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Sendung vom 13.07.1999, 20.15 Uhr

Dr. Hans-Jochen Vogel Bundesminister a.D. im Gespräch mit Werner Reuß

Reuß: Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, herzlich willkommen bei Alpha- Forum. Zu Gast ist heute Dr. Hans-Jochen Vogel. Hans-Jochen Vogel war unter anderem Oberbürgermeister in München und Bundesminister unter den Kanzlern und . Er war Regierender Bürgermeister in , Kanzlerkandidat der SPD, Fraktionschef der SPD im Deutschen , und er war auch SPD-Bundesvorsitzender. Herzlich willkommen, Herr Dr. Vogel. Vogel: Grüß Gott. Reuß: Wer so lange in so wichtigen Funktionen Politik maßgeblich mitgestaltet hat, kann der eigentlich richtig loslassen? Oder treibt Sie Politik immer noch um? Vogel: Ja, das ist in der Tat ein Problem, aber es macht einen großen Unterschied aus, ob jemand seinen Schlußpunkt selbst und aus eigener Entscheidung gesetzt hat oder ob er erst auf Drängen oder gar durch die Entscheidung der Wähler seine politische Tätigkeit beendet hat. Mein Grundsatz lautete immer: Man muß gehen, solange man es seinen Mitmenschen noch glauben kann, wenn sie sagen, "schade, daß der geht". Wenn man den Zeitpunkt versäumt, dann wird das Loslassen schwieriger, weil das dann mit einer gewissen Bitterkeit verbunden ist. Ich habe mich aus der Vorderbühne der Politik völlig zurückgezogen – und auch aus der politischen Hinterbühne. Aber es gibt schon noch Aufgaben, denen ich mich widme und bei denen ich glaube, daß ich dort einerseits meine Erfahrungen einbringen kann, andererseits aber auch für meine Lebensgestaltung einen Nutzen daraus ziehen kann – nicht im materiellen, aber im ideellen Sinn. Reuß: Eine dieser ganz wichtigen Aufgaben ist sicherlich der Verein "Gegen Vergessen – Für Demokratie", dem Sie vorstehen und dessen Mitbegründer Sie sind. Können Sie unseren Zuschauern ganz kurz erläutern, worin die Aufgaben und die Ziele dieses Vereins bestehen? Vogel: Dieser Verein ist 1993 gegründet worden, weil Verfolgte und Opfer der Gewaltherrschaft sahen, daß sie ganz einfach aufgrund ihres Alters immer weniger wurden: Es wurde daher ein Abreißen befürchtet. Gleichzeitig war das aber die Zeit, in der es eine Welle extremistischer Gewalttaten gegeben hat. Ich erinnere dabei nur an Rostock-Lichtenhagen oder an Mölln und an all die anderen Dinge, die damals passiert sind. Da fanden sich dann 19 Männer und Frauen zusammen - übrigens quer durch die Parteien und aus verschiedenen sozialen Bereichen – und haben gesagt, daß es nicht genügt, vom Staat zu verlangen, daß er etwas dagegen unternimmt, und zu sagen, "die da müssen etwas tun" oder "man muß etwas tun". Wir haben uns dann eben als Verein konstituiert. Heute haben wir ungefähr 1700 Mitglieder aus fast allen politischen Bereichen, auch aus allen Lebensbereichen, und wir arbeiten zur Zeit in 15 Regionalgruppen. Was machen wir? Wir wollen die Erinnerung an die Gewaltherrschaft wachhalten, an die Verbrechen, an die Opfer, an die Täter und an den Widerstand, der geleistet worden ist. Wir wollen aber auch an die Ursachen erinnern. Ohne daß man das nun etwa gleichsetzen kann, gilt das alles auch für die zweite Diktatur auf deutschem Boden in diesem Jahrhundert – noch einmal: ohne daß man das einfach gleichsetzen kann. Warum machen wir das? Wir machen das nicht, um Schuldkomplexe zu konservieren. Schuld ist für uns etwas Individuelles, und diejenigen, die damals noch gar nicht gelebt haben oder noch Kinder waren, kann man nicht mit der Kategorie der Schuld konfrontieren. Wir machen das auch nicht, um bei Gelegenheit ein Betroffenheitsritual zu zelebrieren, damit man hinterher wieder zur Tagesordnung übergehen kann. Nein, wir wollen denen, die das nicht erlebt haben, vor Augen führen, wozu Menschen in ihrem Fanatismus und in ihrer Mordlust fähig sind, wenn sie den Grund- und Hauptwert der Menschenwürde aus den Augen verlieren oder gar verneinen und wenn sie es, wie ich immer sage, in gotteslästerlicher Weise zulassen, daß sich Menschen für allmächtig erklären und an nichts mehr gebunden sind. Wir glauben, daß Menschen, die das im Bewußtsein haben, gegen neue Gefahren - und es gibt ja fast jeden Tag Warnzeichen – etwas stärker geschützt und sensibler sind. Wir möchten vor allem, daß es nicht wieder diese lähmende Gleichgültigkeit gibt, die ja auch zum Ende von Weimar beigetragen hat. Das sind unsere Ziele, und wir haben im Laufe der Jahre nun doch eine ganze Reihe von vernünftigen Aktivitäten entfaltet. Auch auf dem politischen Feld haben wir Initiativen unterstützt oder in Gang gesetzt. Reuß: Würden Sie sagen, daß es darum geht, die Vergangenheit wachzuhalten? Ist das eine Vergangenheit, die nicht vergehen darf, und gibt es so etwas wie eine "Gnade der späten Geburt"? Vogel: Es gehört natürlich zunächst einmal zum Menschen dazu, daß man auch Dinge vergißt. Aber ich glaube, diese Verbrechen der NS-Gewaltherrschaft waren so außergewöhnlich und haben jede Dimension gesprengt, daß es anormal wäre und wir ein anormales Volk wären, wenn das in unserem Bewußtsein nicht nach wie vor lebendig bliebe und auch noch unser Handeln heute in bestimmter Weise beeinflussen würde. Es gab vor Jahren wegen dieser Wortwahl "Gnade