Stadtbuch Wien 1983. Falter Verlag Wien 1983 Mit Beiträgen Von Franz

Stadtbuch Wien 1983. Falter Verlag Wien 1983 Mit Beiträgen Von Franz

Stadtbuch Wien 1983. Falter Verlag Wien 1983 Mit Beiträgen von Franz Schuh, Wolfgang Pircher, Christian Reder, Jürgen Langenbach, Wolfgang Förster, Maria Auböck, Alfred Zellinger, Hans Czarnik. Redaktion: Armin Thurnher Christian Reder VERBINDUNGEN ZWISCHEN TAT UND SACHE Besuche an Orten vergangener Ereignisse Im Zentrum der Stadt ist an der Hauptfassade der großen Kathedrale ein 28 mal 18 Zentimeter großes Zeichen für Widerstand angebracht: das 05 einer österreichischen Untergrundorganisation während des Zweiten Weltkrieges (fünf für E, den fünften Buchstaben des Alphabets). Irgendwann einmal war es flüchtig in Kreidestrichen da, im nachhinein ist es dauerhaft eingemeißelt und offensichtlich manchmal von neuem weiß gefärbt worden. Im übrigen befinden sich auf diesem Mauerstück mehrere Grabplatten und die für anerkannte Kulturgüter obligate Hinweistafel ("Stephansdom / Wien - eine Stadt stellt sich vor"); vorgesetzt ist eine Doppelsäule, die hoch oben ein steinernes Objekt trägt, das vermutlich eine Vulva darstellt. Auf der anderen Seite des Riesentores steht eine entsprechende Säule mit einem männlichen Symbol, und unmittelbar neben dem Eingang sind alte behördlich geeichte Längenmaße in der Wand verankert, die Große und die Kleine Wiener Elle. Aus dem Nebeneinander dieser Einzelteile ließe sich eine uferlos revidierbare Symbolgrammatik herauslesen; viel stärker als eine solche Möglichkeit irritiert jedoch, daß ein zentral angebrachtes Zeichen für Widerstand so hilflos wirkt, so nebensächlich. Auflehnung ist eine Angelegenheit der Peripherie. Wem daher Manifestationen früherer Auflehnung großartig in den Mittelpunkt gestellt werden, kam nur ein starkes Mißtrauen für das notwendige Gegengewicht sorgen. Wien kennt außer auf seinen Friedhöfen wenige gekennzeichnete Orte, an denen die Aufmerksamkeit auf eine vergangene Empörung gelenkt wird. Aber nicht aus betroffener Sensibilität. Soviel als möglich sollte immer ins angeblich Schöngeistige hinübergedrängt werden. Nicht die großen Denkmäler fehlen, sondern eine Tradition des Ungehorsams. Ein unauffälliges Zeichen an der Mauer wie das 05 ist wenigstens ein stiller, fast verlegener Hinweis, der neugierig, vielleicht sogar wachsamer machen könnte. Wandkritzeleien sind einfach eine wichtige Ausdrucksweise, selbst dann, wenn ihre Spontaneität schließlich von Denkmalschützern bewahrt wird. Mit der (eigenen und allgemeinen) Geschichte "eins sein" gelingt nicht. Die daraus resultierende Verdrängung äußert sich öffentlich wie privat als Denken in Entfernungen. Es geht vor allem darum, Abstand zu "gewinnen". Das bedrohliche am Ereignis ist seine Nähe, sie und nicht es soll normalerweise überwunden werden. Der Zeitgeschichte wird einfach ein Teil weggenommen, die Zeit (als Gegenwart). Die manchmal erhoffte Kontinuität der Geschichte ist auch nicht so ohne weiteres zu ertragen. Eine Variante der Verdrängung besteht deshalb auch darin, künstlich Bruchlinien zu konstruieren, beispielsweise vom "Zusammenbruch" im Jahr 1945 zu sprechen. Einerseits braucht man dann nicht mehr gründlich darüber nachzudenken, "wie das alles passieren konnte", andererseits kommt man leichter zur Fiktion einer Stunde Null (bzw. eines individuellen Neubeginns). 