Das Magazin der Deutschen Versicherer #1_2021 Positionen Positionen

Neustart für die Altersvorsorge

Der demografische Wandel belastet die staatliche Rente. Ohne private Vorsorge geht es nicht. Doch damit alles so bleibt, wie es ist, muss sich vieles ändern

22 26 40 Satelliten Energiewende Brexit Wie Technik aus dem All hilft, Warum Ökostrom große Wie Lloyd's und Co. sich auf die Versicherungsschutz zu verbessern Chancen für Versicherer bietet Zeit danach einstellen Zahlen, bitte

GEFÄHRLICHE GESCHOSSE

Schwere Je größer, desto heftiger Hagel wird als Naturgefahr häufig unterschätzt. Dabei Unwetter kann ein heftiger eisiger Schauer nicht nur große Schäden verhageln anrichten, sondern – je nach Korngröße – sogar lebensge- fährlich sein. 2019 war eines der schlimmsten Hageljahre die Bilanz seit der Jahrtausendwende. Und sicher nicht das letzte

Quelle: Hagelregister der Vereinigung Kantonaler Feuerversicherungen, Bern

ab 1 cm = ca. 50 km/h Schäden an Getreide, Früchten, Bäumen

ab 2 cm ab 3 cm ab 5 cm ab 6 cm = ca. 70 km/h = ca. 90 km/h = ca. 110 km/h = ca. 120 km/h 8cm = Löcher in Plexiglas, Verletzung von Irreparable Verletzungsgefahr Glasbruch bei Kleintieren, Dellen Kfz-Schäden, Zerstörung für Menschen, ca. 140 km/h Gewächshäusern in Autos, Bruch von von Dächern und Schäden an Lebensgefahr für Menschen, und Oberlichtern Dachziegeln und Metallfensterrahmen Flugzeugen Schäden an Beton- und Fensterscheiben Backsteinwänden

STURM- UND HAGELSCHÄDEN 2019 Auf und ab im Zickzackkurs Kräftig aufs Dach Anzahl der Kfz-Schäden durch Schadenentwicklung Sachversicherung* Hagel, Sturm und Blitzschlag durch Sturm und Hagel in der 1,8 Mrd.€ Anzahl der Schäden (in Tsd.) Wohngebäudeversicherung Schadendurchschnitt in €

Kfz-Versicherung** 345 330 900 Mio.€ 265 1591€ 180 * Wohngebäude, Hausrat, Industrie, 949 Gewerbe, Landwirtschaft 636 ** Voll- und Teilkasko 45

Quelle: GDV 1980 1990 2000 2010 2019 2000 2010 2019 Editorial 02 03

Liebe Leserinnen, liebe Leser.

Zum Jahresende gibt es Erfreuliches zu berichten: Die Versicherungs- branche erwartet für 2020 über alle Sparten hinweg ein leichtes Plus von 0,4 Prozent bei den Beitragseinnahmen. Damit sind wir vergleichs- weise glimpflich durch dieses schwierige Corona-Jahr gekommen. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir vor großen Bewährungsproben stehen: Nachhaltigkeit, Digitalisierung, demografischer Wandel. Wir wollen die Herausforderungen annehmen, sie mitgestalten, nicht abwarten, was passiert. Die nächste Bundestagswahl ist bereits im September 2021 – nicht mehr viel Zeit für die im Koalitionsvertrag vereinbarte, umfassende Reform der Altersvorsorge, zumal CDU und SPD sehr unterschiedliche Vorstellungen haben. „Wir können nicht alle paar Jahre die Rentenpolitik grundsätzlich ändern“, sagt der rentenpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Ralf Kapschack in unserem Interview (Seite 16). In diesem Punkt bin ich völlig seiner Meinung. Dennoch brauchen wir Reformen, das Neue Serie: Die Altersvorsorge in ist unstrittig zwischen Parteien, Versicherern und Verbraucher- Deutschland braucht schützern. Es geht um nicht weniger als soziale Gerechtigkeit. einen Neustart. In unse- Aus unserer Sicht ist nur ein Drei-Säulen-System aus rer Serie Rente global gesetzlicher, betrieblicher und privater Altersvorsorge beschreiben wir von dieser Ausgabe an, in der Lage, die Lasten des demografischen Wandels wie andere Länder mit zu tragen und Altersarmut zu vermeiden. Unser Ziel der Herausforderung ist ein digital vermarktbares Standardprodukt mit des demografischen abgesenkten Garantien, besseren Ertragschancen und Wandels umgehen – und was wir von ihnen geringeren Kosten. Denn jeder dritte Deutsche würde lernen können. Den An- gern mehr für das Alter vorsorgen, kann es sich aber nicht fang macht Österreich, leisten. Deshalb: Packen wir die geförderte Altersvorsorge endlich ab Seite 12 genauso an wie die digitale Renteninformation, für die die Politik erfreulicherweise gerade die Grundlagen beschlossen hat.

Ich wünsche Ihnen ein gutes und vor allem gesundes Jahr 2021!

Wolfgang Weiler Präsident Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV)

Positionen #1_2021 #01_2021

gut geposted

All digital Schüler der Kölner Journa- listenschule recherchieren beim GDV – per Videoschalte. #corona, #niedrigzins, #finanzkrise und, klar, #lobbyismus. Dazu GDV-Hauptgeschäftsführer @JoergAsmussen via Twitter: „Vertrau- en, Transparenz, Faktentreue. Wo ich an- rufe, ist 100 Prozent @gdv_de drin“.

Naturgefahren Die ganze Repu- blik hat blaue Flecken. Sie stehen für #gebäudeschäden durch extre- me #niederschläge. Sie zeigen auch via LinkedIn: Es kann jeden treffen. #starkregen #klimawandel 32 Feuerversicherung: Vor fünf Jahren stand Gangolf Hosenfeld vor dem Nichts. Ein Großbrand hatte seinen Familienbetrieb, ein Sägewerk, zerstört. Mit Unter- stützung seines Versicherers machte er sich an den Wiederaufbau. Mit Erfolg

Titelthema 26 Energiewende: Die Ökostrom- Industrie wälzt das Geschäft der 06 Rente: Warum eine Reform der technischen Versicherer um Altersvorsorge überfällig ist

12 Österreich: Das Rentnerparadies Schützen „Es ist machbar“ Mit Unterstützung des ringt mit seinem Pensionssystem Staates kann eine Pandemie-Versicherung 32 Reportage: Ein Großbrand zerstörte das Lebenswerk eines gelingen, so die Botschaft von Nita Madhav 16 Interview: Der SPD-Rentenexperte und Ben Oppenheim vom US-Risikomodel- Sägewerkbesitzers. Doch der Ralf Kapschack zur Zukunft des weigerte sich, aufzugeben lierer Metabiota in „Positionen 3_2020“. Das Drei-Säulen-Modells „Handwerk Magazin“ nahm die Argumente unserer Kolumnisten auf – und berichtete 18 Infografik: Daten und Fakten zur Regeln breit über die entstandene Debatte. Absicherung im Alter auf einen Blick 40 Brexit: Was die britische Assekuranz unternimmt, um Folgen Sie uns auf: Erfinden ihr EU-Geschäft zu retten 22 Satelliten: Wie Versicherer dank 44 Ausbildung: Die Experten von Luftunterstützung effizienter werden morgen sollen digitaler werden

Positionen #1_2021 inhalt 04 05 36 Helden der Arbeit

Nicola de Paoli Christian Höller bekam jüngst Post geht Dingen gern auf vom britischen Wirt- den Grund. 2019 er- schaftsminister. „You hielt der Wiener Wirt- need to act now“, schaftsjournalist einen mahnte er die deut- wichtigen Medienpreis sche Journalistin, die für einen Text über in Edinburgh lebt. Das das Pensionssystem Schreiben sollte Un- in Österreich. Das wird ternehmer daran erin- in Deutschland oft als nern, rechtzeitig Vor- vorbildlich gepriesen kehrungen für die Zeit – nicht unbedingt zu nach dem Brexit zu Recht, wie Höller in sei- treffen. Die britischen nem Bericht für „Po- Reden wir über Sicherheit: Ständig ist Norbert Zajac von Versicherer, stellte de sitionen“ konstatiert. gefährlichen Wildtieren umgeben, etliche Male wurde er an- Paoli bei ihrer Recher- In seinem zweiten Job gefallen, gebissen, gestochen. Trotzdem hält der Chef der che fest, haben sol- ist er übrigens Psycho- größten Zoohandlung der Welt seinen Job nicht für gefährlich che Warnungen nicht therapeut. Er mag es nötig: Sie fühlen sich eben, Dingen auf den bestens gerüstet. Grund zu gehen.

Brexit: Rente global: Standards ab Seite 40 ab Seite 12 02 Zahlen, bitte: Hagel Welt der Zahlen 43 Um den Globus: Grönland

29 Regiotrend: Verkehrsunfälle mit Personenschaden

36 Reden wir über Sicherheit mit Norbert Zajac, dem Chef der größten Zoohandlung der Welt 35 % 47 Kolumne: Johannes Wagner der über 65-Jährigen fürchten, dass ihre fi- sieht gute Karrierechancen in der nanzielle Absicherung nicht bis ans Lebensende Versicherungswirtschaft für die reicht. Warum das so ist und was zu tun ist, Generation Z damit unser Rentensystem zukunftsfest wird 48 Die schönste Versicherungs-­ sache der Welt: Codex Manesse Gipfel der Generationen: ab Seite 06 Titelgeschichte Altersvorsorge TEXT: ELI HAMACHER Titelgeschichte 06 07 ILLUSTRATION: MALTE KNAACK Gipfel der Generationen Das Rentensystem in Deutschland braucht einen Neustart. Mit Riester wurde viel erreicht, auch im internationalen Vergleich. Doch um die private Altersvorsorge für die Zukunft wasserfest zu machen, muss sie einfacher werden – bei der Förderung und bei den Produkten. Ein Plädoyer

alter Riester hat gerade mit seiner Seither steht die deutsche Altersvorsorge, die Frau ein Haus gebaut. Im maleri- auch international große Anerkennung findet, schen Isny im Allgäu genießt Ries- auf drei Säulen: gesetztliche Rente, betriebliche ter seine Rente – obwohl er als frü- Altersversorgung und private Vorsorge. Doch die herer Bundesminister streng ge- steigende Lebenserwartung und der demografi- Wnommen natürlich Pension bezieht. Doch noch sche Wandel bringen das System an seine Gren- immer kommt der 77-Jährige in Fahrt, wenn es zen. Auf 100 Bürger im erwerbsfähigen Alter (20 um sein Lebensthema geht: die nachhaltige Ent- bis 64) kommen heute etwa 36 Menschen, die 65 wicklung sozialer Sicherungssysteme. oder älter sind. Dem Munich Center for the Eco- Vor knapp 20 Jahren beschloss die damali- nomics of Aging zufolge werden es 2035 bereits ge rot-grüne Bundesregierung einen Paradig- 54 und im Jahr 2060 sogar 58 sein. Im Umkehr- menwechsel: Die aufgrund der höheren Le- schluss heißt das: Weniger als zwei Berufstätige benserwartung und des demografischen müssten mit ihren Beiträgen einen Rentner ver- Wandels immer weiter steigenden Beiträ- sorgen. Die Deckungslücke der gesetzlichen Ren- ge zur staatlichen Rentenversicherung tenversicherung wächst: Mehr als 100 Milliar- wurden gesetzlich gedeckelt, das Ren- den Euro Steuergeld pumpt der Staat schon heute tenniveau gesenkt. Erhielt ein Ruheständ- jährlich in die Rentenkasse (siehe Grafik Seite 18). ler in den 1990er-Jahren im Schnitt noch mehr als 50 Prozent eines Durchschnitts- Aufgrund der Niedrigzinsen kann die private lohns als Rente, sind es heute nur noch Säule die Rentenlücke nicht schließen 48,2 Prozent. 2034 werden es laut dem Anders als geplant, kann die private Säule in ih- jüngsten Rentenversicherungsbericht wohl rer jetzigen Form diese Entwicklung jedoch nicht nur noch 46 Prozent sein. mehr auffangen. „Zuletzt hatten immerhin 16,5 Um die so entstehende Einkommenslücke Millionen Beschäftigte einen Riester-Vertrag ab- zu schließen, wurde die betriebliche Altersversor- geschlossen. Nie zuvor haben so viele Deutsche gung erleichtert und ein neues Ins­trument für die privat fürs Alter gespart“, sagt Walter Riester. We- individuelle Vorsorge geschaffen: eine rein priva- gen der seit mehr als einem Jahrzehnt andauern- te Rente, gefördert durch staatliche Zulagen und den Niedrigzinsphase fällt es den Lebensversiche- Steuervorteile. Bis heute trägt sie den Na- rern allerdings zunehmend schwer, Riester-Pro- men des damals zuständigen Arbeits- dukte mit attraktiven Renditen anzubieten. Die und Sozialministers: Riester-Rente. große Vielfalt der möglichen Vertragsmodelle 

Positionen #1_2021 Titelgeschichte

und das komplizierte Förderverfahren – bei jeder Nur eine Reform der Änderung der Lebenssituation ändern sich die Zulagen – macht diese Form der Altersvorsorge verwaltungs- und beratungsintensiv. Und damit teuer. Die Folge: Seit fünf Jahren stagniert die Zahl privaten Altersvorsorge der Riester-Verträge, gut ein Fünftel ist ruhend ge- stellt, wird also derzeit nicht bespart, schätzt das Bundesarbeitsministerium. Die deutschen Versi- reicht nicht. Was wir cherer warnen vor dem „Risiko Ruhestand“, und auch Rentenreformer Riester sieht dringenden Handlungsbedarf: „Das gesamte Vorsorgesystem brauchen, ist eine gehört auf den Prüfstand.“ Die Bundesregierung will das Thema endlich anpacken. Doch die Zeit wird knapp Rentenrevolution Die Zeit drängt. Anfang Dezember hat die Deut- sche Aktuarvereinigung (DAV) vorgeschlagen, den Höchstrechnungszins für neue Lebensver- sicherungsverträge von aktuell 0,9 auf 0,25 Pro- zent im Jahr 2022 abzusenken. Sollte das Bun- desfinanzministerium diesem Vorschlag folgen, würde dies die klassischen Riester-Verträge aus Renditesicht noch unattraktiver machen. „Wir brauchen eine Riester-Revolution“, sagt Jörg As- mussen, Hauptgeschäftsführer des Gesamtver- bands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), und macht damit klar, dass es mit einer kleinen Reform nicht getan ist. „In einer Welt ohne positiven Nominalzins muss die Al- tersvorsorge neu gedacht werden – das gilt auch für Riester und für die betriebliche Altersversorgung“, so Asmussen. Die Bundesregierung hat zugesagt, das Thema noch in dieser Legislaturpe- riode anzupacken. Doch bis zur nächsten Bundestagswahl im September 2021 sind es nur noch wenige Monate – kein üppi- ges Zeitfenster für eine umfassende Re- form, von der die Koalitionspartner zudem auch noch inhaltlich unterschiedliche Vor- stellungen haben. Und so schlugen Anfang November die im GDV organisierten deut- schen Versicherer, der Fondsverband BVI, der Verband der Privaten Bausparkassen (VDPB) Leistungsträger: und die Landesbausparkassen (LBS) Alarm: „Die Der Anteil der Erwerbstätigen Zeit für eine Reform läuft davon“, hieß es in ei- an der Gesamtbevölkerung nem Brief an Kanzleramtschef , in schrumpft bis 2060 von 59,7 dem die Verbände auch davor warnten, die Ries- auf 51,2 Prozent ter-Rente ab 2021 nicht mehr anbieten zu können, Titelgeschichte 08 09 wenn sich die Rahmenbedingungen nicht zügig den Kapitalanlegern ihr eingesetztes Geld also änderten. „Ein Aussitzen schwächt die dringend auch nicht in vollem Umfang zurück. notwendige und politisch gewollte Motivation Unterstützung für diese Position kommt von zur Eigenvorsorge“, unterstreicht Clemens Vat- der Aktuarvereinigung DAV. Er sei ein Befürwor- ter, Vorstand bei der Signal Iduna Lebensversi- ter der Riester-Rente, sagt der Vorsitzende Gui- cherung. Wer von Altersarmut rede und Halteli- do Bader, doch die immer noch vorherrschende nien bei Beitragssatz und Rentenniveau verlange, Garantiefixierung müsse aufgebrochen werden, müsse auch Anpassungen an nachweislich wirk- „um dem Gedanken zum Durchbruch zu verhel- samen Instrumenten zulassen. fen, dass weniger Garantie auch mehr Leistung bedeuten kann“. Die DAV schlägt deshalb vor, zum Vereinfachte Förderverfahren statt 1. Januar 2022 ein Gesetzespaket zu schnüren, das des aktuellen Zulagenwirrwarrs sowohl eine Absenkung des Höchstrechnungs- Die Verbände hatten schon 2019 einen Plan erar- zinssatzes als auch eine Abkehr von der Beitrags- beitet, wie sich die Riester-Rente zukunftsfest ma- garantie bei der Riester-Rente enthält. chen und gleichzeitig deutlich attraktiver als heu- te gestalten ließe: An die Stelle des komplizierten Der Paradigmenwechsel bei der privaten Zulagenwirrwarrs müssten leichter verständliche Vorsorge hat längst begonnen Förderverfahren treten. Jeder selbst eingezahlte Bei den klassischen Lebensversicherungspolicen Euro sollte mit mindestens 50 Cent vom Staat ge- reagieren erste Anbieter bereits. So kündigte die fördert werden. Die Beitragsgarantie müsse gelo- Allianz an, bei Neuverträgen keine Kapitalgarantie ckert werden, um eine Chance für höhere Rendi- mehr zu geben – eine Zäsur. Auch Ergo-Chef Mar- ten zu eröffnen – und damit auf höhere Renten- kus Rieß ist skeptisch: „Wir können nicht ausschlie- zahlungen im Alter. Zudem fordern die Versiche- ßen, uns mittelfristig von der kompletten Beitrags- rer und Finanzdienstleister, die Riester-Förderung garantie bei den Lebenspolicen sukzessive zu ver- für alle zu öffnen. Also etwa auch für Selbststän- abschieden“, sagte er kürzlich dem „Handelsblatt“. dige, von denen viele ebenso von Altersarmut be- Allerdings will der Konzern 2021 weiterhin Produk- droht seien wie andere Berufsgruppen. te mit hundertprozentiger Garantie anbieten. In der aktuellen Legislaturperiode hat die gro- Die Allianz bietet den Kunden eine Wahlmög- ße Koalition schon mehrfach am Rentensystem lichkeit: Je nach individueller Risikoneigung kön- geschraubt. Doch Neuerungen wie die Mütter- nen sie Verträge mit verschieden hohen Garan- rente, die Grundrente oder die Rente mit 63 für 3,5 tieniveaus abschließen. Je geringer die Garantie, langjährig Versicherte kommen vor allem den äl- desto höher die Renditechance. „Zwei Drittel der MILLIARDEN EURO teren Jahrgängen zugute. „Die Bundesregierung von uns im Vorfeld befragten Kunden gaben an, muss auch ein adäquates Angebot für die künfti- pro Jahr kostet die dass sich ihre Einstellung zum Sparen durch die gen Rentnergenerationen machen“, fordert Peter Riester-Förderung Niedrigzinssituation verändert hat“, sagt Volker Schwark, stellvertretender GDV-Hauptgeschäfts- den deutschen Priebe, Vorstand bei der Allianz Lebensversiche- führer. Die Riester-Rente spreche auch Sparer mit Steuerzahler. In die rung. Ebenso viele seien bereit gewesen, auf die niedrigem Einkommen sowie mit einer Wochen- Kassen der gesetz- 100-Prozent-Garantie zu verzichten, wenn im Ge- arbeitszeit von weniger als 30 Stunden an – und lichen Rentenver- genzug die Renditechancen stiegen. Beibehalten damit Zielgruppen, für die eine betriebliche Al- sicherung flossen werden beide Konzerne die volle Garantie nur bei tersvorsorge häufig keine Alternative sei. Zudem zuletzt 100 Milliar- Verträgen, für die sie gesetzlich vorgeschrieben ist, belaste sie den Bundeshaushalt mit etwa 3,5 Milli- den Euro – Tendenz also etwa bei Riester-Renten sowie bestimmten arden Euro, was verglichen mit den 100 Milliarden steigend. Formen der betrieblichen Altersversorgung (bAV). Euro, die jährlich als Transfer in die gesetzliche Die Beispiele dürften Schule machen, ist DAV- Rentenkasse fließen, überschaubar sei. Chef Bader überzeugt: „Weitere Unternehmen Für einen entscheidenden Punkt hält Schwark werden nachziehen. Die Produktlandschaft wird eine Abkehr von der 100-prozentigen Beitragsga- gerade aufgrund der bislang zu zögerlichen Hal- rantie. Angesichts des Dauerzinstiefs und der vor- tung des Gesetzgebers noch heterogener werden.“ aussichtlich weiteren Absenkung des Höchstrech- Vor allem bei der jüngeren Generation könn- nungszinses sei es wirtschaftlich nicht mehr um- ten die neuen Angebote auf Akzeptanz stoßen, da zusetzen, jedem Sparer den vollständigen Kapital­ sie höhere Renditen ermöglichen. „Die Mär von erhalt unter allen Umständen zuzusichern, wie börsengehandelten Wertpapieren als Teufelswerk es die aktuelle Rechtslage vorschreibt. „Die Ries- verfängt insbesondere bei jungen Berufstätigen ter-Rente stammt aus einer Zeit, in der die Zin- nicht mehr“, sagt Patrick Dahmen, Vorstandschef sen bei fünf Prozent lagen. Heute werden selbst der HDI Lebensversicherung. Die Corona-Erfah- Staatsanleihen negativ verzinst.“ Der Staat zahlt rung mache vielmehr Anlagen am Kapital- 

