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28. internationale filmfestspiele berlin 8. internationales berlin forum 24.2.-3.3. LS des jungen films 1978

THE NAKED CIVIL SERVANT Format 16 mm, Farbe, 1 : 1.33

Der nackte Beamte Länge 78 Minuten

Land Großbritannien 1975 Inhalt Produktion Barry Hanson für Thames Television Ltd. ist ein femininer Homosexueller, der in den späten Zwanziger Jahren ein herausforderndes Make-up trug, als sogar Regie Lidschatten bei einer Frau noch als sündhaft galten.

Buch Philip Mackie, nach der gleichnamigen Dieser Film beruht auf seiner Autobiographie und erzählt die Ge• Autobiographie von Quentin Crisp schichte seines Lebens von den späten Zwanziger Jahren bis zum heutigen Tag. Er beschreibt seine Anstrengungen, für sich und andere das Recht durchzusetzen, ein Leben ohne Verfolgung und Kamera Mike Fash Erniedrigung zu führen.

Musik Carl Davis Jon Hurt spielt in diesem dramatisierten Fernsehfilm seine bis jetzt Schnitt Mike Taylor schwierigste Rolle: das Porträt eines 'ausgeflippten', andere werden sagen: heroischen Charakters. Quentin Crisp leitet den Film selbst Dekor Allan Cameron ein. Produktionsleitung Verity Lambert Produktionsmitteilung

Darsteller Englische Kritiken

Quentin Crisp Jon Hurt THE NAKED CIVIL SERVANT, Jack Golds Adaption der Auto• Kunststudentin Liz Gebhardt biographie von Crisp ist ein außerordentlicher Film. Crisp war frü• Mr. Pole Stanley Lebor her Modell in einer Kunstschule — daher der publikumswirksame Mrs. Pole Katharine Schofield Filmtitel, — und ist ein militanter Homosexueller. Ein Vierteljahr• Ballettlehrerin Patricia Hodge hundert vor der Entstehung der Gay Lib verwandelte er sein ganzes Daumennagel Colin Higgins Leben freiwillig in eine Art Protestdemonstration, um die öffent• Scheunentor John Rhys-Davies liche Aufmerksamkeit auf ein Problem zu lenken, das man unter Mr. Crisp Lloyd Lamble den Teppich gekehrt hatte. Mrs. Crisp Joan Ryan Arzt Frank Forsyth Da er sich als Mann und Frau in einer Person fühlte, spielte er sei• Norma Shane Briant ne Situation in äußerst dramatischer Form aus, direkt auf der Stra• Eigentümer der ße: mit mädchenhafter Kleidung, Kosmetik und auffällig gefärb• schwarzen Katze Ron Pember ten Haaren. Nach dem Schock des ersten Augenreibens-und-wieder- Liz Roger Lloyd Pack Hinsehens und - für manche Leute — dem Widerwillen, Männer zu Gloria Adrian Shergold sehen, die gurren und sich putzen, sich Dauerwellen legen und sich Freda Derek West Wimpem-schlagend Blicke zuwerfen, gewöhnt einen der Film er• June David Fielder staunlich schnell an diese Welt.

