Plenarprotokoll 16/211

Deutscher

Stenografischer Bericht

211. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Inhalt:

Wahl des Abgeordneten Dr. Carl-Christian (SPD) ...... 22734 A Dressel als Mitglied im Gremium nach Thomas Bareiß (CDU/CSU) ...... 22735 A Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes ...... 22711 A Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung ...... 22711 B Tagesordnungspunkt 5: Absetzung der Tagesordnungspunkte 12 und 31 c ...... 22712 D a) Antrag der Abgeordneten Renate Künast, , Hans-Josef Fell, weiterer Ab- Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . 22712 D geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Energiewende vorantreiben – Atomausstieg fortsetzen (Drucksache 16/12288) ...... Tagesordnungspunkt 4: 22736 B Abgabe einer Regierungserklärung durch die b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am Uhl, Jürgen Trittin, , weite- 19./20. März 2009 in Brüssel und zum rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- G-20-Gipfel am 2. April 2009 in London NIS 90/DIE GRÜNEN: Verantwortlich- keiten für die Zustände im Endlager Dr. , Bundeskanzlerin ...... 22713 C Asse II benennen und Konsequenzen Dr. (FDP) ...... 22717 C für die Endlagersuche ziehen (Drucksache 16/10359) ...... 22736 B Joachim Poß (SPD) ...... 22719 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Dr. (DIE LINKE) ...... 22721 B Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und (CDU/CSU) ...... 22722 C Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- geordneten Renate Künast, Bärbel Höhn, Renate Künast (BÜNDNIS 90/ Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl und DIE GRÜNEN) ...... 22724 A der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) ...... 22726 B NEN: Alte Atomkraftwerke jetzt vom Netz nehmen (CDU/CSU) ...... 22727 D (Drucksachen 16/6319, 16/7882) ...... 22736 B Dr. Guido Westerwelle (FDP) ...... 22729 C d) Beschlussempfehlung und Bericht des Gunther Krichbaum (CDU/CSU) ...... 22730 A Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- (DIE LINKE) ...... 22730 C geordneten Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Cornelia Behm, weiterer Ab- Nina Hauer (SPD) ...... 22731 D geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) ...... 22732 D DIE GRÜNEN: Sicherheit geht vor – II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Besonders terroranfällige Atomreakto- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) ...... 22753 C ren abschalten (Drucksachen 16/3960, 16/8469) ...... 22736 C Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22754 A e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Michael Kauch (FDP) ...... 22755 A Reaktorsicherheit zu dem Antrag der Ab- Marco Bülow (SPD) ...... 22756 A geordneten Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, weiterer Abge- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22756 D DIE GRÜNEN: Vertragstreue Abschal- tung alter Atomkraftwerke in Ost- Philipp Mißfelder (CDU/CSU) ...... 22758 A europa Eva Bulling-Schröter (Drucksachen 16/11764, 16/12312) . . . . . 22736 C (DIE LINKE) ...... 22759 B f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem An- trag der Abgeordneten Sylvia Kotting- Tagesordnungspunkt 39: Uhl, Renate Künast, Fritz Kuhn und der a) Erste Beratung des von der Bundesregie- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Für eine Schließung des Forschungs- Gesetzes zur Änderung des Direktzah- endlagers Asse II unter Atomrecht und lungen-Verpflichtungengesetzes eine schnelle Rückholung der Abfälle (Drucksache 16/12117) ...... 22760 C (Drucksachen 16/4771, 16/12270) ...... 22736 D b) Erste Beratung des von der Bundesregie- g) Große Anfrage der Abgeordneten Angelika rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- Brunkhorst, , Michael ten Gesetzes zur Änderung des Gefahr- Kauch, weiterer Abgeordneter und der gutbeförderungsgesetzes Fraktion der FDP: Informations-Materia- (Drucksache 16/12118) ...... 22760 D lien der Bundesregierung zum Thema „Fakten und Kontroversen zum so ge- c) Erste Beratung des von der Bundesregie- nannten Ausstieg aus der friedlichen rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Nutzung der Kernenergie“ für Kinder zes zur Aufhebung der Freihäfen Em- und Heranwachsende den und Kiel (Drucksachen 16/9509, 16/11343) ...... 22737 A (Drucksache 16/12228) ...... 22760 D Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ d) Erste Beratung des von der Bundesregie- DIE GRÜNEN) ...... 22737 A rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes (CDU/CSU) ...... 22738 C zur Errichtung einer Stiftung Deutsche (FDP) ...... 22740 A Geisteswissenschaftliche Institute im Ausland, Bonn Christoph Pries (SPD) ...... 22741 D (Drucksache 16/12229) ...... 22760 D Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 22743 B f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Vier- Dr. (CDU/CSU) ...... 22744 B ten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ zur Durchführung der Gemeinsamen DIE GRÜNEN) ...... 22745 D Marktorganisationen und der Direkt- zahlungen , Bundesminister (Drucksache 16/12231) ...... 22761 A BMU ...... 22747 A g) Erste Beratung des von der Bundesregie- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- DIE GRÜNEN) ...... 22748 A zes zur Ergänzung behördlicher Aufga- ben und Kompetenzen im Bereich des Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ wirtschaftlichen Verbraucherschutzes DIE GRÜNEN) ...... 22748 B (Drucksache 16/12232) ...... 22761 A Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ h) Erste Beratung des von der Bundesregie- DIE GRÜNEN) ...... 22749 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- Michael Kauch (FDP) ...... 22751 C zes zur Errichtung eines Sondervermö- gens „Vorsorge für Schlusszahlungen Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 22752 B für inflationsindexierte Bundeswertpa- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 III

piere“ (Schlusszahlungsfinanzierungs- q) Antrag des Präsidenten des Bundesrech- gesetz – SchlussFinG) nungshofes: Rechnung des Bundesrech- (Drucksache 16/12233) ...... 22761 A nungshofes für das Haushaltsjahr 2008 – Einzelplan 20 – i) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/12091) ...... 22762 A rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Zweiten Protokoll vom r) Antrag der Abgeordneten Undine Kurth 26. März 1999 zur Haager Konvention (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike vom 14. Mai 1954 zum Schutz von Kul- Höfken, weiterer Abgeordneter und der turgut bei bewaffneten Konflikten Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: (Drucksache 16/12234) ...... 22761 B Stärkung des europäischen Haischutzes j) Erste Beratung des von der Bundesregie- (Drucksache 16/12290) ...... 22762 A rung eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zu dem Stabilisierungs- und As- soziierungsabkommen zwischen den Europäischen Gemeinschaften und ih- Zusatztagesordnungspunkt 2: ren Mitgliedstaaten einerseits und Bos- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- nien und Herzegowina andererseits rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksache 16/12235) ...... 22761 B zes zur Regelung der Verständigung im k) Erste Beratung des von der Bundesregie- Strafverfahren rung eingebrachten Entwurfs eines Vier- (Drucksache 16/12310) ...... 22762 B ten Gesetzes zur Änderung von Ver- b) Antrag der Abgeordneten Dr. Hermann brauchsteuergesetzen Otto Solms, Rainer Brüderle, Carl-Ludwig (Drucksache 16/12257) ...... 22761 C Thiele, weiterer Abgeordneter und der l) Erste Beratung des von der Bundesregie- Fraktion der FDP: Maßnahmen zur ef- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- fektiven Regulierung der Finanzmärkte zes zur Änderung medizinprodukte- (Drucksache 16/10876) ...... 22762 B rechtlicher Vorschriften c) Unterrichtung durch die Deutsche Welle: (Drucksache 16/12258) ...... 22761 C Zweite Fortschreibung der Aufgaben- m) Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, planung der Deutschen Welle 2007 bis (Bayreuth), Joachim Günther 2010 mit Perspektiven für 2010 bis 2013 (Plauen), weiterer Abgeordneter und der und Fraktion der FDP: Verkehrsschilder re- Zwischenevaluation 2008 duzieren – Verkehrssicherheit bewah- (Drucksache 16/11836) ...... 22762 C ren (Drucksache 16/10612) ...... 22761 C d) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung zur Mit- n) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton nahmefähigkeit von beamten- und sol- Hofreiter, , Peter Hettlich, datenrechtlichen Versorgungsanwart- weiterer Abgeordneter und der Fraktion schaften BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mehr Si- (Drucksache 16/12036) ...... 22762 C cherheit auf deutschen Straßen – Mas- terplan Vision Zero (Drucksache 16/11212) ...... 22761 D Tagesordnungspunkt 40: o) Antrag der Abgeordneten Patrick Döring, Angelika Brunkhorst, Hans-Michael a) Zweite und dritte Beratung des von den Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Fraktion der FDP: Ausbauziele der Off- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach- shore-Windenergie nicht gefährden – ten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Raumordnungsplanung des Bundes rung der Strafprozessordnung – Erwei- überarbeiten terung des Beschlagnahmeschutzes bei (Drucksache 16/11214) ...... 22761 D Abgeordneten (Drucksachen 16/10572, 16/12314) . . . . . 22762 D p) Antrag der Abgeordneten Winfried Hermann, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer b) Zweite Beratung und Schlussabstimmung Abgeordneter und der Fraktion BÜND- des von der Bundesregierung eingebrach- NIS 90/DIE GRÜNEN: Bahnstrom auf ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabili- erneuerbare Energien umstellen sierungs- und Assoziierungsabkommen (Drucksache 16/11930) ...... 22761 D zwischen den Europäischen Gemein- IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

schaften und ihren Mitgliedstaaten ei- Tagesordnungspunkt 6: nerseits und der Republik Montenegro Erste Beratung des von der Bundesregierung andererseits eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur (Drucksachen 16/12064, 16/12305) . . . . . 22763 A verbesserten steuerlichen Berücksichtigung c) Beschlussempfehlung und Bericht des von Vorsorgeaufwendungen (Bürgerentlas- Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und tungsgesetz Krankenversicherung) Reaktorsicherheit zu der Verordnung der (Drucksache 16/12254) ...... 22778 D Bundesregierung: Zweite Verordnung Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin zur Änderung der Altfahrzeug-Verord- BMF ...... 22779 A nung (Drucksachen 16/12106, 16/12181, Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 22779 D 16/12313) ...... 22763 B Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 22781 B d) – j) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 22783 A Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ schusses: Sammelübersichten 536, 537, DIE GRÜNEN) ...... 22784 A 538, 539, 540, 541 und 542 zu Petitionen (Drucksachen 16/12123, 16/12124, Gabriele Frechen (SPD) ...... 22784 D 16/12125, 16/12126, 16/12127, 16/12128, Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 22785 B 16/12129) ...... 22763 C Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 22786 C Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 22787 A Zusatztagesordnungspunkt 3: (CDU/CSU) ...... 22788 A Antrag der Bundesregierung: Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bundesre- Tagesordnungspunkt 7: gierung Erste Beratung des von den Fraktionen der (Drucksache 16/12282) ...... 22764 B CDU/CSU und der SPD eingebrachten Ent- wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Opferentschädigungsgesetzes (Drucksache 16/12273) ...... 22789 B Zusatztagesordnungspunkt 4: Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion BMAS ...... 22789 C der FDP: Umsetzung des Beschlusses der EU in Deutschland für einen ermäßigten Jörg van Essen (FDP) ...... 22790 C Mehrwertsteuersatz auf Dienstleistungen 22764 B Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) ...... 22791 C (FDP) ...... 22764 C Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) ...... 22765 C (CDU/CSU) ...... 22792 A Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 22766 D Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 22793 A Lydia Westrich (SPD) ...... 22767 D Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/CSU) ...... 22793 D Dr. (BÜNDNIS 90/ (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22769 A DIE GRÜNEN) ...... 22794 A Manfred Kolbe (CDU/CSU) ...... 22770 A (SPD) ...... 22795 A Dr. (FDP) ...... 22771 B (CDU/CSU) ...... 22796 A Gabriele Frechen (SPD) ...... 22772 C Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22796 B Klaus Brähmig (CDU/CSU) ...... 22773 D Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin BMF ...... 22774 D Tagesordnungspunkt 8: (CDU/CSU) ...... 22776 B a) Antrag der Abgeordneten (Münster), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad Simone Violka (SPD) ...... 22777 C Schily, weiterer Abgeordneter und der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 V