Positionen #1_2021 Titelgeschichte

markt besonders im Rahmen von Vorsorgepro- liche Pensionskassen gestützt, die ebenfalls einen dukten noch interessanter. Bei den Berufstätigen großen Teil ihres Kapitals in Aktien investieren. unter 45 Jahren habe jeder Fünfte beim Aufbau sei- Länder wie Österreich dagegen, die noch stärker ner Altersvorsorge das größte Vertrauen in Aktien, als Deutschland auf die beitragsfinanzierte ge- Anleihen und Fonds. Nur noch 16 Prozent vertrau- setzliche Rente setzen und über nur wenige Inst- ten der gesetzlichen Rente als sicherster Vorsorge. rumente in der privaten Altersvorsorge verfügen, Dass Rentensysteme, die stärker auf die Ein- laufen in die Kostenfalle von immer steiler stei- bindung von Aktien setzen, leistungsfähiger sein genden Staatszuschüssen in die chronisch unter- können, belegt eine aktuelle Studie der Unterneh- 16 finanzierte Rentenkasse (siehe Bericht Seite 12). PROZENT mensberatung Mercer. Im Vergleich mit den Al- tersicherungssystemen anderer Länder landete der Berufstätigen Die betriebliche Altersversorgung boomt. das deutsche wegen mangelnder langfristiger unter 45 Jahren Doch auch hier gibt es Reformbedarf Leistungssicherheit nur im Mittelfeld. Auf den halten die gesetz- Gewerkschaften und Verbraucherschützer sind vorderen Plätzen hingegen fanden sich Länder, liche Rentenver- indes wenig begeistert von den Reformideen der die Aktien deutlich in die Altersvorsorge einbin- sicherung für die Assekuranz. „Das A und O (der Altersvorsorge) ist den wie die Niederlande, Dänemark oder Israel. sicherste Form der eine vernünftige Kapitalanlage“, sagt Klaus Mül- „In Schweden legen die Arbeitnehmer einen Altersvorsorge. Das ler, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesver- festen Anteil ihrer gesetzlichen Rentenbeiträ- Vertrauen in Akti- bandes (vzbv), nur dass er dieses Ziel auf einem ge in Aktien-, Renten- oder Mischfonds an. Alle en, Anleihen und anderen Weg zu erreichen hofft. Er schlägt vor, Arbeitnehmer profitieren so von der Anlage am Fonds ist größer. die heutige Riester-Rente durch eine sogenann- Kapitalmarkt“, sagt Christine Bortenlänger, Ge- te Extrarente zu ersetzen, die aus einem staatlich schäftsführender Vorstand des Deutschen Akti- verwalteten Fonds gespeist wird. „Da es sich um eninstituts (DAI), das in seiner Studie „Altersvor- sehr langfristiges Sparen handelt, wäre es für Ver- sorge mit Aktien zukunftsfest machen“ Länder braucher am besten, eine breit gestreute Anlage in unter die Lupe nimmt, die erfolgreich Aktien in Aktien anzubieten, die durch einen unabhängigen der Altersvorsorge einsetzen. In den Niederlan- Träger organisiert und kontrolliert wird.“ So könn- den werden die Alterseinkommen durch betrieb- te laut Müller ein einfaches, kostenarmes und ren- tierliches Standardprodukt angeboten werden. Banken und Versicherer vorn Die Versicherer sehen in dem Vorschlag einen ersten Schritt zur Verstaatlichung des privaten Anteil der Beschäftigten mit betrieblicher Altersversorgung Vorsorgekapitals, was angesichts der chronischen nach Branchen in Prozent Unterfinanzierung der gesetzlichen Rentenversi- Kredit- und cherung keine beruhigende Aussicht wäre. Zumal Versicherungsgewerbe 88 % niemand garantieren kann, dass sich der Staat in Bergbau, Steine, Energie, Wasser, Abfall 70 % einer finanziellen Notlage nicht an solchen Spar- Gesundheits- und Sozialwesen, groschen der Bürger vergreift. Auch sieht der Vor- Erziehung, Bildung 67 % schlag der Verbraucherschützer vor, dass bis zum 49. Lebensjahr des Versicherten 100 Prozent der Information und 58 % Kommunikation Einlage in Aktien angelegt werden sollen. Damit Verarbeitendes Gewerbe 56 % wäre das „Extrarente“ getaufte Staatsprodukt er- heblich risikoreicher als die Riester-Rente – und Kunst und Unterhaltung 52 % zwar sowohl vor als auch nach einer Reform. Dass die gesetzliche Rente allein einen sorglo- Verkehr und Logistik 47 % sen Lebensabend garantiert, glauben unterdessen

Freiberufler, 46 % immer weniger Erwerbstätige und sorgen deshalb Wissenschaftler zusätzlich über Betriebsrenten vor. Allein bei den Baugewerbe 45 % Lebensversicherern stieg die Zahl der bAV-Ver- träge 2019 um 150.000 auf etwa 16,3 Millionen. Immobilien 44 % Fast jeder fünfte neu abgeschlossene Lebensver- sicherungsvertrag entfällt heute bereits auf die Handel 40 % betriebliche Altersversorgung. „In den vergange- Land- und Forstwirtschaft, nen beiden Jahren hat besonders die Verbreitung Fischerei 32 % der Direktversicherung durch das Betriebsrenten- Sonstige Dienstleistungen 23 % stärkungsgesetz neuen Schub bekommen“, sagt GDV-Geschäftsführer Schwark. Weitere Impulse Gastgewerbe 18 % dürften die erst kürzlich beschlossenen Verbes-

Quelle: BMAS Positionen #1_2021 Titelgeschichte 10 11 serungen beim Geringverdienerzuschuss geben. Dennoch sehen Experten auch bei dieser Säule GRÜNDE FÜR DEN REFORMBEDARF der Alterssicherung Reformbedarf. „Wie bei der Riester-Rente muss der Gesetzgeber auch in der ➊ Steigende Lebenserwartung betrieblichen Altersversorgung schnellstmoglich Die Deutschen werden immer älter – und beziehen durchschnittlich zehn die gesetzlich vorgeschriebenen Garantieniveaus Jahre länger Rente als vor 60 Jahren. deutlich reduzieren“, sagt Versicherungsmathe- ➋ Demografischer Wandel matiker Bader. Noch mehr Bewegung in die Rentendebat- Immer weniger Erwerbstätige finanzieren immer mehr Rentner. Das te kommt aktuell durch einen Vorschlag von Loch in der Rentenkasse wächst und wird durch Steuergeld ausgeglichen. CDU-Sozialpolitikern. Sie wollen das gesetzli- ➌ Niedrige Zinsen che Rentenalter durch eine Regelversicherungs- Wegen der niedrigen Zinsen werfen Anlagen mit Kapitalgarantie wie die zeit ersetzen. Arbeitnehmer, die beispielsweise Riester-Rente kaum noch Rendite ab. Das schwächt die private Vorsorge. studiert haben, müssten dann bis zu einem hö- heren Alter arbeiten als solche, die unmittelbar nach dem Schulabschluss ins Berufsleben gestar- tet sind. Außerdem wird erwogen, die Beitrags- pflicht zur Rentenversicherung auch auf andere Einkünfte jenseits von Lohn und Gehalt auszu- weiten, also etwa auf Mieteinnahmen oder Kapi- taleinkünfte. Innerhalb der Union wird über diese Ideen allerdings kontrovers diskutiert.

Die SPD will eine Einheitsversicherung für Arbeitnehmer, Selbstständige und Beamte Die SPD setzt sich vor allem für eine Stärkung der ersten Säule ein und plädiert für eine Ein- beziehung von Beamten und Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung. So vie- le verschiedene Altersvorsorgesysteme paral- lel zu betreiben sei anachronistisch, sagt der Rentenexperte­ der SPD-Bundestagsfraktion Ralf Kapschack (siehe Interview Seite 16). „Ich bin für die Einführung einer für alle geltenden Leistungsempfänger: Erwerbstätigenversicherung.“ Der Anteil der über Walter Riester verfolgt derweil vom Allgäu 65-Jährigen an der aus das politische Gezerre. Der frühere SPD-Po- Gesamtbevölkerung litiker favorisiert noch immer seine ursprüngli- steigt bis 2060 von 21,9 auf 31,1 Prozent che Idee, mit der er sich 2002 im Parlament nicht durchsetzen konnte: „Es wäre richtig, die Riester-Rente gesetzlich verpflichtend zu machen und die Förderung allen zu gewähren.“ Wenn es nach ihm ginge, könnte die private Altersvorsor- ge übrigens auch einen neuen Namen bekommen, es müs- se nicht seiner sein. Mit „Zulagenrente“, wie von der CDU ins Spiel ge- bracht, könnte Riester gut leben. Allein: „Ich fürchte, dass ein neuer Name die Menschen nur noch mehr ver- wirren würde.“ 

TEXT: CHRISTIAN HÖLLER Titelgeschichte 12 13 ILLUSTRATION: LAURINDO FELICIANO Zuckerl für die Hackler

Nicht nur Deutschland diskutiert über die Reform der Altersvorsorge, auch bei den Nachbarn im Süden ist die Debatte über das Pensionssystems neu entbrannt. Dabei gilt Österreich hierzulande vielen als rentenpolitisches Vorbild. Zu Recht?

eim Blick nach Süden kann man als gen im Verhaltnis zur Wirtschaftskraft. 2019 la- deutscher Ruheständler neidisch wer- gen die gesamten Ausgaben für Pensionsleistun- den: Während hierzulande das Renten- gen bei knapp 56,1 Milliarden Euro. Gemessen am eintrittsalter bis 2031 auf 67 Jahre steigt Bruttoinlands­produkt (BIP) entspricht dies einem (und die weitere Erhöhung bereits dis- Anteil von 14,1 Prozent. Für Deutschland liegt der Bkutiert wird), dürfen Österreicher mit 65 aus dem Vergleichswert bei 12,7 Prozent – und darin sind Arbeitsleben ausscheiden, Frauen derzeit sogar die Zuschüsse für die ostdeutschen Rent- mit 60. Und nicht nur das: Ein österreichischer ner, die während ihrer Berufstätigkeit Rentner bekommt auch noch deutlich mehr Al- nicht oder nicht über die volle Dau- tersruhegeld als ein deutscher – und das bei na- er Beiträge eingezahlt haben, Rente hezu gleichen Bruttolöhnen. schon enthalten. Sozialverbände und linke Parteien nennen Die großzügige Alimen- global das Wiener Modell immer wieder als Vorbild für tierung macht sich in der Deutschland, „Rentners Traum“ schwärmt die Rentenhöhe bemerkbar: „Süddeutsche Zeitung“. Dabei ist das alpenlän- Wer in Österreich 2019 dische Pensionssystem – in Österreich werden in den Ruhestand ging, alle Rentner „Pensionisten“ genannt – im eigenen erhält von der Pensions- Die Altersvorsorge in Deutschland braucht Land durchaus umstritten. versicherungsanstalt PVA einen Neustart. In der Serie Rente global durchschnittlich 1529,53 beleuchten wir, wie andere Länder mit der Österreich gibt deutlich mehr Steuergeld Euro pro Monat. Ein deut- Herausforderung des demografischen pro Rentner aus als Deutschland scher Neurentner bekommt Wandels umgehen, was wir von ihnen Von der Grundstruktur her ähneln sich die Al- im Schnitt nur 918 Euro über- lernen können – und was nicht. terssicherungssysteme diesseits und jenseits der wiesen. Hinzu kommt, dass die Grenze. Beide bestehen aus drei Säulen: der staat- Senioren im Nachbarland auch noch lichen Rentenversicherung, der betrieblichen Al- Urlaubs- und Weihnachtsgeld erhalten: Die tersversorgung sowie der privaten Vorsorge. Die Renten in Österreich werden 14-mal pro Jahr ge- gesetzliche Pflichtversicherung wird jeweils im zahlt, in Deutschland nur zwölfmal. Umlageverfahren finanziert, das heißt, die Renten „Das österreichische Pensionssystem bietet werden aus den Beiträgen der aktuell Erwerbstä- eine breite soziale Abdeckung, basierend auf Bei- tigen bezahlt. Da diese nicht ausreichen, die Aus- tragshöhe und Beitragsjahren. Es berücksichtigt gaben zu decken, schließt der Staat die Lücke mit jedoch nicht im ausreichenden Ausmaß die de- Steuergeldern. mografischen Veränderungen“, kritisiert Elisa- Osterreich gehört im europaischen Vergleich beth Stadler, Vorstandsvorsitzende der Vienna zu den Landern mit den hochsten Rentenzahlun- Insurance Group (VIG), Österreichs größter 

Positionen #1_2021 Titelgeschichte

Umgesetzt hat Österreich einen Punkt, über Anders als hierzulande den in Deutschland seit Jahren politisch heftig diskutiert wird: Schon seit 2005 werden Beam- te schrittweise in das staatliche Pensionssystem eingegliedert, voraussichtlich 2040 wird der Über- spielt die private gang abgeschlossen sein. Selbstständige wurden je nach Berufsgruppen bereits zwischen 1958 und 1997 in die allgemeine Rentenversicherung einbe- Altersvorsorge in zogen. In Deutschland gibt es für Beamte, Land- wirte und Kammerberufe wie Ärzte oder Rechts- anwälte jeweils eigene Alterssicherungssysteme. Österreich nur eine Verglichen mit dem großen Nachbarn im Nor- den spielen in der Alpenrepublik die betriebliche und private Altersvorsorge nur eine untergeordne- te Rolle. „Das Verständnis und die Förderungen für untergeordnete Rolle die zweite und die dritte Säule sind in Deutschland weit ausgeprägter als in Österreich“, sagt VIG-Che- fin Stadler, was sie keinesfalls als Pluspunkt für ihre Heimat verstanden wissen will. Das Bewusstsein der Österreicher für die Not- Versicherungsgruppe. Die Folge: Der Staats- wendigkeit privater Vorsorge ist deutlich geringer zuschuss zur Pensionskasse wird bis 2024 ausgeprägt. Der Großteil der Menschen verlässt nach Schätzung des Finanzministeri- sich auf die staatliche Säule – kein Wunder ange- ums um fast 25 Prozent auf 25,9 Mil- sichts der vergleichsweise paradiesischen Renten- liarden Euro steigen (siehe Grafik höhe. Zwar führte die damalige Mitte-rechts-Re- Seite 15). „Dies belastet das Staats- gierung aus ÖVP und FPÖ 2003 die sogenannte budget im Vergleich zu anderen prämienbegünstigte Zukunftsvorsorge ein, eine Ländern überproportional“, sagt Art österreichische Version der Riester-Rente – Andreas Zakostelsky, Obmann allerdings mit dem gravierenden Unterschied, vom Fachverband der Pensi- dass die Versicherer 40 Prozent der vereinnahm- onskassen in der Wirtschafts- ten Beiträge in Aktien anlegen mussten, die vor kammer Österreich. „Hier ist allem über die Wiener Börse zu ordern waren. Österreich wohl kein Vorbild Gleichzeitig sollte jedoch das eingezahlte Kapi- für Deutschland.“ Martin Ko- tal garantiert sein. Die Finanzkrise 2008 machte cher, Chef des Instituts für Hö- es faktisch unmöglich, beide Ziele gleichzeitig zu here Studien in Wien, verlangt erreichen. Trotz mehrerer Gesetzesnovellen fris- eine Reform zur Sicherstellung tet das Produkt inzwischen ein Nischendasein. der langfristigen Finanzierbarkeit des Rentensystems. Die Zahl der Rentner wird bis 2050 um Doch nicht nur der Staat, auch die mehr als eine Million ansteigen Berufstätigen werden kräftig zur Kasse In Deutschland führte die 2001 von der rot-grü- gebeten. Aktuell liegt der Beitragssatz bei nen Regierung beschlossene Rentenreform zu 22,8 Prozent der sozialversicherungspflichtigen weit grundlegenderen Verschiebungen. Im Jahr Einkünfte, wobei die Arbeitgeber den größeren 2015 hatten rund 70 Prozent aller Beschäftigten Anteil tragen müssen: Sie zahlen 12,55 Prozent, eine Riester-Rente oder einen Vertrag zur be- die Arbeitnehmer 10,25 Prozent ein. In Deutsch- trieblichen Altersversorgung abgeschlossen – land gilt derzeit ein Beitragssatz von 18,6 Prozent, 20 Prozent sogar beides. Insofern bedeutet der zu dem beide Seiten je die Hälfte beisteuern. Zu- Vergleich der gesetzlichen Renten in Deutsch- dem besteht in Österreich ein Rentenanspruch land und Österreich nicht zwingend, dass die erst nach 15 Beitragsjahren, hierzulande reichen Rentner hierzulande im Durchschnitt tatsäch- bereits fünf Jahre aus. Daher gibt es bei uns auch lich weniger Geld zur Verfügung haben. In ei- mehr Minirenten, was wiederum den statisti- ner Gesamtbetrachtung sind auch die anderen schen Durchschnittswert drückt. Einkünfte zu berücksichtigen – und hier stehen Titelgeschichte 14 15

