DIE UNGEFAßTEN ALTARWERKE DES AUSGEHENDEN MITTELALTERS UND DER DÜRERZEIT vorgelegt von Georg Habenicht aus Göttingen an der Philosophischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen Erstgutachter: Prof. Dr. Karl Arndt Zweitgutachter: Prof. Dr. Antje Middeldorf Tag der münchlichen Prüfung: 06.12.1999 - 2 - INHALT VORWORT 3 EINLEITUNG 4 DIE HISTORISCH ARGUMENTIERENDE RICHTUNG 9 DIE ÄSTHETISCH ARGUMENTIERENDE RICHTUNG 21 Lasierende Oberflächentönung 21 Lichtführung 27 Exkurs: Der Moosburger Hochaltar 33 Schnitzerische Oberflächendifferenzeirung 41 DENKBARE AUSLÖSER FÜR EINEN GESCHMACKSWANDEL 47 GEFAßTE UND UNGEFAßTE HOLZSKULPTUR IM VERGLEICH 58 Gefaßte und ungefaßte Darstellung der Leiden Christi 70 DIE PRAKTISCHE REALISIERUNG VON ALTARRETABELN 75 DIE BEAUFTRAGUNG EINES GESAMT- BZW. GENERALUNTERNEHMERS 77 DIE SEPARATE BEAUFTRAGUNG VERSCHIEDENER INDIVIDUALUNTERNEHMER 84 Die gemeinsame Abwicklung des Schreiner- und Schnitzauftrags durch einen Bildschnitzer 96 Die gesonderte Fertigung der Retabelarchitektur durch einen Schreiner 114 Die Abwicklung des Faß- und Malauftrags durch einen Maler 116 DIE FINANZIERUNG EINES ALTARRETABELS 129 Das Kefermarkter Hochaltarretabel 139 Das Windsheimer Zwölf-Boten-Retabel 140 Das Windsheimer Hochaltarretabel 141 Die Kollektivstiftung 143 DER LITURGISCHE GEBRAUCH DES FLÜGELRETABELS 150 DIE AUSWIRKUNGEN DER REFORMATION AUF DIE RETABELPRODUKTION 160 Der Kalkarer Hochaltar 175 Der Bordesholmer Altar 177 DIE ENTWICKLUNG HIN ZUM UNGEFAßTEN ALTARRETABEL 183 Das St. Galler Hochaltarretabel 187 Das Ulmer Hochaltarretabel 190 Das Alpirsbacher Retabel 194 Das Breisacher Hochaltarretabel 195 ABSCHLIEßENDE BEMERKUNGEN ZUM ENTSTEHUNGSPROZEß UNGEFAßTER ALTARRETABEL 197 QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS 202 ABBILDUNGSVERZEICHNIS 225 - 3 - VORWORT Diese Arbeit wurde 1996 begonnen und im Sommersemester 1999 von der Philosophischen Fakultät der Georg August-Universität Göttingen als Dissertation mit dem Titel „Die ungefaßten Altarwerke des ausgehenden Mittelalters und der Dürerzeit“ angenommen. Ihrer Veröffentlichung sei ein Wort des Dankes vorausgeschickt. An erster Stelle möchte ich meinen Doktorvater Prof. Dr. Karl Arndt nennen. Seine Art der Kunstbetrachtung hat mich geprägt, und seine stete Förderung und Anteilnahme trugen zuvorderst zum Gelingen dieser Untersuchung bei. Auch Prof. Dr. Hartmut Boockmann hatte daran hohen Anteil. Von ihm habe ich erfahren, wie Geschichte und Kunstgeschichte sich aufs Beste ergänzen. Nach seinem plötzlichen Tod übernahm Frau Prof. Dr. Antje Middeldorf Kosegarten ohne Umschweife seinen Teil der Betreuung. Der Forschungsgegenstand brachte es mit sich, daß ich zwischen Schleswig und Breisach ausgedehnte Reisen unternehmen mußte. Wo immer es war, stets wurde alles getan, den nicht immer einfachen Wünschen entgegen zu kommen. Eine unvergeßliche Fahrt führte nach Österreich, in die Slowakei und nach Ungarn - unvergessen nicht zuletzt wegen der Herzlichkeit, mit welcher der Verfasser und sein Begleiter, Dr. Thomas Noll, in Budapest bei Frau Dr. Gyöngyi Török von der Ungarischen Nationalgalerie Aufnahme fanden. Um Einblick in die Arbeitsweise von Restauratoren zu erhalten, hospitierte ich in den