der späten Geburt" durch eine ziemliche Aufregung: Ich habe diese Aufregung allerdings nur teilweise geteilt und verstanden. Er wollte damit sagen, daß er eben zu denen gehört, die damals noch nicht mit der Kategorie der persönlichen Schuld konfrontiert waren. Da hatte er recht. Ob man das aber bei der Gelegenheit so sagen mußte, lasse ich dahingestellt. Reuß: Das Nachrichtenmagazin der "Spiegel" hat Sie einmal so beschrieben: "Bockig und trotzig wird er im Zorn, lausbubenhaft im Spott, albern im Übermut, schutzbedürftig im Schmerz, gierig in seinem Hunger nach Information, unmäßig in seinem Anspruch an sich und an andere." Würden Sie dieser Beschreibung zustimmen. Vogel: Nicht in allen Punkten, und auch etwas zurückhaltender formuliert: Aber da ist schon ein beachtlicher Prozentanteil an Wahrheit enthalten, wenn man von den Formulierungen einmal absieht. Nein, ich würde da nicht sehr laut widersprechen. Reuß: Was ist Ihrer Ansicht nach Politik? Was kann Politik bewirken, und wo liegen die Grenzen politischen Handelns? Vogel: Es gibt ja sehr viele Definitionen des Begriffs "Politik". Für mich heißt die einleuchtendste und mir am wichtigsten erscheinende, den Mitmenschen das Leben erträglich zu gestalten und außerdem die staatlichen Rahmenbedingungen immer wieder aufs neue an Grundwerten zu orientieren. Für mich war im Zusammenhang mit der Politik auch immer der Begriff des "Dienens" wichtig und nicht der des "Herrschens". Natürlich braucht ein Politiker Macht, um seiner Verantwortung gerecht werden zu können. Aber im Grunde soll die Politik den Menschen dienen: nicht wie ein Lakai, aber sie soll ihnen helfen, selbst ein verantwortliches und erträgliches Leben führen zu können. Reuß: Sie gelten als jemand, der Askese nicht nur predigt, sondern auch selbst ein gutes Stück zu leben scheint. Sie haben einmal formuliert: "Man predigt mit der eigenen Lebensführung mehr als mit den Worten." Was gönnt sich also Hans-Jochen Vogel? Vogel: Ich mag schon auch einmal eine Maß Bier: Da hört dann die Askese zumindest vorübergehend schon auf. Ich mag auch einmal etwas Gutes essen: aber nicht so sehr in Richtung der Feinschmeckerlokale, denn dafür eigne ich mich weniger. Ich kenne auch die Weinsorten nicht so genau auseinander, aber wenn mir der Wein schmeckt, dann freut mich auch das. Im übrigen habe ich mit meiner Frau in Niederbayern ein kleines Refugium: Wir haben da einen Garten und ein Stück Wald. Da fühle ich mich schon sehr wohl, wenn ich einmal alles andere auf die Seite legen kann. Aber es ist wirklich eine Schwäche von mir, bei solchen Gelegenheiten nicht schon wieder an irgendeinem Text zu arbeiten: Da muß ich mich dann schon ein bißchen ermahnen und zwingen, das nicht zu machen. Reuß: Sie selbst haben von Ihrer "Neigung zu einer mitunter pedantisch wirkenden Genauigkeit" gesprochen. Nicht nur daraus, aber ganz sicher auch daraus sind ja einige Etiketten entstanden, die Ihnen ganz überwiegend Ihre Parteifreunde angeheftet haben. Willy Brandt soll es gewesen sein, der von Ihnen als "dem mit den Klarsichthüllen" gesprochen hat. Hans-Jürgen Wischnewski bezeichnete Sie als "Oberlehrer", gar als "Anstaltsleiter". Haben Sie solche Etiketten verletzt? Vogel: Nein, die haben mich nicht verletzt. Mir war ja klar, daß es ohne solche Bezeichnungen eigentlich gar nicht geht. Es gab da ja auch noch schlimmere Bezeichnungen. war der "Zuchtmeister", Helmut Schmidt wurde eine Zeit lang, weil das eine französische Zeitung so geschrieben hat, "Le Feldwebel" genannt. Im Vergleich dazu waren die Bezeichnungen für mich ja noch ausgesprochen zivil, und sie hatten auch alle ein Körnchen Wahrheit in sich. Ich habe das eigentlich sehr rasch eher zur Selbstironisierung benützt, was die Menschen dann auch ganz freundlich aufgenommen haben. Reuß: Wenn Sie erlauben, würde ich nun unseren Zuschauern gerne den Menschen Hans-Jochen Vogel näher bringen. Sie sind am 3. Februar 1926 in Göttingen geboren, Ihr Vater war gebürtiger Münchner. Welches Verhältnis hatten Sie zu Ihren Eltern? Wie sind Sie erzogen worden? Vogel: Es war ein ausgesprochen bürgerliches Elternhaus: natürlich von der Art, wie man eben in einer Familie in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts lebte. In der Familie herrschte ein gutes Klima, und meine Mutter hat unseren Weg in diesen ersten Jahren ganz besonders begleitet und geprägt. Ich sage "unseren Weg", weil ich dabei auch an meinen Bruder denke. Mein Vater befand sich in einer nicht ganz einfachen Lebenssituation, denn er hatte vor 1933 Sympathien für die NSDAP besessen und war auch schon im Jahr 1932 in die Partei eingetreten. Er hat dann aber schon ab 1934/35 die Nazis immer schärfer kritisiert. In seinen Äußerungen ab diesem Zeitpunkt kam dabei immer fast so etwas wie Haß zum Ausdruck, so daß ich ihn als Bub manchmal gefragt habe: "Vater, du wirst doch als Beamter von diesem Staat bezahlt. Wie kannst du denn da in einer solchen Art und Weise Kritik äußern?" Insgesamt aber erinnere ich mich gerne an diese Jugendjahre. Ich habe in Göttingen zunächst die Volksschule besucht und dann in Gießen das Gymnasium. In meiner Kindheit war ich auch Meßdiener. Nein, die Erinnerung an diese Zeit und an beide Eltern ist