Seid verschlungen, die Deutschen verglichen mit ihren Nachbarn die wir in der Krise set- im Süden deutlich besser da. zen, irgendwann nicht Milliarden „Der Nachteil der Altersvorsorge in Österreich mehr leistbar sein.“ Staatszuschuss zum österreichischen Pensionssystem ist der fast ausschließliche Fokus auf die erste Säu- Ab 2022 ent- le, die durch die Alterung der Gesellschaft immer fällt der Freibrief Zuschuss in Mrd. € Anteil am Steueraufkommen instabiler wird“, sagt der Ökonom Dénes Kucsera zur Frühren- 13,5 2004 22 % von der Denkfabrik Agenda Austria. So werde die te, dann gilt bei 14,5 2007 21 % Zahl der Rentner bis 2050 um mehr als eine Mil- der Berechnung 17,1 2010 29 % lion ansteigen, während die Erwerbsbevölkerung der Pensions- 18,4 2013 26 % um einige Hunderttausend zurückgehen werde. höhe wieder die 19,0 2016 27 % Hinzu komme, so Kucsera, „dass die Pensionisten Formel 45-65-80: 19,7 2019 24 % eine große Wählergruppe darstellen und somit Wer mit 45 Ver- die Pensionen durch Wahlzuckerl erhöht werden. sicherungsjahren 23,7 2022* 30 % Dies vergrößert die Pensionslücke zusehends.“ im Alter von 65 Jah- 25,9 2024* 30 % ren in Rente geht, er- * Prognose Zu viele Frühpensionäre: hält 80 Prozent seines Quelle: Österreichisches Kanzler Kurz zieht die Notbremse durchschnittlichen Mo- Bundesfinanzministerium Damit spielt der Wissenschaftler auf die kurz vor natseinkommens, was im in- den Parlamentswahlen ausgeweitete sogenannte ternationalen Vergleich immer Hacklerreglung an. Als „Hackler“ werden in Ös- noch sehr großzügig ist. In einer Studie der terreich umgangssprachlich körperlich schwer ar- OECD, welche die Höhe der Rentenleistungen für beitende Menschen bezeichnet, etwa in der Stahl- Durchschnittsverdiener in 36 Ländern vergleicht, oder Baubranche. Sie können ohne finanzielle Ein- schneidet Österreich in allen Kategorien über- bußen bereits vor dem gesetzlichen Pensionsalter durchschnittlich gut ab. in Rente gehen. Im Herbst 2019 beschloss das Par- „Die Beiträge der Erwerbstätigen reichen be- 30 lament die Ausweitung dieser Sonderregelung auf reits seit Langem nicht mehr zur Finanzierung PROZENT weite Teil der Erwerbstätigen. Seit Anfang 2020 der aktuellen Pensionen aus“, kritisiert VIG-Che- der gesamten können etwa auch Büroangestellte nach 45 Bei- fin Stadler. Die Folge: Der Rentenzuschuss wird Steuereinnahmen tragsjahren mit 62 abschlagsfrei in Rente gehen in Österreich zu einer immer größeren Belastung des Bundes könn- – was Tausende bereits in Anspruch genommen für den Staatshaushalt. 2021 wird der Bund vor- ten in Österreich haben und was langfristig zusätzliche Kosten in aussichtlich 22,84 Milliarden Euro für die Pensi- schon 2021 in die Milliardenhöhe verursacht. onen zuschießen. Das entspricht mehr als 30 Pro- gesetzliche Ren- Schon vor der Gesetzesänderung galt Öster- zent aller Steuereinnahmen des Bundes. tenversicherung reich als Paradies für Frührentner. Viele Men- „Ein stärker diversifiziertes System, das die fließen. Ökonomen schen sind bereit, auch finanzielle Einbußen in Stärken aller drei Säulen miteinander verbindet, und Versicherer Kauf zu nehmen, um so früh wie möglich in Ru- wäre besser“, sagt Pensionsexperte Zakostelsky. warnen vor einer hestand zu gehen. So liegt das Renteneintrittsal- „Die Vorteile eines kollektiven, kapitalgedeckten finanziellen Schief­ ter bei Männern im Schnitt bei 61,1 Jahren, Frauen Systems als Ergänzung zur staatlichen Pension lage und fordern verabschieden sich im Mittel schon mit 59,3 Jah- sollten stärker genutzt werden.“ Ähnlich argu- mehr betriebli- ren aus dem Job. Zum Vergleich: In Deutschland mentiert Stadler: „Wir brauchen ein klares Be- che und private gingen die Männer im vergangenen Jahr mit 64,0, kenntnis der Politik zur Sinnhaftigkeit der pri- Vorsorge – wie in die Frauen mit 64,5 Jahren in Rente. vaten Pensionsvorsorge durch neue und nachhal- Deutschland. Nach intensiven Diskussionen mit dem grü- tig angelegte steuerliche Anreize. Unsere Aufgabe nen Koalitionspartner zog Österreichs Bundes- als Versicherung ist es, den Menschen zu ermög- kanzler Sebastian Kurz von der konservativen ÖVP lichen, dass sie sich auf das Brot mit Butter aus der Mitte November die Notbremse: Die erweiterte staatlichen Pension auch noch ein paar Scheiben Hacklerreglung wird zurückgedreht, um die auch Extrawurst darauflegen können.“ Zudem solle das durch die Corona-Krise explodierenden Staatsaus- Renteneintrittsalter erhöht werden. „Die Pensi- gaben in den Griff zu bekommen. „Wir müssen als onsautomatik an die steigende Lebenserwartung Staat schauen, dass wir funktionsfähig bleiben“, zu koppeln, macht vor allem gegenüber der jün- sagte Kurz. „Wenn wir jetzt noch Maßnahmen set- geren Generation Sinn.“ zen, dass die Menschen immer früher in Pension Wie es aussieht, muss sich das vorbildliche gehen, dann werden die sozialen Maßnahmen, Österreich gerade selbst ein Vorbild suchen. 

Positionen #1_2021 Titelgeschichte TEXT: JÖRN PATERAK, THOMAS WENDEL FOTO: FRANK NÜRNBERGER →Horrorszenarien sind fehl am Platz←

Höhere Lebenserwartung, weniger Beitragszahler, niedrige Zinsen: Wann kommt der Befreiungsschlag für die Altersvorsorge? Ralf Kapschack, rentenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, über die Riester-Reform, eine Einheitsversicherung für alle und die Frage, ab wann man künftig in Rente gehen kann

Herr Kapschack, die Reform der priva- Regeln für den Zugang zu geförderter Wir werden alles tun, um sie zu stär- ten Altersvorsorge, namentlich Riester, privater Vorsorge gelten. Wenn man ken. Das hat auch etwas mit Vertrau- ist überfällig. Hand aufs Herz: Klappt die denn so fortführen will. Bevor Sie en in den Sozialstaat zu tun. Die beste das noch in dieser Legislaturperiode? jetzt aber ins Jubeln kommen, will ich Ergänzung ist, wie gesagt, die betriebli- Ralf Kapschack: Die Gespräche dazu gleich ein bisschen Wasser in den Wein che Altersversorgung. Wer darüber hin- im federführenden Finanzministeri- gießen … aus privat vorsorgen kann und will, der um laufen. Olaf Scholz kann sich we- Bitte nicht! soll es auch tun. Aber niemand soll im gen der Corona-Pandemie aber gerade RK: Für die SPD steht die gesetzliche Alter darauf angewiesen sein. nicht über Langeweile beklagen. Mal Rente im Mittelpunkt. Daran wird Was wohl SPD-Altkanzler Gerhard sehen, wann es ein Ergebnis gibt. auch nicht gerüttelt. Die beste Ergän- Schröder dazu sagen würde? Was stört Sie am Status quo am meisten? zung zur gesetzlichen Rente ist die be- RK: Fragen Sie ihn doch mal! Ich habe RK: Die Produkte sind unübersichtlich. triebliche Altersversorgung. Aber auch es schon damals für falsch gehalten, Das betrifft Ihre Branche. Die Förderku- dort, das haben wir gerade aus dem ein sinkendes Rentenniveau durch lisse ist ebenfalls unübersichtlich. Das Alterssicherungsbericht der Bundes- private Vorsorge ausgleichen zu wol- betrifft den Staat. Beides steht im Fokus, regierung gelernt, gibt es noch eine len. Das hat nicht funktioniert. Es war ebenso wie die Frage, wer künftig von Menge Luft nach oben. allerdings eine andere Zeit: Die Zinsen staatlicher Unterstützung profitiert. Immer weniger Junge müssen die ge- waren deutlich höher. Hinzu kommen Was ist mit Beamten, setzliche Rente für immer mehr Ältere viele Konstruktionsfehler und viel Bü- Staatsbediensteten und Politikern? aufbringen. Trotzdem stellen Sie das rokratie. Auch nehmen Geringverdie- RK: Die Trennung zwischen der Al- Drei-Säulen-Modell infrage? ner die Altersvorsorge per Riester ver- tersversorgung der Staatsbedienste- RK: Dieses Säulen-Bild legt nahe, dass gleichsweise wenig in Anspruch. Die ten, dem Rentensystem für Beschäf- alle drei gleichwertig seien. Das Funda- Frage ist: Kann man diese Defizite re- tigte und nicht pflichtversicherten ment der Altersversorgung ist für uns parieren? Oder ist das Image so rampo- Selbstständigen ist anachronistisch. die gesetzliche Rentenversicherung. niert, dass man damit nicht mehr viel Deutschland steht mit dieser Trennung gewinnen kann? auch ziemlich allein da. Ich bin für die Und? Einführung einer für alle geltenden »Wenn es eine Alters- RK: Es gibt in meiner Partei erhebliche Erwerbstätigenversicherung. Vorbehalte gegen eine Weiterführung Mehr Beitragszahler bedeuten vorsorgepflicht für der Förderung von privater Vorsorge, auch mehr Ansprüche. Selbstständige geben von Riester, so wie wir sie kennen. Ich RK: Aber erst in 40 bis 50 Jahren. Im teile diese Skepsis. Land der Dichter und Denker wird soll, sollten sie auch Höhere Lebenserwartung, niedrige Zin- man wohl in der Lage sein, bis dahin Zugang zur Förderung sen, demografischer Wandel: Brauchen eine Lösung zu finden. Wenn man die- bekommen« wir nicht eine regelrechte Revolution? se Vereinheitlichung politisch durch- RK: Die Einführung einer Erwerbstäti- setzt, sollten auch für alle die gleichen Ralf Kapschack genversicherung wäre eine völlig neue

Positionen #1_2021 Titelgeschichte 16 17

Weichenstellung – solidarisch und fi- politik grundsätzlich ändern. Es wird für nanziell sinnvoll. Es ist aber nicht so, DER RENTENPOLITIKER jede Regierung eine Herausforderung, dass gerade nichts passiert. Wir setzen die Menschen zu überzeugen, dass be- Der Sozialdemokrat hat bald die Altersvorsorgepflicht für Selbststän- stimmte Reformen die richtigen sind. Geburtstag: Ralf Kapschack dige und die digitale Renteninformati- Wie wollen Sie ein Absinken des wurde an Heiligabend 1954 on um. Es gibt auch Gespräche, ob ein Rentenniveaus verhindern? in geboren. 1972 trat kostengünstiges Standardprodukt für RK: Es geht darum, wie sich das Ver- er in die SPD ein – und 1981 die private Vorsorge möglich ist. Denn hältnis von Rentenbeziehern und Be- wegen des Nato-Doppelbe- unabhängig von der Förderung sollte es schäftigten entwickelt und wie die schlusses wieder aus. Nach der klare Regeln geben, die besser sind als Produktivität. Horrorszenarien sind Bundestagswahl 1987 kehrte die derzeitigen. fehl am Platz. Gute Arbeitsmarkt- und er zurück und ist heute Bun- Könnte Riester über die betriebliche Beschäftigungspolitik sind wichtige destagsabgeordneter für den Altersversorgung stärker reüssieren? Stellschrauben. Wahlkreis Hattingen – Her- RK: Wir haben durch das Betriebsren- Wie wollen Sie das angesichts der decke – Sprockhövel­ – Wet- tenstärkungsgesetz auch Riester ge- Niedrigzinsphase finanzieren? tern – Witten. Zuvor war der stärkt. Aber ja: Da gibt es Luft nach oben. RK: Dafür müssen auch weitere Steu- gelernte Journalist und diplo­ Die Verbreitung betrieblicher Altersver- ermittel bereitgestellt … mierte Wirtschaftswissen- sorgung ist gesunken, obwohl wir Mil- … und die Lebensarbeitszeit schaftler lange für den West- lionen mehr Beschäftigte haben. verlängert werden? deutschen Rundfunk tätig, vor Sollte die betriebliche Altersversor- RK: Ich habe nichts dagegen, dass alle allem als Leiter der Redaktion gung eine risikoreichere Anlagepolitik so lange arbeiten, wie sie wollen. Aber Landespolitik. wählen, um auch bei Niedrigzinsen alle ich bin gegen eine pauschale Erhöhung Ansprüche bedienen zu können? des Rentenalters. Viele schaffen das RK: Wir dürfen uns nicht von Launen einfach nicht. Menschen, die körper- der Aktienmärkte abhängig machen. Al- lich belastende Tätigkeiten ausführen, tersvorsorge ist etwas Langfristiges. Wir müssen früher in Rente gehen dürfen können nicht alle paar Jahre die Renten- als „Büroarbeiter“ wie wir. 

Positionen #1_2021 Titelgeschichte TEXT: CLAUS GORGS ILLUSTRATION: MALTE KNAACK Länger leben, niedrige Zinsen, Rente sichern Altersvorsorge neu denken: Damit die Lasten für die Jungen im Rahmen bleiben und die Älteren einen lebenswerten Ruhestand genießen können

Mehr Alte, weniger Junge Auf dem Land mehr wert Demografische Entwicklung Kaufkraft je 1000 Euro Rente in € in Deutschland in Prozent der Gesamtbevölkerung* Elbe-Elster-Kreis 1158 Landkreis Holzminden 1156 2060 51,2 31,1 2050 53,0 29,7 Vogtlandkreis 1149 2040 53,3 28,7 Stadt Frankfurt a.M. 839 2030 55,1 26,1 2020 59,7 21,9 Landkreis Starnberg 828 2010 60,9 20,6 Stadt München 763 2000 62,2 16,6 1990 63,4 14,9 Hohe Kaufkraft 1980 57,7 15,5 Geringe Kaufkraft 1970 56,2 13,8 1960 60,0 11,6 Quelle: GDV 1950 59,9 9,7

20- bis 65-Jährige über 65-Jährige * ab 2020: Prognose Quelle: Statistisches Bundesamt/GDV

Starke Säule Wenn das Geld im Alter knapp wird Entwicklung von Beiträgen und Zehn Prozent der über 65-jährigen Leistungen in der Lebensversicherung* Deutschen sind erwerbstätig

141 Spaß an Finanzielle der Arbeit Notwendigkeit Beitragseinnahmen in Mrd. €** 27 % 24 % Leistungen in Mrd. € 95 99 Motivation für 35 73 Erwerbstätikeit im Alter* 27 8 % 19 % Kontakt zu Sonstiges Mitmenschen 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2019 * ohne Pensionskassen und Pensionsfonds 22 % * Mehrfachnennungen möglich, ** inkl. Zuwachs an Rückstellungen Angaben beziehen sich auf die Quelle: GDV Möchte eine Gesamtheit aller Nennungen Aufgabe haben Quelle: BMAS Titelgeschichte 18 19

Niedrige Zinsen, komplexe Förderung Viel Geld vom Steuerzahler Europaweite Bestand der Riester-Verträge Einnahmen der gesetzlichen Lücke Renten­versicherung inklusive Fast jeder Zweite gesamt 16,5 Bundesmitteln in Mrd. Euro spart nicht für Versicherung den Ruhestand Investmentfonds 500 Einnahmen (in Mrd. €) Sorgen Sie privat Eigenheim 30,2 % fürs Alter vor? 400 davon Bundesmittel Bausparen (in %) 32,6 % 3% 30,8 % 300 18,5 %

200 20,6 % 20,2 % 43% 54% 100 1,4 0 1970* 1980* 1990* 2000 2010 2019 2001 2005 2010 2015 2020* * nur alte Bundesländer Ja Quelle: Deutsche Rentenversicherung * Stand: zweites Quartal Nein Quelle: BMAS Weiß nicht

Quelle: Insurance Europe (Umfrage in zehn EU-Staaten)

Dynamische Entwicklung Die betriebliche Altersversorgung steht heute für ein Fünftel aller Lebensversicherungsbeiträge

18,4 % 12,7 %

103,2 Mrd. €

2000 2019

Quelle:GDV

Mehr als jeder Dritte macht sich Sorgen Finanzielle Absicherung der heutigen Rentnergeneration* Wir leben immer länger Durchschnittliche Lebenserwartung 24 % bei Geburt in Jahren* Weniger gut Männer 91 93 88 87 90 Wie gut sind Frauen 83 83 Gründe für 77 76 55 % ErwerbstätikeitSie finanziell 69 Gut fürim das Alter* Alter 8 % Eher * Modellrechnung, abgesichert? 59 basierend auf der schlecht 52 Entwicklung der Sterblichkeit seit 1971 3 % Quelle: Statistisches Sehr schlecht Bundesamt 3% Keine Angabe 6 % * Befragt wurden Personen im Alter von Sehr gut 65 Jahren und älter Quelle: BMAS 1910 1940 1960 1980 2000 2020

Positionen #1_2021 ERFINDEN »Die Corona-Warn-App ist ein Lehrstück, dass digitale Projekte mit staatlicher Beteiligung funktionieren können« Christoph Bornschein // Geschäftsführer der Digitalagentur TLGG

Inside Insurance Bundesregierung und Kreditversi- Stabilität gestärkt werden. Umfang cherer haben die Laufzeit des ge- und Funktion des Schutzschirms meinsamen Corona-Schutzschirms bleiben im Rahmen der Verlän- Corona-Schirm für die Lieferketten der deutschen gerung unverändert: Durch eine Wirtschaft bis zum 30. Juni 2021 Garantie der Bundesregierung in bleibt länger verlängert. Damit werden Liefer- Höhe von 30 Milliarden Euro kön- beziehungen zu Unternehmen nen die Versicherer ihren Kunden gestützt, die vor der Corona-Krise weiterhin Kreditlimite im Umfang aufgespannt wirtschaftlich gesund waren und von mehr als 400 Milliarden Euro durch die Pandemie in wirtschaft- zur Verfügung stellen– trotz gestie- liche Schwierigkeiten geraten sind. gener Risken aufgrund der Pande- So konnten Kettenreaktionen bis- mie. Die Einigung gilt vorbehalt- lang erfolgreich verhindert und das lich der Genehmigung durch die Vertrauen in die wirtschaftliche EU-Kommission.