Fraktion der FDP: Moratorium für die – zu dem Antrag der Abgeordneten elektronische Gesundheitskarte Irmingard Schewe-Gerigk, (Drucksache 16/11245) ...... 22797 C (Köln), Britta Haßelmann, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ b) Antrag der Abgeordneten , DIE GRÜNEN: Durchsetzung der Ent- Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald Terpe, geltgleichheit von Frauen und Män- weiterer Abgeordneter und der Fraktion nern – Gleicher Lohn für gleichwertige BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Recht Arbeit auf informationelle Selbstbestimmung bei der Einführung der elektronischen – zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, Gesundheitskarte gewährleisten , Miriam Gruß, weiterer (Drucksache 16/12289) ...... 22797 C Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit – Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 22797 D Für eine tatsächliche Chancengleichheit von Frauen und Männern Dr. (CDU/CSU) ...... 22799 A – zu dem Antrag der Abgeordneten Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 22800 D Dr. Barbara Höll, Dr. , , weiterer Abgeordneter und Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin der Fraktion DIE LINKE: Entgeltgleich- BMG ...... 22801 C heit zwischen den Geschlechtern wirk- Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 22802 B sam durchsetzen Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 22803 B (Drucksachen 16/8784, 16/11175, 16/11192, 16/12265) ...... 22814 A Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Dr. Eva Möllring (CDU/CSU) ...... 22814 B DIE GRÜNEN) ...... 22803 D Ina Lenke (FDP) ...... 22815 C Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22804 C Renate Gradistanac (SPD) ...... 22816 D Eike Hovermann (SPD) ...... 22805 C Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 22817 D Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22818 D Tagesordnungspunkt 9: Ingrid Fischbach (CDU/CSU) ...... 22819 D – Zweite und dritte Beratung des von den Sönke Rix (SPD) ...... 22821 A Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fortführung der Gesetzeslage 2006 bei der Entfernungspauschale Tagesordnungspunkt 11: (Drucksachen 16/12099, 16/12299) . . . . . 22806 D a) Erste Beratung des von den Abgeordneten – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß Dr. Carola Reimann, Detlef Parr, Frank § 96 der Geschäftsordnung Spieth und weiteren Abgeordneten einge- (Drucksache 16/12302) ...... 22807 A brachten Entwurfs eines Gesetzes zur diamorphingestützten Substitutionsbe- (SPD) ...... 22807 A handlung Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 22808 D (Drucksache 16/11515) ...... 22822 A (CDU/CSU) ...... 22810 A b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes über Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 22811 A die diamorphingestützte Substitutions- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ behandlung DIE GRÜNEN) ...... 22812 A (Drucksache 16/7249) ...... 22822 B Dr. h. c. (CDU/CSU) . . . . . 22812 D c) Antrag der Abgeordneten , Maria Eichhorn, Dr. Hans Georg Faust und weiterer Abgeordneter: Ausstiegsori- entierte Drogenpolitik fortführen – Tagesordnungspunkt 10: Künftige Optionen durch ein neues Modellprojekt zur heroingestützten Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Substitutionsbehandlung Opiatabhängi- schusses für Familie, Senioren, Frauen und ger evaluieren Jugend (Drucksache 16/12238) ...... 22822 B VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 22822 C den Bundesbeauftragten für den Daten- schutz und die Informationsfreiheit: Tä- Detlef Parr (FDP) ...... 22823 D tigkeitsbericht 2005 und 2006 des Bun- Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 22825 A desbeauftragten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BÜNDNIS 90/ – 21. Tätigkeitsbericht – DIE GRÜNEN) ...... 22826 C (Drucksachen 16/4950, 16/12271) ...... 22839 C Marion Caspers-Merk (SPD) ...... 22827 B (CDU/CSU) ...... 22839 D Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 22828 A Gisela Piltz (FDP) ...... 22841 C Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ Manfred Zöllmer (SPD) ...... 22843 A DIE GRÜNEN) ...... 22829 A (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22843 D Dr. Stephan Eisel (CDU/CSU) ...... 22829 D Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 22844 C Sabine Bätzing (SPD) ...... 22830 C Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) . . . . 22831 A Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 22831 B Tagesordnungspunkt 14: Jens Spahn (CDU/CSU) ...... 22832 B a) Antrag der Abgeordneten Horst Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, Sabine Bätzing (SPD) ...... 22832 D weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Mobilfunkforschung verant- Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ wortlich begründen DIE GRÜNEN) ...... 22833 A (Drucksache 16/10325) ...... 22846 A b) Antrag der Abgeordneten Lutz Heilmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. , Zusatztagesordnungspunkt 5: weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mobilfunkstrahlung mini- Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, mieren – Vorsorge stärken , Ulrike Höfken, weiterer Abge- (Drucksache 16/9485) ...... 22846 A ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Horst Meierhofer (FDP) ...... GRÜNEN: Finanzumsatzsteuer auf EU- 22846 B Ebene einführen (CDU/CSU) ...... 22847 D (Drucksache 16/12303) ...... 22833 C Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 22849 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Detlef Müller (Chemnitz) (SPD) ...... 22850 B DIE GRÜNEN) ...... 22833 C Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ Nina Hauer (SPD) ...... 22834 C DIE GRÜNEN) ...... 22852 A Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22835 A Frank Schäffler (FDP) ...... 22836 A Tagesordnungspunkt 15: (CDU/CSU) ...... 22837 A Antrag der Abgeordneten Christian Freiherr von Stetten, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), (DIE LINKE) ...... 22838 B , weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Michael Bürsch, , Klaas Hübner, weiterer Abgeordneter und der Tagesordnungspunkt 13: Fraktion der SPD: Faire Wettbewerbsbedin- gungen für Öffentlich Private Partner- a) Erste Beratung des von der Bundesregie- schaften schaffen rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- (Drucksache 16/12283) ...... 22853 A zes zur Regelung des Datenschutzaudits und zur Änderung datenschutzrechtli- cher Vorschriften (Drucksache 16/12011) ...... 22839 B Tagesordnungspunkt 16: b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- nenausschusses zu der Unterrichtung durch wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 VII geordneten Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, b) Antrag der Abgeordneten Frank Schäffler, Hüseyin-Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter Hans-Michael Goldmann, Dr. Hermann und der Fraktion DIE LINKE: Pakistan und Otto Solms, weiterer Abgeordneter und Afghanistan stabilisieren – Für eine zen- der Fraktion der FDP: Reform der Anle- tralasiatische regionale Sicherheitskonfe- gerentschädigung in Deutschland renz (Drucksache 16/11458) ...... 22863 A (Drucksachen 16/10845, 16/11249) ...... 22853 C c) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Nicole Maisch, Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm, weiterer Abge- Tagesordnungspunkt 17: ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Zweite und dritte Beratung des von der Bun- DIE GRÜNEN: Verbraucherschutz auf desregierung eingebrachten Entwurfs eines … den Finanzmärkten stärken Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbu- (Drucksachen 16/11205, 16/12184) . . . . . 22863 A ches – Anhebung der Höchstgrenze des Ta- gessatzes bei Geldstrafen (Drucksachen 16/11606, 16/12143) ...... 22853 D Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Michael Kauch, Joachim Günther (Plauen), Horst Meierhofer, Tagesordnungspunkt 18: weiterer Abgeordneter und der Fraktion der a) Große Anfrage der Abgeordneten Josef FDP: Nachtstromspeicherheizungen nicht Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Kai verbieten, sondern modernisieren – Chan- Gehring, weiterer Abgeordneter und der cen für erneuerbare Energien und für den Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Klimaschutz nutzen Situation in deutschen Abschiebehaft- (Drucksache 16/11193) ...... 22863 C anstalten Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) ...... 22863 D (Drucksachen 16/9142, 16/11384) ...... 22854 B Rainer Fornahl (SPD) ...... 22864 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- Michael Kauch (FDP) ...... 22866 A ordneten Sevim Dağdelen, Wolfgang Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... Nešković, , weiterer Abgeordne- 22866 D ter und der Fraktion DIE LINKE: Grund- Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ sätzliche Überprüfung der Abschie- DIE GRÜNEN) ...... 22867 C bungshaft, ihrer rechtlichen Grundlagen und der Inhaftierungspraxis in Deutsch- land (Drucksachen 16/3537, 16/12020) ...... 22854 B Tagesordnungspunkt 21: Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Erste Beratung des von der Bundesregierung DIE GRÜNEN) ...... 22854 C eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Sicherheit in der Informa- (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . 228000055 AC tionstechnik des Bundes Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 22856 C (Drucksachen 16/11967, 16/12225) ...... 22868 C Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 22858 A Gisela Piltz (FDP) ...... 22868 C Rüdiger Veit (SPD) ...... 22859 B Henry Nitzsche (fraktionslos) ...... 22861 A Tagesordnungspunkt 22: Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 22862 A Antrag der Abgeordneten Dr. , Monika Knoche, Heike Hänsel, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Öf- fentlich finanzierte Pharmainnovationen Tagesordnungspunkt 19: zur wirksamen Bekämpfung von vernach- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung lässigten Krankheiten in den Entwick- eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur lungsländern einsetzen Änderung des Einlagensicherungs- und (Drucksache 16/12291) ...... 22870 A Anlegerentschädigungsgesetzes und an- (CDU/CSU) ...... 22870 A derer Gesetze (Drucksache 16/12255) ...... 22863 A René Röspel (SPD) ...... 22871 B VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. (SPD) ...... 22872 D Dr. (DIE LINKE) ...... 22888 B Dr. (FDP) ...... 22874 A Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22889 B Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) ...... 22874 D , Parl. Staatssekretär Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ BMG ...... 22890 A DIE GRÜNEN) ...... 22876 A

Tagesordnungspunkt 26: Tagesordnungspunkt 23: Erste Beratung des von den Abgeordneten Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, schusses für Familie, Senioren, Frauen und Birgitt Bender, weiteren Abgeordneten und Jugend zu dem Antrag der Fraktionen der der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN CDU/CSU und der SPD: Bürgerschaftliches eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Engagement umfassend fördern, gestalten Ergänzung des Lebenspartnerschaftsgeset- und evaluieren zes und anderer Gesetze im Bereich des (Drucksachen 16/11774, 16/12202) ...... 22877 A Adoptionsrechts (LPartGErgG AdoptR) Markus Grübel (CDU/CSU) ...... 22877 B (Drucksache 16/5596) ...... 22891 C Sönke Rix (SPD) ...... 22878 B Daniela Raab (CDU/CSU) ...... 22891 C Sibylle Laurischk (FDP) ...... 22879 A (SPD) ...... 22892 A Elke Reinke (DIE LINKE) ...... 22879 C Jörg van Essen (FDP) ...... 22892 D Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 22893 C DIE GRÜNEN) ...... 22880 C Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22894 B

Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Dr. Thea Dückert, Tagesordnungspunkt 27: Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Wolfgang Strengmann- Erste Beratung des von der Bundesregierung Kuhn, weiterer Abgeordneter und der eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Um- Anordnung des Zensus 2011 sowie zur Än- weltberichterstattung in die Gemeinschafts- derung von Statistikgesetzen diagnose und Begutachtung der gesamtwirt- (Drucksache 16/12219) ...... 22895 B schaftlichen Entwicklung aufnehmen (Drucksache 16/11649) ...... 22881 A Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU) ...... 22895 B Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) ...... 22881 B Maik Reichel (SPD) ...... 22896 C Dr. (SPD) ...... 22882 B Gisela Piltz (FDP) ...... 22897 C Gudrun Kopp (FDP) ...... 22883 A Petra Pau (DIE LINKE) ...... 22898 C Dr. Herbert Schui (DIE LINKE) ...... 22883 C Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/ Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22898 D DIE GRÜNEN) ...... 22884 A

Tagesordnungspunkt 28: Tagesordnungspunkt 25: a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Erste Beratung des von der Bundesregierung CDU/CSU und der SPD eingebrachten eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Änderung arzneimittelrechtlicher und an- des Grundgesetzes (Artikel 87 d) derer Vorschriften (Drucksache 16/12280) ...... 22899 C (Drucksache 16/12256) ...... 22884 D b) Erste Beratung des von den Fraktionen der Dr. (CDU/CSU) ...... 22885 A CDU/CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung Dr. Marlies Volkmer (SPD) ...... 22886 C luftverkehrsrechtlicher Vorschriften Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 22887 C (Drucksache 16/12279) ...... 22899 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 IX c) Erste Beratung des von der Bundesregie- Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) ...... 22917 D rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Errichtung eines Bundesauf- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ sichtsamtes für Flugsicherung und zur DIE GRÜNEN) ...... 22918 B Änderung und Anpassung weiterer Vorschriften (Drucksache 16/11608) ...... 22899 D Tagesordnungspunkt 39: (CDU/CSU) ...... 22900 A e) Erste Beratung des von der Bundesregie- Norbert Königshofen (CDU/CSU) ...... 22900 C rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Gesetzes zur Er- (SPD) ...... 22901 B richtung einer „Stiftung Denkmal für (SPD) ...... 22902 B die ermordeten Juden Europas“ (Drucksache 16/12230) ...... 22919 B Jan Mücke (FDP) ...... 22903 B Dorothée Menzner (DIE LINKE) ...... 22904 C Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ Zusatztagesordnungspunkt 6: DIE GRÜNEN) ...... 22905 D Antrag der Abgeordneten Volkmar Uwe Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär Vogel, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. BMVBS ...... 22906 D Lippold, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ernst Kranz, Petra Weis, Sören Bartol, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Tagesordnungspunkt 29: Programm „Stadtumbau Ost“ – Fortset- zung eines Erfolgsprogramms Erste Beratung des von der Bundesregierung (Drucksache 16/12284) ...... 22919 C eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition Nächste Sitzung ...... 22919 D (Drucksache 16/12226) ...... 22908 B Hans Raidel (CDU/CSU) ...... 22908 C Andreas Weigel (SPD) ...... 22910 B Anlage 1 (FDP) ...... 22911 C Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 22921 A Inge Höger (DIE LINKE) ...... 22912 C

Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ Anlage 2 DIE GRÜNEN) ...... 22913 B Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung: – Entwurf eines Gesetzes zur Regelung des Tagesordnungspunkt 30: Datenschutzaudits und zur Änderung da- tenschutzrechtlicher Vorschriften a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur – Beschlussempfehlung und Bericht zu der Neuregelung der abfallrechtlichen Pro- Unterrichtung: Tätigkeitsbericht 2005 und duktverantwortung für Batterien und 2006 des Bundesbeauftragten für den Da- Akkumulatoren tenschutz und die Informationsfreiheit (Drucksachen 16/12227, 16/12301) . . . . . 22914 D – 21. Tätigkeitsbericht – b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- (Tagesordnungspunkt 13 a und b) Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weite- Petra Pau (DIE LINKE) ...... 22921 C rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Schadstoffbelas- tung durch Batterien begrenzen (Drucksache 16/11917) ...... 22914 D Anlage 3 Michael Brand (CDU/CSU) ...... 22915 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung (SPD) ...... 22916 B des Antrags: Faire Wettbewerbsbedingungen für Öffentlich Private Partnerschaften schaf- Horst Meierhofer (FDP) ...... 22917 B fen (Tagesordnungspunkt 15) X Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Ole Schröder (CDU/CSU) ...... 22922 A – Antrag: Reform der Anlegerentschädi- gung in Deutschland Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) ...... 22923 A – Beschlussempfehlung und Bericht: Ver- braucherschutz auf den Finanzmärkten Dr. Michael Bürsch (SPD) ...... 22923 C stärken Ulrike Flach (FDP) ...... 22924 D (Tagesordnungspunkt 19 a bis c) Ulla Lötzer (DIE LINKE) ...... 22925 A Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) ...... 22936 D (BÜNDNIS 90/ Jörg-Otto Spiller (SPD) ...... 22937 C DIE GRÜNEN) ...... 22925 D Frank Schäffler (FDP) ...... 22938 A Dr. (DIE LINKE) ...... 22938 C Anlage 4 Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung DIE GRÜNEN) ...... 22939 B der Beschlussempfehlung und des Berichts: Pakistan und Afghanistan stabilisieren – Für eine zentralasiatische regionale Sicherheits- konferenz (Tagesordnungspunkt 16) Anlage 7 Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 22926 A Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Detlef Dzembritzki (SPD) ...... 22927 D Sicherheit in der Informationstechnik des Bundes (Tagesordnungspunkt 21) Hellmut Königshaus (FDP) ...... 22929 C Clemens Binninger (CDU/CSU) ...... 22940 D Dr. (DIE LINKE) ...... 22930 C Frank Hofmann (Volkach) (SPD) ...... 22942 A Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22931 B Petra Pau (DIE LINKE) ...... 22942 D Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22943 B Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines ... Gesetzes zur Änderung Anlage 8 des Strafgesetzbuches – Anhebung der Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Höchstgrenze des Tagessatzes bei Geldstrafen des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung (Tagesordnungspunkt 17) des Gesetzes zur Errichtung einer „Stiftung Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ (CDU/CSU) ...... 22932 B (Tagesordnungspunkt 39 e) Dr. (SPD) ...... 22933 A Monika Grütters (CDU/CSU) ...... 22944 A Jörg van Essen (FDP) ...... 22933 C Dr. h. c. (SPD) ...... 22946 A Ulrich Maurer (DIE LINKE) ...... 22934 C Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP) . . . . . 22946 C Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Petra Pau (DIE LINKE) ...... 22947 B DIE GRÜNEN) ...... 22935 A Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär DIE GRÜNEN) ...... 22947 C BMJ ...... 22935 C

Anlage 9 Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: des Antrags: Programm „Stadtumbau Ost“ – Fortsetzung eines Erfolgsprogramms (Zusatz- – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des tagesordnungspunkt 6) Einlagensicherungs- und Anlegerentschä- digungsgesetzes und anderer Gesetze Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU) ...... 22947 D Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 XI

Ernst Kranz (SPD) ...... 22948 D (DIE LINKE) ...... 22951 C Joachim Günther (Plauen) Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/ (FDP) ...... 22950 C DIE GRÜNEN) ...... 22953 A

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22711

(A) (C) Redetext

211. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Überweisungsvorschlag: Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich Ihnen ei- c)Beratung der Unterrichtung durch die Deutsche nige Änderungen in der Tagesordnung mitteilen und da- Welle vor noch einen kurzen Wahlvorgang durchführen. Auf Vorschlag der SPD-Fraktion soll der Kollege Zweite Fortschreibung der Aufgabenpla- Dr. Carl-Christian Dressel anstelle des Kollegen nung der Deutschen Welle 2007 bis 2010 mit Dr. Hans-Ulrich Krüger Mitglied im Gremium nach Perspektiven für 2010 bis 2013 Art. 13 Abs. 6 des Grundgesetzes werden. Sind Sie da- und mit einverstanden? – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist der Kollege Dressel zum Mitglied dieses Gremiums Zwischenevaluation 2008 (B) gewählt. (D) – Drucksache 16/11836 – Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Überweisungsvorschlag: dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- Ausschuss für Kultur und Medien (f) geführten Punkte zu erweitern: Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen Entwicklung der CDU/CSU und der SPD: Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Kinder, Jugendliche, Familien stärken – Kon- sequenzen nach dem Amoklauf d)Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- (siehe 210. Sitzung) regierung ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Bericht der Bundesregierung zur Mitnah- fahren mefähigkeit von beamten- und soldaten- (Ergänzung zu TOP 39) rechtlichen Versorgungsanwartschaften a)Erste Beratung des von der Bundesregierung – Drucksache 16/12036 – eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Überweisungsvorschlag: Regelung der Verständigung im Strafverfah- Innenausschuss (f) ren Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss – Drucksache 16/12310 – Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuss Rechtsausschuss (f) Innenausschuss ZP 3 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus- sprache b)Beratung des Antrags der Abgeordneten (Ergänzung zu TOP 40) Dr. , Rainer Brüderle, Carl-Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter Beratung des Antrags der Bundesregierung und der Fraktion der FDP Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit Maßnahmen zur effektiven Regulierung der zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bun- Finanzmärkte desregierung – Drucksache 16/10876 – – Drucksache 16/12282 – 22712 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) ZP 4 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der Antrag der Abgeordneten Horst Meierhofer, (C) FDP: Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Umsetzung des Beschlusses der EU in Deutschland für einen ermäßigten Mehrwert- Verfahren vereinfachen, Bürger entlasten, steuersatz auf Dienstleistungen Rechtssicherheit schaffen – Notwendige Be- dingungen für die Sinnhaftigkeit eines Pro- ZP 5Beratung des Antrags der Abgeordneten jekts „Umweltgesetzbuch“ Dr. Gerhard Schick, Kai Gehring, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- – Drucksachen 16/9113, 16/10393 – NIS 90/DIE GRÜNEN Berichterstattung: Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen Abgeordnete (Konstanz) – Drucksache 16/12303 – Dr. Horst Meierhofer Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Lutz Heilmann Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Sylvia Kotting-Uhl Haushaltsausschuss ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volkmar richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Uwe Vogel, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten W. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Frak- Dr. Heinrich L. Kolb, Dr. Karl Addicks, Christian tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ahrendt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ernst Kranz, Petra Weis, Sören Bartol, weiterer der FDP Abgeordneter und der Fraktion der SPD Flexibler Eintritt in die Rente bei Wegfall der Programm „Stadtumbau Ost“ – Fortsetzung Zuverdienstgrenzen eines Erfolgsprogramms – Drucksachen 16/8542, 16/12311 – – Drucksache 16/12284 – Überweisungsvorschlag: Berichterstattung: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Abgeordneter Anton Schaaf Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie ZP 11 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (B) gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes (D) Haushaltsausschuss zur Änderung des Lebensmittel- und Futter- ZP 7Beratung des Antrags der Abgeordneten mittelgesetzbuches sowie anderer Vorschriften , Sabine Leutheusser- Schnarrenberger, Dr. Hermann Otto Solms, wei- – Drucksache 16/8100 – terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Notleidenden Unternehmen Sanierungschan- ses für Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau- cen durch effizientere Gestaltung der gesetz- cherschutz (10. Ausschuss) lichen Regelungen im Insolvenzplanverfahren – Drucksache 16/12315 – geben Berichterstattung: – Drucksache 16/12285 – Abgeordnete Franz-Josef Holzenkamp Überweisungsvorschlag: Dr. Marlies Volkmer Rechtsausschuss (f) Finanzausschuss Hans-Michael Goldmann Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Haushaltsausschuss Ulrike Höfken ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner Dabei soll wie immer von der Frist für den Beginn der Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Dagmar Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Enkelmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- Der ursprünglich ohne Debatte vorgesehene Tagesord- tion DIE LINKE. nungspunkt 39 e soll nach dem Tagesordnungspunkt 30 Sicherheit und Zukunft – Initiative für ein so- aufgerufen werden. Die Tagesordnungspunkte 12 und zial gerechtes Antikrisenprogramm 31 c werden abgesetzt. – Drucksache 16/12292 – Schließlich mache ich auf drei nachträgliche Aus- schussüberweisungen im Anhang zur Zusatzpunktliste Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) aufmerksam: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages ZP 9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz lich dem Ausschuss für Wirtschaft und Technologie und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem (9. Ausschuss) zur Mitberatung überwiesen werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22713