wirklich warm und herzlich. Reuß: Sie haben 1943 während der Kriegszeit das gemacht und wurden dann auch noch eingezogen. In Italien sind Sie verwundet worden und kamen dann in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Hat Sie diese Kriegsgefangenschaft in irgendeiner Weise geprägt? Vogel: Das glaube ich nicht, denn dafür war sie zu kurz. Ich hatte großes Glück: Ich bin nur etwa ein Vierteljahr in Gefangenschaft gewesen und kam dann schon Mitte Juli mit den ersten Zügen, die wieder fuhren, über den Brenner nach Heufeld bei Bad Aibling. Dort gab es dann noch einmal acht Tage, die von den äußeren Bedingungen her außerordentlich unangenehm waren. Aber ich wurde dann schließlich doch zusammen mit einer größeren Gruppe entlassen. Ich konnte ein bißchen Englisch und habe daher während der Zeit aus der amerikanischen Armeezeitschrift "Stars and Stripes" Meldungen übersetzt, die dann an einem Schwarzen Brett angeheftet wurden. Außerdem muß ich korrekterweise sagen, daß die Lebensbedingungen in diesen Lagern erträglich bis gut waren. Wir hatten weder Hunger noch sonstwie unangenehme Bedingungen zu erleiden: Insofern war das für mich keine prägende Periode. Aber die Kriegsteilnahme als solche hat für mein späteres Leben doch immer wieder im Sinne des "Nie-Wieder" eine Orientierung bedeutet. Reuß: Nach dem Krieg haben Sie dann in München und in Marburg Jura studiert. 1948 bestanden Sie das erste und 1951 das zweite Staatsexamen. Dazwischen haben Sie im Jahr 1950 im Fach Jura promoviert. Es heißt in den Kurzbiographien über Sie hartnäckig, Sie seien ein "Einser-Jurist". Sie selbst haben das aber immer etwas differenziert. Vogel: Das muß ich auch hier wieder ein bißchen korrigieren und richtigstellen. Ludwig Thoma schreibt ja allerlei auch weniger Freundliches über Einser- Juristen, denn er sagte immer, wer so einen Brucheinser hat, hat damit einen Freibrief für alle Dummheiten im rechtsrheinischen Bayern. Nein, ich hatte das nicht, ich war kein Einser-Jurist. Meine Note war wohl 2,3 oder 2,5: So genau weiß ich das gar nicht mehr. Aber es ist eine bayerische Eigenart, die bis heute praktiziert wird, daß immer angegeben wird, den wievielten Platz man von allen Prüfungsteilnehmern eingenommen hat. Ich hatte einfach Glück - das ist wirklich eine ziemliche Spannbreite, in der dabei das Glück entscheidet –, denn ich war mit meiner Note auf Platz eins. Aus dieser Eins wurde dann der Einser-Jurist. Na ja, diese juristische Ausbildung, die sehr konzentriert war - verglichen mit heute ging das sehr viel schneller, und wir waren nach dem Krieg sicherlich auch ungeduldiger – , hat mir natürlich in meiner politischen Arbeit immer geholfen. Nicht weil man alle Paragraphen genau kannte, sondern weil man etwas konnte, was in der Politik leider mitunter zu kurz kommt, nämlich Sachverhalt und Wertung unterscheiden zu können. Darum war das für mich eine gute Grundlage. Reuß: Sie haben sich schon früh für Politik interessiert und auch politische Versammlungen besucht. Ich hatte bei der Recherche den Eindruck, daß Sie am Anfang keine Partei so richtig überzeugt hat. 1949 sind Sie dann mit dem Fahrrad nach Rosenheim gefahren, um Kurt Schumacher zu hören. Sie schreiben, daß das eines der Erlebnisse gewesen sei, das zu Ihrem Eintritt in die SPD beigetragen hat. Vogel: Ich glaube, ich sollte vorher noch sagen, daß ich in den unmittelbaren Nachkriegsjahren unter dem Eindruck dessen gestanden bin, was man erst allmählich über diese furchtbaren Untaten, die von Deutschen begangen worden waren, erfahren hat: Das geschah nicht nur in deutschem Namen, wie es geheißen hat, sondern war wirklich von Deutschen angerichtet worden. Ich kam dabei immer mehr zu der Überzeugung, daß es nicht genug ist, wenn man sich nur um den eigenen Beruf und um das eigene Wohlergehen kümmert. Das, was uns die Generation vor uns hinterlassen hat, war ja eine höchst deprimierende Situation: Das Land war besetzt, die Städte zerstört, elf Millionen Menschen hatten ihre Heimat verloren, und wir hatten unseren Nachbarvölkern, vom Holocaust ganz zu schweigen, Furchtbares angetan. Ich habe mir also gesagt, daß man sich deswegen engagieren muß. Und weil ich nun einmal ein Pedant bin – Sie hatten das schon erwähnt –, habe ich mir die Parteiprogramme durchgelesen, bin hingegangen und habe mir die Leute angesehen. Schumacher und Waldemar von Knoeringen sprachen in Rosenheim: Ich war damals Gerichtsreferendar in Miesbach und bin daher mit dem Rad nach Rosenheim gefahren. Diese beiden haben mir Eindruck gemacht, obwohl ich heute gar nicht mehr sagen könnte, was Schumacher gesagt hat. Auf jeden Fall war es so, daß er aufgrund seiner zwölf Jahre Haft die personifizierte Glaubwürdigkeit war. Er sprach damals schon im Sitzen, weil man ihm auch einen Unterschenkel amputiert hatte. Danach habe ich mir eben gesagt, daß die Partei, die meinen Vorstellungen zu hundert Prozent entsprechen würde, nur aus mir selbst bestehen würde: Das ist aber uninteressant. Am nächsten kam mir aber die Sozialdemokratie: wegen der Gerechtigkeitsvorstellung, auch wegen der Haltung, die Schumacher damals eingenommen hat, und auch weil sie mir durch ihre Geschichte in besonderer Weise legitimiert erschien. Ich