Werkstätten des Bayerischen Nationalmuseums München. Für manches hilfreiche Gespräch, das ich dort führen konnte, sei Dr. Reinhold Baumstark, damaliger Generaldirektor, Joachim Haag, damaliger Chefkonservator, und Rudolf Göbel, Konservator, gedankt. Zuspruch und Anregung erfuhr ich ferner von Prof. Dr. Georg Himmelheber und Dr. Frank Matthias Kammel, Kustos am Germanischen Nationalmuseum Nürnberg. Als Glücksfall erwies sich der Gesprächsrahmen des Göttinger Graduiertenkollegs „Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich“, das den Fortgang der Arbeit nicht allein wissenschaftlich, sondern auch materiell förderte. Ein herzlicher Dank gilt meiner Frau Eva-Maria für ihre Geduld. - Widmen möchte ich dieses Buch meinen Eltern Eva Margaretha und Gerhard Habenicht, denen ich alles verdanke. Göttingen, im Sommer 2000 Georg Habenicht - 4 - EINLEITUNG Eine Tür geht auf, und wir blicken in die Werkstatt Tilman Riemenschneiders. Wir sehen, wie der noch junge Meister gerade letzte Hand anlegt an das Standbild der Heiligen Elisabeth vom Münnerstädter Hochaltarretabel. Die Figur ist als eine von drei zentralen, lebensgroßen Skulpturen für das Mittelstück, den Schrein, bestimmt. Es wundert daher nicht, daß Riemenschneider ihr ein Höchstmaß an künstlerischer Sorgfalt angedeihen läßt. Dann hält er inne, tritt einige Schritte zurück und betrachtet das Werk prüfend: In einer eleganten S-Kurve steht die Heilige vor ihm. Etwas Körperloses, Stilles strömt von ihr aus. Das Antlitz ist weich modelliert und die reiche Gewandung von Kleid und Mantel wirft bald zarte, fast weiche Falten, bald tiefe, geknitterte Faltenschluchten, aus denen sich ein abwechslungsreiches Spiel aus Licht und Schatten entfaltet. Die Figur umgibt ein Zauber, und dieser Zauber rührt nicht zuletzt von der subtilen Ausführung aller Details und jenem leicht getönten Film, der die Lindenholzfigur in Gänze überzieht und ihr einen bernsteinfarbenen, überirdischen Schimmer verleiht. – Ein Lächeln umspielt Tilman Riemenschneiders Mund. Zufrieden legt er sein Werkzeug aus der Hand. Offensichtlich ist er fertig!? Wir fragen: Ist er es wirklich? Und ist es die Heiligenfigur auch, selbst wenn sie traditionell noch aufwendig bemalt – gefaßt, wie der Kunsthistoriker sagt – und reich vergoldet werden sollte? Und wenn ja, ist er fertig, weil er dieses schöne Werk nicht gefaßt wissen wollte? Ja, war ihm der bloße Gedanke, diese subtile Schöpfung könnte mit aufdringlich leuchtender Polychromie und grell reflektierender Vergoldung ummäntelt werden, unerträglich? War der Verzicht auf Fassung mithin seine ästhetische Setzung? Oder ist er fertig, weil er als Bildschnitzer seinen Lindenholzbildwerken eine Fassung gar nicht hinzufügen durfte, selbst wenn er es gewollt hätte, etwa weil die Zunftordnung dem entgegenstand? War der Fassungsverzicht mithin gar kein heroischer Ausbruch, sondern ganz im Gegenteil ein folgsames Sich-Beugen vor einem in Zunftsatzungen gegossenen handwerklichen Regelkanon? Oder ist er fertig, weil man eine Fassung von ihm gar nicht forderte, sei es, weil die Auftraggeber die Skulptur lieber von einem anderen Künstler als ihm gefaßt sehen wollten, sei es, weil sie beabsichtigten, ihr ‚Kunstwerk’ überhaupt nicht mehr