1., Stephansplatz 1 Was überhaupt erinnert wird und in welcher Form dazu angeregt wird, sagt wahrscheinlich mehr über die Gegenwart aus als das, worin die Gegenwart sich selbst darzustellen glaubt. Eines ist die Geschichte sicher, ein kompliziertes Wechselspiel von Macht und Ohnmacht. Macht identifiziert sich gerne mit den Ohnmächtigen von früher, beansprucht ihr Aufbegehren für sich und schmückt sich vielleicht sogar mit ihrem Leiden. Nach dem Tod der Rebellen bricht die Verehrung für sie aus. Stellvertretende Einzelhelden werden herausgegriffen und eine Zeit oder sogar Jahrhunderte lang weitergereicht. Am lebenden oder toten "Helden" beeindruckt oft weniger seine Tat, als ihre Verwertung. Eine ähnliche Verfälschung ergibt sich aus einer Liebe zur Geschichte um ihrer selbst willen; Geschichte hat meistens Schmerzen zugefügt, und bekanntlich ist "jedes Dokument der Kultur auch ein Dokument der Barbarei". Ein öffentliches Erinnern ist zwangsläufig mit Formen verbunden (die auf lnhalte zurückwirken). Politische Zweckdenkmäler zum Beispiel wollen "Aufbauendes" darstellen, etwa den Mythos der Arbeit, der Familie oder einer bestimmten Person. Diese Spielart eines Realismus ist gerade in diesem Jahrhundert zunehmend peinlich und zynisch geworden. Der inneren Zusammenhanglosigkeit in der Politik oder ihrer Destruktivität werden allzu leichtfertig Symbole vermeintlicher Konstruktivität gegenübergestellt. Die Formen, z. B. auch von "Gedenkstätten", ergeben nicht den Sinn, auf dessen Vermittlung sie Anspruch erheben. Alles das dürfte beim unfreiwilligen Betrachter der Zeitereignisse die Überzeugung fördern, daß die einzige und letzte kleine Freiheit im Alleingelassensein besteht. Die stärkste Kraft dieses Jahrhunderts ist möglicherweise eine Art allgemeiner Dadaismus, der lächelnd oder gequält die widersprüchlichsten Sinnsplitter zusammenkittet und im Untergrund bereits alle Lebensbereiche durchzieht; oft ohne daß die Akteure sich dessen bewußt sind. Einer dogmatischen Sinnpolitik ist er stillschweigend überlegen, die Frage ist nur, was nach ihm kommt. Vereinzelt hüten "Konservative" von allen akzeptablen Flügeln des vergehenden politischen Spektrums noch Reste wichtiger Werte und stellen sich letztlich als progressiv heraus, sobald diese zu neuen Bedürfnissen passen. Flaktürme im Augarten, 2. Obere Augartenstraße Der Stephansdom bildet den geographischen Schwerpunkt eines g!eichschenkligen Dreiecks, an dessen Ecken auffallend "sinnlose" Objekte der jüngeren Zeitgeschichte stehen, die Wiener Flaktürme: ein runder Geschützturm in der Stiftskaserne, zu dem der rechteckige Feuerleitturm im Esterhazy-Park gehört, und zwei weitere Turmpaare im Arenbergpark und im Augarten. Ihren "Zweck" als Kriegsmaschinen haben sie nur bedingt erfüllt. Jetzt stehen sie da wie Burgruinen, ohne noch bedrohlich zu wirken. Leuten, denen Form wichtig ist, gelten sie längst als "schön" und "stark". Sie sind ja auch ausdrücklich gestaltet worden (von Prof. Friedrich Tamms aus Düsseldorf) und stellen nicht bloß ein Produkt vor sich hinarbeitender Ingenieure dar. Trotz ihrer massiven Präsenz scheinen sie sich über die Zeit auszuschweigen, in