Skaliert

Neuzulassungen von +188 % Elektroautos steigen rasant +92 % Plug-in-Hybride Reine Elektromodelle Die staatliche Förderung zeigt Wirkung: Die Zahl der Fahr- zeuge mit alternativen An- 130.471 trieben hat sich gegenüber 121.527 2020* 2019 schon in den ersten 2020* zehn Monaten vervielfacht

63.281 45.348 2019 2019 Quelle: KBA, CAM Electromobility Report * Januar bis Oktober 20 21

Mobile Office: Wenn schon im Homeoffice arbeiten, warum nicht das Zuhause in die Karibik verlegen? Die Firma Ocean Builders will ein ausrangiertes Kreuzfahrtschiff zum schwimmenden Büro umbauen. Eine Kabine mit Internetanschluss soll ab 25.000 Dollar aufwärts kosten

Innovation Aufsteigerin Ein Lächeln für die Welt Barbara Karuth-Zelle

Emojis sind aus der modernen Kommunikation nicht mehr wegzudenken: Hier ein Küss­ chen via Smartphone, dort ein aufmun- ternder Smiley in der E-Mail. Was die wenigsten wissen: Es war ein Versi- cherer, der der Welt dieses Lächeln schenkte – vor fast 60 Jahren. Die State Mutual Life Assurance Company aus dem US-Bundesstaat Massachusetts hat- te 1963 gerade eine Fusion hinter sich und suchte einen Weg, das Betriebsklima in der zu- sammengewürfelten Belegschaft zu verbessern. Der Designer Harvey Ball kam auf die Idee, den Mitarbeitern lustige But- tons mit Grinsegesicht anzustecken – die Geburtsstunde einer Ihre wichtigsten Ziele hat Barbara Karuth-Zelle ihren modernen Ikone. Angeblich brauchte Ball für die Entwicklung zukünftigen Mitarbeitern schon mal über das soziale des Smileys weniger als zehn Minuten. Sein Lohn: 45 Dollar. Netzwerk LinkedIn mitgeteilt: Sie will die Allianz bei der digitalen Transformation, beim Umweltschutz, bei sozialer Gerechtigkeit und bei guter Unternehmens- Nachgezählt führung voranbringen. Vom 1. Januar 2021 an hat sie Gelegenheit dazu: Dann tritt sie ihren neuen Job als Vorstandsmitglied der Allianz SE an, zuständig für Operations und IT. Lange einarbeiten muss sich die Münchnerin vermutlich nicht: Sie arbeitet bereits seit zwei Jahrzehnten im Konzern und war zuletzt Vor- standsvorsitzende der IT-Tochter Allianz Technology SE. Ursprünglich wollte sie Bäuerin werden, entschied -24 % sich dann jedoch dafür, Betriebswirtschaft mit dem Die Zahl der mit Risikokapital finanziertenFintech-Transaktionen Schwerpunkt Gesundheitsökonomie zu studieren – ist binnen zwölf Monaten weltweit um fast ein Viertel gesunken, was sie im Jahr 2000 zur Allianz Krankenversicherung meldet der Fintech-Report der Onlineplattform CB Insights. Das führte, wo ihre Karriere begann. Mit ihrem Amtsan- investierte Kapital in Start-up-Firmen aus der Finanzbranche stieg tritt werden drei der zehn Positionen im Vorstand der dagegen auf zuletzt 10,6 Millarden Dollar im dritten Quartal 2020. Allianz SE mit Frauen besetzt sein.

Positionen #1_2021 Erfinden Himmlische Helfer In Indien und den USA ist der Einsatz von Satelliten zur Schadenbewertung seit Jahren Usus. Jetzt entdecken immer mehr europäische Versicherer die Vorzüge. Denn mithilfe der wachsamen Augen aus dem Orbit lassen sich Schäden schneller ermitteln und genauer berechnen. Doch die Technologie hat noch ihre Tücken TEXT: LILIAN FIALA Erfinden 22 23

ürren, Überschwemmun- Auch in den USA ist die Nutzung gen, Unwetter: Jedes Jahr von Satellitendaten zur Schadenerfas- vernichten extreme Wetter­ sung bereits verbreitet. Nach einem er­eignisse ganze Ernten in- Hurrikan, einer Überschwemmung oder discher Reisbauern, finan- einem Waldbrand können Satelliten Dzielle Schwierigkeiten und Existenz­ Bildmaterial aus Gebieten liefern, die ängste sind die Folgen. Vor vier Jahren für Menschen nur schwer oder unter startete die Regierung des indischen Lebensgefahr zugänglich wären. Auch Bundesstaats Tamil Nadu deshalb das in der Landwirtschaft erweisen sich die Schutzprojekt RIICE. Ein Bestandteil: himmlischen Helfer als nützlich: Sie er- eine Ernteausfallversicherung, die auf fassen beispielsweise Informationen Satellitentechnik basiert. über den Zustand der Pflanzen auf dem Das RIICE-System sammelt fortlau- Feld, die früher nur von Spezialisten vor fend Daten, auf welcher Fläche die Bau- Ort aufgenommen werden konnten. Im Erde. Das liefert wertvolle Daten für die Bewertung von Agrarrisiken von Bewertung die für Daten wertvolle liefert Das Erde. ern zu welchem Zeitpunkt Reis anbau- Schadenfall können Experten das Aus- en, und errechnet anschließend die zu maß mit wenigen Klicks erkennen und erwartende Ernte, die später mit der tat- die Zahlung auf den Weg bringen. sächlichen verglichen wird. In die Ernte- prognosen fließen zudem Wetter- und Schäden infolge von Starkregen Bodendaten ein, die verwendeten Reis- aus der Luft begutachten sorten und Anbaumethoden sowie In- Auch in Deutschland liebäugelt die As- formationen über Naturkatastrophen, sekuranz inzwischen mit der zukunfts- verdorrte Felder oder verfaulte Saat.. weisenden Technologie. Der Spezial- Indische Versicherungsgesellschaf- versicherer Vereinigte Hagel experi- undfotografieren immer wieder dieselben Punkte auf der ten können mithilfe dieser Daten we- mentiert mit dem Einsatz von Satelli- sentlich genauer kalkulieren und so tenbildern nach Starkregenereignissen. passgenauere Policen anbieten. Im „Wir haben uns gemeinsam mit der eu- Schadenfall können sie zudem deutlich ropäischen Raumfahrtorganisation Esa flexibler, transparenter und schneller angeschaut, wie man mithilfe von Sa- Fliegende Suchmaschine: Esa-Satelliten wie Sentinel-2 überfliegen reagieren: Sie müssen keine Mitarbei- telliten verschiedene Fruchtarten er- ter mehr in kleine, entlegene Regionen kennen kann“, sagt Vorstandschef­ schicken, um die Lage vor Ort zu begut- Rainer Langner. Konkret will er fest- achten. Das senkt die Kosten – und die stellen, ob etwa die Aussaat im Herbst Versicherungsnehmer kommen schnel- einwandfrei erfolgt ist. So lässt sich ler an ihr Geld. überprüfen, ob Schäden nach ei- 

Positionen #1_2021 Erfinden

liefern viele Daten,jedoch die Fotos nur Objekte erfassen von 30 Meter Größe Eine Frage der Auflösung: Nasa-Satelliten wie Landsat-9

le von Daten liefern, haben aber eine vergleichsweise geringe Auflösung. Die Nasa-Aufnahmen können nur Objek- ner langen Frostperiode aufgrund der te erfassen, die mindestens 30 Meter rer sei dieser Punkt besonders wichtig, Kälte entstanden sind oder andere Ur- lang sind, die Esa macht es möglich, sagt Ernst Bedacht, Senior-Underwriter sachen haben. Auch das Ausmaß von Gegenstände von zehn Meter Größe für Agrarrisiken bei der Munich Re. „Für Schäden lässt sich mithilfe der Luft- zu erkennen. die Bewertung von Agrarrisiken etwa ist bilder besser und schneller abschätzen. Für viele Einsatzzwecke der Versi- ein ganz ausschlaggebender Faktor, wie Das verschlankt Prozesse und spart cherer ist das jedoch nicht genug. „Wir lange die Satellitendaten in die Vergan- Kosten – was wiederum den Kunden möchten die Fernerkundung in Zu- genheit zurückreichen.“ zugutekommt. kunft zum Beispiel für die Entwick- lung neuer Produkte einsetzen, für Ta- Waldbrände mit Infrarottechnik Private und nicht kommerzielle rifierungsfragen oder um einen kon- bei der Entstehung aufspüren Anbieter konkurrieren kreten Schaden ermitteln zu können“, Ein weiteres Qualitätskriterium ist die Für die Schadenerfassung nach Na- sagt Vereinigte-Hagel-Chef Langner. Frequenz, also die Häufigkeit, mit der turkatastrophen eignen sich vor allem „Dazu brauchen wir hochauflösende Sa- ein Satellit einen bestimmten Punkt Erdbeobachtungssatelliten, die, mit tellitendaten.“ Die Sentinel-Daten, mit der Erde fotografiert. „Kommt ein Sa- verschiedenen Messgeräten ausge- denen er derzeit arbeitet, liefern ihm tellit nur einmal alle vier Wochen und stattet, auf ihrer Reise durch den Or- noch nicht das, was er sich wünscht. wird gerade dann von einer Wolkende- bit Daten sammeln, die weit über einfa- „Bis es ein Produkt gibt, dass wir im All- cke gestört, fehlen die Daten von einem che Bildaufnahmen hinausgehen. „Un- tag einsetzen können, dauert es sicher ganzen Monat“, erklärt Bedacht. Die sere Satelliten können Temperaturen noch drei bis fünf Jahre“, sagt Langner. Nasa-Objektive knipsen jeden belie- auf der Erde messen und mit Radar- Hochauflösende Aufnahmen wer- bigen Punkt der Erde zweimal täglich. technologie teilweise durch Wolken- den von diversen privaten Betreibern Munich Re spricht gerade mit dem decken hindurchschauen“, sagt Fabi- angeboten. So wirbt Planet Labs damit, Start-up ConstellR, einer Ausgründung an Löw, der beim Bundesamt für Bevöl- dass Kunden auf ihren Bildern Details der Fraunhofer Gesellschaft, darüber, kerungsschutz und Katastrophenhilfe erkennen können, die nur drei mal drei wie Satellitentechnik zur frühzeitigen (BBK) unter anderem für die Einsätze Meter groß sind. Künftig will Planet Eindämmung von Waldbränden bei- des europäischen Satellitendiensts Labs sogar Bilder liefern, die Objekte tragen kann. „Die heutigen Satelliten Copernicus zuständig ist. Auch Infra­ mit einer Größe von nur 25 Zentime- sehen nur sehr große Brände“, erklärt rotkameras und Spektrometer sind tern zeigen – ideal für eine genaue Be- Max Gulde, Mitgründer und CEO von häufig Teil des Werkzeugkastens von gutachtung der Situation vor Ort. Diese ConstellR. In 15 Monaten will er Infra­ Erdbeobachtungssatelliten. Leistung lassen sich die Unternehmen rottechnik in den Orbit entsenden, die Betrieben werden sie oft von nicht natürlich gut bezahlen. Für Versicherer eine Auflösung von 50 mal 50 Metern kommerziellen Anbietern, die von Staa- lohnt sich der Einsatz der Bilder also liefern kann. Damit könnten Versiche- ten finanziert werden, wie die Esa oder nur dann, wenn er günstiger ist, als den rer die Temperatur erkennen und her- ihr US-Pendant Nasa. Die Esa unterhält Schaden von einem Sachverständigen ausfinden, wo ein Brand entstanden ist. mit ihren Sentinel-Satelliten das Erd- vor Ort begutachten zu lassen. Je besser das Angebot der Dienst- beobachtungsprogramm Copernicus, Der Einsatz des Bildmaterials nicht leister wird, desto hilfreicher werden die die Nasa lässt ihre Landsat-Satelliten kommerzieller Anbieter dagegen ist Satellitenbilder bei der Risikoprüfung um den Globus kreisen. Zudem gibt es kostenlos. Zudem werden Nasa- und und Schadenerfassung werden. Um die eine Vielzahl privater Satelliten-Betrei- Esa-Daten nicht gelöscht, sondern ar- Daten erfolgreich auswerten zu können, ber, zu den größten zählt das US-Unter- chiviert. Sie sind somit auch noch viele müssen Versicherer allerdings auch ihre nehmen Planet Labs. Jahre nach einem Schadenereignis ver- irdischen Basisstationen technisch auf- Grundsätzlich können Versicherer fügbar. Bei privaten Unternehmen ist rüsten: „Sicherlich sind dafür komplexe Satellitenbilder von allen Anbietern be- das nicht immer der Fall. Für Versiche- digitale Systeme notwendig“, sagt Lang- ziehen, doch das Material unterschei- ner. „Langfristig wird Satellitentechno- det sich zum Teil erheblich. Erdbeob- logie aber eine große Hilfe für unsere achtungssatelliten können eine Fül- Arbeit sein.“ 

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Landwirtschaft in Deutschland Ernteschäden, etwa durch Unwetter, aus der Luft zu erkennen, soll die Schadenabwicklung beschleunigen

Waldbrände in Kalifornien Explosion in Beirut 2020 Satelliten könnten helfen, schon kleinere Die Satelliten der Zukunft können Feuer frühzeitig zu erkennen und so die Objekte von 25 Zentimeter Größe Ausweitung zum Großbrand zu verhindern auf ihren Bildern sichtbar machen Erfinden TEXT: MARIAM MISAKIAN, MARILENA PIESKER

Elektrisierende Aussichten Die Energiewende wäre ohne die Risikoabschirmung durch die Assekuranz nicht möglich. Sie hat zudem das Geschäft der technischen Versicherer verändert: Fast ein Fünftel ihrer Prämien erzielen sie heute mit sauberen Energien. Jetzt verheißt eine Gesetzesnovelle einen zusätzlichen Boom

s dämmerte bereits, als dieser beißen- Den Startschuss dazu hatte im Jahr 2000 die de Geruch die rund 50 Einwohner des rot-grüne Bundesregierung mit dem Erneuerba- oberfränkischen Dorfes Elsa heimsuchte: re-Energien-Gesetz (EEG) gegeben. Seitdem för- Eine viertel Million Liter Gülle hatte sich dert der Staat die Produktion von Strom aus rege- an einem Winterabend 2006 in den Ort nerativen Quellen wie Sonne, Wind und Biomas- Eergossen und schwappte langsam durch die Stra- se. Damit veränderte sich nicht nur die Energie- ßen. Ein Silo der benachbarten Biogasanlage war erzeugung von Grund auf. „Es entstand auch ein gerissen. „Das war einer der schlimmsten Unfäl- gänzlich neuer Markt für die technischen Versi- le mit Biogasanlagen hierzulande“, erinnert sich cherungen, die Sachschäden insbesondere tech- Thorsten Land, Referent für Sach- und Technische nischer Art wie zum Beispiel an Großkraftwerken Versicherungen, Schadenverhütung und Statistik oder Fotovoltaikanlagen absichern“, erklärt Land. beim GDV. Die Feuerwehr baute mit Radladern Auf einmal hatten es die Versicherer nicht mehr Barrieren aus Schnee, um den Güllestrom aufzu- nur mit zentralen Großkraftwerken zu tun, son- halten. Bauern und Feuerwehrleute pumpten die dern zusätzlich mit Tausenden kleinerer Anlagen, Masse schließlich ab. Der Schaden war gewaltig. bis hin zu Solarpaneelen auf Einfamilienhäusern. Für Versicherer wird das Geschäft mit den erneuerbaren Energien immer wichtiger. Seit 20 Die Solarenergie soll sich bis 2030 verdoppeln. Jahren decken sie das Risiko, dass Solarpanels ab- Das funktioniert nur mit den Versicherern brennen, Windräder umstürzen oder eben Tanks Die Energiewende hat sich seitdem zum Dauer- Das Geschäft mit von Biogasanlagen auslaufen. Ohne Versiche- brenner entwickelt. Das Geschäftsfeld ist für Ver- der Energiewende rungsschutz wäre keines dieser Projekte möglich. sicherer noch lange nicht ausgereizt. Im Gegen- Großanlagen wie Zugleich haben die Versicherer selbst rund sechs teil: Das Bundeskabinett hat im Herbst eine Novel- Windparks decken Milliarden Euro allein in deutsche Ökostroman- technische Versiche- le des EEG verabschiedet. Das Ziel: Deutschland lagen gesteckt. Nachhaltige Projekte passen ideal rer ab. Private Solar- soll bis 2050 CO2-neutral sein. In einem Zwi- zur Investmentstrategie der Assekuranz. 56 Pro- anlagen fallen dage- schenschritt sollen bis 2030 bereits 65 Prozent zent ihres Kapitalanlagevolumens werden schon gen in die Gebäude- des Stroms aus erneuerbaren Quellen stammen. heute aktiv nach Nachhaltigkeitskriterien gema- versicherung. Beide Damit das gelingt, schreibt die Novelle den Aus- nagt, Tendenz steigend. Segmente wachsen. bau von Energieerzeugungsanlagen vor. Allein die