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung er- (C) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Moder- hält nun die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel. nisierung von Verfahren im patentanwaltli- chen Berufsrecht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

– Drucksache 16/12061 – Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: überwiesen: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aus- Rechtsausschuss (f) wirkungen der Finanzmarktkrise haben die Weltwirt- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie schaft – wir spüren das jeden Tag – mittlerweile voll er- Der in der 208. Sitzung des Deutschen Bundestages fasst. Überall gehen Investitionen und Produktion überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem zurück. Die Arbeitslosigkeit steigt. Der Internationale Verteidigungsausschuss (12. Ausschuss) zur Mitbera- Währungsfonds und die Weltbank erwarten für dieses tung überwiesen werden. Jahr bestenfalls weltweit eine Stagnation, wahrschein- lich sogar einen Rückgang der Weltwirtschaftsleistung. Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Von dieser Entwicklung sind alle Wirtschaftsräume der Steenblock, Jürgen Trittin, , wei- Welt betroffen. Kein Land kann sich davon abkoppeln. terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dies stärkt eben auch das Bewusstsein für die Notwen- NIS 90/DIE GRÜNEN digkeit gemeinsamer Antworten. Zwei Jahre Europa-Vereinbarung – Bundesre- Das Motto heißt also Kooperation statt Abschottung. gierung muss ihre Verpflichtungen unverzüg- Das ist der einzige Weg, wieder zu Wachstum und zu lich vollständig erfüllen Beschäftigung zu kommen. Wir alle erleben in unseren – Drucksache 16/12109 – internationalen Kontakten, dass diese Erkenntnis Schritt überwiesen: für Schritt Eingang in konkretes Handeln findet. Dies Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) war so bei den Gipfeltreffen der vergangenen Wochen Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und und Monate, und ich hoffe, dies wird auch bei dem an- Geschäftsordnung stehenden EU-Gipfel heute und morgen und bei dem Rechtsausschuss Verteidigungsausschuss G-20-Gipfel am 1. und 2. April in London so sein. Der in der 202. Sitzung des Deutschen Bundestages Die Bundesregierung setzt sich mit aller Kraft dafür überwiesene nachfolgende Antrag soll zusätzlich dem ein, diese Chance zum gemeinsamen Handeln zu nutzen. Ausschuss für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss) zur Wir müssen dabei zwei Fragen in den Mittelpunkt stel- len. Erste Frage: Wie können wir unsere nationalen Mitberatung überwiesen werden. (D) (B) Maßnahmen zur Bekämpfung der Wirtschafts- und Fi- Beratung des Antrags der Abgeordneten nanzkrise noch besser abstimmen und bündeln, damit Dr. Hakki Keskin, Monika Knoche, Hüseyin- die in den einzelnen Staaten getroffenen Maßnahmen Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der sich nicht gegenseitig behindern, sondern befördern; an Fraktion DIE LINKE welchen Stellen benötigen wir dazu gemeinsame europäi- Gewerkschaften in der Türkei stärken sche Regeln; gibt es gemeinsame europäische Projekte, die wir jetzt vorziehen oder zusätzlich durchführen kön- – Drucksache 16/11248 – nen, die uns in Europa hinsichtlich unserer Innovations- überwiesen: kraft wirklich voranbringen? Genau darüber werden wir Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) heute und morgen sprechen. Das Motto des Rates muss Auswärtiger Ausschuss und sollte lauten: Wir meistern die Krise gemeinsam, Ausschuss für Arbeit und Soziales und wir legen in dieser Krise den Grund, um aus ihr als Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Europäische Union dauerhaft gestärkt hervorzugehen. Auch hier stelle ich Einvernehmen fest. Dann ist das so beschlossen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 auf: Die zweite Frage, die wir behandeln, ist: Was müssen wir tun, um zu verhindern, dass eine solche Krise sich in Abgabe einer Regierungserklärung durch die Zukunft wiederholt? Dieses Thema kann nur im globa- Bundeskanzlerin len Zusammenhang betrachtet werden. Deshalb wird es zum Europäischen Rat am 19./20. März 2009 im Vordergrund des zweiten Weltfinanzgipfels Anfang April in London stehen. in Brüssel und zum G-20-Gipfel am 2. April 2009 in London Es gibt beim Europäischen Rat weitere Themen, von Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion denen ich heute nur eines kurz anreißen möchte, nämlich Die Linke sowie zwei Entschließungsanträge der Frak- die Aussagen zur Vorbereitung der Klimakonferenz in tion Bündnis 90/Die Grünen vor. Kopenhagen. Wir haben neben den Finanz- und Wirt- schaftsmaßnahmen in diesem Jahr einen entscheidenden Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für internationalen Schritt zu meistern: die Erarbeitung eines die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä- Post-Kioto-Abkommens, also eines Folgeabkommens rung 90 Minuten vorgesehen. – Darüber besteht offen- für das Kioto-Protokoll. Die entsprechende Konferenz kundig Einvernehmen und ist damit so beschlossen. wird Ende des Jahres in Kopenhagen stattfinden. Aber 22714 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) schon heute ist absehbar, dass wir sowohl den Gipfel in Wir können dies selbstbewusst sagen und deutlich ma- (C) London als auch das G-8- und G-5-Treffen – also das chen; das halte ich für ganz wichtig. Treffen der G 13, Stichwort: Heiligendamm-Prozess – (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) im Sommer nutzen müssen, um die Weichen zu stellen, damit die Umweltminister Ende des Jahres auch wirklich Unsere Maßnahmen fügen sich in das ein, was die Eu- zu belastbaren Ergebnissen kommen. An diesem Punkt ropäische Kommission vorgegeben hat. Sie sind Anreize wird sich genauso wie an der Frage einer Finanzmarkt- für zusätzliche Investitionen in Bildung und Forschung, architektur zeigen, ob die Welt bereit ist, auf die globa- in Infrastruktur und in Klimaschutz. Wir helfen Unter- len Fragen auch globale Antworten zu geben. nehmen, die aufgrund der Finanzmarktkrise keine Kre- dite bekommen, mit unserem Bürgschaftsprogramm. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wir stärken die private Nachfrage durch eine Senkung von Steuern und Abgaben, und wir sichern Beschäfti- Ich füge hinzu, dass Europa sich seiner Aufgabe be- gung, zum Beispiel durch die Verlängerung der Bezugs- wusst ist, hier eine Führungsrolle einzunehmen. Ich will dauer von Kurzarbeitergeld. Das ist im Übrigen ein Mo- allerdings auch sagen, dass wir unser Licht nicht dau- dell, das jetzt in vielen europäischen Staaten ernd unter den Scheffel stellen sollten. Die Europäische Nachahmung findet, weil es eine wirkliche Brücken- Union ist die einzige Staatengruppe, die klare Zusagen funktion im Zusammenhang mit der Krise erfüllt. Wir gemacht hat, was die Reduktionsziele anbelangt. Wir erleben das jeden Tag in Deutschland. sind natürlich bereit, den Entwicklungsländern in Fragen des Klimaschutzes zu helfen. Aber schon jetzt alle An- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) gaben zu machen, bevor zum Beispiel die Vereinigten Wir folgen damit auch komplett der sogenannten Lissa- Staaten von Amerika überhaupt ein Ziel für die mittlere bon-Strategie, also der Wachstumsstrategie der Europäi- Sicht – sagen wir für 2020 – erarbeitet haben, das halte schen Union, die traditionell Gegenstand der Beratungen ich verhandlungstaktisch für falsch. Wir können als Eu- des Frühjahrsrates ist. ropäer das Problem nicht alleine lösen, aber wir wollen Vorreiter sein; das sage ich hier zu. Elemente unserer Strategie sind Maßnahmen zur För- derung der Innovationsfähigkeit und zum Bürokratieab- Meine Damen und Herren, das Zusammenwachsen bau, der in Europa glücklicherweise vorankommt, sowie der europäischen Volkswirtschaften im gemeinsamen weitere Schritte auf dem Weg zur kohlenstoffarmen Binnenmarkt ist die entscheidende Grundlage für Wohl- Wirtschaft. Über zusätzliche Anreize durch gemeinsame stand und Wachstum unseres Kontinents. Jeder Mitglied- europäische Projekte werden wir auf diesem Rat disku- staat handelt heute mit all seinen EU-Partnern mehr als tieren. Deutschland hat allerdings deutlich gemacht, dass mit allen anderen Ländern außerhalb der Europäischen wir – wir werden nur zustimmen, wenn dies Eingang in (B) Union. Die natürliche Folge ist, dass wir aufs Engste die Beschlüsse findet – zusätzliche Maßnahmen nur ak- (D) verflochten sind und dass sich jede Maßnahme in einem zeptieren können, wenn sie 2009 oder 2010 wirklich Land natürlich sofort auf die Situation in allen anderen substanziell begonnen werden; denn es macht keinen Mitgliedstaaten auswirkt. Sinn, Geld für die Jahre 2013, 2014 oder 2015 auszuge- ben, weil die Krise dann – davon gehen wir aus – längst Deshalb ist es zwingend notwendig, dass wir uns seit überwunden sein wird. Das muss sicher sein. Dafür tre- Beginn der Krise laufend und intensiv im Kreis der Mit- ten wir ein. gliedstaaten – bei den Finanzministern, bei den Außen- ministern, auf der Ebene der Staats- und Regierungs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- chefs – abstimmen. Der französische Präsident und ich neten der SPD) hatten deshalb Anfang März zu einem Sondertreffen ein- Es geht darum, dass wir jetzt nicht schon wieder die geladen. Es ist richtig, dass wir im Mai noch einmal zu nächsten Konjunkturmaßnahmen fordern. einem Sondertreffen der Europäischen Union zusam- menkommen, um uns über die Beschäftigungschancen (Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr richtig!) in der Krise auszutauschen. Ich halte davon überhaupt nichts. Die jetzigen Maßnah- men müssen wirken; Wir haben beim Rat im Dezember, also beim zurück- liegenden Rat, innerhalb der Mitgliedstaaten mit der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Kommission abgestimmt, dass wir unsere nationalen sie müssen ihre Wirkung entfalten können. Ein Überbie- Konjunkturpakete koordinieren. Die Europäische Union tungswettbewerb von Versprechungen wird mit Sicher- hat für 2009 und 2010 einen Konjunkturimpuls von heit keine Ruhe in die Entwicklung bringen. Deshalb über 400 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, ein- halte ich es für außerordentlich gefährlich, wenn jetzt schließlich der automatischen Stabilisatoren. Das sind transatlantische Gegensätze aufgebaut werden. Ich bin 3,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen dem amerikanischen Präsidenten sehr dankbar dafür, Union. Deutschland hat daran mit 80 Milliarden Euro ei- dass er seinerseits gesagt hat, dass es sich hierbei um nen wesentlichen Anteil. Unser Beitrag ist ausweislich eine künstliche Diskussion handelt. Wir brauchen psy- der Zahlen der Kommission mit 4,7 Prozent des Brutto- chologisch gute Signale von London und keinen Wettbe- inlandsprodukts für die Jahre 2009 und 2010 beziffert. werb um nichtrealisierbare Konjunkturpakete. Wir ha- Das heißt, wir sind in der Spitzengruppe. Wir leisten ben unseren Beitrag jetzt erst einmal geleistet, und der Überdurchschnittliches. Ich finde das richtig, weil wir muss wirken. als Exportnation natürlich ein Interesse daran haben, dass die Weltwirtschaft wieder auf die Beine kommt. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22715

