Olga Grjasnowa Der Russe ist einer, der Birken liebt (2011) Zur Autorin Olga Grjasnowa wurde 1984 in Baku, Aserbaidschan, in eine russisch-jüdische Familie hineingeboren. Dort arbeitete der Vater als Rechtsanwalt und die Mutter als Musikerin. 1996 übersiedelte die Familie als nach Hessen, wo Grjasnowa mit elf Jahren Deutsch lernte und in Friedberg die Schule abschloss. Ab 2005 stu- dierte sie zunächst Kunstgeschichte und Slawistik in Göttingen, wechselte dann aber ans Deutsche Literaturinstitut Leipzig in den Studiengang „Literarisches Schreiben“, wo sie 2010 den Bachelor erwarb. Es folgten Studienaufenthalte in Polen, Russland und Israel. Olga Grjasnowa ist verheiratet und Mutter von zwei Kindern. Sie lebt als freie Autorin in Berlin. Werke • Der Russe ist einer, der Birken liebt. Roman. Hanser Verlag 2012 • Die juristische Unschärfe einer Ehe. Roman. Hanser Verlag 2014 • Gott ist nicht schüchtern. Roman. Aufbau Verlag 2017 • Der verlorene Sohn. Roman. Aufbau Verlag 2020 Preise (Auswahl) • 2010: Grenzgänger-Stipendium der Robert-Bosch-Stiftung • 2012: Anna Seghers-Preis • 2012: Klaus Michael Kühne- Preis für den besten ersten Roman • 2012: Hermann Lenz-Stipendium • 2013: Stadtschreiberin in Rio de Janeiro • 2014: Writer in Residence in Amsterdam • 2014:Aufenthaltsstipendium im Literaturhaus Lenzburg, Schweiz • 2015: Adalbert von Chamisso – Preis • 2016: Aufenthaltsstipendium Kulturakademie Tarabya • 2018: Writer in Residence an der University of Oxford Der Russe ist einer, der Birken liebt Aufbau und Erzählweise Das Buch gliedert sich in vier unterschiedlich umfangreiche Teile. Alle vier Teile sind in Kapitel unterteilt. Zu Beginn des Romans sind die Teile und Kapitel länger, gegen Ende werden sie kürzer. Das verleiht dem Roman gegen das Ende hin eine gewisse Atemlosigkeit, was sehr gut zu wachsenden Krise passt, in die Mascha hineingerät. Teil 1 spielt in Frankfurt, als Elias noch lebt. Teil 2 spielt in Frankfurt nach dem Tod von Elias. Teil 3 spielt in Israel. Teil 4, der nur noch ein paar Seiten lang ist, spielt in Palästina. Die Erzählzeit umfasst ein knappes Jahr. Elias verunfallt im November, stirbt kurz vor Weihnachten. Am Endes des Buches ist es Oktober des nächsten Jahres. In dieser Zeit passiert viel, gleichzeitig erfahren wir viel aus dem früheren Leben der Protagonistin. Der Roman ist durchgehend aus der Sicht der 27jährigen Mascha Kogan geschrieben. Sprache Der Sprachstil des Romans ist stark von Dialogen geprägt und von Beschreibungen von Menschen und Räumlichkeiten. Die Autorin schreibt anschaulich, präzise. Im Roman steckt viel kulturelles Wissen über Essen, Kleider, historische und politische Konflikte und die jüdische Tradition. Die Ich-Person ist klug und hat eine scharfe, sinnliche Aussenwahrnehmung. Ihre Gefühle beschreibt eher indirekt. Eine Ausnahme bildet die Trauer um Elias. In die Dialoge fliessen umgangssprachliche Elemente ein, es ist wiederholt von «verarschen», «ficken», «Scheisse» etc. die Rede. Figuren Mascha ist sprachlich hochbegabt, sie macht ein Doppelstudium, hat glänzende Noten, spricht zahlreiche Sprachen und träumt von einer Stelle als Dolmetscherin bei der UN. Hinter dem sprachlichen Eifer von Mascha steckt die Erfahrung