Erster Polizist David Flanagan Crisp, wie ihn Jon Hurt nach dem Buch von Philip Mackie darstell• Empfangschef Jiggy Bhore te, war ein sich bekennender Exhibitionist, dem es weniger um Prah• Mr. Dunsmore Graham Armitage lereien als um Erklärungen ging. Hurts Leistung in der Hauptrolle, 'Starker' Mann die so fatal leicht zu parodieren ist, war groß; seine Darstellung mag aus Clerkenwell James Marciu vielleicht erreicht, wird aber schwerlich übertroffen werden. Er ver• Taxifahrer John Malcolm mittelt Crisps fragilen, witzigen Charme, die Freundlichkeit und Club manager Michael Bangerter ausnutzbare Qualität eines Menschen, der dazu neigt, auf Forderun• Neurotisches Mädchen Janet Chappell gen mit einem 'All right' und einem traurigen Achselzucken zu rea• Beamter John Forbes-Robertson gieren. (...) Detektiv-Inspektor Frederik Treves Bei einem Thema, das zu widerwärtigen Phantasien geradezu ein• Psychiater John Cater lädt, erlaubte sich Gold nur eine Extravaganz: eine Hollywood- Modell Susan Wooldridge artige musikalische Sequenz, in der der entzückende Jüngling von Polizist in Zivil Peter Sproule muskulösen, weiß-uniformierten Matrosen umworben wird. Der Schauspieler Harvey Ashby Rest war direkte, wenn auch Erstaunen erregende Reportage von Richter Martin Boddey großer Lebensnähe. (...) Mrs. Longhurst Antonia Pemberton Shaun Usher, Two faces of an astonishing World, in : Daily Maü, Uraufführung 17. 12. 1975, Femsehausstrahlung 18. 12. 1975 BBC London * Die anderthalb Stunden, die wir in der Gesellschaft von Quentin ein Gefühl für die äußerste verdichtete Funktionalität jeder Ein• Crisp verbrachten, waren kurzweilig und das Verdienst dafür ge• stellung und jedes Schnitts. bührt nicht zuletzt seinen Darstellern. Das Buch von Philip Auch Jack Golds Auswahl fiktiver Stoffe ist aus seiner Prägung Mackie hat sowohl Gewandheit wie Kraft, und Jack Gold, der durch die Dokumentararbeit abzuleiten. Für ihn stehen, wie dort Regisseur, inszenierte mit leichter, aber sicherer Hand, wobei auch, Menschen im Vordergrund. Action-Szenen wie in der psy• er das Verhalten von Freund und Feind mit großem Geschick chologisch hochdifferenzierten Abrechung - glänzend insze• benutzte, um die sich wandelnde öffentliche Meinung widerzu• niert — langweilen ihn, wie er sagt, wenn er sie auch gern schnei• spiegeln. (...) det. Diese Einstellung macht jeden seiner Filme im besten Sinne Jon Hurt, der die Rolle des Quentin Crisp spielte, gab eine Dar• zu ausgesprochenen Schauspielerfilmen. Die Kreation von Rollen, stellung von bemerkenswerter Subtilität. Die Art und Weise, wie für die Schauspieler dankbar sind, funktioiueri in einer nahtlosen er den Sprechrhythmus seines Helden beherrschte, der den Film Wechselwirkung mit auskalkulierten dramaturgischen Konstruk• einleitete, war unheimlich. Jede Geste der Eitelkeit, Demut, Of• tionen. Die Vorliebe für Großaufnahmen seiner Figuren begründet fenheit und Großzügigkeit war genau bemessen und vollendet ab• Jack Gold eben mit dramaturgischen Notwendigkeiten: ,,Ich mag gestimmt. einfach die Gesichter von Menschen, und ich glaube nicht, daß das vor allen Dingen wegen des Femsehens so ist. Ich ziehe auf, wenn The Times, 18. 12. 1975 ich finde, daß der ganze Körper wichtig ist, aber grundsätzlich ge• he ich gern dicht auf Gesichter." Exemplarisch hat er die Technik, * eine Szene durch stetig wachsende Großaufnahmen dramatisch zu steigern, in der Schlußszene von Katholiken mit Irevor Howard Ungeachtet der Tatsache, daß das Drehbuch fehlerlos konstru• als Abt auf dem Höhepunkt seiner Glaubenskrise angewandt. iert war und aus der alltäglichen chronologischen Abfolge eine atemberaubende Handlung herausarbeitete, bleibt doch die Wahr• So steht im Vordergrund jedes der Filme von Jack Gold eine The• heit bestehen, daß Jack Gold die naturalistischen Mittel auf eine matik, die unmittelbar mit Menschen zu tun hat, um welches Gen• Weise beherrscht, die der Realität die Lebendigkeit eines Traumes re es sich auch handelt. Der zweite Schritt ist es dann, die Schick• gibt. Seine Technik ist so raffiniert, daß es einer Willensanstren• sale dieser Menschen auf ihre historischen und sozialen Bedingun• gung bedarf, sie zu entdecken, aber wenn man sie zu analysieren gen zu abstrahieren, wobei das emotionale Engagement nie aufge• beginnt, findet man kein Ende. Es gibt eine Szene im Cafe 'Black löst wird. Cat', wo Quentin und seine Freunde von Rowdies attackiert Die außergewöhnliche Vielseitigkeit Golds, nicht nur in formaler, werden, die mit einer solchen Ökonomie der visuellen Mittel und handwerklicher Hinsicht, befähigt ihn, sich der unterschiedlich• großer Aufmerksamkeit für die Darstellung gedreht ist, daß es sten Stoffe und Genres anzunehmen. In jedem Fall bleibt dabei dem Beobachter schwer fällt, zu sagen, was ihn ängstigt, denn es seine persönliche Handschrift erkennbar. gab eine starke atmosphärische Spannung, obwohl sich so wenig an Handlung vollzog. Es war Gewalttätigkeit in Konzentration, ohne daß ein einziger Schlag fiel. Aus : Spielfilme im Deutschen Fernsehen ARD 1978, S. 70 - 71