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Deutschland ist in einer guten Lage, weil wir in den schen Rat noch einmal einbringen wird, ist, dass wir si- (C) letzten Jahren unsere Staatsfinanzen konsolidiert haben. cherstellen müssen, dass die prozyklischen Wirkungen Dadurch haben wir haushaltspolitische Spielräume ge- des Basel-II-Abkommens – verständlicher gesagt: die wonnen, um in dieser Krise zu agieren. Es ist ganz wich- Tatsache, dass sich die Kreditbedingungen in der Krise tig, dass wir auf dem Rat, der heute und morgen stattfin- immer weiter verschärfen, wenn eine Branche in einer det, das Signal setzen, dass wir nach der Krise zur schwierigen Situation ist – befristet ausgesetzt werden, nachhaltigen öffentlichen Finanzpolitik zurückkehren. damit wir nicht im Frühjahr oder Sommer in eine Kredit- Das ist aus meiner Sicht und aus Sicht der Bundesregie- klemme geraten, die sozusagen durch Basel II selbst er- rung unbedingt erforderlich, um sicherzustellen, dass zeugt ist. Vertrauen in die Märkte hineinkommt und das Vertrauen der Bürger wächst; es wäre falsch, wenn die Angst vor (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) zukünftigen Steuererhöhungen schon heute das Kon- sumverhalten bestimmen würde. Wir werden sehr dafür kämpfen, das durchzusetzen. Das kann mehr wert sein als manch weiteres Konjunkturpro- Deshalb ist es ein elementarer Fortschritt, dass es in gramm. Ich weise an dieser Stelle darauf hin, dass unsere der Föderalismuskommission II gelungen ist, im Grund- amerikanischen Partner Basel II nie vollständig umge- gesetz eine Schuldenbremse zu verankern, über die wir setzt haben und dass es dadurch einen extremen Wettbe- nächste Woche debattieren werden. Ich möchte mich werbsunterschied gibt. Das können wir uns in der jetzi- ganz herzlich bei Herrn Struck und bei Herrn Oettinger gen Situation nicht leisten. dafür bedanken, dass sie diese Föderalismuskommission zum Erfolg geführt haben. Wir werden ein klares Bekenntnis zum Stabilitäts- und Wachstumspakt abgeben. Wir werden von deut- (Steffen Kampeter [CDU/CSU]: Sehr richtig!) scher Seite die Kommission ermuntern, die öffentlichen Wir hätten vielleicht kein Ergebnis bekommen, wenn die Haushalte in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr sorgfäl- Zeiten ganz normal gewesen wären. Dass wir in dieser tig zu überprüfen und Wert darauf zu legen, dass nach Krise die Kraft aufgebracht haben, diese Maßnahmen zu der Krise ein Ausweg zu soliden Finanzen gefunden vereinbaren, ist etwas, was international sehr wohl regis- wird. Das Beispiel des europäischen Stabilitäts- und triert wird; es findet allerdings auf internationaler Ebene Wachstumspakts zeigt ebenso wie die Regeln des Bin- leider noch nicht so viele Nachahmer, wie ich mir das nenmarktes, dass Europa uns einen gemeinsamen Hand- wünschen würde. Deutschland kann und sollte hierfür lungs- und Orientierungsrahmen bietet, den wir natürlich wirklich werben. nutzen wollen und der uns zu einem kohärenten und ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) meinschaftlichen Verhalten und Handeln bringt. (B) (D) Wir werden uns auf dem Europäischen Rat über die Wir müssen konstatieren, dass einige Mitgliedstaaten verschiedenen Maßnahmen austauschen. Wir werden – nicht nur Unternehmen, nicht nur Banken, sondern noch einmal deutlich machen, dass die Abschottung von auch Mitgliedstaaten – in eine Notsituation geraten sind. Märkten oder die Diskriminierung im europäischen Bin- Diese Mitgliedstaaten können – das haben wir immer nenmarkt kontraproduktive Verhaltensweisen sind – das wieder deutlich gemacht – auf unsere Solidarität zählen. sind die falschen Antworten auf die Krise – und dass es Wir haben uns bereits im Dezember des vergangenen in dieser Krise nicht um Subventionswettläufe gehen Jahres darauf verständigt, dass wir versuchen, die Struk- kann, weil auch das das Vertrauen zerstört. Das heißt, turfonds insbesondere für die mittel- und osteuropäi- wir müssen die grundlegenden Ordnungsprinzipien schen Länder schneller zur Umsetzung zu bringen. einhalten, die glücklicherweise durch die Europäische Auch hier ist die Kommission gefordert, bürokratische Union vorgegeben sind. Die Europäische Kommission Hemmnisse abzubauen. Es liegt nicht immer nur an den ist die Hüterin der Verträge. Die Regeln des europäi- Mitgliedstaaten, sondern zum Teil auch an der Möglich- schen Binnenmarktes haben sich in den vergangenen keit, diese Strukturfonds überhaupt anzuwenden. Den Jahrzehnten bewährt, und sie haben auch in der Krise Mitgliedstaaten, die finanziell in Not geraten sind, wer- Gültigkeit. den wir helfen. Wir haben dies bereits an den Beispielen Allerdings sage ich auch: Die Kommission tut gut da- Ungarn und Lettland gezeigt; wenn es andere Mitglied- ran, wenn auch sie auf diese krisenhafte Situation rea- staaten trifft, wird das auch dort der Fall sein. giert. Das gilt für Bearbeitungszeiträume, und das gilt Wir haben seitens der Bundesregierung verabredet, zum Teil für Lockerungen im Beihilferecht. Ich sage dass wir gemeinsam mit dem Internationalen Währungs- ausdrücklich, dass dies befristet sein sollte. fonds und der Europäischen Entwicklungsbank darüber (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sprechen, wo und wie wir bei der Restrukturierung der NEN]: Telekom!) Bankenlandschaft in den mittel- und osteuropäischen Ländern eventuell Hilfe leisten können. Denn die mittel- Das gilt für Ausschreibungsmöglichkeiten, die beschleu- und osteuropäischen Länder sind für uns ein wichtiger nigt werden müssen. Dabei müssen die Flexibilitätsin- Exportmarkt. Wenn dort die Kreditvergabe und die Fi- strumente, die der Stabilitäts- und Wachstumspakt vor- nanzkreisläufe völlig zum Erliegen kommen, ist das sieht, genutzt werden. nicht nur ein Schaden für diese Länder, sondern dann Ein ganz wesentlicher Punkt, den Deutschland im zeigt sich, dass es auch in unserem Interesse ist, dass wir Ecofin-Rat schon eingebracht hat und auf dem Europäi- dort tätig werden. Deshalb wollen wir durchaus helfen. 22716 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Aber wir müssen – auch in Richtung der Länder, die dem Europäischen Rat noch einmal bekräftigen. Die Fi- (C) sich im Augenblick mit politischen Entscheidungen lei- nanzminister haben erhebliche Vorarbeiten geleistet. Ich der sehr schwer tun – sagen: Die wesentliche Verantwor- glaube, man kann sagen, dass die Fortschritte sichtbar tung liegt bei den Mitgliedstaaten bzw. Ländern, denen sind, dass wir aber noch nicht am Ende dessen sind, was wir helfen. Ich denke, dass wir zum Beispiel in Bezug wir in London erreichen wollen. auf die Ukraine alles unternehmen sollten, damit die not- Wir haben uns darauf verständigt, dass Orte, Akteure wendigen Handlungen dort erfolgen und das Land nicht und Produkte der Transparenz und Überwachung bedür- immer weiter in Schwierigkeiten gerät. fen. Gerade im Hinblick auf Steueroasen sage ich, dass Meine Damen und Herren, neben dem aktuellen Kri- es richtig und unabdingbar ist, Ross und Reiter beim Na- senmanagement werden wir heute und morgen auch be- men zu nennen. Allein diese Androhung hat bereits dazu raten, welche Lehren wir aus der Entstehung der derzei- geführt, dass sich viele Staaten, insbesondere im europäi- tigen Finanz- und Wirtschaftskrise ziehen. Denn es muss schen Raum, zu Wort gemeldet und dazu beigetragen ha- uns gelingen, derartige Krisen in der Zukunft zu vermei- ben, dass die OECD-Standards anerkannt werden. den. Es ist ganz offensichtlich, dass der bisherige Fi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – nanzmarktrahmen nicht mit der Globalisierung der Fi- Dr. Peter Struck [SPD]: Sehr gut, Herr nanzmärkte Schritt gehalten hat. Es gibt dafür eine Steinbrück! – Gegenruf des Abg. Volker Vielzahl von Ursachen: Regelungsdefizite und völlig Kauder [CDU/CSU]: Sehr gut? Das ist ein Rü- falsch gesetzte Anreize. Das alles hat zu einer verhäng- pel! – Gegenruf des Abg. Dr. Peter Struck nisvollen Kettenreaktion geführt, die die gesamte Welt- [SPD]: Das musst du gerade sagen!) wirtschaft in diese Krise gestürzt hat. Zur Wahrheit ge- hört die Tatsache – es macht keinen Sinn, darum Ich hoffe, dass uns in London ein wesentlicher Schritt herumzureden –, dass manche Fehlanreize und Rege- gelingt. Ich glaube, dass wir auf einem guten Weg sind. lungsdefizite zum Teil politisch unterstützt und nicht be- Deutschland wird auf jeden Fall Wert darauf legen kämpft wurden. Die Politik kann sich an dieser Stelle – darüber habe ich neulich auch mit dem französischen nicht herausreden und sagen, dass sie von nichts gewusst Präsidenten gesprochen –, dass auf dem Londoner Gip- hat. fel die Frage „Welche Lehren ziehen wir aus dieser (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Krise?“ in den Mittelpunkt gerückt wird und man sich der SPD) nicht nur mit aktuellen Fragen der Krisenbekämpfung beschäftigt. Das halte ich für sehr wichtig. Deutschland gehörte zu denen, die in diesem Zusam- menhang vieles angemahnt haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (B) (D) (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN) Meine Damen und Herren, wenn wir uns die Ursa- chen dieser Krise vergegenwärtigen, stellen wir fest: In – Auch wenn Sie das nicht zur Kenntnis nehmen wollen, Wahrheit ist sie das Ergebnis langfristiger Entwicklun- ( [CDU/CSU]: Ist auch nicht so gen, die immer wieder zugelassen haben, dass Länder wichtig!) über ihre Verhältnisse gelebt haben. Deshalb halte ich die deutsche Schlussfolgerung, eine Schuldenbremse zu kann ich Ihnen nur sagen, dass es so war. Aber Sie wis- verankern, auch wenn dieser Weg mühevoll wird und sen es offenbar besser. viele schon heute besorgt sind, welche Folgen sie in den Meine Damen und Herren, was die Dimension der nächsten Jahren für unsere Haushalte haben wird, für Krise, die wir derzeit erleben, angeht, stelle ich fest: Es sehr wichtig. geht um nicht mehr und nicht weniger als um den Auf- (Beifall des Abg. Dr. [CDU/ bau einer neuen, noch nicht existierenden internationa- CSU]) len Finanzmarktverfassung. Dies steht auch im Vor- dergrund des G-20-Treffens Anfang April dieses Jahres. Wir können nicht so weitermachen wie bisher und so- zusagen von Krise zu Krise eilen. Wenn wir uns die Ver- Der erste Weltfinanzgipfel im November vergange- gangenheit vor Augen führen, stellen wir fest: Ende der nen Jahres in Washington war ein Meilenstein. Dort 90er-Jahre haben wir eine schwere Asien-Krise erlebt. wurde zum ersten Mal ein Aktionsplan zur Neugestal- Anfang des 21. Jahrhunderts gab es die sogenannte tung der Finanzmärkte verabredet. Dieser Aktionsplan New-Economy-Krise. Jetzt befinden wir uns in einer ist sehr konkret und umfasst knapp 50 Punkte. Wir ha- noch schlimmeren weltweiten Krise. Wir müssen alles ben uns damals darauf geeinigt, den wirtschaftlichen tun – das beschäftigt mich sehr, weil wir darüber kontro- Ordnungsrahmen den globalen Bedingungen anzupassen verse Auseinandersetzungen führen und manchmal viel- und für eine lückenlose Regulierung bzw. Aufsicht der leicht auch als diejenigen dastehen, die nicht bereit sind, Finanzmärkte zu sorgen. so viel auszugeben wie andere –, damit wir nicht gera- dezu gesetzmäßig in die nächste Krise laufen. Wir haben Der Londoner Gipfel wird natürlich ein Stück weit als inzwischen drei große Krisen erlebt. Wenn die Mensch- Beweis dafür dienen, ob wir wirklich in der Lage sind, heit daraus nicht die richtigen Lehren zieht, dann hat sie das, was wir uns vorgenommen haben, umzusetzen. Um nichts verstanden. Die Folgen wären wirklich schwer- dieses Ziel zu erreichen, habe ich die europäischen G-20- wiegend. Teilnehmer eingeladen, um sich auf eine gemeinsame europäische Position zu einigen. Wir werden das auf (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22717

Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel (A) Da unsere Aufgabe nicht nur darin besteht, Finanz- Dr. Guido Westerwelle (FDP): (C) produkte und Finanzmärkte zu regulieren, habe ich vor- Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- geschlagen, dass wir gemeinsam eine Charta des nach- ren! Die Regierungserklärung der Frau Bundeskanzlerin haltigen Wirtschaftens entwickeln. Das hat bei den ist in weiten Teilen so allgemein gehalten, dass man ihr europäischen G-20-Teilnehmern große Zustimmung ge- nur zustimmen kann. Es ist kein Wunder, dass sie nicht funden. Ich hoffe, dass wir uns dies in London vorneh- wirklich konkret wurde. Würde sie konkret, dann würde men können. offensichtlich, dass es in ihrer Regierungskoalition mehr Streit als Einigkeit gibt. Nachhaltiges Wirtschaften heißt, Prinzipien festzule- gen, die verhindern, dass wir dauerhaft über unsere Ver- (Beifall bei der FDP) hältnisse leben und dass wir Ressourcen in Anspruch nehmen, die wir nicht regenerieren können. Nur wenn Sie sagen, Sie glauben, dass Sie für Ihre Politik die sich die Welt gemeinsam auf einen solchen Anspruch Unterstützung dieses Hohen Hauses haben. Der Glaube verständigt, wird es möglich sein, in der Zukunft Krisen soll bekanntlich Berge versetzen. Es ist aber mittlerweile zu verhindern. offensichtlich geworden, dass Sie sich nicht mehr einig sind. Globalisierung bedeutet, dass wir uns das nicht al- Diese Regierungserklärung findet vor dem Hinter- leine vornehmen. Jedes Land muss natürlich seinen Bei- grund eines Tiefpunkts in der Beziehung der Koalition, trag leisten. Globalisierung bedeutet aber eben auch, die die Bundesregierung trägt, statt. Am heutigen Tage dass wir miteinander, international, verabreden müssen, ist zu lesen, dass der Vorsitzende der sozialdemokrati- dass keiner von diesen Standards abweicht. Es reicht schen Partei gesagt hat, Merkels internationale Auftritte nicht, zu sagen, dass kein Land eine Steueroase sein seien nicht glaubwürdig, wenn sie zulasse, dass im In- darf. Darüber hinaus müssen sich alle zum nachhaltigen land Gesetze gegen die Steuerflucht blockiert würden. Wirtschaften verpflichten. Er sagt außerdem, Merkel sei nur noch Geschäftsführe- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) rin der Bundesregierung. Meine Damen und Herren, wer in Europa einigen will, sollte wenigstens in der eigenen Ich bin also der Meinung, dass wir alle Möglichkeiten Bundesregierung zur Einigkeit fähig sein. haben, statt Angst und Ohnmacht Zuversicht und aktives Handeln zu gestalten. Es muss der Wille dazu da sein. (Beifall bei der FDP) Ich sage für die Bundesregierung, dass dieser Wille da Nicht glaubwürdig, Schutzpatron der Steuerhinterzieher, ist. Ich sage auch, dass wir mit unserer Erfahrung im nicht mehr Kanzlerin, sondern Geschäftsführerin: Wie 60. Jahr der Bundesrepublik Deutschland und mit über soll Deutschland nach außen Führung zeigen, wenn es (B) 60 Jahren Erfahrung mit der sozialen Marktwirtschaft ei- nach innen nicht geführt wird? (D) nen Beitrag dazu leisten können. Das heißt, dass der Staat bereit ist, als Hüter der Ordnung aufzutreten, und (Beifall bei der FDP) das heißt, dass sich Staaten in der globalen Welt gemein- Wir haben schon zu Beginn dieser Krise in zahlrei- sam darauf verständigen, Institutionen zu akzeptieren, chen Debatten auch in diesem Hohen Hause festgestellt, die überwachen und kontrollieren, ob die Staaten die ge- dass wir uns im Grundsätzlichen – gerade auch was die meinsam verabschiedeten Prinzipien einhalten. Europapolitik angeht – einig sind. Die Europäische Die wesentliche Frage ist: Gibt es eine solche Bereit- Union hat sich in der Finanz- und Wirtschaftskrise als schaft? Die europäischen Mitgliedstaaten kennen sich ein Glücksfall erwiesen. Wenn es sie nicht schon längst damit aus. Sie haben Aufgaben an die Europäische gegeben hätte, dann hätte man sie spätestens jetzt erfin- Kommission und an das Europäische Parlament abgege- den müssen. Kein europäisches Land wäre in der Lage ben. Es ist uns nicht immer leichtgefallen, aber es hat die gewesen, der Krise im Alleingang etwas entgegenzuset- Grundlage dafür geschaffen, dass wir heute in der Euro- zen. Ohne den Euro beispielsweise hätte die Finanzkrise päischen Union gemeinschaftlich agieren können. Dieser schnell zur Währungskrise werden können mit fatalen Prozess muss sich vollziehen, auch auf der internationalen Folgen für unsere Exportwirtschaft. Ebene. Wir werden mit unseren nationalen Erfahrungen Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank mit der sozialen Marktwirtschaft und mit der Erfahrung und ihre Orientierung an der Geldwertstabilität haben ih- aus der europäischen Zusammenarbeit unseren Beitrag ren Wert bewiesen. Es hat sich auch gezeigt, wie wichtig dazu leisten. Ich glaube, dass wir dazu die Unterstützung der gemeinsame Markt für Wohlstand und Stabilität in dieses Hohen Hauses haben. Europa ist. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Klar ist aber auch, und das wissen wir alle auch am heutigen Tage: Der Test ist noch nicht bestanden. Die Präsident Dr. Norbert Lammert: Europäische Union muss auch und gerade in der Krise Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächst geschlossen und entschlossen handeln. Sie muss an ihren der Kollege Dr. Guido Westerwelle für die FDP-Frak- Grundsätzen festhalten. Auch darin sind wir uns einig: tion. Es darf keinen Rückfall in überwunden geglaubtes Den- ken, in Protektionismus, in Abschottungspolitik und na- (Beifall bei der FDP) türlich auch nicht in Subventionswettläufe geben. 22718 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Guido Westerwelle (A) Deswegen ist Ihre Bemerkung, Frau Bundeskanzle- verstecken, dass Sie sich nicht durchsetzen können. Es (C) rin, angemessen und auch richtig, wenn Sie sagen, es ist in diesen Zeiten der Krise Ihre Aufgabe, unser Land dürfe keinen Wettlauf hinsichtlich der neuen schuldenfi- strukturell so zu verändern, dass wir eine echte Chance nanzierten Milliardenpakete in Europa geben. Darum haben, aus der Krise herauszukommen. geht es aber nicht. Es geht nicht darum, dass wir in Deutschland noch ein Konjunkturpaket auflegen, das wir 90 Prozent der Investitionen in Deutschland werden wiederum durch höhere Steuern oder höhere Schulden von Privaten getätigt. Sie können noch 1 000 Konjunk- finanzieren, sondern es geht darum, dass in Deutschland turpakete des Staates beschließen, wenn Sie die Investi- endlich strukturelle Veränderungen der Rahmenbedin- tionsbedingungen für die Privaten nicht verbessern, gungen vorgenommen werden müssen. Wir brauchen (Joachim Poß [SPD]: Tun wir doch!) kein Konjunkturpaket, das wieder durch Schulden finan- ziert wird. Was wir jetzt brauchen, ist ein Strukturpa- indem Sie die Bürokratie und die Ideologie in diesem ket, mit dem die Rahmenbedingungen so verändert wer- Land endlich abschaffen. den, dass in Deutschland investiert wird, dass der Mittelstand eine Chance hat, Arbeitsplätze zu schaffen, (Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]: Sie und dass die Menschen durch niedrigere Steuern und haben von nichts Ahnung und davon reich- Abgaben wieder Lust auf Leistung haben können. Das lich!) ist die Aufgabe, die jetzt angegangen werden muss. Wir wissen, dass 20 Milliarden Euro darauf warten, in (Beifall bei der FDP) Infrastruktur im Bereich der Energie investiert zu wer- den. Wir wissen beispielsweise auch, dass in die Flugha- Meine Damen und Herren, Sie sprechen von der feninfrastruktur ebenfalls 20 Milliarden Euro investiert europäischen Bankenaufsicht. Sie sagen zu Recht, werden könnten. Die Meinung, Konjunkturpakete müss- dass es dafür in Europa Regeln geben muss. Welchen ten für den Staat teuer sein, ist falsch. Jetzt müssten Sinn macht es aber – an die Bundesregierung gefragt –, Strukturpakete geschnürt werden. Die Chance der Krise dass Sie auf europäischer Ebene eine Bankenaufsicht kann man nutzen, indem man jetzt die strukturellen Ver- fordern, zu deren effektiver Gestaltung Sie im Inland änderungen durchsetzt, die in Deutschland ohnehin drin- aber nicht fähig sind, weil Sie sich uneinig sind? In jeder gend angegangen werden müssen; das ist überfällig. Debatte hören wir von den Kolleginnen und Kollegen der Union – übrigens mit unserer Zustimmung –: Die (Beifall bei der FDP) Bankenaufsicht muss neu organisiert werden. Die Zer- Da wir mittlerweile nicht nur in Deutschland, sondern splitterung war ungesund. Das ist eine der Ursachen da- auch in Europa über die Steuerpolitik reden, ist es für für, warum vieles passieren konnte. (B) unsere Bürgerinnen und Bürger schon von einem gewis- (D) Es geschieht jedoch nichts. Sie gehen an die Zersplit- sen Interesse, festzustellen, dass Sie die Harmonisie- terung der deutschen Bankenaufsicht nicht heran. Wer rung des europäischen Steuerrechts in Deutschland die deutsche Bankenaufsicht nicht effektiv gestalten ausschließlich so verstehen, dass wir in Richtung der kann, dem wird man dies auch nicht auf europäischer Steuersätze der Länder harmonisieren, in denen sie hö- Ebene zutrauen, meine sehr geehrten Damen und Her- her als in Deutschland sind. Das ist keine Harmonisie- ren, liebe Kolleginnen und Kollegen. rung. (Beifall bei der FDP) In der letzten Woche wurde auch durch unseren Fi- nanzminister beschlossen, dass die europäischen Länder Was wir jetzt brauchen, sind strukturelle Veränderun- ermäßigte Mehrwertsteuersätze einführen können. 22 eu- gen. Dazu zählen aus unserer Sicht neben dem großen ropäische Staaten machen davon Gebrauch. Anschlie- Thema eines gerechteren Steuersystems vor allen Din- ßend haben Sie in Deutschland erklärt: Wir in Deutsch- gen auch der Abbau der Bürokratie und die Beseitigung land tun das aber nicht, weil wir das nicht wollen. – von Investitionshemmnissen. Das wäre ein Strukturpa- Damit vorenthalten Sie dem deutschen Mittelstand faire ket, das beschlossen werden müsste und das den Staat Chancen. Den anderen geben Sie die Möglichkeit, Steu- keinen einzigen Euro kostet. ern zu senken, unseren Bürgern und unserem Mittelstand Dieses Strukturpaket könnte beispielsweise darauf ab- verweigern Sie das. Das ist unfair, meine sehr verehrten zielen, die ideologische Energiepolitik zu beenden, auf Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. einen vernünftigen Energiemix zu setzen und dafür zu sorgen, dass auch in Deutschland moderne, saubere und (Beifall bei der FDP) effiziente Kraftwerke gebaut werden können, die alte Nicht alle anderen sind die Geisterfahrer in Europa, und schmutzige Kraftwerke ablösen. Wenn Sie das täten, sondern wir sind es. Wir Deutschen sind in der Steuer- wenn Sie endlich in der Energiepolitik die ideologischen politik die Geisterfahrer in Europa; Bremsen Ihrer Politik lösen würden, dann könnten etwa 40 Milliarden Euro private Mittel in den Wirtschafts- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kreislauf fließen. Sie sind es!) Sie sagen, die SPD verhindere dies. Das ist aber zu denn 22 europäische Staaten in der Europäischen Union, wenig. Sie führen unser Land. Jedenfalls ist dies das, also die überwiegende Mehrheit, gehen diesen Weg, den was in dem Wort „regieren“ der Wortwurzel nach enthal- Sie den deutschen Bürgerinnen und Bürgern verweigern. ten ist. Sie können sich nicht immer hinter der Aussage Das halten wir für falsch. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22719