fassen zu lassen? Oder war am Ende die weitreichende Neuerung Ausdruck eines sich wandelnden, überindividuellen Mentalitätsklimas, das die Gesellschaft am Vorabend der Reformation mächtig ergriffen hatte und dem sich weder Künstler noch Auftraggeber zu entziehen vermochten? Diese Fragen und zahlreiche andere lassen die kunsthistorische Forschung seit vielen Jahren nicht mehr los. Viele Hypothesen wurden geäußert, ohne daß eine befriedigende Antwort, darüber ist man sich einig, gefunden worden wäre. Dies hängt nicht mit der Güte der Lösungsvorschläge zusammen. Es gab in dieser Beziehung die klügsten Kombinationen. Eher schon scheint für das Ungenügen eine hypertrophe Erwartungshaltung ursächlich zu sein, die den Fassungsverzicht als revolutionären Einschnitt verstand und von daher nach spektakulären Erklärungen Ausschau hielt. In dem Maße, wie sich die Frage zu einem der letzten großen Rätsel in der Kunst des ausgehenden Mittelalters und der Dürerzeit aufschaukelte, gab man sich nicht länger mit Lösungen zufrieden, die dem Phänomen in seinen scheinbar riesenhaften Proportionen nicht auch entsprachen. Also schweifte der Blick in die Ferne, wurde das Naheliegende übersehen. Dabei steht fest, daß auch die nüchterne Einschätzung dem Sachverhalt nichts von seiner Bedeutung nimmt. Die ungefaßte Altarskulptur besetzte schließlich zentrale Standorte im öffentlichen Raum. Das ungefaßte Heiligenstandbild auf dem Hauptaltar der Stadtkirche war sicherlich genauso unübersehbar wie eine Brunnenfigur auf dem Marktplatz. Dieser Umstand - 5 - macht es schwer vorstellbar, die Auftraggeber hätten die ungefaßten Altarretabel gar nicht bemerkt oder gewissermaßen achselzuckend hingenommen, als ginge sie das Ganze nichts an. Zu Recht wird man davon ausgehen können, daß intentionales Handeln dafür verantwortlich war, mit anderen Worten, daß dahinter ein Wille stand. Aber welcher? Wer sich der ungefaßten Altarskulptur nicht von der Stifterseite, sondern von der Künstlerseite nähert, wird mit der hohen künstlerischen Potenz ihrer Schöpfer konfrontiert. Von kunsthistorischer Warte nämlich gilt, daß das Creglinger Marienretabel von Tilman Riemenschneider, der Bordesholmer Altar von Hans Brüggemann, der sog. Bamberger Altar von Veit Stoß oder der Breisacher Altar des Meisters H. L. allesamt Hauptwerke spätgotischer Skulptur sind – und ungefaßt. Nicht von ungefähr, wie die Forschung überwiegend befindet, weisen doch die ungefaßten Altarskulpturen nicht selten einen ganz anderen Ausführungsgrad als herkömmlich polychromierte Bildwerke auf, bei denen etwaige schnitzerische Unzulänglichkeiten unter dem schützenden Deckmantel der Fassung verschwinden. Von daher besteht nahezu Einhelligkeit darüber, daß die ungefaßten Altarwerke auch holzsichtig konzipiert sind: Eine Auffassung, die in Bezug auf Riemenschneider, dem Meister der „äußerst verfeinerte(n), nuancenreiche(n) Oberflächenbehandlung“1 zur lexikalischen Gewißheit führte; denn „waren seine Werke zunächst noch farbig gefaßt, so entschied er sich wohl seit dem Münnerstädter Altar (1490-92) für eine monochrome honigfarbene Fassung, die er durch einen ölhaltigen Leimüberzug erreichte“2. Holzsichtig,
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