bin dann 1950 beigetreten. Im übrigen sitzen wir hier ja in Freimann: Ich war hier in Freimann Mitglied und wurde schon nach kurzer Zeit Sektionsvorsitzender. Der bisherige Vorsitzende war krank geworden, und so sagte man eben, ich solle das machen. Zunächst war es jedoch so gewesen, daß sie mit mir schon auch Probleme hatten: Als Jurist und Doktor in einem Arbeitervorort der SPD beizutreten, war nicht alltäglich. Aber ich bin heute noch stolz darauf, daß ich das Vertrauen dieser Männer und Frauen in dieser Sektion Freimann – heute würde man dazu Ortsverein sagen – erworben habe. Das hat mir in meinem Leben schon etwas bedeutet. Reuß: Die folgende Frage ist eigentlich etwas privat, ich möchte sie aber dennoch stellen, weil Sie auch selbst darüber geschrieben haben. Sie sind gläubiger Katholik, und Sie haben über Ihren Glauben geschrieben: "Ich käme mir leer und orientierungslos, ich käme mir wie ein Sandkorn im All vor, wenn ich diesen archimedischen Punkt nicht besäße oder wenn ich ihn verlöre." Welche Bedeutung hatte der Glaube für Sie auch in Ihrem politischen Handeln? Vogel: Sie haben mich als Katholik angesprochen, aber es ist ein Gebot der Ehrlichkeit an dieser Stelle zu sagen, daß mein kirchenrechtlicher Status infolge meiner Scheidung und meiner Wiederverheiratung eingeschränkt ist. Ich sage das auch deswegen, weil ich immer wieder darauf hoffe, daß die Beurteilung dieses Sachverhalts in der katholischen Kirche weitere Fortschritte macht. Es gibt ja auch schon Ansätze in dieser Richtung. Es war für mich eigentlich immer schon wichtig gewesen und es ist für mich immer wichtiger geworden, eine persönliche Gottesvorstellung zu haben – und zwar auch deshalb, weil mir das ein archimedischer Punkt war. Ich habe ja auch Lebenssituationen erfahren, die wirklich bis an die Grenze gingen - etwa die Verantwortung, die man als Justizminister während der Schleyer-Entführung zu tragen hatte und auch tagtäglich spürte. Das war an der Seite von Helmut Schmidt, der damals selbstverständlich die Hauptverantwortung getragen hat. Da war es jedenfalls für mich wichtig zu sagen, daß man tut, was man kann – und im übrigen gibt es eine Instanz, die eine letzte Zuständigkeit besitzt. Denn der Mensch hat nicht die letzte Zuständigkeit. Das war mir wichtig, wobei ich daraus nie ein Überlegenheitsgefühl gegenüber Menschen abgeleitet habe, die auf diesem Gebiet andere Vorstellungen besitzen. Aber für mich war das wichtig, und für mich hat das im Laufe der Zeit noch an Bedeutung gewonnen. Reuß: Hätten Sie sich vorstellen können, auch in eine christliche Partei wie die CDU oder CSU einzutreten? Vogel: Ich sagte ja, daß ich sie am Anfang alle geprüft hatte, aber je mehr ich mich damit beschäftigt habe, um so wichtiger wurde es mir, welche Personen ich in den Parteien antreffe. Darum ist meine Entscheidung so ausgefallen. Ich hatte eigentlich nie eine Phase, in der ich mich hätte fragen müssen, ob es nicht besser wäre, in einer anderen Partei zu sein. Nein, ich bin mir da ganz sicher. Aber ich respektiere auch die Entscheidung, die mein Bruder getroffen hat. Er ist sieben Jahre jünger als ich, und da gibt es immer eine gewisse natürliche Opposition gegenüber dem älteren Bruder. Er ist als Student später auch in einem anderen Kreis von Leuten aufgewachsen. Daraus resultiert also keinerlei Feindschaft: Das ist Gegnerschaft, das ist Wettbewerb, aber das ist auch der Respekt vor den anderen Parteien. Nur mit dem Wort "Christlich" bekomme ich immer mehr Bedenken: Getauft werden Menschen, aber nicht juristische Personen oder Parteien. Darum meine ich, daß man zwar schon danach fragen muß, ob es in einer Partei Christen gibt und welche Rolle sie dort spielen: Das ist für mich legitim. Aber zu sagen, daß die eine Partei eine christliche Partei sei und die andere eben nicht: Das würde ich nicht akzeptieren. Reuß: Wenn Sie erlauben, würde ich einen Teil Ihrer Biographie etwas komprimieren. Sie haben als Assessor im Bayerischen Justizministerium begonnen und wechselten dann in die Bayerische Staatskanzlei unter Wilhelm Hoegner, der damals hier in Bayern SPD-Ministerpräsident war. Vogel: Ja, das gab es auch einmal. Reuß: 1958 hat Sie dann der Münchner Stadtrat zum Rechtsreferenten berufen, und schließlich hat Sie Ihre Partei dann auch zum Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters nominiert. Sie wurden 1960 mit 34 Jahren mit 65 Prozent aller Stimmen zum Oberbürgermeister von München gewählt. Hatten Sie denn dabei manchmal das Gefühl, daß diese Aufgabe nicht zu bewältigen sei, oder war da Ihre jugendliche Dynamik stärker? Vogel: Dem sind ja Gespräche vorausgegangen, und ich war dann von diesem Vorschlag, mich zum Kandidaten zu machen, wirklich überrascht. Ich sagte zu ihnen: "Seid ihr denn bei Trost? Thomas Wimmer und ich sind in der Persönlichkeitsstruktur so unterschiedlich wie nur irgend möglich. Und daß im Jahr 1960 die Menschen außerdem jemanden wählen, der mit seinen 34 Jahren 40 Jahre jünger ist als sein Amtsvorgänger: Wie soll das gehen?" Aber man hat mich dann überzeugt und hat mir das zugetraut. Ich selbst habe mir das auch zugetraut, freilich nicht in dem Sinne, daß ich gesagt hätte: "Hoppla, jetzt komme ich." Es hat sich