SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Zum 100. Geburtstag des Geigers Henryk Szeryng (5)

Mit Jörg Lengersdorf

Sendung: 21. September 2018 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2018

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SWR2 Musikstunde mit Jörg Lengersdorf 17. September – 21. September 2018 Zum 100. Geburtstag des Geigers Henryk Szeryng (5)

Zum letzten Mal geht es heute um den Geiger Henryk Szeryng, dessen Geburt sich morgen zum 100sten Mal jährt.

In den 60er Jahren bekommt Henryk Szeryng gleich zwei Mal eine Professur in Wien angetragen. Dass Szeryng ausgesprochen gerne auf Meisterkursen doziert, mitunter ja auch recht eitel schulmeistert, kann man auf Videos bis heute nachvollziehen. Die Professuren in Europa wird er allerdings dankend ablehnen. Auch eine angebotene Stelle am Peabody Conservatory in Baltimore kam schon Jahre zuvor nicht in Frage, schließlich unterrichtet Henryk Szeryng nach wie vor in Mexico, auch wenn er Anfang der 60er Jahre seine Anwesenheitszeiten drastisch reduzieren muss, weil er auf der ganzen Welt konzertiert. Dafür wird Szeryng in anderer Hinsicht zu einer zentralen Figur in Mexikos Kulturpolitik. Die mexikanische Regierung ernennt Szeryng zum Kulturbotschafter. Szeryngs politisches Engagement wird tatsächlich mit dem Erhalt eines Diplomatenpasses schwarz auf weiß bescheinigt. „Was könnte ich aber für Mexicos internationale Beziehungen tun?“ soll Szeryng noch fragen, als er den neuen Status erhält. Der Botschafter antwortet lakonisch: „Spielen Sie Geige, das genügt vollkommen“

Musik 1, 10.56 : Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 77 1. Satz: Allegro non troppo Henryk Szeryng (Violine) London Symphony Orchestra Leitung: Antal Dorati

Henryk Szeryng im ersten Satz des Brahms Violinkonzerts mit Antal Dorati am Pult des London Symphony Orchestra. 2

Es gibt im Internet Videos, in denen Szeryng dieses Stück spielt, aus verschiedenen Jahren, mit verschiedenen Orchestern. Egal wie alt der Solist ist, es bleibt beeindruckend, wie ungeheuer ökonomisch Szeryngs präzise Bewegungen diesen riesigen kristallklaren Sound aus der Geige saugen. Der Korpus wird dabei stets diszipliniert waagrecht gehalten, ohne überflüssige Zappeleien. Szeryng modelliert am Werkstück, er ist niemals Trickser oder kapriziöser Fiedler. Dazu erklärt er in Interviews, man müsse Geigen mit derselben Sorgfalt behandeln, wie schöne Frauen, eine Metaphorik, die wohl auch schon damals seltsam aus der Zeit gefallen wirkt. In seinen späteren Jahren spielt Szeryng regelmäßig auf zwei Geigen: einer Guarneri oder einer Stradivari. Er reist mit einem Doppelkasten. Der Kammermusikpartner Gary Graffman erzählt, dass seine Ehefrau häufig während gemeinsamer Konzerte in der Künstlergarderobe Wache schieben muss, damit niemand Szeryngs jeweils unbenutzter Geige zu Leibe rücken könne. Szeryng hat ja selbst keine Ehefrau, die das übernehmen könnte. Beim Geigenschutz ist Szeryng aber immerhin weniger empfindlich, als viele Kollegen. Generös lässt er auch mal Freunde die teuren Instrumente ausprobieren.

Den Studienfreund Peter Rybar trifft Szeryng bei einem Empfang in Winterthur. Szeryng beschäftigt sich gerade mit dem selten gespielten Violinkonzert von . Er setzt sich an den Flügel des Gastgebers und fordert Rybar auf: nimm Dir eine meiner Geigen aus dem Kasten, wir spielen Schumanns Konzert durch, das kannst Du doch, oder? Rybar kann, er gehört zu der Handvoll Geiger, die das Stück nach dem Krieg im Repertoire haben. Henryk Szeryng spielt dazu den kompletten Orchesterpart auf dem Klavier, auswendig…

Musik 2, 5.17 Robert Schumann: Violinkonzert d-Moll WoO 23 Henryk Szeryng (Violine) SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg Leitung: Hans Rosbaud 3

Henryk Szeryng begleitet vom Sinfonieorchester des ehemaligen Südwestfunks in einem Ausschnitt aus Robert Schumanns damals noch recht unbekanntem Violinkonzert.

Nach Schumanns Tod 1856 lassen Clara Schumann und Freund Joseph Joachim verfügen, dass das Stück erst 100 Jahre nach Schumanns Tod veröffentlicht werden dürfe. Die Nachlassverwalter halten das Stück für schwach und zudem für unbequem zu spielen, für einen kompositorischen Fehlgriff, bereits getrübt durch Anzeichen geistiger Umnachtung.

