Walter Schuster Zur Entnazifizierung in Österreich: der Vergleich mit (West-)Deutschland und das Beispiel Linzer Stadtverwaltung 1 Im Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland, wo zum Thema Entnazifizierung eine Reihe von allgemeinen Darstellungen2 sowie- vermehrt gerade in den letzten zehn Jahren- mehrere ausführliche Regionalstudien 3 entstanden sind, fußt die Österreichische Forschung nach wie 4 vor auf der Monografie von Dieter Stiefel aus dem Jahr 1981 • Neben- in der Regel kleineren -Arbeiten mit regionalem oder lokalem Bezug5 ist darüber hinaus vor allem der Sammelband 1 Die in dieser Arbeit verwendeten Bezeichnungen gelten sinngemäß auch in derweiblichen Form. Vgl. etwa Clemens Vollnhals (Hg.), Entnazifizierung. Politische Säuberung und Rehabilitierung in den vier Besatzungszonen 1945-1949, München 1991; Klaus-Dietmar Henke, Die Trennung vom National­ sozialismus. Selbstzerstörung, politische Säuberung, "Entnazifizierung", Strafverfolgung, in: Klaus-Diet­ mar Henke/Hans Woll er (Hg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, S. 21-83. Trotzdem das Bundesland Bayern im Mittelpunkt der Untersuchung steht, ist die ausführliche "Pionierarbeit" von Lutz Niethammer, Die Mitläuferfabrik Die Entnazifizierung am Beispiel Bayerns, Berlin!Bonn 1982, unter den Übersichtswerken anzuführen. Auch die Studie von Norbert Frei, Vergangenheitspolitik Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, 2. Aufl. München 1997, beschäftigt sich über weite Strecken mit der Entnazifizie­ rung. 3 Siehe beispielsweise Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen. Richtlinien, Anweisungen, Organisation, bearbeitet von lrmgard Lange, Siegburg 1976; Jörg D. Krämer, Das Verhältnis der politischen Parteien zur Entnazifizierung in Nordrhein-Westfalen, Frankfurt am Main 2001; Reinhard Grohnert, Die Entnazifizie­ rung in Baden 1945-1949. Konzeptionen und Praxis der "Epuration" am Beispiel eines Landes der fran­ zösischen Besatzungszone (Veröffentlichungen der Kommission flir Geschichtliche Landeskunde in Baden­ Württemberg 123), Stuttgart 1991; Arm in Schuster, Die Entnazifizierung in Hessen 1945-1954. Vergangenheitspolitik in der Nachkriegszeit (Vorgeschichte und Geschichte des Parlamentarismus in Hessen 29), Wiesbaden 1999; Wiltrud Ulrike Drechsel/Andreas Röpcke (Hg.), "Denazification". Zur Entnazifizie­ rung in Bremen (Beiträge zur Sozialgeschichte Bremens 13), Bremen 1992; Angela Borgstedt, Entnazi­ fizierung in Karlsruhe 1946 bis 1951. Politische Säuberung im Spannungsfeld von Besatzungspolitik und lokalpolitischem Neuanfang (Karlsruher Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 5), Konstanz 200 l. Arbeiten zur sowjetischen Besatzungszone bleiben hier unerwähnt. 4 Dieter Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, Wien 1981. 5 Siehe die detaillierte Übersicht bei Waller Schuster, Österreichische Stadtgeschichtsforschung zum Natio­ nalsozialismus. Leistungen- Defizite- Perspektiven, in: Pro Civitate Austriae N.F. 5 (2000), S. 52, Anm. I 04. Zu ergänzen sind noch Adele Polluk, Entnazifizierung in Kärnten 1945-1949, ungedruckte Diplom­ arbeit Klagenfurt 1981; Ernst Hanisch, Denazification in Salzburg-a Region with strong German-nationalist Traditions, in: Stein Ugelvik Larsen/Bernt Hagvet (Hg.), Modern Europe after Fascism l943-l980s, Bd. 2, New York 1998, S. 378-395. Geschichte im Westen (GiW) Jahrgang 18 (2003), S. 155-179. © Rheinland-Verlag GmbH, Köln . ISSN 0930-3286. !55 Walter Schuster 6 "Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne" aus dem Jahr I986 zu nennen • Eine größere Forschungs­ initiative erfolgte in jüngerer Zeit durch ein Projekt des Vorarlberger Landesarchivs und des Archivs der Stadt Linz, in dem erstmals die Entnazifizierung in den neun Österreichischen Bundesländern der Entnazifizierungspolitik der vier Besatzungsmächte gegenübergestellt wird.7 Eine vergleichende Darstellung der bürokratischen Entnazifizierung in Österreich und in Deutschland wurde- sieht man von einzelnen, eher kürzeren Bemerkungen ab 8 -bis dato nur einmal versucht. 9 Im Folgenden sollen zum einen die allgemeinen Perspektiven der politischen Säuberung in ÖsteiTeich herausgearbeitet und mit den Ergebnissen der Forschungen über die westlichen Besatzungszonen in Deutschland in Beziehung gesetzt werden. Zum anderen werden Ablauf und Probleme der Entnazifizierung in Österreich am Beispiel der Stadtverwaltung Linz an der Donau konkretisiert. I. (West-)Deutschland und Österreich im Vergleich I. I. Die Situation vor der NS-Machtübernahme Die Stellung der NSDAP in der Weimarer Republik war- sieht man von der kurzen Zeit des Verbots nach dem Hitler-Putsch I 923 und dem Februar 1925 ab-stets die einer legalen Partei, während sie in Österreich am I 9. Juni I 933 verboten wurde und bis zum "Anschluss" im März 1938 verboten blieb. Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Ländern vor der NS­ Machtübernahme lag auch im politischen System: Die Weimarer Republik war eine Demokratie. Der Österreichische "Ständestaat" beruhte jedoch auf einer-je nach Definition- "autoritären", "halbfaschistischen" oder "faschistischen" Regierungsform.10 Während die so genannte "Machtergreifung" der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 in Deutschland mit der Berufung Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Hin- 6 Sebastian Meissl/Kiaus-Dieter Mulley/Oiiver Rathkolb (Hg.), Verdrängte Schuld, verfehlte Sühne. Entna­ zifizierung in Österreich 1945-1955, München 1986. Eine Übersicht weiterer Literatur zur Entnazifizierung in Österreich bietet Schuster, Stadtgeschichtsforschung zum Nationalsozialismus, S. 41 f., Anm. 55. 7 Das Projekt geht auf eine Initiative von Dr. Wolfgang Weber, Vorarlberger Landesarchiv, zurück. Das wissenschaftliche Konzept wurde von Dr. Weber und dem Verfasser ausgearbeitet. Der Abschluss erfolgt 2003/2004 durch eine umfangreiche Publikation des Archivs der Stadt Linz. 8 Vgl. etwa Winfried R. Garscha/Claudia Kuretsidis-Haider, Die Nachkriegsjustiz als nicht-bürokratische Form der Entnazifizierung: Österreichische Justizakten im europäischen Vergleich, Wien 1995, S. 33 f.; Stiefel, Entnazifizierung in Österreich, S. 118. Die Studie von David Forster, "Wiedergutmachung" in Österreich und der BRD im Vergleich, lnnsbruck 200 I, bes. S. 183- 198, beschäftigt sich vor allem mit einem Vergleich über den Umgang mit den NS-Opfern in der BRD und Österreich; die Entnazifizierung- vor allem aus einem vergleichenden Blickwinkel- ist kein Schwerpunkt. 9 Vgl. Agnes Blänsdorf, Zur Konfrontation mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik, der DDR und in Österreich. Entnazifizierung und Wiedergutmachungsleistungen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zu Das Parlament B 16-17 (1987), bes. S. 6-13. 10 Emmerich Tilos, Das Herrschaftssystem 1934-1938: Erklärungen und begriffliche Bestimmungen. Ein Resümee, in: Emmerich Tälos/Wolfgang Neugebauer (Hg.), "Austrofaschismus". Beiträge über Politik, Ökonomie und Kultur 1934-1938, 2. Auflage Wien 1984, S. 267-284. 156 Zur Entnazifizierung in Österreich denburgmöglich wurde, erfolgte sie im März 1938 in Österreich von unten (durch die illegalen Nationalsozialisten), von oben (durch die Unterwanderung des "Ständestaates" mit NS-Partei­ gängern) und von außen (durch den Einmarsch deutscher Truppen). 11 Die Umwandlung des Staates im Sinne der NS-Machthaber benötigte 1933 zumindest einige Monate, in Österreich folgte auf den "Anschluss" die sofortige Gleichschaltung. 12 Zum Zeitpunkt der "Machtergrei­ fung" in Deutschland konnten die Nationalsozialisten schwerlich als , arbeiterfreundlich' gelten. Im Unterschied dazu war die 1938 in Österreich praktizierte Zielgruppenpropaganda- wenig­ stens zu einem großen Teil- durchaus erfolgreich. 13 Die Stellung der Kommunisten vor der Errichtung der NS-Diktatur hätte in beiden Staaten nicht unterschiedlicher sein können. Ende 1932 war die KPD drittstärkste Partei, während die KPÖ stets unter einem Prozent Wähleranteil bei Nationalratswahlen gelegen hatte und bereits ab 31. Mai 1933 verboten war. Erst als illegale Partei zwischen 1934 und 1945 gewann Letztere - vor allem im Widerstand gegen das NS-Regime- an Bedeutung. 14 1.2. Die Ausgangssituation nach Kriegsende Die Voraussetzungen für eine Entnazifizierung waren in Deutschland und Österreich in man­ chen Punkten identisch, in anderen völlig unterschiedlich. Gleich waren die hohe Akzeptanz, die das NS-Regime in der Bevölkerung genossen hatte, sowie die hohe organisatorische Erfassung der "Volksgenossen" in den diversen NS-Organisationen. 15 Der höchste Anteil an NSDAP­ Mitgliedern fand sich im öffentlichen Dienst, speziell in der Justiz, in der höheren Verwaltung und bei den Lehrern. 16 Die öffentlich Bediensteten hatten sich in beiden Ländern bei der NS­ Machtergreifung als sehr flexibel erwiesen: Weder 1933 noch 1938 war es zu Massenentlas­ sungen gekommen, sieht man von "rassisch" bedingten Ausnahmen wie in Wien ab. 17 Faktum 11 Gerhard Botz, Zwischen Akzeptanz und Distanz. Die Österreichische Bevölkerung und das NS-Regime nach dem "Anschluss", in: Gerald Stourzh/Brigitta Zaar (Hg.), Österreich, Deutschland und die Mächte. Inter­ nationale und Österreichische Aspekte des "Anschlusses" vom März 1938 (Veröffentlichungen der Kom­ mission fürdie Geschichte Österreichs 16), Wien 1990, S. 429. 12 Gerhard Botz, Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme und Herrschaftssicherung 1938/39,3. Aufl. Buchloe 1988, S. 49 ff. 13 Vgl. differenziert Botz, Nationalsozialismus in Wien, S. 323-328. 14 Michael Sommer, Art. Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), in: Wolfgang
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