dann eben auch bestätigt, daß das keine Überheblichkeit war. Reuß: Sie wurden dann 1966 mit 78 Prozent der Stimmen wiedergewählt. Ist man bei einem solchen Ergebnis in der Gefahr, die Bodenhaftung zu verlieren? Vogel: Ja, die Gefahr ist da, aber ich glaube schon, daß ich sie einigermaßen bannen konnte. Im übrigen ist es ja so gewesen, daß Georg Brauchle von der CSU – der dann leider sehr bald verstorben ist – als mein Gegenkandidat vorher mein Stellvertreter gewesen ist. Er war im Grunde keiner, der dann im Wahlkampf ständig gegen mich Stellung bezogen hätte. So kam es, daß ich ihm an diesem Wahlabend sagte: "Georg Brauchle, lassen Sie uns die Prozentzahlen zusammenrechnen." Somit war das Ergebnis dann nicht unbedingt ein Ergebnis, das sich auf mich als Person bezogen hätte, sondern ein Ergebnis, das wir als Bestätigung für die politische Arbeit, die in diesen sechs Jahren in München geleistet worden war, aufgefaßt haben. Diese politische Arbeit gipfelte dann ja in der erfolgreichen Bewerbung für die Olympischen Spiele. Insofern muß man die 78 Prozent ein klein wenig relativieren. Reuß: Sie haben es soeben schon erwähnt, nicht zuletzt durch Ihren engagierten Einsatz sind die Olympischen Spiele nach München gekommen. Welche Bedeutung hatten die Olympischen Spiele für München? Vogel: Sie hatten eine ganz erhebliche Bedeutung. Zum einen ist der Name - jedenfalls bis zum Anschlag, der dann ja wie ein Schatten über die Spiele fiel – weltweit in einem günstigen und positiven Zusammenhang immer wieder genannt worden. Es war dann eben schon auch München, das deutlich machen konnte, daß das Deutschland von 1972 ein ganz anderes Deutschland ist als das Deutschland von 1936. Darüber hinaus hatten wir davon natürlich auch einen ganz enormen materiellen Vorteil für unsere Infrastruktur. Die Sportanlagen, die U- und S-Bahnen, der Wohnungsbau usw.: Wenn man berechnet, um wie viele Jahre wir länger gebraucht hätten, um den Stand von 1972 zu erreichen, dann kann man schon sagen, daß wir auf diese Weise mindestens acht bis zehn Jahre vorauseilen konnten. Reuß: Aufgrund von parteiinternen Unstimmigkeiten... Vogel: Das ist noch milde ausgedrückt, denn das war wirklich ein bitterer Kampf. Reuß: ...haben Sie entschieden, nicht wieder für das Amt des Oberbürgermeisters zu kandidieren. Sie haben auch kurzzeitig überlegt, ganz aus der Politik auszuscheiden. Brandt, der Sie einmal als den "Karajan der Kommunalpolitik" bezeichnet hat,... Vogel: Das war freilich noch vor diesem Konflikt. Reuß: ...hat Sie dann nach geholt. In welcher Funktion war das? Vogel: Ich war wirklich in Versuchung, ganz aufzuhören. Ich hatte ein Angebot einer Kanzlei vorliegen, und die materiellen Bedingungen wären sicher besser gewesen, als sie in meiner Tätigkeit waren. Aber ich bin heute noch froh darüber, daß mich Willy Brandt und übrigens auch Volkmar Gabert, der damalige bayerische Landesvorsitzende der SPD, davor bewahrt haben, das zu tun. Denn das wäre ansonsten ein Bruch in meinem Leben gewesen, über den ich später nicht hätte glücklich werden können. Brandt hat zu mir gesagt, daß ich in Bonn eben meine kommunalen Erfahrungen einbringen soll. Daraufhin war ich dann für eineinhalb Jahre Bundeswohnungsbauminister. In der Zeit habe ich natürlich nicht sehr viel bewegen können, denn dafür war die Zeit wirklich zu kurz. Aber einiges war eben doch möglich gewesen. Auf diese Weise habe ich jedenfalls noch unter Willy Brandt meine ersten Kabinettserfahrungen gesammelt. Reuß: Sie haben sich auch parteiintern engagiert, Sie waren Mitbegründer eines Kreises, der später "Seeheimer Kreis" genannt wurde. Dieser Kreis gilt ja eher als der Kreis der rechten Sozialdemokraten. Was hat Sie bewogen, diesen Kreis mit zu gründen? Vogel: Es gab damals Entwicklungen, die ich gerade aufgrund meiner Münchner Erfahrungen doch sehr ernst genommen habe. Es gab da ein allmähliches Abweichen von den Grundlagen des Godesberger Programms: Da war von einem imperativen Mandat die Rede, und da kamen auch marxistische Auffassungen in sehr starker Weise zur Geltung – marxistisch nicht im Sinne einer Gesellschaftsanalyse, sondern in Form einer Handlungsanleitung. Ich habe damals doch richtig vorausgesehen, daß dies innerhalb kurzer Zeit den Verlust der Gestaltungsmöglichkeit für die Sozialdemokratie bedeuten würde. Das hat sich dann ja auch in den Wahlergebnissen niedergeschlagen. Aber, wenn ich hier folgenden Sprung noch machen darf: Die Positionen, die ich damals vertreten habe, die ich heute vertrete und die ich vorher auch schon in München vertreten hatte, sind, wenn ich mir nun das Gesamtspektrum der Sozialdemokratie ansehe, heutzutage deutlich links von der Mitte. Ich möchte hier nämlich wirklich nicht gerne falsch verstanden werden: Ich wollte den Markt immer als nützliches und anderen Instrumenten überlegenes Instrument anerkannt wissen, aber nicht als die letzte gesellschaftliche Entscheidungsinstanz. Ich wollte immer, daß die Gestaltungsmacht bei den gewählten Institutionen bleibt und nicht zu den Herren des Marktes hinüber wandert. Reuß: Die Stimmung in der damaligen Bundesregierung war trotz des hohen Wahlsieges von 1972 nicht sonderlich gut. Herbert Wehner hatte ein paar abfällige