der sie gebaut worden sind (1940); sie sind sozusagen Schauplätze ohne handelnde und betroffene Personen. Gelegentlich läßt es sich besser abschätzen, wie alte Tatsachen weiterwirken, wenn sie keine auffälligen materiellen Spuren hinterlassen haben. In diesem Fall schiebt sich niemand verfremdend dazwischen, und die eigene Vorstellungskraft hat ihre Chance. Normalerweise ist die Banalität des alltäglichen Ortes das Szenario für das, was geschehen ist. Ein radikaler Zugang zur Geschichte wäre die Auffassung, daß am Vergangenen wichtig nur der Widerstand ist; eine einleuchtende Auffassung, wenn, sie sich nicht fortwährend als zu simpel erwiese. Von den vielen Orten in Wien, die quasi aus dem Nichts heraus "etwas an sich haben", liegt einer in der Nähe des als Ausgangspunkt gewählten 05-Zeichens. Auf dem Stock im Eisen-Platz laufen alle Bodenplatten auf eine unregelmäßige fünfeckige Fläche in der Mitte zu, die fächerförmig mit Pflastersteinen ausgelegt ist. Sie markiert den vor einigen Jahren vorgesehenen Standort für ein Monument nach freier Wahl des Künstlers. Unter den Ergebnissen des Wettbewerbs waren kurze Zeit Hollein-Säulen und ein Hrdlicka-Antifaschismus-Mahnmal ("straßenscheuernde Juden") im Gespräch. Zustandegekommen ist nichts, und die Aussparung im Plattenmuster fällt mir immer wieder auf, weil sie an ein ungewolltes Zusammentreffen von Unfähigkeit und Verweigerung erinnert. 2., Salztorgasse 6 Die Kehrseite der Innenstadt Zu Orten mit einer noch jungen Vergangenheit bringt einen der rasch vom unmittelbaren Zentrum wegführende Weg über die Rotenturmstraße und den Hohen Markt. Im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes im Alten Rathaus (Wipplingerstraße 8) sind Fotos und Dokumente ausgestellt. 1848 tagte in diesem Haus der "Sicherheitsausschuß" des revolutionären Wien. Ein Stück bergab liegt der Morzinplatz, auf der dem Regierungs- und Kulturviertel gegenüberliegenden Seite der Innenstadt. Dort stand bis zum Kriegsende das Hotel Metropol, das nach 1938 als Gestapo- Zentrale verwendet wurde (Gedenkstein). Auf dem Areal dieses Gebäudes ist schlließlich ein rötlich gekacheltes Appartement- und Geschäftshaus errichtet worden. Ein Balkongeländer in der Mitte des ersten Stocks (über dem ehemaligen Haupteingang) ist als Steinrelief gestaltet, auf dem die römischen Jahreszahlen für 1938 und 1945, zwei Galgen, ein Fallbeil, ein Toter im Elektrozaun, vierzig Menschenköpfe und Stacheldrahtornamente eingemeißelt sind. An der Rückseite des Hauses, etwa dort, wo sich früher die für Gefangene bestimmte Hintertür befand, von der ein direkter Abgang in die Gefängniskeller führte, ist in einem winzigen Lokal eine Gedenkstätte für die Opfer des österreichischen Freiheitskampfes eingerichtet (Salztorgasse 6). Sie ist stundenweise geöffnet und jemand wartet auf Besucher. Wie auch andere Einrichtungen in dieser Gegend, muß sie polizeilich gegen Anschläge und Provokationen geschützt werden. Links schließen unmittelbar die Geschäftsräume der Firma Eisenberg & Rittberg an, die einen Großhandel mit Strickwaren und Textilien betreibt. Auf der anderen Seite verkauft die Firma Baumalon Berufs-Mode. Mit einem künstlerisch gestalteten Bronzetor wird versucht nach

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