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Fotovoltaikleistung soll sich in den kommenden 128.000 118.000 2020* zehn Jahren deutschlandweit von derzeit 52 auf Sonne, Wind und 2018 100 Gigawatt nahezu verdoppeln. Wachstum In der neuen Energiewelt gibt es mehr als ge- nug zu versichern: Das Umweltbundesamt mel- Kapazität der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien dete für 2017 allein mehr als 740 Unfälle an Bio- 103.000 in Deutschland in Megawatt gasanlagen. Auch das Risiko von Fotovoltaikanla- 2016

gen auf Hausdächern wird oft unterschätzt: Zwar * Stand: Erstes Halbjahr lösen sie selbst selten Brände aus, sie können sie Quelle: Umweltbundesamt aber beschleunigen. Und bei großen Off­shore- 89.000 Windrädern kann es im Fall von Sturmschäden 2014 an den Turbinen zu Kosten in Millionenhöhe kommen. 77.000 2012 Ökostrom war Neuland für die Versicherer. Anfangs haben sie viel Lehrgeld bezahlt Vor zwei Jahrzehnten kamen die erneuerbaren Energien für die technischen Versicherer zum richtigen Zeitpunkt. Denn der Markt galt damals als gesättigt; unter den Versicherern herrschte ein 56.000 harter Verdrängungswettbewerb. In den meisten 2010 Sparten der deutschen Versicherungsbranche war Wachstum nur noch möglich, indem sich die Ver- sicherungen gegenseitig Kunden abwarben. Doch auch wenn der neue Markt sich als Chance erwies, wurde den Versicherern schnell bewusst, dass das Geschäft kein Selbstläufer sein würde. Sie hatten wenig Erfahrung in diesem Seg- ment – wie auch? Erneuerbare Energien waren ein Terrain, für das fundierte Schadenstatistiken fehlten. Risiken und Ausfallquoten waren unbe- kannt, erinnert sich GDV-Experte Land. „Für viele lief es zu Beginn nicht gut.“ In der Anfangszeit mussten Anbieter oft Prototypen versichern, die zum ersten Mal über- haupt zum Einsatz kamen. Die Ausfallquoten sei- en immens gewesen, heißt es aus der Branche. Die Scha- denquoten der techni- schen Versicherer im Be- reich erneuerbare Ener- gien lagen in diesen  28 29 Erfinden

Jahren bei bis zu 300 Prozent. Im Klartext: sicherer ergeben, bleibt abzuwarten. Die Versiche- Die Kosten für regulierte Versicherungsfälle waren rungskammer Bayern etwa sichert derzeit keine dreimal höher als die dafür erhaltenen Prämien. Windkraftanlagen mehr ab. Heute sind die meisten Schadenquoten auf Normalmaß geschrumpft. „Die Versicherer haben 1,5 Der neue Wachstumsmarkt: Versicherungen Billionen Euro aus ihren Fehlern gelernt“, sagt Land. Das liegt für die Wasserstoff-Infrastruktur umfasst der Kapi- auch daran, dass die Ökostrombranche immer we- Ein Renner ist im Gegensatz dazu das Thema Was- talanlagenbestand niger mit Neuentwicklungen arbeitet. Viele Tech- der Erstversicherer. serstoff. Das Gas gilt als Hoffnungsträger für die nologien sind ausgereift, die Anlagen werden in Geht es nach der EU, Energiewende, weil es als Speicher für grünen Serie produziert. Dadurch sinkt das Ausfallrisi- fließt dieses Geld Strom dienen kann. Die Bundesregierung hat das ko. „Insgesamt haben die technischen Versicherer zunehmend in die Thema kürzlich mit ihrer Wasserstoffstrategie auf vom Erneuerbare-Energien-Markt profitiert“, sagt Finanzierung der die Agenda gesetzt. „In den kommenden fünf Jah- Land. Rund 16 Prozent ihres Prämienvolumens Energiewende. ren dürfte Wasserstoff auch für deutsche Versi- von circa 2,3 Milliarden Euro stammen aus dem cherer eine Rolle spielen“, prognostiziert GDV-Ex- Geschäft mit Ökostromanlagen. Das sind 360 Mil- perte Land. Der HDI bekommt bereits erste An- lionen Euro, Tendenz steigend. Fotovoltaik- oder fragen. „Wir verfolgen seit Monaten mit starkem Solarthermieanlagen auf Privathäusern sind da­ Interesse die Entwicklungen rund um den Ener- rin noch nicht einmal enthalten – sie gehen in die gieträger“, sagt HDI-Mann Müller. Gebäude- oder Hausratversicherung ein. Von einem anderen Feld, der boomenden Die Versicherungskammer Bayern (VKB) Elektromobilität, profitiere der HDI schon jetzt, sieht vor allem bei privaten Gebäudeversiche- etwa indem er Ladestationen versichere. Auch rungen mit Aufdach-Solaranlagen enormes dort wachse die Nachfrage. Die Sparte birgt al- 2Jahrzehnte Wachstums­potenzial. Rund 30 Prozent ihres beträgt die Laufzeit lerdings ihre eigenen Herausforderungen – frei gesamten Prämienvolumens erwirtschaftet die vieler Ökostrompro- zugängliche Ladesäulen zum Beispiel versiche- Sparte schon jetzt mit Policen für rund 130.000 jekte. Sie passen da- re man bewusst nicht. „Die fallen immer wieder Fotovoltaikanlagen. „Gerade der deutsche Fotovol- mit gut zu den lang- Vandalismus zum Opfer“, sagt Müller. Die Bran- taikmarkt ist zurzeit noch nicht gesättigt“, glaubt fristigen Zahlungs- che hat eben gelernt, dass das Segment der erneu- Sebastian Brandl von der Versicherungskammer. verpflichtungen der erbaren Energien neben Chancen auch Risiken Für erhöhte Nachfrage dürfte auch das neue Ge- Lebensversicherer. mit sich bringt.  bäudeenergiegesetz (GEG) sorgen, das Bauher- ren vorschreibt, bei Neubauten mindestens eine erneuerbare Energie zu nutzen, zum Beispiel in Form einer Solardachanlage.

In der Windkraft sind die Aussichten durchwachsen – der Ausbau stockt Dagegen ist die Lage bei der Windenergie nicht so eindeutig. Der Ausbau von Windrädern ist nach seinem Höchststand 2017 kollabiert. Schuld daran trugen vor allem klagende Anwohner, verzögerte Genehmigungsverfahren und unvorteilhafte Re- gularien bei der Ausschreibung von Windparks. In diesem Jahr ist eine Regel in Kraft getreten, nach der die Bundesländer Mindestabstände zu Wohnbauten von bis zu 1000 Metern festlegen dürfen. Das könnte einerseits den Widerstand der Bevölkerung lindern, andererseits aber dazu führen, dass viele potenziell geeignete Flächen für Windräder vom Bau ausgeschlossen werden. Unabhängig davon bemühe sich die Windkraft- branche derzeit in der Öffentlichkeit verstärkt um neue Akzeptanz, sagt Sven Müller, Leiter der Tech- nischen Versicherungen beim Haftpflichtverband der Deutschen Industrie (HDI). Ob Windenergie für Investoren nun wieder interessanter wird und sich damit neue Geschäftsmöglichkeiten für Ver-

Positionen #1_2021 Ein Virus erhöht die Verkehrssicherheit

REGIOTREND Weniger Reisen und weniger Pendler bedeuten weniger Verkehr. Und damit auch weniger Unfälle. Über ein Ausnahmejahr auf Deutschlands Straßen

Nie war es sicherer, auf deutschen Straßen unter- und Landstraßen die Unfallstatistik bestimmen. wegs zu sein - zumindest suggeriert das der Blick Denn vor allem Lkw- und Pkw-Verkehr gingen auf die Zahlen. Laut Statistischem Bundesamt massiv zurück. „Anders als in Großstädten ist wurden von Januar bis Juni 2020 so wenige Radfahren bei uns eher Freizeitvergnügen“, sagt Menschen bei Verkehrsunfällen verletzt , CDU-Bundestagsabgeordneter oder getötet wie seit 30 Jahren nicht. Starben aus Suhl. In der thüringischen Stadt gab es in der im ersten Halbjahr 2019 noch 1467 Menschen ersten Jahreshälfte 2019 noch 40 Unfälle mit im Straßenverkehr, waren es 2020 im selben Personenschaden, in diesem Jahr nur 27. Sieben Zeitraum 1281. Als „Corona-Effekt“ bezeichnet Verletzte pro 10.000 Einwohner – so wenige wie das Jörg Ortlepp, Leiter des Bereichs Verkehrsin­ nirgendwo sonst. Das liege auch am hohen Durch- frastruktur bei der Unfallforschung der Versicherer schnittsalter, vermutet Hauptmann. „Riskantes (UDV). Lockdown und Homeoffice verminderten und provokatives Fahren, wie wir es vornehmlich den Verkehr im März schlagartig. „Allerdings sind von jüngeren Fahrern kennen, ist bei uns kaum ein die Unfälle mit Radfahrern unterdurchschnittlich Thema.“ Ganz anders in Berlin: Nirgends gibt es so zurückgegangen“, sagt Ortlepp. Viele Menschen viele Tote und Verletzte im Straßenverkehr wie seien von Bus und Bahn aufs Rad umgestiegen. in der Hauptstadt. „Man muss ständig aufpassen, „Auch viele unerfahrene Fahrer.“ Deshalb könnte ob sich die stärkeren Verkehrsteilnehmer an die sich der Lockdown-Effekt zum Jahresende Regeln halten“, sagt die Bundestagsabgeordnete ins Gegenteil verkehren, fürchtet er. Schon im (Grüne) . Dabei liegt Berlin mit 19 September war die Unfallstatistik wieder auf Personenschäden je 10.000 Einwohner sogar Vorjahresniveau. Besonders gut entwickelten sich noch im Mittelfeld. Spitzenreiter ist Weiden in Ortlepp zufolge Regionen, in denen Autobahnen der Oberpfalz mit 30 Verletzten.

»Radfahrer und »Die Zahlen in den nächs- »Ältere Mitbürger fahren Fußgänger müssen baulich ten Monaten könnten besonders vorsichtig. Im vor den Autos geschützt schlechter aussehen als Zweifel kommt es eher zu werden.« im vergangenen Jahr.« Blechschäden.«

Canan Bayram Jörg Ortlepp Mark Hauptmann Mitglied des Bundestags (Grüne), Leiter Verkehrsinfrastruktur Mitglied des Bundestags (CDU), Wahlkreis Berlin Unfallforschung der Wahlkreis Suhl - Schmalkalden- Friedrichshain-Kreuzberg Versicherer Meiningen - Hildburghausen Regiotrend Die Bundesrepublik ist aktuell in 294 Landkreise sowie 107 kreisfreie Städte unterteilt. Wo die Straßen sicher sind Im Regiotrend stellen wir regel- mäßig Statistiken vor, die ver- Auch dank der Corona-Beschränkungen verbessert sich die Verkehrssicherheit in deutlichen, wie stark sich die Le- Deutschland. Noch nie seit der Wiedervereinigung gab es weniger Tote und Verletzte im bensverhältnisse und Umwelt- Straßenverkehr. Doch nicht alle Regionen profitiereng leichermaßen einflüsse auf lokaler Ebene voneinander unterscheiden.

Die wenigsten Verletzten Stadt Suhl

Hort der Sicherheit Mit nur sieben Verletzten pro 10.000 Einwohner hat Suhl als einziger Kreis ein einstelliges Ergebnis. Auch bei den absoluten Zah- len führt die thüringische Stadt das Ranking an.

Die meisten Verletzten Weiden in der Oberpfalz

Personenschäden durch Verkehrsunfälle je 10.000 Einwohner Unfallschwerpunkt Weiden in der Oberpfalz ist einer von zwei Kreisen mit mehr als 30 Toten 6-9 und Verletzten pro 10.000 Einwohner. Solche 10-13 Werte sind jedoch nur von begrenzter Aussage- 14-17 kraft, da in dünn besiedelten Regionen schon ein einziger schwerer Unfall die Statistik beeinflusst. 18-21 über 21 Quelle: Landesämter für Statistik 3046 Menschen kamen 2019 bei Verkehrsunfällen in Deutschland ums Leben. 1991 waren bundesweit noch 11.300 Verkehrstote zu beklagen. Seither geht ihre Zahl kontinuierlich zurück.

Risikofaktor Mensch Menschliches Fehlverhalten ist mit 91,4 Prozent die mit Ab- stand häufigste Ursache für Immer mehr Leute Unfälle mit Personenschaden. Die meisten geschehen beim 67 % steigen aufs Rad um Abbiegen oder Wenden. Mehr Agressivität Zwei Drittel der Deutschen sind über- Mobilität Die Corona-Pandemie verändert die Art, wie die Menschen zeugt, dass aggressives Verhalten im Straßenverkehr in sich fortbewegen. Insbesondere in den Großstädten ziehen viele das den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat. Das Auto oder das Rad Bussen und Bahnen vor. So wurden etwa in Ber- ergab eine Umfrage im Auftrag des TÜV-Verbands. Das lin im Juni 26,5 Prozent mehr Fahrräder gezählt als im selben Monat größte Ärgernis nach Erkenntnissen des ADAC: Drängler. 2019. Dieser Trend birgt aber auch zusätzliche Unfallrisiken. SCHÜTZEN »Die wichtigste Aufgabe der Nato ist, zu verhindern, dass die Corona- Krise eine Sicherheitskrise wird« Jens Stoltenberg // Nato-Generalsekretär

Netzwelt Nur mal kurz die Welt retten Erntetipps vom Elektronisches Wetterdienst Stabilitätsprogramm

Meteorologen werden bald nicht nur das aktu- Dinosaurier können zäh sein. elle Wetter vorhersagen, sondern langfristige Auch die auf vier Rädern. Vor 25 Klimaszenarien anbieten – inklusive Hand- Jahren baute Mercedes in sein lungstipps für Betroffene. Moderne Supercom- Spitzenmodell S-Klasse erstmals puter könnten Regionen, denen vermehrt Dür- ein elektronisches Stabilitäts- ren oder Stürme drohen, immer besser identifi- programm (ESP) ein – ein Si- zieren, so das Europäische Zentrum für mittel- cherheitssystem, das eingreift, fristige Wettervorhersage (ECMWF). So lasse wenn das Fahrzeug bei plötz- sich etwa antizipieren, welche Getreidesorten lichen Ausweichmanövern ins Schleudern zu geraten droht. Seither in einem Gebiet künftig gute Erträge bringen. fordern Unfallforscher, grundsätzlich alle Autos mit ESP auszustatten: Schließlich gehört es neben Gurt und Airbag zu den drei wichtigsten Lebensrettern. Weithin bekannt wurde der elektronische Helfer 1997: Nachgezählt Damals kippte die Mercedes A-Klasse beim Elchtest schwedischer Prüfer um (Foto). Die A-Klasse und der Smart erhielten daraufhin als erste Kleinwagen den Schleuderschutz serienmäßig. Seit 2011 ist dies Pflicht für alle Neuwagen in der EU. Dennoch waren viele Gebrauchte noch lange ohne ESP unterwegs – automobile Saurier sozusagen. Um das schnell zu ändern, habe man auch „um die Ecke denken müssen“, sagt Siegfried Brockmann von der Unfallforschung der Versicherer (UDV): etwa mit der elektronischen Gebrauchtwagenliste der UDV. 40 Dort können Autokäufer seit 2006 nachschlagen, in welchen Model- Prozent aller Leistungen der Krankenversiche- len ESP verbaut ist und in welchen nicht – mit entsprechenden Fol- rungen in Indien entfielen im September 2020 auf gen für den Wiederverkaufswert. Heute sind nur noch wenige Pkw die Versorgung von Covid-19-Patienten. Das be- ohne Schleuderschutz unterwegs. Knapp eine halbe Million Unfälle richtet der „Asia Insurance Review“. Im Mai hatte mit Verletzten habe das System EU-weit verhindert, rechnet der Zulie- der Anteil noch bei acht Prozent gelegen. Da die ferer Bosch vor, mindestens 15.000 Menschen rettete es vor dem Tod. Corona-Fallzahlen auf dem Subkontinent weiter steigen, gehen Experten davon aus, dass auch die Versicherer machen das Leben sicherer, weil sie Normen und Technologien fordern und Belastungen für die Versicherer noch zunehmen. fördern, die den Menschen schützen. „Positionen“ stellt in jeder Ausgabe eine davon vor

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Risiko Homeoffice: Monate nach Beginn der Corona-Pandemie gefährden private Laptops, Tablets und Handys weiter die IT-Sicherheit vieler Firmen. 60 Prozent der Mitarbeiter im Homeoffice nutzen eigene Geräte für dienstliche Zwecke, ergab eine YouGov-Umfrage im Auftrag des GDV

Graph Zahl Naturgefahren

Auf die Hörner genommen Leistungen der Das Jahr der Kfz-Versicherer* für Schäden durch Pandemie Wildunfälle mit Pkw in Mio. Euro 2019 Es ist erst ein Jahr her, da demonst- rierten auf den Straßen Hunderttau- sende für mehr Maßnahmen zum 885 Klimaschutz. Heute erscheint uns 2017 dieser Protest weit weg und lange her. Dabei hat sich an der Dringlich- 744 keit, den Klimawandel zu bekämp- 2015 fen, nichts geändert, im Gegenteil. Das Problem wurde lediglich von 653 einer anderen Katastrophe überla- gert, der Corona-Pandemie. Beide Naturgewalten betreffen die gesamte Menschheit. Wie wir diesen großen Herausforderungen des 21. Jahrhun- derts aus Sicht der Versicherer begeg- nen sollten, schildert der neue Na- turgefahrenreport des GDV, der zum kostenlosen Download bereitsteht: www.gdv.de/naturgefahrenreport

In Deutschland wächst die Gefahr von Wildunfällen. Die Zahl der gemeldeten Schäden stieg von 2018 auf 2019 um knapp zehn Prozent auf 295.000. * Voll- und Teilkasko Quelle: GDV schützen