der Sprachlosigkeit, als Mascha elfjährig von Baku nach Friedberg in Hessen kam und in der Schule zu hinderst sitzen musste, weil sie kein Wort Deutsch verstand. Mascha ist fleissig, ehrgeizig und berechnend. Das zeigt die Szene, als sie mit Professor Windmühle schläft, um allenfalls ein besseres Angebot als Dolmetscherin zu bekommen. Mascha ist Einzelkind. Ihre Eltern hatten ihr in Baku ein perfektes bildungsbürgerliches Leben eingerichtet, es hat ihr damals an nichts gefehlt. Dann kam der Bürgerkrieg zwischen Russen und Armeniern, der blutig und unübersichtlich war und die Existenz der Eltern zerstörte. Schliesslich entschieden sie sich als Kontingentsflüchtlinge nach Deutschland zu migrieren. Das war möglich, weil Maschas Mutter jüdischer Ab- stammung war und ihre Grossmutter eine Überlebende des Holocausts. Wie sich ganz am Ende des Buches herausstellt, rühren die psychischen Probleme von Mascha von einer posttraumatischen Störung, einer Folge des Bürgerkriegs in Baku: Mascha wurde als Kind Zeugin davon, wie eine Frau aus dem Fenster stürzte und auf der Strasse tot liegenblieb. Die Frau trug ein blaues Kleid (S.283). Mascha geht so nahe ran, dass das Blut dieser Frau später an ihren Schuhen klebt. Mascha wird zur Grossmutter gebracht, wo sie Nasenbluten bekommt. In dem Augenblick, als sich die erwachsenen Mascha an diese Szene erinnert, trägt sie ebenfalls ein blaues Kleid und hat Nasenbluten. Ihre Sehnsucht nach Geborgenheit in der Beziehung zu Elias ist also nicht nur ein Reflex auf das entfesselte und internationale Leben der Nachwende-Generation, sondern hat tiefere seelische Gründe. Dieser Umstand macht Mascha aus meiner Sicht zu einer tragischen Figur: Gerade sie, die es besonders nötig hätte, geliebt und aufgehoben zu sein, verliert ihren über alles geliebten Partner durch Komplikationen nach einem Beinbruch. All das Wodka-Trinken, Kiffen und Party-Feiern ist nur ein Versuch, sich dieser seelischen Not nicht stellen zu müssen. Vollends zieht es ihr den Boden unter den Füssen weg, als sie in Israel dauernd erklären muss, dass sie zwar jüdisch ist, aber kein Hebräisch spricht, sich als Deutsche fühlt und Arabisch mit libanesischem Akzent spricht. Maschas Eltern: Auffallend ist, dass es auch in diesem Roman die Frauen sind, welche die Familien am neuen Ort im Westen ökonomisch durchbringen. Alle drei Partner schafften das nicht. Interessant ist auch, dass in allen drei Romanen Jury Gagarin und die sowjetische Raumfahrt eine grosse Rolle spielen: In «In der einer Nacht, woanders» arbeitet die Grossmutter bei der Raumfahrtbehörde, für den Vater vom Protagonistin in «Berlin liegt im Osten» ist Gagarin ein unerreichtes Vorbild, ebenso für den Vater von Mascha. Er ist wie Gagarin an einer Militärakademie zum Kosmonauten ausgebildet worden, er absolvierte die Trainings, macht alles mit, doch ins Weltall geflogen ist er nie. In Deutschland ist der Vater von Mascha arbeitslos, er trägt nichts zum Einkommen der Familie bei, weil er, wie es an einer Stelle heisst, damit nicht klar kommt, dass er «hier keine Verbindungen» (S. 157) hat. Maschas Mutter ist nicht glücklich als Klavierlehrerin in Friedberg, aber immerhin kann sie arbeiten. Sie raucht viel, isst sehr