Dr. Guido Westerwelle (A) Wer das Thema mit dem einfachen Wort „Steueroase“ (Widerspruch bei der SPD) (C) angeht, der macht es sich natürlich zu einfach. Natürlich müssen wir die Steuerkriminalität und die illegale Ich glaube, diese Art und Weise ist schlichtweg unver- Steuerflucht bekämpfen. Natürlich ist es richtig, dass antwortlich. Sie haben Ihren Kompass in der Regierung wir auch in Europa und in der Welt die Regeln der verloren. Sie sind zu einem wirklich kraftvollen und OECD anwenden wollen. machtvollen Führen in Europa nicht mehr fähig. Diese Debatte zeigt, dass Sie auch inhaltlich nicht mehr einig (Peer Steinbrück, Bundesminister: Aha!) sind. Mittlerweile ist die Koalitionszerrüttung so weit – Herr Steinbrück, weil Sie gerade „Aha“ gerufen haben: fortgeschritten, dass deutsche Interessen auch auf inter- Die Frage ist, ob man das mit der Peitsche tut bzw. in- nationaler Ebene beschädigt werden. dem man der Schweiz mit der Kavallerie gegen Indianer (Kurt Bodewig [SPD]: Steuerhinterziehung ist droht. Sie können ja nicht einmal mit der Schweiz Frie- kein Teil deutscher Interessen!) den halten. Das ist schlecht für unser Land. (Dr. h. c. [SPD]: Steueroasen ab- schaffen, Herr Westerwelle!) Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit. Herr Steinbrück, Herr Finanzminister, ich muss Ihnen (Lebhafter Beifall bei der FDP – Dr. h. c. Gerd wirklich sagen: Diese Art und Weise des Umgangs mit Andres [SPD]: Das war der Wüsten-Guido!) unseren Nachbarländern ist eine schlicht undiplomati- sche Unverschämtheit. Das wird auch hier zu einem Präsident Dr. Norbert Lammert: Thema gemacht werden müssen. Das ist eine schlichte Unverschämtheit. Für die SPD-Fraktion erhält nun der Kollege Joachim Poß das Wort. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hartmut Koschyk [CDU/ (Beifall bei Abgeordneten der SPD) CSU]: Da hat er leider recht! – Dr. h. c. Gerd Andres [SPD]: So ein Quatsch! – Weitere Zu- Joachim Poß (SPD): rufe von der SPD) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kol- – Es ist sehr interessant, dass Sie das gutfinden. lege Westerwelle, ich freue mich, dass Sie für die Öf- fentlichkeit vernehmbar Ihre tiefe Sympathie für die (Dr. h. c. Gerd Andres [SPD]: Steueroasen- Staaten geäußert haben, die mit ihren Regelungen mit Guido!) dafür sorgen, dass den ehrlichen deutschen Steuerzah- (B) (D) – Jetzt wurde gerade ein schöner Zwischenruf zur Steu- lern Milliarden entzogen werden. eroase gemacht. Ich will Ihnen das einmal wie folgt er- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten klären, Herr Kollege: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wi- (Lachen bei der SPD) derspruch bei der FDP) Für den normalen Bürger ist in der Regel weniger die Denn die Rechnung für diese systematische Steuerhin- Oase, sondern vielmehr die Wüste drum herum das Pro- terziehung zahlen die ehrlichen Steuerzahler in Deutsch- blem. land. Dass Sie, der sich dem Vernehmen nach in der Fi- nanzszene der Schweiz gut auskennt, Herr Westerwelle, (Beifall bei der FDP – Zurufe von der SPD) das so unverhohlen sagen, trägt sehr zur Klarheit in der Ich sage Ihnen: Dieselbe Energie, die Sie dafür aufwen- deutschen Öffentlichkeit bei. Wir haben in den nächsten den, Steueroasen auszutrocknen, sollten Sie dafür auf- Tagen und Wochen einiges zu diskutieren. Dann wollen wenden, dass die deutsche Steuerwüste durch niedrigere wir mal sehen, was die Umfragen ausweisen und wie Steuern endlich wieder fruchtbarer wird. Liebe Kollegin- viele Menschen wirklich wollen, dass ein solches sozial- nen und Kollegen der SPD, das ist das Mittel, das man schädliches Verhalten vom selbsternannten Oppositions- anwenden sollte. führer im Deutschen Bundestag unterstützt wird. (Beifall bei der FDP – Kurt Bodewig [SPD]: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Steuerhinterziehung als Steuerförderung!) der LINKEN – Dr. [FDP]: Schicken Sie doch die Kavallerie!) Hinterher höre ich bestimmt wieder von Ihnen: „Schade, dass wir bei euch nicht klatschen durften!“ Sie haben Ihre Sympathie erklärt. Offen geblieben ist (Heiterkeit bei der FDP) dabei Ihre inhaltliche Position Der entscheidende Punkt ist aber, Frau Bundeskanzle- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: rin: Statt dass Sie als Regierungschefin Deutschlands ein Steuersenkungen!) Wort der Diplomatie an unsere Nachbarn richten, sagen zu den vom Bundesfinanzminister und anderen aufge- Sie – ganz im Bild von Herrn Steinbrück bleibend –, worfenen Fragen bezüglich der Schweiz. man müsse Ross und Reiter nennen, mit der Peitsche drohen und die Kavallerie gegen die Indianer ins Feld (Jörg van Essen [FDP]: Das hat er doch eben schicken. gesagt! Sie haben nicht zugehört!) 22720 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Joachim Poß (A) – Nein. Er hat Sympathie für die Schweiz ausgedrückt, das weder unsere Glaubwürdigkeit im Innern noch un- (C) offenkundig auch für das übersteigerte Bankgeheimnis sere internationale Glaubwürdigkeit im Kampf gegen der Schweiz. Steueroasen. (Jörg van Essen [FDP]: Das ist doch Unsinn! International herrscht inzwischen eine große Überein- Sie haben nicht zugehört!) stimmung, was die Überschriften der notwendigen Schritte in der Finanzmarktregulierung und im Kampf Wie ich gehört habe, lassen Sie sich auch gerne von den gegen Steueroasen angeht. Glaubwürdig sind wir nur, Profiteuren dieser Steuerhinterziehung einladen, Vor- wenn wir das auch national unterfüttern. Ich füge mit träge zu halten, Herr Westerwelle. Sie kennen sich also Blick auf manche Abstimmungen im Europäischen Par- wirklich aus. lament hinzu: Auch die deutschen Europaabgeordneten (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Aber leider nicht sind im Rahmen der europäischen Rechtsetzung gefragt, so oft wie Herr Schröder, Herr Kollege!) sich der Einflussnahme und den Interessen der Finanzin- dustrie zu entziehen. Da reichen gefällige Formulierun- Darüber wird, wie gesagt, noch zu reden sein. gen hier im Deutschen Bundestag für eine Partei nicht Sie sollten lieber über die Sache reden – nämlich über aus, wenn man sich dann bei der konkreten Entschei- die sozialschädlichen Steuerhinterzieher –, statt sich mit dung, wenn es darauf ankommt, anders verhält. der Stilkritik an einem Regierungsmitglied aufzuhalten, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dem man im Ergebnis attestieren muss, dass der Druck, der in den letzten Wochen und Monaten vornehmlich un- Deswegen sage ich für uns Sozialdemokraten ausdrück- ter dem Einfluss der Finanzkrise aufgebaut wurde, zum lich: Wir werden uns sehr intensiv mit dem Kleinge- Erfolg geführt hat. In die sogenannten Steueroasen ist druckten befassen. Die Überschriften reichen uns nicht. schließlich Bewegung gekommen. Die Frage ist aber, ob Natürlich freue ich mich, dass bei den Vorschlägen, das ausreicht, um weltweit und in Europa zu einem fai- die jetzt in der Diskussion sind, die Vorarbeiten der So- ren Steuerregime zu kommen. Diese Frage muss hier zialdemokraten – namentlich das Papier von Frank- beantwortet werden. Walter Steinmeier und Peer Steinbrück – eine wichtige (Beifall bei der SPD) Rolle spielen. Ich finde, dass die „Finanzmarktgrund- sätze“, über die auch in der letzten Runde des Koali- Nach allem, was man bisher erkennen kann, reichen tionsausschusses diskutiert wurde, die richtige und wich- die von der Schweiz und anderen angekündigten Schritte tige Grundlage für weitere Lösungen bei uns in unseres Erachtens nicht aus. Darüber wird in der Sache Deutschland, auf europäischer Ebene und weltweit dar- zu reden sein. Das wird ein Thema auf dem nächsten stellen. (B) Treffen – ich nehme an, das ist der sehr wichtige G-20- (D) Gipfel – sein. Ich freue mich, dass sich die Frau Bundes- Die Regulierung bisher unregulierter Marktbereiche, kanzlerin heute Morgen so uneingeschränkt zugunsten Regeln für alle Produkte und alle Akteure, der Aufbau einer Einschränkung dieser Steuerfluchtmöglichkeiten einer effektiven grenzüberschreitenden Aufsicht über und gegen die Steueroasen geäußert hat, weil sie, wie wir Banken und andere Finanzakteure, eine bessere Kon- alle, weiß, dass wir nur dann zu einer fairen Finanzmarkt- trolle der Ratingagenturen, aber auch eine stärkere Be- regulierung für die Zukunft kommen können, wenn die deutung des Internationalen Währungsfonds und des Fo- internationalen Fluchtpunkte des Geldes ausgetrocknet rums für Finanzstabilität – um nur einige Punkte zu werden. nennen –, das alles wird heute nicht nur vom sozialde- mokratischen Teil des Kabinetts und der Regierungskoa- (Beifall bei der SPD) lition vertreten, sondern ist unter uns Konsens. Aber dabei muss man glaubwürdig bleiben. Dann muss Ich habe aber die Wahrnehmung aus der praktischen die nationale Politik auch dem entsprechen, was auf der Arbeit in der Koalition und im Parlament, dass es noch europäischen und der internationalen Ebene von uns ge- einiger Überzeugungsarbeit beim Koalitionspartner an fordert ist. Deswegen herrscht bei uns ein solches Un- dieser oder jener Stelle bedarf, um wirklich durchzu- verständnis, dass aus der Fraktion des Koalitionspartners kommen. Dass beim Partner manche Erkenntnis nur un- eine Blockade in einer so zentralen Frage errichtet wird. ter dem Druck der Krise entstanden ist und nicht ganz so Das erhöht nicht unsere internationale Glaubwürdig- freiwillig, finde ich nicht so erfreulich. Aber für die keit. SPD-Bundestagsfraktion möchte ich der Bundeskanzle- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Oskar rin und den anderen beteiligten Regierungsmitgliedern Lafontaine [DIE LINKE] und Jürgen Trittin volle Rückendeckung für die anstehenden Treffen in [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Brüssel und London geben. Daher fordere ich den Koalitionspartner in aller Sach- Bei allen Turbulenzen und Umstürzen müssen wir in lichkeit und Friedlichkeit den nächsten Monaten Folgendes bedenken: Das igno- rante Verhalten bei AIG, das ganz Amerika in Aufregung (Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin: Freund- versetzt hat, zeigt, wie vorsichtig man auf die Dinge schaft!) schauen muss. Der Einfluss der Finanzindustrie an der – „Freundschaft“ ist ein so oft missbrauchtes Wort, Frau Wall Street, in der Londoner City oder in Brüssel ist Merkel, wie Sie wissen – sowie in aller Freundlichkeit nach wie vor nicht zu unterschätzen. Im Moment geht es auf, diese Blockade aufzugeben; denn in der Tat stärkt um das Überleben mit massiver staatlicher Unterstüt- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22721