Vor fünf Jahren brannte das Sägewerk Hosenfeld komplett nieder. In nur 13 Monaten gelang der Wiederaufbau. Heute steht der Familien­ betrieb besser da als zuvor – und ist vorbildlich gegen Feuer geschützt

en Abend des 11. Juli 2015 wird Gan- golf Hosenfeld nie vergessen. Er sitzt mit seiner Familie im Eiscafé, als gegen 21 Uhr sein Handy klin- gelt und ein Mitarbeiter die Schre- Dckensnachricht überbringt: „Feuer im Säge- werk!“ Mit seiner Frau und den beiden er- wachsenen Kindern fährt der Unternehmer sofort zum 30 Kilometer entfernten Betrieb. Schon von Weitem sieht Hosenfeld den Rauch, das Blaulicht und die Löschfahrzeuge. Aus dem Holzlager schlagen Flammen. Die Glut frisst sich in die Träger, bis das Gebäude einstürzt. Der Nachtwind treibt die Funken über den Hof zu den Sägehallen und dem Ho- belwerk, wo die teuren Maschinen stehen. Die Feuerwehr hat keine Chance. Sie kann nur ei- nen Wasserriegel legen, damit sich die Flam- men nicht noch weiter ausbreiten. „Wir haben zuschauen müssen, wie alles verbrennt“, sagt Hosenfeld. Ein Brandstifter, der bis heute nicht gefasst ist, hatte das Feuer gelegt. Wo damals nur ein Trümmerfeld blieb, stehen heute neue Hallen. Lastwagen rangie- ren, das Kreischen von Sägen ist zu hören, und es duftet nach frisch geschnittenem Holz. Ho- senfeld sitzt im Besprechungsraum und er- zählt die Geschichte von der Brandnacht und dem Wiederaufbau. Natürlich sei die Zeit an- strengend gewesen. „Aber wir sind sehr zufrie- den mit dem, was wir geschafft haben.“ Der 61-Jährige sieht die Führung des Sä- gewerks nicht als Job, sondern als Berufung. Mehr als 120.000 Kubikmeter Holz werden hier jedes Jahr fast vollautomatisch verarbei- tet, ausschließlich Lärchen und Douglasien aus nachhaltiger Forstwirtschaft. Es sind Na- Raub der Flammen: delhölzer, denen Regen und Nässe wenig an- Vor fünf Jahren brannte das Sägewerk haben können. Sie eignen sich deshalb beson- Hosenfeld bis auf die Grundmauern ders gut für Außenverschalungen, Terrassen- nieder. Die Lage schien aussichtslos. dielen oder Carports. .  Doch der Besitzer gab nicht auf

Positionen #1_2021 TEXT: HEIMO FISCHER schützen 32 33 FOTOS: WALTER KREUZER, MARKUS HINTZEN Auferstanden aus Ruinen schützen

Stand der Technik: Das Geld von der Versicherung und aus zusätzlichen Krediten investierte Gangolf Hosenfeld in moderne Maschinen 13Monate Wiederaufbau Eine wachstumsstarke Nische, die bei 15 Millionen Euro, verteilt auf zer- Brandstiftung vernichtete im Juli 2015 sich das Unternehmen in mehr als 100 störte Gebäude, verbrannte Maschinen das Lebenswerk der Familie Jahren erobert hat. Urgroßvater Hosen- sowie die Kosten der Betriebsunterbre- Hosenfeld. Schon im August 2016 feld war Zimmermann und baute 1914 wurde das neue Sägewerk eröffnet chung. Für alle drei Schadensarten hat- ein mit Dampfkraft betriebenes Säge- te Hosenfeld Policen beim Spezialversi- werk in dem kleinen Dorf am Fuße der cherer Isselhorster Versicherungen ab- Rhön, das ebenfalls Hosenfeld heißt. geschlossen. Um die Regulierung küm- Heute ist das Unternehmen eine fes- mert sich der Vorstand persönlich. „Bei te Größe in der Region. Schon deshalb Schäden in dieser Höhe ist das bei uns war Gangolf Hosenfeld schnell klar, üblich“, sagt Vorstandsmitglied Mi- dass der verheerende Brand nicht das chael Strüwer. Für sein Haus sei es der Ende sein durfte. 15Millionen Euro Schaden größte Einzelschaden der Unterneh- Die Versicherung ersetzte die zer- mensgeschichte gewesen. Mitarbeiter und Partner helfen störten Gebäude und verbrannten – und ein Insolvenzverwalter Maschinen und übernahm auch die Aufgeben kommt nicht infrage. Gleich am Montag nach dem Feuer Kosten der Betriebs­unterbrechung Die ganze Familie packt mit an trommelt Hosenfeld seine 60 Ange- Der direkte Draht zum Vorstand er- stellten zusammen. Die alles entschei- Sägewerk vor Kurzem stillgelegt hat, weist sich als Glücksfall. „Dadurch wa- dende Frage lautet: Neu aufbauen oder vermietet es ihm samt Maschinen. Ein ren schnelle Entscheidungen möglich“, dichtmachen? Das Votum seiner Leute Subunternehmer, der sonst nur Auf- sagt Hosenfeld. Jeder Tag kostet Geld, ist eindeutig: Wenn der Chef den Wie- tragsspitzen abfedert, überlässt ihm denn durch die Verteilung auf mehre- deraufbau anpackt, wollen sie ihn un- alle freien Kapazitäten. Und ein Insol- re Standorte arbeitet der Betrieb nicht terstützen. „Tatsächlich hat die gan- venzverwalter verschiebt den geplan- profitabel. Viel länger als ein Jahr darf ze Belegschaft mitgezogen“, bestätigt ten Verkauf eines Sägewerks und ver- der Wiederaufbau nicht dauern. Bernd Michel, der als Sägewerksmeis- pachtet den Betrieb stattdessen an Ho- Bei derart hohen Schadenssummen ter arbeitet. senfeld. Eilig angeschaffte Busse brin- schlagen Versicherer üblicherweise ei- Doch wie überbrückt man die Zeit, gen die Arbeiter jeden Morgen zu ihren nen Deal vor: Es wird eine Teilsumme bis das neue Werk steht? Wie hält man neuen Einsatzorten. Der erste Schritt gezahlt, die der Unternehmer behalten die Kunden bei der Stange – ohne Ge- zur Rettung ist geglückt. darf – vorausgesetzt, er verzichtet auf bäude, ohne Maschinen? Hosenfeld Nun stehen die entscheidenden die Fortführung des Betriebs. Doch die- findet Partner, die ihn unterstützen. Gespräche mit Banken und Versiche- ser Weg kommt für Hosenfeld nicht in- Ein Unternehmer, der sein eigenes rungen an. Der Gesamtschaden liegt frage, seine beiden Kinder stehen hinter schützen 34 35 Arbeit für die Region Durch den Wiederaufbau des Sägewerks konnten 60 Arbeitsplätze erhalten werden

MODERNER BRANDSCHUTZ

➊ Sprinkleranlage Kilometerlange Rohrleitungen versorgen die mehr als 1100 Wasserdüsen auf dem gesam- ten Betriebsgelände.

ihm. Sie unterbrechen sogar ihr Studi- klemmt sie in seinen Greifarm und legt um, um beim Wiederaufbau zu helfen. sie auf ein Förderband. Die Stämme Gemeinsam erarbeiten sie ein verschwinden in der Sägelinie, wo sie Konzept für eine profitable Zukunft der automatisch ausgerichtet und geteilt Firma, das auch den Versicherer über- werden. Eine Sortieranlage erfasst die ➋ Digitale Steuerung zeugt. „Das Unternehmen ist ein alt- Größe der geschnittenen Bretter und Sensoren überwachen und eingesessener Betrieb mit erfolgreicher schickt sie in eine von 60 Boxen, wo sie steuern das System. Bricht Geschichte und einem sehr kompeten- geordnet und zum Transport vorberei- ein Feuer aus, werden bis zu ten Geschäftsführer“, sagt Strüwer. tet werden. In Leitständen überwachen 750.000 Liter Löschwasser an „Deshalb war für uns klar, dass wir ihn Experten die Produktionsabläufe. den Brandherd geleitet. unterstützen und begleiten.“ Hatte Hosenfeld je Zweifel, ob Die Versicherung ersetzt den ge- wirklich alles glattgeht mit dem Wie- samten Schaden. Trotzdem muss die deraufbau? „Vielleicht, als wir die Familie eigenes Geld zuschießen und Sprinkleranlage geplant haben“, sagt Kredite aufnehmen. „Wir haben einiges der Unternehmer. Vor dem Feuer habe Hosenfeld öffnet die Tür zur neu- modernisiert, die neuesten Maschinen es nur präventiven Brandschutz gege- en Sprinklerzentrale. Ein rund 150 Qua- angeschafft und in den Brandschutz in- ben, das heißt, der Mindestabstand zwi- dratmeter großer Raum voller Rohre vestiert“, sagt Hosenfeld. Über Monate schen den Gebäuden betrug 20 Meter, und Pumpen. Hinter einer Wand befin- geben sich Architekten, Planer und Be- es gab Feuerlöscher und ausgebildete det sich ein Reservoir mit 750.000 Liter rater die Klinke in die Hand. Die Mühe Brandschutzhelfer. Heute sind Sprink- Wasser, das die mehr als 1100 Sprink- lohnt sich: 13 Monate nach dem Feu- leranlagen verbindlich vorgeschrieben. lerdüsen versorgt, die sich über das ge- er wird die Wiedereröffnung gefeiert. Eine komplette Neuplanung war nötig. samte Betriebsgelände verteilen. Das Gemeinsam mit Experten der für System wird von einer digitalen Steue- Die teure Sprinkleranlage ließ ihn Brandschutz zuständigen Gesellschaft rungsanlage überwacht, die sich hinter zweifeln. Heute ist er stolz darauf VdS konzipierte er die Anlage. „Dabei der Tür eines großen Schaltschranks Nicht ohne Stolz führt der Chef heu- habe ich festgestellt, dass die gesetzli- verbirgt. te Besucher persönlich durch das neue chen Vorschriften des Brandschutzes Die hohen Ausgaben habe er mitt- Werk. Er geleitet sie auf Plattformen nicht immer zur Realität eines mittel- lerweile verschmerzt, sagt Hosenfeld. und Galerien, von wo aus die Abläufe ständischen Betriebs passen“, sagt Ho- Und mit der neuen Sprinkleranlage sei besonders gut zu sehen sind. So sta- senfeld. Es dauerte, bis eine vorschrifts- er sehr zufrieden. Damit, sagt der Un- peln sich etwa am Rande des Geländes mäßige und gleichzeitig bezahlbare Lö- ternehmer, sei ein Brand wie vor fünf Hunderte Baumstämme. Ein Bagger sung gefunden war. Jahren heute nicht mehr möglich. 

Positionen #1_2021 SCHÜTZEN TEXT: ROBERT OTTO-MOOG FOTO: DOMINIK ASBACH

»Waffenschein für Tiere«

Seit über 50 Jahren ist Zoohändler Norbert Zajac von gefährlichen Tieren umgeben. Angst hat er nicht – obwohl er durch das Gift eines Rotfeuerfischs fastg estorben wäre

Herr Zajac, wann sind Sie das letzte Mal keiner. Übrigens aus gutem Grund: Ich Zoo aus Dänemark sechs Aras mitge- von einem Tier gebissen worden? bin mal von einem extrem giftigen Rot- nommen. Den Hauptumsatz machen Norbert Zajak: Das ist schon ein paar feuerfisch gestochen worden. Danach wir in der Aquaristik: mit Fischen, Wochen her. Da hat ein kleines Kroko- hatte ich drei Herzstillstände. Der Fisch Aquarien und Zubehör. Aber es gibt dil meinen Fingernagel richtig gelocht. ist ganz zufällig mit seinem Stachel in auch Privatleute in Deutschland, die War aber meine Schuld – ich hätte es meinen Daumen gefallen. Das war ein eher seltene Tiere haben wollen: ein ja nicht mit der Hand füttern müssen. Unfall, so etwas kann eben passieren. Äffchen, ein Krokodil oder ein Faultier. Haben Sie keine Angst vor wilden Tieren? Ihnen scheint so etwas öfter zu Kommt so etwas oft vor? NZ: Ich habe eine Tetanus-Impfung, passieren. Sind Sie gut versichert? NZ: Wir verkaufen etwa 100 Krokodi- Angst habe ich nicht. Giftige Tiere wie NZ: Ich habe eine gute Krankenversi- le pro Jahr, Faultiere sind seltener. Ich Skorpione und Vogelspinnen greifen cherung und eine gute Haftpflichtver- habe zwei hier im Laden, aber die ste- normalerweise nicht an. Die benut- sicherung, mehr brauche ich nicht. Mit hen nicht zum Verkauf, die gehören zen ihre Waffen nur zur Verteidigung. den meisten Sachen gehe ich nicht mal zum Inventar. Als ich vor ein paar Jah- Wenn ich ruhig und besonnen agie- mehr zum Arzt. Die meisten schweren ren das letzte Mal eines verkauft habe, re, besteht null Risiko. Wir haben hier Unfälle in Deutschland passieren ohne- war sogar ein Fernsehteam dabei. Die eine fünf Meter lange Python, die al- hin mit Pferden. Und mit denen hande- Käufer haben ihr ganzes Haus umge- lein durch ihre Kraft gefährlich ist. Wir le ich nicht. Das ist mir zu gewöhnlich. baut. Am Ende hat nicht das Faultier Menschen gehören aber nicht zu ihrem Für welche Tiere begeistern Sie sich? bei den Haltern gewohnt, sondern die Beuteschema. Die wird nur sauer, wenn NZ: Wenn Sie einen Elefanten oder ei- Halter beim Faultier. man in ihr Revier eindringt. Wenn wir nen Delfin suchen, bin ich der rich- Dürfte ich denn jedes Tier hier kaufen? in den Käfig müssen, machen wir das tige Ansprechpartner. Die habe ich NZ: Aktuell ja. Es sei denn, einer mei- zu dritt – und suchen uns einen Tag zwar nicht im Laden, aber ich könnte ner Verkäufer hält Sie nicht für geeig- aus, an dem sie gut gelaunt ist. sie bestellen. Ich darf alle Tiere dieser net. 2021 kommt in Nordrhein-Westfa- Und es gibt wirklich Kunden, die sich Welt handeln. Heute Morgen sind mir len aber das neue Gifttiergesetz. Dann ein solches Tier ins Haus holen? zum Beispiel Kängurus, Schwarzbären wird es eine Liste von Tieren geben, für NZ: Wir verkaufen jedes Jahr 20 bis 30 und ein Fleckenskunk angeboten wor- die man eine Prüfung machen muss Stück, alle drei bis fünf Meter lang. Ich den. Ich selbst habe einen Kronenkra- – quasi den kleinen Waffenschein für unterscheide zwischen Kuscheltieren nich verkauft. Wir haben immer min- Haustiere. Und man braucht eine Haft- und Beobachtungstieren. Ein Terrari- destens 200.000 Tiere im Laden, von pflichtversicherung, vor allem, weil die um mit einer Vogelspinne oder einer Blattschneideameisen über elektrische Kommunen die Feuerwehreinsätze bei Python ist ganz ähnlich wie ein Aqua- Aale bis zu Zwergseidenäffchen. ausgebüxten Schlangen nicht mehr be- rium mit Fischen. Die streichelt auch Wie stellen Sie sicher, dass Sie nicht an zahlen wollen. Das handhabt aber jedes illegal gehandelte Tiere geraten? Bundesland anders. In Hamburg, Ber- NZ: Ohne Papiere kaufe ich nichts. Je- lin oder Hessen dürfen Sie noch nicht des Tier über 18 Zentimetern ist ge- mal einen Leguan halten. Dabei sind chipt. Mit illegalen Kanälen habe ich die nicht gefährlicher als andere Tiere. keine Berührungspunkte. So etwas Was war Ihr letzter Versicherungsfall? läuft fast immer auf Bestellung. Alle NZ: Wir haben unsere Versicherung Reden wir über Sicherheit Tierhändler, die sich öffentlich dar- noch nie gebraucht. Wobei: Uns ist mal Jeder möchte sich sicher fühlen, doch für stellen, können solche illegalen Kanä- eine Praktikantin vom Hocker gefallen jeden bedeutet Sicherheit etwas anderes. le überhaupt nicht benutzen. und hat sich die Schulter zertrümmert. Was das ist, darüber sprechen wir in jeder Wer sind Ihre Kunden? Das war der einzig nennenswerte Haft- Ausgabe mit Menschen, die ein besonderes NZ: Wir verkaufen an private Halter, an pflichtschaden, der bei uns entstanden Verhältnis zur Sicherheit haben. Züchter, an Zoos. Vor Kurzem hat ein ist. Durch Tiere passiert nichts. 