Bemerkungen über den Bundeskanzler losgelassen, er hatte gesagt, dieser würde "gerne lau baden." Schließlich kam dann noch die Guillaume-Affäre hinzu, die zum Rücktritt von Willy Brandt geführt hat. Helmut Schmidt wurde daraufhin Bundeskanzler und Sie Bundesjustizminister. Welches Verhältnis hatten Sie zu Helmut Schmidt? Vogel: Ein gutes Verhältnis. Er war natürlich eine ganz andere Persönlichkeit als Willy Brandt, aber ich hatte erstens den Vorteil, daß ich ein Ministerium zu verantworten hatte, von dem er nicht im Kern glaubte, daß er es mindestens so gut oder noch besser machen könne als der jeweilige Minister – was auf andere Ministerien in der Tat ja auch zutraf. Und zweitens hatte ich in Bonn dann doch so viel Selbstvertrauen und allmählich auch an politischem Gewicht gewonnen, daß ich es mir durchaus auch zutraute, Helmut Schmidt im Kabinett zu widersprechen. Er hat das akzeptiert, wenn es kurz und präzise war. Er hat dann vor allem auch die Zusammenarbeit während der Schleyer-Entführung und während der Ereignisse in Mogadischu sehr respektiert. Auch meine Bereitschaft, nach Berlin zu wechseln, hat er sehr wohl respektiert. Das hat unser Verhältnis bis heute geprägt. Ich gehe mit dem Wort "Freund" nicht so inflationär um wie vielleicht manche andere Menschen: Aber wir hatten tatsächlich ein gutes Verhältnis zueinander. Reuß: Sie haben es schon zweimal angesprochen, und ich würde das Thema nun gerne etwas vertiefen: der RAF-Terror und Ihre Zeit als Bundesjustizminister. Sie haben immer die harte Linie mit vertreten. Das war sicherlich während der Schleyer-Entführung besonders schwierig, denn mit Hilfe von Schleyer sollten die verhafteten Mitglieder der RAF, die zu der Zeit in Stammheim im Gefängnis saßen, freigepreßt werden. Durch die harte Linie wurde sicherlich das Leben von Hanns Martin Schleyer gefährdet: Wie geht man damit um? Ist das nicht ein fast nicht zu ertragender Gewissenskonflikt? Vogel: Doch, das hat mich wirklich ganz außerordentlich bewegt. Bei der Frage, die Sie vor einiger Zeit schon gestellt haben, bei der Frage also nach meinem Gottesbezug, dürfte das schon deutlich geworden sein. Das Wort von der "harten Linie" bedarf freilich einer gewissen Erläuterung. Der Kern meiner Überlegungen, die Helmut Schmidt von Anfang an – und dann auch der ganze Krisenstab – geteilt hat, bestand darin: Wir retten, wenn wir nachgeben, das Leben des einen und verurteilen damit gleichzeitig zehn, elf, zwölf, 15 Menschen, die wir namentlich noch nicht bezeichnen können, zum Tode, weil sich die Freigepreßten ja nicht in den Ruhestand nach Hinterindien zurückziehen würden, sondern wieder mordend in Erscheinung treten – genauso wie das nach der Lorenz-Entführung und Freipressung schon einmal geschehen ist. Die dort freigepreßten Terroristen haben nämlich nachher mindestens fünf, wahrscheinlich aber neun Morde verübt. Im Rahmen dieser Abwägung habe ich gesagt, daß das das Entscheidende sei. Es kam noch hinzu, daß wir andernfalls ja von keinem Polizeibeamten mehr hätten verlangen können, unter Einsatz seines Lebens Mordverdächtige festzunehmen, wenn er damit rechnen muß, daß sich diesem Festgenommenen bei nächster Gelegenheit die Gefängnistüren öffnen. Der Staat durfte aber seine Schutzfähigkeit unter keinen Umständen preisgeben, denn das wäre eine äußerst schwere Erschütterung unserer Ordnung gewesen. Reuß: Ich würde gerne wieder einen kleinen Sprung machen: Sie hatten dann eine sehr starke Position im Kabinett, und Sie galten eine Zeit lang auch als Kronprinz für die Nachfolge von Helmut Schmidt. Vogel: ...mit anderen zusammen. Reuß: Es gab dann 1981 in Berlin eine schwere Krise, und trat mit seinem gesamten Senat zurück. Sie wurden gefragt, ob Sie seine Nachfolge antreten würden. Sie haben sich dafür entschieden und zwar mit "Mann und Maus", denn Sie haben dafür auch Ihr Bundestagsmandat aufgegeben. Fiel Ihnen denn dieser Wechsel schwer? Vogel: Ja und nein. Einerseits war es ja so, daß es gar keine Konkurrenten gegeben hat, die das an meiner Stelle hätten machen wollen. Ich habe mir gesagt: "Du hast auch immer von den Brüdern und Schwestern in Berlin geredet usw. Aber jetzt gilt's, denn hic Rhodos, hic salta!" Ich habe dann recht bald gemerkt, daß einen das auch durchaus selbst bereichert, wenn man mit 55 Jahren noch einmal völlig durchgeschüttelt und vor eine völlig neue Situation gestellt wird. Ich habe freilich die anschließende Wahl verloren, allerdings gegen einen Konkurrenten, bei dem ich sagen kann: "Einen Besseren find'st du nicht!" Denn ich verlor gegen Richard von Weizsäcker, der dann eben Regierender Bürgermeister von Berlin geworden ist. Aber ich habe dabei auch eine Menge gelernt und doch auch ein bißchen zur Wiederherstellung des sozialen Friedens in der Stadt beitragen können, der ja damals außerordentlich angespannt gewesen war. Reuß: 1982 zerbrach in Bonn die sozial-liberale Koalition durch den Koalitionswechsel der FDP. Helmut Kohl wurde Bundeskanzler und hat durch eine nicht ganz unumstrittene Form, nämlich durch die Vertrauensfrage, Neuwahlen herbeigeführt. Die SPD suchte einen Kanzlerkandidaten für diese Wahl und wurde in Ihnen fündig. War das eine Aufgabe, die Sie als Parteisoldat gemacht