Clive James, The Observer, 21. 12. 1975

Biofilmographie

Jack Gold, geboren 1930 in London, begann 1955 bei der BBC, Jon Hurt behandelte den außerordentlich exzessiven Charakter arbeitete dort ab 1975 als Cutter und von 1960 - 1967 als Regis• seines Helden auf die einzig mögliche, sensible Art. Er reprodu• seur von Dokumentarfilmen. Nach längerer Tätigkeit für das poli• zierte sehr wirkungsvoll Crisps Camp-Manirismus, aber seine Cha• tische Magazin 'Tonight' inszenierte er F'ernseh-Features (über rakterisierung betonte gleichzeitig die Geduld, das Mitleid und Paul Getty, die Fuchsjagd, Indien, die amerikanische Börse u.a.) die unerbittliche Distanz der Beziehungen Crisps zu seiner Um• und erneut viel beachtete Dokumentarfilme. welt. Jack Gold behandelte das potentiell schreckliche Thema 1969 - 1969 drehte er seine zwei ersten Spielfilme, denen — unter• — (man schaudert bei dem Gedanken, was Ken Russell aus diesem brochen durch eine Reihe von Fernsehspielen — zahlreiche weitere Stoff gemacht hätte) — mit Verständnis, Humor und Können, folgten. wobei ihm das brillante Drehbuch von Philip Mackie zugute kam. In einer Jack Gold gewidmeten Retrospektive zeigt das Deutsche In der Schlußszene sehen wir Crisp in den Siebzigern, glücklich Fernsehen (ARD) in der Zeit vom 18.3. - 15.4. eine Auswahl von flirtend, umringt von freundlichen Matrosen und im Zentrum der sieben seiner Spielfilmen bzw. Fernsehspielen. Aufmerksamkeit, zum ersten Mal 'ohne das Begleitgefühl der Angst'. Aber Gold stellt diesen einmaligen Augenblick des Glücks Filme (Auswahl) gegen den Hintergrund von MGM-Flitter-Stars und der Fragilität 1968 (Ereignisse beim Bewachen der Bofors- einer musikalischen Komödie: die Botschaft des Films besteht Kanone) letztlich darin, daß Crisps Dilemma zu ernst war, als daß er ein 1969 The Reckoning (Die Abrechnung) dauerndes Glück hätte erringen können. 1972 The National Health (Bis zum letzten Patienten) 1973 Catholics (Katholiken)

Peter Lennon, 'Character Studies', in : Sunday Times, 21. 12. 75 1974 Who? (Der Mann aus Metall) 1975 Man Friday (Freitag und Robinson) THE NAKED CIVIL SERVANT

Über den Regisseur Jack Gold 1976 Aces High (Die Schlacht in den Wolken)

Jack Golds Inszenierungsstil ist, ihm selbst durchaus bewußt, durch seine Herkunft vom Fernsehen bestimmt. Optik, Drama• turgie und Schauspielerführung sind geprägt von seinen Anfän• gen und der Weiterentwicklung der gelernten Mittel, ob auf dem Gebiet der filmischen oder elektronischen Produktion. Hatte er als Cutter für Tonight sich den Sinn für die Strukturen von dia• logischen Interview-Situationen oder kleinen filmischen Geschich• ten angeeignet, gewann er dort als Regisseur Interesse an dem sich damals im Schwange befindlichen Cinéma Vérité und kam, dar• herausgeber: internationales forum des jungen films / freunde der aus resultierend, zu einer kompromißlosen Form der Authentizi• deutschen kinemathek, berlin 30, welserstraße 25 (kino arsenal) tät, auch auf dem Gebiet fiktiver Darstellungen. Durch die Pro• druck: b. wollandt, berlin 31 duktionsbedingungen des Femsehens entwickelte er außerdem