Eliten Januar 2012 21 Josiane Weber Politische Eliten in Luxemburg Die Rekrutierung der Minister in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Zu den Eliten in sozialen Gebilden gehö- schiedenen Regierungen tätig waren.2 Die verstehen. Im Folgenden wird untersucht, ren Gruppen und Personen, die kraft ihrer Besetzung von Ministerposten folgte kom- ob und wie Faktoren wie die soziale Ab- Funktionen zu Machtstellungen gelangen plizierten und teilweise undurchsichtigen stammung, die familiären Beziehungen, und die ihre Vorstellungen und Befehle Rekrutierungsverfahren, beeinflusst durch die regionale Herkunft, die Ausbildung durchsetzen können. Da die Funktionsfä- Zensuswahlrecht, Abwesenheit von organi- und der Karriereverlauf die Regierungsbil- higkeit politischer Systeme von der perso- sierten Parteien, wechselnde Verfassungen dungen im 19. Jahrhundert beeinflussten. nellen Besetzung ihrer Führungsgruppen abhängt, befasst sich die Elitenforschung Soziale Abstammung der Minister 1 mit dem Prozess der Elitenrekrutierung. Der familiäre Status vermittelte Die zentralen Fragen, die sich bei der Se- einen Prestigevorsprung und erwies Beruf Vater Zahl der Prozent- lektion von politischen Eliten stellen, lau- sich als maßgeblich bei der Minister sätze ten: Wer waren die Inhaber von Spitzen- Besetzung von Ministerämtern. Hoher Beamter, 12 40 % positionen und wie gelangten sie an die Politiker Macht? Wie war ihre soziale Herkunft, aus Freiberufler 3 10 % welchen Schichten rekrutierten sie sich? und den Dauerstreit um die Machtver- Großgrundbesitzer 6 20 % Existierte eine prinzipielle Offenheit der teilung zwischen Krone und Parlament. Fabrikanten, selbst- 3 10 % Führungspositionen für jeden oder wurde Die Minister agierten eher als Verwalter ständige Handwerker die Wahl aus einem engen Kreis Privile- denn als Politiker; ihr Titel lautete fol- Händler, Kaufleute 3 10 % gierter heraus getroffen? Wie dicht waren gerichtig „administrateur général“ bzw. Bauern, Arbeiter 3 10 % die verwandtschaftlichen und gesellschaft- seit 1857 „directeur général“. Die durch- lichen Beziehungsnetze innerhalb der schnittliche Zahl der Regierungsmitglie- Führungsgruppe und welche Schichten der belief sich auf vier: der Regierung- Das Ansehen einer Familie war ein wichti- umfasste ihr Heiratskreis? Welche Ausle- schef und drei Minister. Insgesamt gab ger Faktor für die Auswahl als Regierungs- sekriterien wurden bei der Vergabe von es in den 50 Jahren 31 unterschiedliche mitglied. Dreierlei deutet darauf hin, dass Posten angewandt? Regierungszusammensetzungen.3 die Familienzugehörigkeit eine maßgebli- che Rolle bei der Besetzung von Minister- Diese Untersuchung der politischen Eli- Als Methode zur Analyse der Minister- ämtern im 19. Jahrhundert spielte: Zum ten Luxemburgs in der zweiten Hälfte des rekrutierung wurde ein prosopographi- einen die im Vergleich zur Bevölkerung 19. Jahrhunderts umfasst die 30 Minister, scher Ansatz gewählt. Die Prosopographie proportional übermäßig hohe Zahl von die während dieser Zeitspanne in den ver- ist sicherlich eine der geeignetsten Metho- Adeligen, zum zweiten die Präsenz vieler den für die Erforschung sozialer Gruppen Söhne von hohen Politikern und Nota- im Staat.4 Ein von Raum und Zeit abge- beln in den Regierungen und zum dritten Josiane Weber ist Gymnasiallehrerin im ECG und seit grenzter Personenkreis wird mit Hilfe von die verhältnismäßig wenigen Aufsteiger. 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre natio- individuellen Biographien rekonstruiert, Mit sechs Ministern, also 20 Prozent der nal de littérature in Mersch. Sie hat 2011 im Fachbe- reich Geschichte an der Universität Trier zum Thema die nach bestimmten Faktoren analysiert Regierungsmitglieder, springt die Domi- Familien der Oberschicht in Luxemburg (1850-1900): und verglichen werden, um so die Struk- nanz der Adeligen ins Auge. 1866 bildete Elitenbildung und Lebenswelten promoviert. tur und Funktionsweise des Ganzen zu Victor de Tornaco sogar ein gänzlich aus 22 forum 314 Dossier Von links nach rechts: Baron Victor de Tornaco (1805-1875), Staatsminister von 1860 bis 1867; Emmanuel Servais (1811-1890), Staatsminister von 1867 bis 1874; Mathias Mongenast (1843-1926), Finanzminister von 1882 bis 1915, Staatsminister ff. vom 12.10.