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DER KALTBLÜTER

Im Alter von vier Jahren be- kam Norbert Zajac seinen ers- ten Hamster, mit fünf züchtete er Meerschweinchen. Von den Einnahmen kaufte er sich als Achtjähriger sein erstes Kroko- dil. Später züchtete er Papagei- en, Fische und Reptilien. Heute ist der 65-Jährige Inhaber des größten Zoofachgeschäfts der Welt. Laut „Guiness“-Buch ver- kauft Zoo Zajac in Duisburg auf 8070 Quadratmetern fast al- les, was lebt, vom Hund bis zum Waran. Dabei hat die Realität den Rekord längst überholt: Inzwischen umfasst das Ge- schäft schon 12.300 Quadrat- meter - Tendenz steigend. REGELN »Wir müssen sicherstellen, dass die Impfung zuerst bei denen ankommt, die sie dringend brauchen« Ugur Sahin // Chef des Corona-Impfstoffentwicklers Biontech

Künstliche Intelligenz EU-Parlament und Europäische Kommission ringen um neue Regulierung

Mit neuen Regulierungsvorschlägen will Brüssel dem Einsatz als Hochrisikobereich einstufen – was für jeden KI-Einsatz künstlicher Intelligenz einen Rahmen geben. Über die Aus- hohe (auch finanzielle) Hürden schaffen würde. gestaltung der Regeln gibt es aber Meinungsverschieden- Der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft heiten zwischen EU-Kommission und Europäischem Parla- ment – für die Versicherer steht dabei viel auf dem Spiel. (GDV) hat mit einem Zehn-Punkte-Papier zur Digitalisierung und künstlichen Intelligenz in Europa reagiert. Die bisheri- Dass man nicht alles machen sollen darf, was dank intelligen- gen Regelungen und die jeweils nationale Aufsicht hätten ter Algorithmen alles möglich wäre, darüber herrscht Einig- sich bewährt, konstatiert der GDV. Statt weitere Hürden bei keit. Künstliche Intelligenz (KI) ist immer nur so gut wie die der Nutzung neuer digitaler Technologien aufzubauen, soll- Daten, mit denen sie zuvor gefüttert wurde. Wenn ein Ge- te Europa den KI-Einsatz erleichtern, zum Beispiel indem die sichtserkennungssystem mit den Fotos hellhäutiger Men- Bedingungen für den Zugang zu Daten sowie die Zusam- schen „trainiert“ worden ist, funktioniert es bei Personen menarbeit zwischen den verschiedenen Anbietern verbessert mit anderem ethnischen Hintergrund schlechter; das Glei- che gilt für Algorithmen, die vor allem mit Daten von Män- werden. Auch die bereits bestehenden Datenschutzvorgaben nern arbeiten. Im Ergebnis könnte die KI Frauen diskrimi- wirken als Bremse: So stehen der Grundsatz der Minimierung nieren. Kurzum: Für künstliche Intelligenz müssen ethische beim Einsatz und Erheben von Daten sowie die hohen Anfor- Regeln gelten. derungen an deren Anonymisierung ihrer effektiven Verwen- dung entgegen. Die Europäische Kommission plant deshalb, einen rechtli- chen Rahmen für den Einsatz künstlicher Intelligenz in ei- Besonders die vom Europäischen Parlament vorgeschlagene nem Legislativvorschlag bereits im ersten Quartal 2021 zu Einstufung als Hochrisikobranche ist aus Sicht der Versiche- setzen. In einem Eigeninitiativbericht bekundet zudem das rer nicht gerechtfertigt: „Wir brauchen einen Rechtsrahmen, Europäische Parlament seine eigenen Vorstellungen der den Einsatz künstlicher Intelligenz erleichtert, statt – von denen Europas Versicherer hoffen, dass sie ihn zu erschweren“, sagt GDV-Hauptgeschäftsfüh- sich die Kommission nicht zu eigen macht. rer Jörg Asmussen. Zudem benötige „das digi- Brief aus Brüssel Denn die Vorschläge des Parlaments gehen tale Ganze“ einen gemeinsamen Ordnungs- deutlich weiter und würden Innovationen er- rahmen. Dazu gehöre zum Beispiel ein „inno- schweren. So möchten die Europa-Abgeord- vationsfreundlicheres Datenschutzrecht“, so neten die Versicherungswirtschaft in Gänze 1 Asmussen.

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Mehr Sicherheit: Der Schutz vor Einbrüchen in Mehrfamilienhäusern wird erleichtert. Seit Dezember kann die Eigentümerversammlung mit einfacher Mehrheit den Einbau von stabileren Türen, Gittern oder Rollläden beschließen. Sinkende Einbruchszahlen belegen deren Wirksamkeit

Auf dem Index Nachgezählt

Cyberkriminelle nutzen Corona-Verunsicherung aus Anzahl der Staaten, die Interpol Online-Bedrohungen in Zusammenhang mit Covid-19 gemeldet haben (Angaben in Prozent) 732 Phishing-Mails, Milliarden Euro weniger Rendite haben langfris- Betrug tige Anlagen seit 2010 aufgrund der Niedrigzins­ phase eingebracht. Das hat die DZ Bank berechnet. Referenzwert war ein Zinssatz von 2,3 Prozent, der 59 Durchschnitt für Bankeinlagen von 1999 bis 2009. Schadsoftware/ Inside Insurance Erpressung Komplizierte und 36 teure Reform

Bösartige 22 Internetseiten Der Gesamtverband der Deut- schen Versicherungswirtschaft 14 (GDV) hat die geplante Reform Falsch- der Versicherungsteuer heftig informationen kritisiert. Das Bundesfinanzmi- nisterium plant, bestimmte Ausnahmen von der Versicherungsteuerpflicht bei Schaden- und Un- fallversicherungen zu streichen, beispielsweise für die Spielerausfallversicherung beim Fuß- Die Schäden durch Hackerangriffe werden auf mehr als ball. Doch die neuen Regeln sind sehr unscharf formuliert, was zu viel Verwaltungsaufwand 700 Milliarden US-Dollar weltweit geschätzt. Jüngstes Ziel: und hohen Kosten bei den Versicherern führt – Beschäftigte, die aufgrund von Corona zu Hause arbeiten für erwartete Steuermehreinnahmen von etwa Quelle: Interpol, S&P Global Ratings sechs Millionen Euro pro Jahr. Regeln

ie Schiffsglocke ist das Einzi- die britischen bislang das Prinzip des ge, was von der Fregatte „Lu- einheitlichen europäischen Passes: Ist tine“ übrigblieb, die 1799 in ein Anbieter in einem EU-Staat zugelas- der Nordseee versank. Mit sen, kann er in allen anderen Mitglieds- Mann und Maus und angeb- ländern Geschäfte betreiben. Dlich einem großen Goldschatz. Seit Jahr Unter diesen Vorzeichen entwi- und Tag hängt die „Lutine Bell“ in der ckelte sich das Vereinigte Königreich Zentrale von Lloyd's of London, als Sym- zu einem der größten Exporteure für bol für die Widerstandsfähigkeit und Versicherungsdienstleistungen. Das Finanzkraft der weltgrößten Versiche- Exportvolumen betrug zuletzt umge- rungsbörse. Geläutet wird bei besonde- rechnet mehr als 16 Milliarden Euro ren Ereignissen: ein Schlag für schlech- – ein Wert, an den selbst die USA, die te Nachrichten, zwei Schläge für gute. weltweite Nummer eins im Versiche- Lloyd's zahlte, als die „Titanic“ un- rungsgeschäft, mit 14,7 Milliarden Euro terging, ebenso beim Erdbeben von San (2016) nicht heranreichen. Knapp 30 Francisco 1906. Es folgten Wirbelstür- Prozent ihres Umsatzes erwirtschafte- me, Terroranschläge, Tsunamis. Nichts, ten in Großbritannien ansässige Versi- was die britischen Versicherer im Laufe cherer oder die britischen Töchter in- ihrer langen Geschichte nicht schon er- ternationaler Versicherungskonzerne lebt und bewältigt hätten, möchte man zuletzt im EU-Ausland. meinen. Doch was nach der Brexit-Ent- scheidung vom 23. Juni 2016 auf sie zu- 35 britische Versicherer haben kam, hatte selbst die an Katastrophen EU-Dependancen gegründet gewöhnte Branche bisher nicht erlebt. Mit dem Brexit stand dieses Geschäft Nicht nur Lloyd's, der gesamte In- plötzlich infrage. Die Unternehmen dustriezweig muss sich umstellen, seit waren gezwungen, ihre Geschäftsmo- klar ist, dass Großbritannien die Euro- delle anzupassen. Und sie reagierten päische Union verlässt. Zum Jahresen- umgehend. „Die Versicherer haben ei- de 2020 laufen die bestehenden Über- nen erheblichen Aufwand betrieben, gangsregelungen aus, EU-Recht und um sich auf das Ende der Übergangs- alte Gewissheiten gelten dann nicht periode vorzubereiten“, sagt Carol Hall, mehr. „Der Zugang zum EU-Markt war Head of European and International Af- jahrzehntelang die Norm“, sagt Laura faires beim Branchenverband Associa- Scarpa vom Beratungshaus Deloitte in tion of British Insurers (ABI) in London. London. „Die Branche steht vor großen So hätten 35 britische Gesellschaften Herausforderungen.“ Tochterfirmen in der EU gegründet, Mit einem Beitragsvolumen von schätzungsweise 29 Millionen Versi- umgerechnet rund 307 Milliarden Euro cherungsverträge wurden bereits in (2019) und einem Weltmarktanteil von die neuen EU-Dependancen überführt. 5,8 Prozent ist Großbritannien nach Be- Lloyd's etwa eröffnete eine Nieder- rechnungen des Swiss Re Institute der lassung in Brüssel, um den Zugang zum größte Versicherungsmarkt Europas EU-Markt zu wahren. Der Autoversiche- und die Nummer vier weltweit – hin- rer Admiral führt sein Europageschäft ter den USA, China und Japan. Briti- jetzt aus Madrid, der Ferienhausversi- sche Versicherer beschäftigen mehr cherer Intasure wich nach Schweden aus. als 320.000 Mitarbeiter und tragen pro Die europäischen Kunden sollen Jahr rund 34 Milliarden Pfund zur bri- von der Umstellung kaum etwas mer- tischen Wirtschaftsleistung bei. ken – das zumindest erwarten die bri- Dieser Erfolg beruht nicht zuletzt tischen Versicherer. „Sie haben sich auf dem freien Zugang zum europäi- gut auf alle Eventualitäten vorbereitet schen Binnenmarkt. Wie für alle in der und ihre Kunden umfassend über die EU beheimateten Versicherer galt für Veränderungen informiert“, sagt Ver- TEXT: NICOLA DE PAOLI Regeln 40 41

bandssprecherin Hall. Für britische Kunden dagegen könnte der Übergang holprig werden: Sie können sich nicht darauf verlassen, dass ihre Autoversi- cherung im EU-Ausland noch gilt oder Zweiter der bisherige Krankenversicherungs- schutz im übrigen Europa weiter greift. Für die britischen Firmen verursa- chen die Brexit-Vorbereitungen zudem hohe Kosten. Der Aufbau einer paralle- len Organisation innerhalb der EU-Gren- Schlag zen, die auf mittlere Sicht auch noch ei- ner anderen Regulierung unterliegt als die Muttergesellschaft, verschlingt hohe Summen, die für viele kleinere Anbieter kaum zu stemmen sind oder sich nicht lohnen. Einige britische Versicherer ha- ben sich daher zum Rückzug entschlos- sen und sich von ihren Bestandsverträ- gen mit EU-Kunden getrennt.

Eine nationale britische Regulierung existiert noch nicht Davon profitieren Spezialanbieter wie die Deutsche Versicherungs- und Rückversicherungs-AG (Darag), die sich auf die Übernahme solcher Alt- verträge spezialisiert hat. So kündig- te die Darag im vergangenen Jahr die Übernahme des britischen Wettbewer- bers The Underwriter an, um für das zu erwartende Geschäft gerüstet zu sein. Noch ist unklar, wie der britische Versicherungsmarkt künftig aussehen wird. Sicher ist: Der EU-Standard Sol- vency II wird durch eine britische Geschätzt 29 Millionen Regelung ersetzt, die zunächst die bisherigen Vorschriften enthält. Bis Policen haben die britischen zum 19. Januar 2021 können Firmen Versicherer seit der und Verbände Vorschläge für die künf- tige Regulierung beim Finanzministe- Brexit-Entscheidung ins rium in London einreichen. EU-Ausland übertragen. Dass es zu einem großen Bruch kommt, erwarten Branchenkenner Langfristig wollen sie sogar nicht. Die EU-Regularien seien zu um- Marktanteile gewinnen fassend in britisches Recht überführt worden, als dass daran kurzfristig et- was zu ändern wäre, sagt Deloitte-Ex- pertin Scarpa: „Der überwiegende Teil der EU-Gesetzgebung wird uns noch eine Weile begleiten.“ Auch hätten 

Positionen #1_2021 Regeln

die Konzerne wenig Interesse, schnell unterschiedliche Standards einzuführen und so Geschäfte zwischen der EU und Großbritannien zusätzlich zu verkomplizieren. Langfristig allerdings dürften die Standards ausein- anderdriften. „Der Umstand, dass Großbritannien nicht mehr an die EU gebunden ist, eröffnet den Spielraum, die Regulierung anzupassen und für den britischen Markt maßzuschneidern“, sagt Peter Thomas vom Beratungs- unternehmen PwC in London. Ein Diskussionspunkt wird sein, ob und wie sich die Rechnungslegung ver- einfachen lässt. Deutsche und andere europäische Versi- cherer befürchten daher, dass ihnen durch eine weniger strenge Regulierung und Besteuerung ihrer britischen Konkurrenten Wettbewerbsnachteile im außereuropäi- schen Geschäft entstehen könnten.

Britische Versicherer hoffen auch auf Vorteile durch den EU-Austritt Nach mehr als vier Jahren Vorbereitungszeit schaut das Gros der britischen Anbieter eher nach vorn als zurück. „Die überwiegende Mehrheit hat die Zeit gut genutzt“, sagt Deloitte-Beraterin Scarpa. Innovative Produkte und neue Tech-Anwendungen sollen das Wachstum voran- treiben. Lloyd's of London unterhält etwa das Lloyd's Lab. In diesem Versuchslabor können Insurtechs ihre digitalen Lösungen für die Versicherungs- branche ausprobieren. Branchenkenner erwarten darüber hinaus auch positive Brexit-Effekte. So könnten briti- sche Anbieter zusätzliches Neugeschäft gene- rieren. Schließlich hinterlassen jene EU-Ver- sicherer Lücken, die sich vom britischen Markt zurückziehen, weil sie den doppelten Goodbye Verwaltungsaufwand scheuen. „Für einige EU-Marktteilnehmer mag das Geschäft nicht Großer Markt Hohe Dichte Weltweit führend länger praktikabel sein. Das könnte größere Mit einem Beitragsvolu- Fast 3675 Euro geben Kein anderes Land der Marktanteile und Übernahmechancen für men von rund 307 Mil- britische Bürger pro Jahr Welt exportiert so viele Anbieter mit einem stärkeren Standbein in liarden Euro (2019) ver- für Versicherungen aus Versicherungsleistun- Großbritannien eröffnen, sagt PwC-Direk- liert die EU mit Großbri- – fast 50 Prozent mehr gen wie das Vereinigte tor Thomas. Ferner könnten sich die neuen tannien den größten Ver- als die Deutschen (2472 Königreich. Mit einem EU-Ableger als Türöffner für weiteres Neu- sicherungsmarkt Euro). Damit beträgt die Volumen von umgerech- geschäft in Madrid, Brüssel oder Frankfurt Europas – vor Frank- Versicherungsdurchdrin- net 16,7 Milliarden Euro erweisen. reich (220 Milliarden gung laut Swiss Re Ins- sind die Briten laut dem „Unser Platz ist an der Spitze der Euro) und Deutschland titute 10,3 Prozent des Branchenverband ABI Flottille“, sagte der neue Lloyd's-Chef (205 Milliarden Euro), so Bruttoinlandsprodukts.­ Exportweltmeister vor John Neal bei seiner Antrittsrede 2019. die Zahlen des Swiss Re Zum Vergleich: Der den USA (14,7 Milliarden Er und seine Kollegen werden alles da- Institute. weltweite Durchschnitt Euro) und Deutschland für tun, dass es auch in Nach-Brexit-Zei- liegt bei 7,0, der Wert (9,3 Milliarden Euro). ten gute Gründe gibt, die „Lutine Bell“ in Deutschland bei 6,3 zweimal schlagen zu hören.  Prozent.

Positionen #1_2021 TEXT: CLAUS GORGS, MARTIN SCHEELE Regeln 42 43 ILLUSTRATIONEN: MICHAEL STACH Um den Globus: Grönland Vor unerwünschten Kaufangeboten des US-Präsidenten ist die autonome Region Dänemarks nun wohl sicher. Wer dorthin reisen will, braucht starke Nerven und eine gute Versicherung

Schneemobil-Versicherung Nur etwa ein Zehntel der 56.000 Einwohner besitzt ein Auto, die meisten sind in der Hauptstadt Nuuk zugelassen. Aufgrund der SAR-Versicherung vielen Gletscher und Fjor- Das Land ist wie geschaf- de gibt es auf Grönland fen für Expeditionen oder praktisch keine Landstra- Extremsport im Eis. Der ßen, der Autoverkehr fin- Krankenversicherung Nordost-Grönland-Natio- det innerorts statt. Wie in Grönland ist begehrt: Vor nalpark ist der größte der Deutschland ist eine Haft- einem Jahr wollte der Welt und umfasst rund pflichtversicherung obliga- scheidende US-Präsident 45 Prozent der Insel. Wer Rentenversicherung torisch, die durch Teil- oder Trump Dänemark die Insel die raue Natur hautnah Das Pensionssystem be- Vollkaskopolicen ergänzt am liebsten abkaufen. Wer erleben will, muss eine steht aus drei Säulen: ge- werden kann. Wer durch sie bereist, sollte körperlich SAR-Versicherung (Search setzliche Rente, betrieb- die verschneiten Land- allerdings fit sein, warnt and Rescue) abschließen. liche Altersvorsorge und schaften reisen will, soll- die nationale Tourismus- Das Monopol für die Ret- private Zusatzabsicherung. te besser ein Schneemobil behörde – und besser eine tungspolicen liegt bei der Anders als in Deutschland nutzen. Auch hier ist eine Auslandskrankenversiche- Agentur Kalaallit Forsik- funktioniert die staatliche Haftpflichtversicherung rung abschließen, die auch ring, die Verträge des skan- Rentenkasse jedoch nicht vorgeschrieben, die um- den Rücktransport abdeckt. dinavischen Versicherers über ein Umlageverfah- gerechnet 60 Euro im Jahr Denn in der autonomen IF vermittelt. Je nach Ge- ren, die Alterseinkommen kostet. Der Selbstbehalt Region, die sechsmal so fahrenstufe kostet die Ab- werden komplett aus Steu- liegt bei rund 1000 Euro. groß ist wie Deutschland, sicherung bis zu 72 Euro – ermitteln finanziert. Eine aber nur 56.000 Einwoh- pro Tag. Aber eine Rettung Betriebsrente ist verpflich- ner hat, gibt es nur wenige per Hubschrauber kann tend: Wenigstens sechs kleine Kliniken und kaum schnell 13.000 Euro kosten. Prozent ihres Einkommens medizinisches Personal. müssen Arbeitnehmer da- Wer schwer erkrankt, muss für aufwenden, bis 2024 ausgeflogen werden. steigt der Mindestsatz Für Inländer wird die auf zehn Prozent. Krankenversiche- Ergänzend kann rung aus Steuer- jeder privat vor- mitteln bezahlt, sorgen. Seit was 18 Prozent 2017 dürfen des Staats- Banken indi- haushalts viduelle Pen- verschlingt. sionsproduk- te anbieten.