Tatsächlich wird Schumanns Konzert schon 84 Jahre nach Schumanns Tod in Nazideutschland uraufgeführt, schrägerweise, nachdem angeblich Schumanns Geist in einer ominösen spiritistischen Sitzung den Befehl dazu erteilt habe. Nebenbei verhindern die Nazis aber Aufführungen durch jüdische Musiker. Angesichts dieser bemerkenswerten Umstände ist es kein Wunder, dass viele Musiker auch nach dem Zusammenbruch des Naziregimes die Finger vom Werk lassen.

Dann wird Henryk Szeryng zum bis dato zweifellos besten Interpreten des stiefmütterlich vernachlässigten Schumann Konzerts, das immer noch als beinahe unspielbar gilt. In Szeryngs Aufnahme aus Baden-Baden von 1957 klingt wohl zum ersten Mal in der komplizierten Rezeptionsgeschichte endlich jeder Ton Schumanns wie Gold. Einen anderen musikhistorischen Schatz hebt Szeryng fast im Alleingang. Jahrelang forscht er nach dem Verbleib des seit über 100 Jahren verschollen geglaubten dritten Violinkonzerts von Paganini. Im Haus der Erben stößt er nach einem Konzert in Mailand auf eine Handschrift, die sich als Sensationsfund erweisen wird. Paganinis Drittes ist nie im Druck erschienen, in Briefen spricht der Komponist selbst davon, dass es sowieso kein anderer Geiger spielen könne. Szeryng wäre nicht Szeryng, wenn er nicht sofort den Gegenbeweis anträte. 1971 editiert er das Stück, schreibt Kadenzen und geht nach kürzester Zeit ins Aufnahmestudio.

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Musik 3, 4.44 Niccolò Paganini: Violinkonzert Nr. 3 E-Dur Henryk Szeryng (Violine) London Symphony Orchestra Leitung: Alexander Gibson

Henryk Szeryng in einem kurzen, aber ziemlich beeindruckenden Ausschnitt aus Paganinis drittem Violinkonzert, dass Szeryng über hundert Jahre nach Paganinis Tod wiederentdeckt und aufführt.

So schreibt der Geiger auch editorisch Musikgeschichte, und das nicht nur in einer Hinsicht. Schon 1968 hatte der Mainzer Schott Verlag Szeryng gebeten, an einer Neuauflage der Bachschen Sonaten und Partiten für Violine solo mitzuarbeiten. Szeryng soll alle Fingersätze und Bogenstriche aufschreiben, die er selbst benutzt, denn schließlich gilt sein wuchtig voluminöses Bachspiel damals als stilprägend. Szeryng erklärt selbst, dass ein solches Unterfangen nicht so leicht zu realisieren sei, macht sich aber dennoch an die Arbeit. Er glaubt, in zwei Jahren fertig sein zu können, also etwa 1970. Tatsächlich erweist sich die Arbeit als weit umfangreicher. Erst 1979, nach 11 Jahren, setzt Szeryng seine Unterschrift unters Vorwort, liefert dann noch umfangreiche Interpretationshinweise in einem Aufsatz mit genauesten Notenbeispielen, die er textkritisch einordnet.

Neben dem Urtext wird Szeryngs Kompendium an praktischen Spielhinweisen und technischen Lösungsvorschlägen der schwierigsten Geigenpassagen jahrelang die wichtigste Ressource für unzählige Geigenstudenten weltweit. Wer nicht mehr weiter weiß in Bachs labyrinthischem Kosmos der höchsten Anforderungen, schaut erst einmal nach, wie Szeryng es gelöst hat. Selbst in Zeiten ganz anders informierter historischer Spielpraxis dürften Szeryngs Fingersätze bis heute von vielen Geigern konsultiert werden, praktisch wie sie nun mal sind. Die klangliche Mode ändert sich, aber Szeryngs handwerkliche Sorgfalt bleibt bestechend zeitlos.

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Musik 4, 7.08min : Chaconne aus Partita D-Moll BWV 1004 Henryk Szeryng (Violine)

Referenz für viele Jahre, Szeryngs Chaconne aus der d-Moll Partita von Johann Sebastian Bach. Obwohl Szeryngs Fingersätze und Bogenstriche in Bachs Werken oft als pädagogischer Standard herangezogen wurden, obwohl er viele Meisterklassen gegeben und viele Jahre als Professor unterrichtet hat, gibt es kaum Weltklasse Geiger, die mit dem Prädikat „Szeryngschüler“ etikettiert werden.