-6.11.1915 Adeligen bestehendes Kabinett, das in in Luxemburg eine gewisse Kontinuität Soziale Herkunft der Ehefrauen der Presse als „Regierung der Barone“ herrschte. Die Nachkommen des Wirt- verspottet und als nicht angebracht kriti- schaftsbürgertums machten dagegen nur Beruf Schwiegervater Zahl der Prozent- siert wurde in einem Land, in dem nur 20 Prozent aus. Minister sätze 5 wenige Adelige lebten. Der Adel als Attri- Industrielle, Fabrikanten, 6 23,08 % but verschaffte einen Ansehensvorsprung Der soziale Status allein erklärt jedoch Unternehmer und stellte ein Selektionskriterium für das nicht ausreichend den Rekrutierungspro- (Groß)kaufleute, Händler 5 19,23 % Ministeramt dar, das selbst mangelndes zess. Immerhin drei von dreißig Ministern, Großgrundbesitzer 5 19,23 % 6 Fachwissen kompensieren konnte. Freiberufler (Anwalt, 6 23,08 % Notar, Arzt) Es handelt sich wohl auch kaum um ei- Der Adel als Attribut verschaffte Staatsbeamter 1 3,85 % einen Ansehensvorsprung und nen Zufall, dass sieben Minister Söhne Unbestimmt 3 11,53 % von hohen Politikern waren: Jean-Jacques stellte ein Selektionskriterium Willmars und Léon de la Fontaines Väter für das Ministeramt dar, das hatten das Amt des Gouverneurs bekleidet, selbst mangelndes Fachwissen Neben der direkten familiären Abstam- Georges Ulvelings, Ernest Simons’ und kompensieren konnte. mung erwiesen sich die Heiraten als ein Paul Eyschens Väter waren selbst Minister nicht zu vernachlässigender Aufstiegsfak- gewesen; Paul de Scherffs Vater hatte als tor bei der politischen Karriere. Die Ana- Minister für Luxemburger Angelegenhei- Jean Ulveling, Mathias Ulrich und Henri lyse der Eheschließungen der 26 verheira- ten bei der Frankfurter Bundesversamm- Kirpach, stammten aus armen Familien. teten Minister ergibt, dass es bei keinem lung amtiert und Félix de Blochausens Ihr Aufstieg wurde nur möglich durch eine zu einem gesellschaftlichen Abstieg kam. Vater war Kanzler des Großherzogtums in hervorragende Intelligenz, einen eisernen Nur drei der sechs adeligen Minister wähl- Den Haag. Willen und einen außergewöhnlichen ten sich ihre Frauen direkt aus adeligen Fleiß. Dabei ist ebenfalls ihre Förderung Familien, die anderen heirateten jedoch Die meisten Väter der übrigen Minister und Protektion durch bestimmte Perso- durchaus standesgemäß in sehr wohlha- stammten aus dem gehobenen und mittle- nengruppen hervorzuheben, so die Dorf- bende und hochangesehene bürgerliche ren Bürgertum Luxemburgs. Sie verdien- pfarrer, welche die Jungen zu sich nahmen Familien ein.8 Der soziale Aufstieg der ten ihren Lebensunterhalt als Notare, An- und sie auf ein Niveau hoben, das ihnen zwei Minister Ulrich und Ulveling zeigte wälte oder Staatsbeamte, hatten leitende ermöglichte, die Sekundarstudien im sich auch an ihren Ehen: Ulrich heiratete Funktionen beim Militär oder waren Athenäum zu beginnen, und begüterte Fa- Marie Fischer, die Tochter eines Gerberei- Industrielle, Geschäftsleute und Groß- milien, die fleißige und begabte Dorfjun- besitzers, und Ulveling nahm Catherine grundbesitzer. Mehr als die Hälfte gehörte gen finanziell unterstützten, damit sie stu- Rischard, deren Vater Notar in Wiltz war, zu den Nachkommen der alten Notabeln- dieren konnten. In diesen Ausnahmefällen zur Frau. Es fällt auf, dass über die Hälfte familien, was verdeutlicht, dass, anders als bestimmten also meritokratische Kriterien der Minister Frauen ehelichten, deren Vä- in Frankreich, wo neue Schichten aus dem stärker den sozialen Aufstieg als die Her- ter Großgrundbesitzer, Industrielle oder akademischen Bürgertum aufstiegen,7 kunft und die Schichtenzugehörigkeit. wohlhabende Kaufleute waren, während Eliten Januar 2012 23 nur ein Minister einen Staatsbeamten als Teil mit der gleichen regionalen Herkunft gen und Parlamenten lässt sich hauptsäch- Schwiegervater besaß. Dies deutet auf eine erklären. lich durch den Erwerb von spezifischen Bereicherung der Minister durch die Ehe Kompetenzen erklären. Insbesondere ihre hin. Neben Diekirch war das in der Nähe Fähigkeit, das geschriebene und gespro- gelegene Ettelbrück ebenfalls eine Ort- chene Wort mit Leichtigkeit zu handha- Manche Ministerernennungen lassen sich schaft, aus der mehrere Minister kamen: ben und damit Einfluss auf die Öffentlich- mit einer gewissen Sicherheit über die Augustin, Salentiny, Mongenast sowie de keit zu nehmen, gab ihnen den Schlüssel Eheschließungen erklären. Ernest Simons Blochausen, der in der Nachbarschaft Et- zur Macht. war sowohl der Sohn des Staatsministers telbrücks, im Schloss Birtringen, lebte. De Mathias Simons als auch mit Emilie Gillard Blochausen überredete den Ettelbrücker Berufliche Stellung vor dem ersten verheiratet, einer Nichte des späteren Re- Rechtsanwalt Mathias Mongenast 1882 Ministeramt gierungschefs Emmanuel Servais. Auch die zum Eintritt in seine Regierung.10 Nominierung des Protestanten und gebür- Berufliche Stellung Zahl der Prozent- tigen Deutschen Paul de Scherff zu einem Ausbildung Minister sätze Ministeramt wurde nur möglich durch Staatsbeamte insgesamt 21 70 % seine Heirat in die angesehene und rei- Fachrichtung Zahl der Prozent- Davon: 9 Regierungsrat 5 16,66 % che Kaufmannsfamilie Pescatore-Beving. Minister sätze Obergerichtsrat/ 6/ 23,33 % Jura 25 83,33 % Verwandtschaftsbeziehungen und Hei- Gerichtsrat 1 ratsverbindungen
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