Positionen #1_2021 Regeln

Vom Azubi zum digitalen Experten TEXT: KATHINKA BURKHARDT Regeln 44 45

Die Digitalisierung verändert die ten befragt, welche Entwicklungen die Branche künftig bestimmen und in die Versicherungsbranche radikal. Das soll Ausbildung einfließen sollten. sich von 2022 an auch stärker in der Vor allem bei den IT-Kompetenzen attestierten die Experten der aktuellen Ausbildung widerspiegeln. Experten Ausbildungsordnung Defizite: Zum ei- arbeiten an einer Reform, die eine Karriere nen habe die Digitalisierung viele Ar- beitsfelder und -strukturen verändert. in der Versicherungswelt für Berufsstarter Mitarbeiter müssten künftig mehr noch interessanter machen dürfte noch als heute in der Lage sein, techni- sche Systeme sowie die Funktionswei- se einer IT-Architektur zu verstehen. Daneben werde Big Data wichtiger: Im Mittelpunkt der Arbeit stünden heute oft die Gewinnung von Kundendaten, in Bildschirm voller Vi- in Deutschland sind über 55 und ge- der sensible Umgang damit und ihre deo-Call-Teilnehmer, ein paar hen in den nächsten zehn Jahren in Analyse, um neue Produkte zu entwi- kurze Hallos in die Runde, den Ruhestand. Soll der Nachwuchs ckeln. Die Anpassung der Produktpa- Abstimmung der Agenda und das Geschäft erfolgreich in die Zu- lette mit Blick auf die sich verändern- rein in die Sitzung: Anfang kunft führen, muss er auf die verän- den Lebenswelten der Kunden werde ESeptember trafen sich 18 Sachverstän- derten Anforderungen vorbereitet sein. in den kommenden Jahren das bestim- dige per Webkonferenz zur ersten von Mit entsprechenden Inhalten könnte mende Thema sein, auf das Mitarbeiter sechs Sitzungen, in denen es um die die Ausbildung zudem stärker auf die vorbereitet sein müssen. Reform der Ausbildung von Kaufleu- junge Generation Z zugeschnitten wer- Manche der in Zukunft gefrag- ten für Versicherungen und Finanzen den und damit mehr Nachwuchs anlo- ten Qualifikationen lernen die Azubis ging. Zugeschaltet waren Vertreter der cken (siehe „Wo die wilden Kerle woh- heute schon in ihren Unternehmen – Arbeitgeber- und der Arbeitnehmersei- nen“ in „Positionen 3_2020“). Multikanalfähigkeit etwa. Kaufleu- te, des Bundesinstituts für Berufsbil- te für Versicherungen und Finanzen dung, des Bundesministeriums für IT-Kompetenzen kommen in der müssen alle Kommunikationswege Wirtschaft und Energie, des Bundesmi- alten Ausbildungsordnung zu kurz beherrschen und kurze Bearbei-  nisteriums für Bildung und Forschung Die Versicherungswelt gilt bei vielen sowie der Kultusministerkonferenz. jungen Leuten als angestaubt. Die we- Dass ihr Treffen virtuell stattfand, nigsten wissen, wie sich die Kultur und war der Corona-Pandemie geschuldet. die Arbeitsstrukturen in der Branche WERDE #INSURANCER Ein passenderes Forum für ihr Thema zuletzt gewandelt und sich damit den hätten sie allerdings auch nicht finden Wünschen heutiger Berufsstarter ange- 42 Prozent der Versiche- können. Denn nichts verändert die Ver- nähert haben. Die Branche biete sowohl rungsvermittler in Deutsch- sicherungswelt so massiv wie die Digi- sicherheitsorientierten Menschen ein land sind 55 Jahre oder älter. talisierung. Digitale Inhalte sollen des- attraktives Umfeld als auch denjenigen, Ein Großteil von ihnen wird in halb künftig stärker in die Ausbildung die Herausforderungen suchen, schreibt den kommenden zehn Jahren Nachfol- einfließen. Johannes Wagner von der Start-up-Co- ger suchen. Der GDV und seine Mitglieds­ Die Zeit drängt: Seit Inkrafttre- operation der Versicherungskammer unternehmen haben deshalb die Initiative ten der aktuellen Ausbildungsord- Bayern in seiner Kolumne (Seite 47). Werde #Insurancer gestartet. Sie richtet nung 2006 hat mit Megatrends wie „Die neue Ausbildungsordnung sich an 16- bis 30-Jährige und vermittelt Big Data und der Automatisierung ein wird viele neue Lerninhalte umfassen, ein neues, modernes Bild des Berufs jen- fundamentaler Wandel in der Versi- mit denen sich junge Menschen iden- seits der Klischees. Gesucht werden Azu- cherungswirtschaft eingesetzt. Und tifizieren können“, sagt Vesna Kran- bis, duale Studenten und Quereinsteiger das ist nicht der einzige Grund, war- jcec-Sang, Projektleiterin und Koordi- (m/w/d), die Spaß am abwechslungsrei- um die Ausbildung modernisiert wer- natorin der Sachverständigen Arbeit- chen Job des Versicherungsvermittlers den muss. Die Reform ist auch deshalb geber seitens des Berufsbildungswerks haben. Weitere Infos und Details zur Initi- zwingend, weil die Branche vor einem der Deutschen Versicherungswirtschaft ative gibt es unter werde-insurancer.de Generationswechsel steht: Rund 42 (BWV). 2016 haben sie und ihre Kollegen Prozent der Versicherungsvermittler für die Studie „Kompetenzlabor“ Exper-

Positionen #1_2021 46 47 Regeln

Digitales Arbeiten: Megatrends­ wie Big Data und die Digitali- sierung prägen heute die Arbeitswelt der Versicherer

tungszeiten gewährleisten. An diesen sind, kann die Ausbildungsordnung im rufsbildungswerke und die Deutsche Stellen hinkt die aktuelle Ausbildungs- Bundesanzeiger veröffentlicht und da- Versicherungsakademie umfangrei- ordnung dem Alltag in den Unterneh- mit wirksam werden. che Angebote zu Digitalisierung und men hinterher, hat Kranjcec-Sang fest- Dass die Reform am Ende noch IT-Know-how. gestellt: „In vielen Betrieben sind die komplett gekippt werden könnte, gilt Auszubildenden dahingehend bereits aber als unwahrscheinlich. Zumindest Die Details werden noch gefordert und lernen in der Praxis die erste Fachrunde per Videoschalte verhandelt, das Ziel aber ist klar schon sehr viel mehr dazu als vor ei- hat sich laut Teilnehmern schon mal Wie die Ausbildung über den elemen- nigen Jahren.“ als effektiv erwiesen. „Wir sind sehr taren kaufmännischen Kanon hinaus zufrieden mit dem Start des Neuord- am Ende aussieht, ist noch offen. Es Der Reformprozess kostet Zeit: nungsverfahrens und glauben, dass könnte beispielsweise Wahlqualifika- Es gelten strikte Regeln der Zeitplan trotz Corona eingehalten tionen oder andere Elemente geben. Das ist auch der Grund, warum man- werden kann“, sagt Michael Weyh, Ge- So ließe sich Versicherungsfachwissen che Unternehmen den laufenden Re- schäftsführer des BWV. mit IT-Know-how verbinden. Denkbar formprozess kritisieren: Bis die Aus- Der Bildungsverband hat zudem wäre sogar, dass die Ausbildung einen bildungsordnung zum neuen Lehr- auf die Empfehlungen der Betriebe re- anderen Namen bekommt. Fest steht jahr im August 2022 in Kraft trete, sei agiert. „Wir bieten seit Längerem ein aber bereits, dass nicht nur digitale in Sachen Digitalisierung schon wieder Curriculum ,Digitale Kompetenzen‘ und kommunikative Kompetenzen viel passiert, das die Betriebe den Azu- an, das Unternehmen als Hilfestel- der Azubis gestärkt werden sollen: „Ei- bis im Alltag selbst beibringen müss- lung nutzen können, um ihre Auszu- genständigkeit, Entwicklungsmöglich- ten. Dieses Dilemma trifft allerdings bildenden schon jetzt dahingehend zu keiten und agile Arbeitsmethoden sind alle Branchen. Die Novellierung von schulen“, sagt Kranjcec-Sang. Für be- Themen, die sich wiederfinden lassen Ausbildungsberufen ist in Deutschland reits erfahrene Mitarbeiter der Bran- werden und die die junge Generation streng geregelt und kann nicht einfach che bieten die einzelnen regionalen Be- ansprechen“, sagt Kranjcec-Sang.  abgekürzt werden. Gerade die momentane, bis Mit- te 2021 laufende Phase, in der die kon- kreten Inhalte diskutiert und festge- »Die neue Ausbildungsordnung legt werden, ist wichtig für ein Ge- lingen: Bei der Abstimmung am Ende wird viele neue Lerninhalte der Sachverständigensitzungen gilt das Konsensprinzip. Nur wenn alle betei- umfassen, mit denen sich junge Vesna Kranjcec-Sang, ligten Vertreter auf Arbeitnehmer- und Projektleiterin Arbeitgeberseite, aus den Bundesmi- Menschenund Koordination (BMV) identifizieren können« nisterien und der Kultusministerkon- ferenz mit den Inhalten einverstanden Vesna Kranjcec-Sang, Projektleiterin und Koordinatorin (BWV)

Positionen #1_2021 Kolumne

stellt die Bedeutung der Ver­ sicherungswirtschaft im ge­ sellschaftspolitischen Kontext heraus, reflektiert aktuelle Entwicklungen und Leistun­ Turbo für Talente gen der Branche und treibt die Diskussion um wichtige The­ men, die die Assekuranz und Die Jugend von ie jungen Menschen mögen’s sicher. Pragmatisch. Planbar. den GDV als Verband beschäf­ Sagt die viel beachtete „Shell Jugendstudie“. Eine feste Stel- tigen, voran. „Positionen“ ver­ heute ist bunt: Die le sowie die Vereinbarkeit von Job und Privatleben haben steht sich als Debattenblatt, das für die Gesellschaft im einen suchen eher für die Befragten unter 25 Jahren Priorität im (künftigen) Allgemeinen und die Versiche­ Berufsleben. Das traditionelle – und reichlich stereotype – rungswirtschaft im Besonde­ nach Sicherheit, ren wichtige Diskussionen auf­ DBerufsbild des Versicherungsangestellten liegt offenbar voll im Trend. nimmt bzw. fortführt und sich die anderen wollen Szenenwechsel: Im Werk1, einem ehemaligen Fabrikgebäude dabei mit Kritik an der Branche im hippen Münchner Werksviertel, haben sich unzählige Start-ups auseinandersetzt. „Positionen“ herausgefordert angesiedelt, auch aus der Versicherungswirtschaft. Hier hört man adressiert Entscheider und ganz andere Töne: Etwas Eigenes auf die Beine zu stellen lautet die Multipli­katoren aus Versiche­ werden. Für die rungsbranche, Verwaltung, Lebensmaxime der jungen Gründer. Bloß kein Nine-to-five-Job! Selbst Medien, Politik, Wirtschaft Assekuranz ist ein sogenannter Exit, also der Verkauf eines erfolgreichen Start-ups und Wissenschaft. Dafür das eine Chance: für schwindelerregend hohe Summen, stellt für überzeugte Gründer bringt das Magazin Versiche­ rungsthemen auf den Punkt – nur einen Meilenstein dar. Es wartet schließlich schon das nächs- einfach und direkt. Sie bietet beiden te große Ding darauf, angepackt zu werden. „Serial Entrepreneur­

Gruppen passende ship“ nennt sich das im Fachjargon. Übersetzt in etwa: Hauptsache, IMPRESSUM es wird nie langweilig. Berufsbilder Herausgeber: Gesamtverband der Zwei Extreme ein und derselben Generation von Nachwuchsta- Deutschen Versicherungs­wirtschaft e. V. V.i.S.d.P.: Christoph Hardt lenten? Die einen zuverlässig, die anderen innovativ? Bewahrer ver- Konzeption und Verlag: Axel Springer CorporateSolutions GmbH & Co. KG sus Influencer? Die große Mehrheit der jungen Menschen bewegt Projektmanagement: Christopher Brott Druck und Vertrieb: Möller Druck sich geschickt zwischen diesen Polen. Sie bietet damit im Grunde Redaktion: Jörn Paterak, Thomas Wendel (GDV); Claus Gorgs (Axel Springer) Autoren: Kathinka Burkhardt, Lilian Fiala, Heimo ein breites Kandidatenfeld für Versicherer. Für eine Branche, deren Fischer, Claus Gorgs, Eli Hamacher, Christian Höller, Volker Kühn, Mariam Misakian, Robert Markenkern auch in Zukunft die Verlässlichkeit sein wird; die aller- Otto-Moog, Nicola de Paoli, Jörn Paterak, Marilena Piesker, Martin Scheele, Thomas Wendel dings gleichzeitig nicht erst seit Corona einem enormen Digitalisie- Fotoredaktion: Anne Schälike Art-Direktion und Layout: rungsdruck ausgesetzt ist. Stefan Semrau, Christian Hruschka, Maria Christina Klein (alle twotype design) Selbst wenn es in der Bewerberansprache gelingt, zu vermit- Lektorat: Matthias Sommer Litho: Image-Pool, Berlin Herstellung: Silvio Schneider teln, dass die Assekuranz das Beste aus beiden Welten – Sicher- Redaktionsanschrift: Gesamtverband der Deutschen heit und Innovation – bietet (ja: bieten muss, um sich weiter- Versicherungswirtschaft e. V., Kommunikation, Wilhelmstraße 43/43 G, 10117 Berlin zuentwickeln), kommt die eigentliche Herausforderung erst Telefon: 030/20 20-59 14 Fax: 030/20 20-69 14 später: Talente auch längerfristig zu halten. Mit progressiven Fragen zum Abo: [email protected] „Positionen“ erscheint viermal jährlich in einer Ideen, mit dem Mindset und Tempo eines Entrepreneurs stoßen Auflage von rund 11.000 Druck-­Exemplaren sowie im Internet unter positionen-magazin.de Bildnachweise: sie bislang in vielen Unternehmen gegen gläserne Decken. Frust- Fotos: S.3: Dominik Butzmann/GDV; ration ist programmiert. Wir müssen lernen, den Neuen zuzuhören S. 4: GDV; Markus Hintzen; S. 5: Dominik Asbach; S. 17: Frank Nürnberger; S. 20: TLGG; Johannes Wagner und offen für ihre Ideen zu sein – auch weil sie Teil der Kundengrup- S. 21: Imago Images; S. 22/23: ESA/ATG medialab; S. 25: Copernicus Sentinel data (2016), processed leitet die Start-up- pen von morgen sind. Das bedeutet nicht zwangsweise, dass jede da- by ESA, CC BY-SA 3.0 IGO, Getty Images, Picture- Alliance / dpa / Cover Images / European Space Cooperation der Versiche- von brillant sein wird. Aber wir benötigen den damit einhergehenden Imaging; S. 29: privat (3); S. 30: Getty Images, SZ Photo; S. 31: Getty Images; S. 32/33: Walter Kreuzer; rungskammer Bayern und Change, der nicht weniger ist als ein umfassender Kulturwandel und S. 34/35: Markus Hintzen (3), Carina Jirsch/ Osthessen News; S. 37: Dominik Asbach; ist Vorstand des InsurTech unsere Option auf die Zukunft. S. 38: Picture-Alliance / dpa; S. 39: Picture-Alliance / dpa; Hub Munich (ITHM). In bei- Apropos Zukunft: Die „Shell Studie“ stellt auch heraus, wie viele S. 44: Getty Images; S. 46: Getty Images; S. 48: Mauritius Images;: ; den Einheiten arbeitet der Gedanken sich die Arbeitnehmer von morgen über den Klimawan- Illustrationen: Cover: Malte Knaack; S. 2: Getty Images; 43-Jährige eng mit jun- del und Gesundheitsthemen machen. Beides sind Aspekte, die das S. 3: Laurindo Feliciano; S. 5: Jacqueline Urban (2), Getty Images (2); S. 6-11: Malte Knaack; S. 12/14: Laurindo Feliciano; S. 13: Getty Images; gen Talenten zusammen. Geschäftsfeld der Assekuranz ganz zentral berühren. Anders als bei S. 18/19: Malte Knaack; S. 20: Getty Images; S. 21: Jacqueline Urban, World Smiley Foundation; Aktuell betreut der ITHM manchem auf den ersten Blick angesagteren Arbeitgeber bietet sich S. 24: Northrop Grumman; S. 27: Getty Images; S. 28: Getty Images; S. 31: Getty Images (2); mehr als 40 Start-ups und in der Versicherungsindustrie die Möglichkeit, an den ganz großen S. 39: Getty Images (2); S. 40-42: Getty Images (2); S. 43: Michael Stach; S. 47: Jacqueline Urban; vernetzt sie während eines Zukunftsthemen gestalterisch mitzuarbeiten. Womöglich auch zu- rund zweimonatigen Pro- sammen mit Start-ups, die wichtige Impulse oder technische Lösun- gramms mit Versicherern. gen liefern. Also, um den Slang der Gründerszene aufzugreifen: Wo, wenn nicht in einer starken Branche wie dieser, lassen sich gute, re- levante Ideen und Veränderungsimpulse so wirkungsvoll akzelerie- ren und skalieren? 

Positionen #1_2021 Positionen #1_2021 // Das Magazin der Deutschen Versicherer

DIE SCHÖNSTE VERSICHERUNGSSACHE DER WELT 80.000.000 Euro

Das Liederbuch der Liederbücher Wer einen Schatz von A nach B bringen will, hat zwei Möglichkei- ten, sagt Karin Zimmermann, Leiterin der Histori- schen Sammlungen der Heidelberger Uni-Biblio- thek: „heimlich oder mit maximalem Brimborium“. Im Fall des Codex Manesse wählten die Verantwort- lichen den zweiten Weg. Ein Großaufgebot der Poli- zei bewachte den Transport der 700 Jahre alten Lie- dersammlung von Heidelberg ins Mainzer Landes- museum, wo sie im Herbst zu sehen war. Räuber ließen sich wie erhofft nicht blicken. Zimmermann war erleichtert, schließlich ist der Codex von uner- setzlichem Wert. Er umfasst 6000 Zeilen Lyrik von 140 Autoren wie Walther von der Vogelweide, die in farbigen Abbildungen dargestellt wird. Jeder Schüler kennt zwei oder drei davon aus seinen Geschichts- büchern. „Der Codex Manesse ist die wesentliche Quelle für unser heutiges Bild vom Mittelalter“, sagt Zimmermann. Kein Wunder, dass er für die Ausstel- lung in Mainz mit gleich 80 Millionen Euro versi- chert wurde. Für Zimmermann spiegelt aber auch das seinen Wert nicht wider: „Selbst für 100 Millio- nen Euro könnte ich keinen neuen Codex kaufen.“