. und erhofften z.B. Unterstützung bei der Aufhebung oder bei Unter Karl von Dalberg, seit 1803 neuer Landesherr der ehe- der Durchsetzung vorinstanzlicher Urteile. Aus dem gleichen maligen Reichsstadt, wurden schließlich 1808 die Reichskam- Grund wandte sich das Kaiserliche Postamt an das Reichskam- mergerichtsakten in Wetzlar vereinigt. Sie konnten nun im mergericht. Entgegen der häufig geäußerten Ansicht älterer notdürftig fertiggestellten Archivbau untergebracht werden. Historiker gab es zahlreiche Frauen, die vor dem Reichskam- Wenige Jahre später, in preußischer Zeit, bereitete die „Reichs- mergericht ihr Recht einklagen wollten. In 15 Fällen traten kammergerichts-Archivkommission“ die Aufteilung der Akten Frauen allein, ohne Vormund und nur durch einen Anwalt ver- vor. Alle abgeschlossenen, aber auch die nicht beendeten Pro- treten, als Klägerinnen auf. In 22 Fällen erschienen die Frauen zessakten sollten nach dem Wohnsitz des Beklagten bzw. dem gemeinsam mit (ihren) Männern. Die Prozessgegenstände der Sitz des vorinstanzlichen Gerichtes auf die einzelnen Länder Frauen unterschieden sich nur wenig von jenen der männli- des deutschen Bundes verteilt werden. Zwischen 1847 und chen Bevölkerung, allerdings kamen verfassungsrechtliche 1852 wurde dann die Aufteilung der Reichskammergerichts- Fragestellungen nicht vor. akten vollzogen, während in Wetzlar ein eigenes Archiv für Viele Prozesse gewähren interessante Einblicke in den Alltag die preußischen Akten geschaffen wurde. Dieses Preußische und das Leben in der Reichsstadt Wetzlar. Dabei reicht die Staatsarchiv Wetzlar fiel 1924 damaligen Einsparmaßnahmen Spanne der Prozessgegenstände von Akzise, Bürgerrecht oder zum Opfer, und die Reichskammergerichts-Prozessunterlagen Darlehen bis zu Versteigerung, Wechsel oder Zunftwesen. wurden auf die übrigen preußischen Staatsarchive verteilt. Manche der Prozessakten enthalten detaillierte Karten oder Der untrennbare Bestand, also beispielsweise die Urteilsbü- cher, konnte nicht aufgeteilt werden, kam in eine eigens ge- Audienz am Reichskammergericht. Kupferstich um 1735 ► schaffene Außenstelle in Frankfurt und befindet sich heute im (Städtische Sammlungen Wetzlar) 2 archivnachrichten 11/2 · 2011 Unrecht und Recht – Recht und Gesetz archivnachrichten 11/2 · 2011 3 Unrecht und Recht – Recht und Gesetz Pläne, aus denen die strittige Grenze oder das Grundstück genau hervorgehen. Mitunter befinden sich ältere Urkunden Literatur in den Akten, die einen Sachverhalt belegen sollen. Aber auch Jost Hausmann (Bearb.): Abteilung 1 Reichskammergericht, Teil 3 Zeugnisse, Atteste, Testamente usw. dienten der Bekräftigung Prozessakten des preußischen Kreises und der Stadt Wetzlar, des eigenen Standpunktes und wurden den Prozessunterlagen Band 3 Stadt Wetzlar. Wiesbaden 1986 (Repertorien des Hessi- beigegeben. schen Hauptstaatsarchivs Wiesbaden). Es ist eine lohnende Aufgabe, die Wetzlarer Reichskammerge- richtsakten einer genaueren Untersuchung zu unterziehen. Irene Jung ♦ Wiener Perspektiven für die hessische Landesgeschichte: Die Akten des kaiserlichen Reichshofrats Von einer zentralen Exekutive über ein stehendes Heer des 16. Jahrhunderts mit Ausnahme Savoyens die italienischen bis hin zu einer souveränen obersten Gewalt: Dem Alten Gebiete des Reiches in die ausschließliche Zuständigkeit des Reich fehlte „fast alles von dem, was moderne Staatlich- Reichshofrats, der bis zur Einrichtung der österreichischen keit kennzeichnet“.1 Nichtsdestotrotz bildete dieses politische Hofkanzlei (1620) auch österreichische Angelegenheiten un- System ein „Reich der Schriftlichkeit“ (Johannes Burkhardt), ter Ausschluss der Erblande Ungarn und Böhmen bearbeitete. das in zahlreichen Archiven Mitteleuropas ein umfangreiches Hinsichtlich seiner judikativen Funktionen war der Reichshof- Erbe hinterlassen hat. Die Wiederentdeckung des Alten Rei- rat in konkurrierender Gerichtsbarkeit mit dem Reichskam- ches als einer prinzipiell funktionsfähigen Rechtslandschaft mergericht erstinstanzlich für Klagen wegen Land- und Religi- basiert deshalb nicht zuletzt auf einer Hinwendung zu den onsfriedensbruchs sowie Verfahren gegen Reichsunmittelbare archivalischen Quellen. Besonders eindrücklich verkörpert zuständig und fungierte – unter Beachtung der „Privilegia de diesen Paradigmenwechsel, der gewiss eine der wichtigsten non appellando“ – als Berufungsinstanz gegen Urteile terri- Leistungen der Frühneuzeithistoriographie in den vergange- torialer Gerichte. In Fällen von Rechtsverweigerung (iustitia nen Jahrzehnten darstellt, die in Wetzlar auch institutionell denegata) und Rechtsverzögerung (iustitia protracta) stand verankerte Reichskammergerichtsforschung.2 Diese basiert darüber hinaus prinzipiell allen Bevölkerungsgruppen eine ihrerseits maßgeblich auf den seit den 1980er Jahren mit Un- erstinstanzliche Anrufung des Reichshofrats offen. terstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstellten Das Verhältnis der beiden obersten Reichsgerichte zueinan- Inventaren der deutschen Reichskammergerichtsakten und der wurde dabei maßgeblich durch das Prinzip der Präventi- liefert insofern zugleich einen eindrucksvollen Beleg für die on bestimmt, wonach das Gericht, bei dem der Prozess zuerst forschungsstrategische Relevanz von Erschließung als archivi- anhängig gemacht worden war, für das gesamte Verfahren scher Kernaufgabe. Das „neue Bild vom Alten Reich“ (Anton zuständig bleiben sollte. Der neueren
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