Anfang der 70er Jahre wird Szeryng bei einem Meisterkurs in Genf auf das phänomenale Talent des Teenagers Shlomo Mintz aufmerksam. Szeryng schenkt dem jungen Mann fast vom Fleck weg eine wertvolle französische Geige. Dennoch erwähnt kaum eine Quelle im Zusammenhang mit der späteren Karriere von Mintz diese Starthilfe von Szeryng, was auch daran liegen mag, dass Geigenstar Isaac Stern, der andere Förderer von Mintz in diesen Jahren, eifersüchtig darüber wacht, dass sein Zögling vor allem das Licht von Mentor Stern strahlen lässt. So gibt es einen Brief von Stern an Szeryng, in dem Ersterer auf bizarre Weise darum bittet, dass Szeryng den Schüler Mintz nicht allzu viel ins Rampenlicht stelle. Man wird den Eindruck nicht los, dass Stern den Mäzenatenruhm für sich allein haben möchte. Da Szeryng inzwischen aber in vielen Jurys sitzt, gibt es einige junge Talente, die er selbstlos fördert. Mindestens drei weiteren Nachwuchsgeigern schenkt er Violinen aus seiner umfangreichen Sammlung. Ebenso viele Bögen gibt er völlig uneigennützig weiter. Mehrmals in seiner Karriere spielt er auch persönlich Benefiz- Projekte, die Kollegen seiner Qualität eher meiden würden. In Mürzzuschlag spielt Szeryng mit dem Laienorchester der Berufsständevereinigung, in Köln mit dem Orchester der deutschen Kinderärzte. Ein Geigengott musiziert mit begeisterten Sterblichen.

Sicher gibt es Weggefährten, die Szeryng als kompliziert bezeichnen. Eins ist er immer: bereit, alles zu geben.

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Musik 5, 6.23 Wolfgang Amadeus Mozart: Adagio E-Dur KV 261 Henryk Szeryng (Violine) New Philharmonia Orchestra Leitung: Alexander Gibson

Von seiner Stradivari Geige verabschiedet sich Henryk Szeryng 1972. Zum 25jährigen Bestehen des Staates spielt er am 24.12. ein Konzert zugunsten einer Hilfsorganisation.

Premierministerin Golda Meir ist im Publikum, nach dem Konzert tritt Teddy Kollek, Bürgermeister von , zu Szeryng auf die Bühne. Szeryng, der während des Weltkriegs aus Europa vertriebene Jude, erklärt, seine Geige an die Stadt Jerusalem verschenken zu wollen: „Um das Andenken zu ehren derer, die sich für ein besseres Leben des jüdischen Volkes geopfert haben.“ Die Hercules Stradivari, seitdem mit dem Beinamen „Kinor David“, „Davidsgeige“ belegt, wird auf Wunsch Szeryngs von den Konzertmeistern des Israel Philharmonic Orchestras gespielt, jenes Orchesters aus geflohenen europäischen Juden. Gegründet hatte das Orchester Szeryngs Lehrer aus Kindertagen, Bronislaw Huberman. „es wird die erste Stradivari Geige sein in dem Land, das ich dank des wunderbaren Erbes meiner Eltern besonders liebe.“, sagt Szeryng, während er seine geliebte Geige für immer weggibt.

Musik 6, 2.30 Jose Sabre Marroquin: „Mexican Lullaby“ Henryk Szeryng (Violine)

Henryk Szeryng im mexikanischen Wiegenlied von Jose Sabre Marroquin. 7

Die Stradivari in Jerusalem ist nicht die letzte große Geige, die Szeryng verschenkt. Zwei Jahre später vermacht er seine Andrea Guarneri Geige dem Staat Mexico, dessen Staatsbürgerschaft er 1948 angenommen hat. Auch diese Geige soll von hervorragenden mexikanischen Musikern gespielt werden.

Zu den vielen Instrumentenschenkungen, die Szeryng noch weiterhin tätigt, bemerkt er rätselhaft, es seien ja nicht nur furchtbar altruistische Gaben, wie manche Leute behaupteten. Die Weitergabe eines Instruments könne durchaus selbstsüchtig sein. Er fühle beispielsweise, wie er etwas von seinen Schwingungen mit dem neuen Besitzer teile, der die Geige spiele. Insofern darf man vielleicht annehmen, dass Szeryng wie viele Geiger dem tröstlichen Gedanken nicht abgeneigt ist, die Seelen der toten Virtuosen würden fortleben in den gespielten Geigen. Kinder hat Szeryng keine, er heiratet erst 1984, in . Die auserwählte ist eine Deutsche: Waltraud Büscher. Sie wird später den kompletten Nachlass Ihres Mannes der in Washington vermachen und reagiert nach wie vor ausgesprochen freundlich und hilfreich auf Anfragen, die das Leben Ihres Mannes betreffen. Im Februar 1988, mit 69 Jahren, beginnt Henryk Szeryng eine letzte Deutschland Tournee, am ersten März spielt er das Brahms Konzert in Kassel. In der Nacht darauf erleidet er eine schwere Hirnblutung, fällt in ein Koma, aus dem er bis zum Tod am 3. März nicht mehr erwacht. Ein mexikanischer Journalist hatte Szeryng, lange vor seinem allerletzten Konzert in Kassel, gefragt, was er tun würde, wenn er nur noch eine Stunde zu leben hätte. Szeryngs Antwort: Das Brahms Konzert spielen…

Musik 7 Johannes Brahms: Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 77 2. Satz: Adagio Henryk Szeryng (Violine) London Symphony Orchestra Leitung: Antal Dorati 8