haben? Denn Sie selbst haben ja gesagt, daß Sie sich über die Erfolgsaussichten keine Illusionen machen würden. Vogel: Ich weiß nicht, warum dabei immer der Begriff des Soldaten zur Anwendung kommt. Könnte man denn nicht sagen, daß das eben die Entscheidung eines Mannes war, der es mit seinen Erklärungen und mit seiner Solidarität gegenüber der Partei und dem eigenen Land ernst gemeint hat? Ich würde also diese Tugend nicht auf die Soldaten beschränken. Ja, es war wieder so: Es gab keinen Wettbewerb um diese Position. , an den vor allem ich auch gedacht hatte, hatte seine Gründe, sich zu der Zeit völlig auf Nordrhein-Westfalen zu konzentrieren. Ich habe dann gesagt: "O. k., ich tu, was ich kann, und ihr tut bitte auch, was ihr könnt." Dann war man natürlich über die 38 Prozent bei der Wahl zunächst enttäuscht, aber leider sind diese 38 Prozent bei jeder nachfolgenden Wahl bis zum Jahr 1998 in einem immer besseren Licht erschienen. Reuß: Denn bei den kommenden Wahlen sind diese 38 Prozent dann immer wieder nur unterboten worden. Im März 1987 trat Willy Brandt als Vorsitzender der SPD zurück. Mit Blick auf einen Generationswechsel war für eine kurze Zeit als Nachfolger im Gespräch. Er hat das aber nicht gewollt, und dann fiel die Wahl wieder auf Sie. War das eigentlich eine ähnliche Situation? Fiel Ihnen die Nachfolge von Willy Brandt eigentlich schwer? Denn das waren doch große Schuhe, in die Sie da schlüpfen mußten. Vogel: Es waren wohl die größten Schuhe, die ich in meinem Leben von einem anderen übernommen habe. Es war nicht einfach, aber wenn man mit sich selbst einigermaßen im reinen ist, dann fällt einem manches doch leichter. Die Ausgangssituation war ja nicht so, daß ich mit drei Konkurrenten einen harten Kampf um dieses Amt geführt hätte. Statt dessen habe ich in dieser Situation getan, was für die Sozialdemokratie und für unser Gemeinwesen – weil die Opposition ja eine Aufgabe im Gemeinwesen hat – notwendig und sicherlich nicht ganz schlecht war. Wenn man so eine Ausgangssituation hat, dann kann man das auch machen. Außerdem hat sich Willy Brandt, der ja weiterhin im Bundestag saß und Mitglied des Bundesvorstandes war, fabelhaft verhalten. Denn es ist ja immer so ein bißchen problematisch, wenn die Vorgänger noch in unmittelbarer Nähe arbeiten. Ich bedaure es nicht, daß ich etwa vier Jahre lang diese Funktion leisten konnte. Ich habe in der Zeit auch Willy Brandt noch ein bißchen näher kennenlernen können. Reuß: Sie waren, wenn ich das richtig nachgelesen habe, übrigens auch der erste katholische Vorsitzende der SPD. Hat das z. B. im Verhältnis der SPD zu den Kirchen eine Rolle gespielt? Vogel: Vielleicht etwas im Hintergrund, denn es war ja nicht so, daß sich die Bischofskonferenz dazu geäußert hätte usw. Aber ich habe mich ja zeitlebens in meiner Partei um ein besseres Verständnis zwischen Kirche und Sozialdemokratie bemüht. Das lag also in dem Sinne ganz folgerichtig im Rahmen von Anstrengungen und Bemühungen meinerseits. Aber bemerkt worden ist das schon. Reuß: Unter Ihrer Ägide als Parteivorsitzender wurde die Frauenquote eingeführt und ein neues Grundsatzprogramm verabschiedet: Würden Sie sagen, daß die SPD auch heute noch eine programmatische Partei ist? Vogel: Das würde ich mit einem Fragezeichen versehen. Ich würde mir wünschen, daß bei allem Verständnis für aktuelle Probleme und Herausforderungen doch immer wieder eine Rückbesinnung auf das Parteiprogramm stattfindet - nicht auf jedes Detail des Programms, aber auf die Grundwerte, die dort erneut als Grundlage unserer politischen Arbeit festgeschrieben worden sind. Ich würde mir wünschen, daß diese Bezugnahme deutlicher und sichtbarer werden würde. Es gibt in der Politik – und da meine ich nun nicht primär die Sozialdemokratie – einen gewissen Zug zur Beliebigkeit. Es besteht die Gefahr, daß sich die Politik in das Mediengeschehen einbetten läßt und dann nur noch als Unterhaltungsveranstaltung wahrgenommen wird. Es gibt da und dort die Formel "anything goes" – und wenn nur die Meinungsumfrage stimmt, dann ist alles in Ordnung. Davor möchte ich meine Partei bewahrt wissen. Reuß: Würden Sie Richard von Weizsäcker zustimmen, der einmal gesagt hat, die Parteien seien machtvergessen, machtversessen? Vogel: Ich stimme Richard von Weizsäcker in sehr vielen Dingen zu, aber in dem Fall habe ich mich schon damals etwas distanziert von dieser Aussage. Es gibt solche Erscheinungen, aber mich hat die Verallgemeinerung gestört. Das ist ja auch ein Urteil über Hunderttausende, die nicht wegen irgendeines Machtstrebens oder wegen eines sonstigen Vorteils einer Partei angehören, sondern dort für unsere Demokratie bitter notwendige Arbeit leisten. Mir hätte der Vorwurf doch mehr eingeleuchtet, wenn Namen und Adressen genannt worden wären: Da hätte er sicherlich Adressen durch die gesamte Parteienlandschaft gefunden – eine sogar in seiner direkten räumlichen Nähe. Reuß: Ich würde, wenn Sie erlauben, wieder einen kleinen Sprung machen. Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Die Ereignisse haben sich in der damaligen Zeit etwas überschlagen: manches Politikerwort veraltete fast schon in seinem Munde. Oskar Lafontaine wurde dann Kanzlerkandidat der SPD. Aber schon früh zeichneten sich Differenzen auch zwischen Ihnen und Lafontaine ab. Sie sprachen von Eigenwilligkeiten Lafontaines und davon, daß Sie ihn bei seiner Kandidatur bis an den Rand der eigenen Selbstverleugnung unterstützt haben. Was hat die Zusammenarbeit mit Lafontaine so schwierig gemacht? Vogel: Unsere Persönlichkeitsstrukturen sind sehr unterschiedlich. Lafontaine war es vom Saarland her – und dort hatte er damit seinen Erfolg – gewohnt, daß er allein die Entscheidungen traf und daß alle übrigen sich mehr auf Zuarbeit und öffentliche Vertretung dieser Entscheidungen beschränken. Darüber hinaus gab es einen Sachkonflikt, der ja auch ziemlich lebhaft ausgetragen worden ist: Er wollte, daß die Sozialdemokratie gegen die Währungsunion stimmt. Das heißt, er hatte einen ganz komplizierten Weg vorgeschlagen: Im Bundestag sollten wir dagegen sein, im Bundesrat sollten wir das dann aber doch wieder ermöglichen. Das war eine ziemlich harte Auseinandersetzung. Ich muß aber gerechterweise sagen, daß bei Oskar Lafontaine nach dem Attentat vom April 1990 diese unmittelbare Nähe an der Grenze von Leben und Tod eine Rolle spielte. Das ist ein Umstand, der bei aller Kritik auch an seinem jüngsten Verhalten ebenfalls immer mit gesehen werden muß. Reuß: Ihr Verhältnis zu den Politikern, die dann in Ihrer Nachfolge den Vorsitz in der Partei und in der Fraktion übernommen haben, ist nicht ausnahmslos ungetrübt. Über den heutigen Bundeskanzler Gerhard Schröder formulierten Sie einmal: "Bei Schröder, dessen politisches Talent außer Frage steht, bin ich mir sicher, daß er die Macht will. Wofür er sie dann jeweils nutzt, ist nicht so sicher." Haben Sie Ihre Einschätzung inzwischen geändert? Vogel: Also, ich bin dabei zu sagen, daß ich nun doch für das eine oder andere Feld erkennen kann, wofür er steht. Als Parteivorsitzender wird er sich dieser Frage noch stärker gegenübergestellt sehen – und da besteht diese Frage fort. Aber das Amt und die Ämter prägen eine Person auch, und daher bin ich ganz zuversichtlich, daß diese Frage in nicht allzu ferner Zeit als beantwortet gelten kann. Im Augenblick ist dieser Zustand jedoch noch nicht erreicht. Reuß: Hat die heutige Generation von Führungspersönlichkeiten in allen Parteien ein anderes Verhältnis zur Macht? Vogel: Das ist furchtbar schwer zu beantworten. Diejenigen, nach denen Sie fragen, sind in einer ganz anderen Zeit geprägt worden. Es ist ja auch nicht unser Verdienst, daß wir durch Erlebnisse geprägt wurden, zu denen die Jüngeren ihren Zugang nur über Bücher finden. Aber ein bißchen mehr Strenge sich selbst gegenüber, ein bißchen mehr Pedanterie, hin und wieder ein paar Klarsichthüllen, um Ordnung in die Dinge zu bringen und um koordinieren zu können, und hin und wieder etwas weniger Zeit für Dinge, die nicht unbedingt zum politischen Amt gehören - das könnte nicht schaden. Reuß: Bei Ihrer Abschiedsrede im Deutschen Bundestag im Juli 1994 haben Sie Papst Johannes XXIII. mit den Worten zitiert: "Giovanni, nimm dich nicht so wichtig." Nehmen sich die Politiker heute zu wichtig? Vogel: Nicht alle. Es gibt welche, die sich für den Nabel der Welt halten und denen man daher schon aus reiner Mitmenschlichkeit widersprechen muß. Aber für die Masse würde ich das nicht sagen. Unsere Politiker und Politikerinnen sind insgesamt besser als ihr Ruf – und das sage ich wirklich aufgrund von langer Kenntnis. Reuß: Gibt es etwas, das Hans-Jochen Vogel noch erreichen möchte? Vogel: Ich bin mit mir einigermaßen im reinen, und ich möchte erreichen, daß es so bleibt. Ich möchte meine Kraft, soweit ich sie habe, auch noch für sinnvolle Dinge verwenden, aber größeren Ehrgeiz habe ich nicht mehr. Reuß: Ist Ihr Rat noch gefragt? Vogel: Ja, durchaus. Zwar nicht von jedem und nicht bei jeder Gelegenheit, aber es kommt doch immer wieder auch zu ernsthaften Fragen an mich: Das ist aber nichts, was sich für die Öffentlichkeit eignet. Und manchmal schreibe ich auch von mir aus jemandem und sage ihm: "Du weißt, bei mir brauchst du keine Indiskretion zu befürchten. Aber habt ihr dieses und jenes auch wirklich bedacht?" Manchmal kann ich dann im persönlichen Gespräch auch sehr zornig werden, das ist wohl wahr. Reuß: Unsere Zeit geht leider zu Ende. Ich darf mich für Ihr Kommen und für das sehr angenehme und offene Gespräch sehr herzlich bedanken. Ich möchte gerne mit einem Zitat aus Ihrem Buch "Nachsichten" schließen, denn dieses sehr weise Zitat hat mich sehr beeindruckt. Es stammt von Friedrich Christoph Oettinger, einem katholischen Geistlichen aus dem 18. Jahrhundert, und hing, wenn ich richtig informiert bin, sehr lange in Ihrem Fraktionsbüro. Es lautet: "Oh Herr, gib mir die Kraft, Dinge, die ich nicht ändern kann, mit Gelassenheit hinzunehmen. Gib mir den Mut zu ändern, was geändert werden kann und muß, und gib mir die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden." Noch einmal ganz herzlichen Dank, Herr Dr. Vogel. Vogel: Ich danke meinerseits. Reuß: Verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, das war Alpha-Forum, heute mit Dr. Hans-Jochen Vogel. Herzlichen Dank für Ihr Interesse und fürs Zuschauen und auf Wiedersehen.

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