wenig, aber sie ist der Tochter nach dem Tod von Elias doch eine grosse Stütze. Die Eltern sind stolz auf die akademischen Erfolge ihrer Tochter. Elias ist aufgewachsen in Thüringen zu DDR-Zeiten. Nach der Wende ist er in den Westen gegangen, hat in Frankfurt an der Kunsthochschule Fotografie studiert. Dass sich Elias beim Fussballspiel das Bein bricht, kann als späte Rache seines Vaters gelesen werden. Sein Vater trainierte jahrelang die Junioren in Apolda und ärgerte sich oft über das mangende Talent und den mangelnden Ehrgeiz seines Sohnes. Der Vater ist Alkoholiker. Elias ist sehr oft von seinem Vater geschlagen worden. Mascha hat ein sehr gebrochenes und distanziertes Verhältnis zu Holger und Elke, den Eltern von Elias. Das geht aus der Szenen vor der Beerdigung und aus der Szene, in der der Vater die Sachen von Elias abholt, hervor. Mascha erhält nach vielen Monaten in Tel Aviv eine Brief von Elke. Sie zerreisst ihn. Sami ist der Ex-Freund von Mascha. Sie hat zum ihm immer noch eine sehr enge Beziehung. Sami hat einen Schweizer Vater und eine libanesische Mutter, ist in Paris, Frankfurt und Amerika aufgewachsen. Über ein Jahr lang bekommt er kein Einreise- Visum in die USA, weil ihn sein libanesischer Pass verdächtig macht. Sami ist Dolmetscher wie Mascha, doch er möchte zurück in die USA, weil dort sein Bruder lebt und seine grosse Liebe Neda, auf die Mascha insgeheim eifersüchtig ist. Mascha ist auch überzeugt, dass die Beziehung zwischen ihr und Sami daran gescheitert ist, dass Sami Neda nie vergessen konnte. Von Sami hat Mascha den libanesischen Akzent in ihrem Arabisch, und Sami ist es auch, den sie am Ende des Buches anruft, damit er sie zurückhole. Mascha hat auch eine gute Beziehung zur Mutter von Sami und der kleinen Schwester Leyla. Cem ist der dritte im Bunde. Mascha liebt es, kräftige junge Männer um sich zu haben. Cem ist ebenfalls Dolmetscher, gegen Ende des Buches wird klar, dass er promovieren möchte. Die Motivation für dieses grosse Projekt kommt bei Cem aus den vielen Kränkungen, die er von Lehrpersonen und anderen als Türke in Deutschland erfahren hat. Obwohl er in Deutschland geboren wurde und aufgewachsen ist, muss er sich immer wieder bei der Ausländerbehörde melden. Die Episoden, in denen Cem den Rassismus, den er tagtäglich erlebt, schildert, gehören für mich zu den besten des Buches (zum Beispiel S. 220). Cem ist eine sehr treue Seele, der begleitet Mascha an die Beerdigung von Elias in Apolda, er besucht sie in Israel und er meldet sie für die Dolmetscherprüfung beider UN in Wien an. Cem ist warmherzig und höflich, in ganz seltenen Fällen kann er aber auch ausrasten. In Israel lernt Mascha das Geschwisterpaar Ori und Tal kennen. Ori erinnert sie an Elias, sie schlafen einmal miteinander, sonst bleibt ihre Beziehung freundschaftlich kollegial. Ori war lange Soldat der israelischen Armee und muss zwischendurch immer wieder zu seiner Einheit zurückkehren. Tal ist eine schwerfassbare Figur, auch sie war eine Zeitlang beim Militär, was sie sehr belastet hat. Schliesslich wurde sie aus ideologischen Gründen entlassen. Nach einem Drogentrip durch Fernost kommt sie auf kalten Entzug
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