Joachim Poß (A) zung. Sobald sich aber die Stürme etwas beruhigen, wer- in Washington. Am vorigen Wochenende gab es ein Mi- (C) den die guten Kontakte der Branche zu den jeweiligen nistertreffen in London, bei dem der Europäische Rat am Administrationen wieder genutzt werden, um die anste- Donnerstag vorbereitet werden sollte. Der Europäische hende Regulierung möglichst zu entschärfen und die Rat soll nun vor allem dazu dienen, die gemeinsamen neue Weltfinanzarchitektur im Sinne der Branche zu ge- Positionen von EU und Mitgliedstaaten für den Finanz- stalten. Da müssen wir gemeinsam Obacht geben, weil gipfel der G-20-Staaten in London vorzubereiten. diese Bemühungen zu registrieren sind. Auf dem Welt- schattenfinanzmarkt haben eben zu viele über lange Aber was wird dabei herauskommen? „G20-Finanz- Jahre zu gut gelebt und sich doof und dämlich verdient, minister beschließen nichts“, titelte die Financial Times um es umgangssprachlich zu sagen. Diese geben nicht so Deutschland am Montag. Ich zitiere: schnell auf, wie das Verhalten nicht nur bei AIG, sondern Konkrete Verpflichtungen für die Regierung oder auch anderswo zeigt. genaue Größenordnungen für … weitere Konjunk- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) turpakete wurden nicht beschlossen. Ihnen müssen wir klarmachen: Wir akzeptieren ein In der Sache kam es zu kaum mehr als Andeutungen. solches Verhalten gesellschaftlich nicht mehr. So ähnlich Die Hedgefonds sollen nur registriert und Informationen hat es auch Obama ausgedrückt: Dies kann nicht mehr in weitergegeben werden, den sogenannten Schrottpapieren Dollar oder Cent ausgedrückt werden, Herr Westerwelle. soll allein mit Leitlinien für die einzelnen Länder begeg- Auch Sie sollten sich darüber einmal Gedanken machen. net werden. – Das wird kaum helfen. Die Frage ist, mit welchem Geist und mit welcher Men- Wir von der Linken bleiben dabei: Wir wollen erstens talität wir die soziale Marktwirtschaft in Deutschland Hedgefonds verbieten, und weltweit leben wollen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der SPD) zweitens Zweckgesellschaften verbieten, drittens Steuer- oasen wirksam austrocknen oder verbieten und viertens Präsident Dr. Norbert Lammert: Verbriefungen verbieten. Nur wenn diese vier Grundübel Lothar Bisky ist der nächste Redner für die Fraktion an der Wurzel gepackt werden, haben wir überhaupt die Die Linke. Chance, den Sumpf aus Gier und Spekulation trockenzu- (Beifall bei der LINKEN) legen. (Beifall bei der LINKEN) Dr. Lothar Bisky (DIE LINKE): Heute und morgen tagt nun der Europäische Rat, der (B) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ex- (D) unter anderem für den neuen G-20-Gipfel die Positionen Post-Chef Klaus Zumwinkel hat sich 20 Millionen Euro bestimmen soll. Die bisherige Tagesordnung lässt leider Pensionsgelder auszahlen lassen. Nach den Strapazen nicht ahnen, welche gemeinsamen Ergebnisse zu erwarten seiner Steuerhinterziehung über die Steueroase Liech- sind. Welche Vorschläge der hochrangigen Larosière- tenstein will er jetzt den wohlverdienten Ruhestand auf Gruppe werden denn von den teilnehmenden Regierun- seinem Schloss am Gardasee genießen. „Einen ganz nor- gen geteilt? Steht denn die Kommission, die die Arbeits- malen Vorgang“ nennt er das. gruppe im Oktober des vergangenen Jahres eingesetzt Gleichzeitig nimmt die Zahl der Arbeitslosen zu, auch hat, überhaupt hinter dem Ganzen oder doch wenigstens die der Menschen, die von Kurzarbeit leben müssen oder hinter einem Teil der Vorschläge? Wie bewertet die Bun- auf Hartz IV angewiesen sind. Viele Existenzen von desregierung den Bericht? Erst wenn wir von ihr kleinen und mittleren Selbstständigen sind in Gefahr schwarz auf weiß haben, welche konkreten Vorschläge oder bereits zerstört. Die aktuelle Finanz- und Wirt- sie für richtig hält, kann eine wirkliche parlamentarische schaftskrise zeigt den Menschen das hässliche Gesicht Debatte stattfinden. der gegenwärtigen kapitalistischen Wirtschaftsord- nung: von maßlos übersteigertem Renditestreben und (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) mangelnder gesellschaftlicher Solidarität geprägt, ohne Unabhängig davon fällt auf, wie einseitig die „hoch- demokratische Kontrolle und ohne wirkliche demokrati- rangige Arbeitsgruppe“ besetzt ist. Es sind auffällig sche Mitentscheidung der Menschen über die wirtschaft- viele dabei, die den Finanzsektor mit seinen überhöhten lichen Abläufe. Renditeansprüchen und seinen Spekulationen geradezu (Beifall bei der LINKEN) beispielhaft repräsentieren: Jacques de Larosière ist Mit- vorsitzender der Finanzlobbyorganisation Eurofi und Das empört, und zwar zu Recht. Ich weiß: Auch man- war bis vor kurzem Berater der französischen Bank BNP che Kollegin und mancher Kollege aus den Koalitions- Paribas. Rainer Masera war Direktor einer europäischen parteien teilen diese Empörung. Aber was folgt politisch Tochter der Pleitebank Lehman Brothers. Onno Ruding aus dieser Empörung für ihre Parteien und Fraktionen? ist Berater der Citigroup. Otmar Issing, früher bei der Was folgt daraus für die von ihnen getragene Bundesre- Deutschen Bundesbank und der Europäischen National- gierung? Wie reagiert die Bundesregierung angesichts bank, ist Berater von Goldman Sachs. Für die vier ande- der Finanz- und Wirtschaftskrise? Sie macht vor allem ren Beteiligten – natürlich auch Männer – gilt im eines: Sie reist. Im November vergangenen Jahres ging Wesentlichen die gleiche Ausrichtung. Eine Gewerk- es mit kaum erkennbarem Gewinn zum Weltfinanzgipfel schafterin oder ein Gewerkschafter oder eine unabhän- 22722 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Lothar Bisky (A) gige Persönlichkeit aus dem Bereich der Wissenschaft Otto Bernhardt (CDU/CSU): (C) findet sich in der Arbeitsgruppe nicht. Dies ist nicht ak- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und zeptabel. Herren! Die internationale Finanzkrise zeigt, dass die Rahmenbedingungen versagt haben, die die Politik ge- (Beifall bei der LINKEN) setzt hat. Die Einrichtung dieser „hochrangigen“ Gruppe zeigt (Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar also deutlich: Weder die Bundesregierung noch die EU- Enkelmann [DIE LINKE]: Und was macht die Kommission sind bereit, die wahren Ursachen der Krise Politik jetzt?) zur Kenntnis zu nehmen, geschweige denn, an ihre Be- seitigung zu gehen. Sie machen weiterhin Politik im In- Sie zwingt uns, jetzt im politischen Bereich zu handeln. teresse der Großbanken und Großkonzerne. Der Hun- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Guido derte von Milliarden schwere Rettungsschirm ist für die Westerwelle [FDP], an die CDU/CSU ge- Garantierung von Höchstprofiten und nicht für die Er- wandt: Da seid Ihr gelandet!) haltung von Arbeitsplätzen der Beschäftigten bestimmt. Die Empfehlung von EU-Finanz- und Haushaltskom- Es gibt keine Regierung auf der Welt, die so schnell und missar Almunia an die EU-Mitgliedstaaten spricht genau umfassend wie die deutsche reagiert hat. Dies sollte man dafür: Die EU-Staaten dürfen nicht mit einer teuren und zunächst in aller Deutlichkeit feststellen. verfehlten Sozialpolitik auf die steigende Arbeitslosig- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keit antworten. Dann würden die Staatsschulden noch neten der SPD – Dr. [DIE mehr anschwellen. Dies ist eine Aufforderung zum LINKE]: Das glauben Sie doch selbst nicht!) Sozialabbau. Deutschland ist zwar immer noch eine der stabilsten Um einen nicht des Linksseins verdächtigen Zeugen Volkswirtschaften in der Welt – und das ist gut so –, den- zu zitieren, trage ich vor, was der Wirtschaftsnobelpreis- noch haben wir, was die Konjunkturpakete anbetrifft, ab- träger Krugman in seinem neuen Buch schreibt: solut und relativ – relativ heißt, bezogen auf das Brutto- Frau Merkel und ihre Beamten glauben anschei- inlandsprodukt – mehr als alle anderen europäischen nend noch immer, hier herrschten die normalen Re- Staaten gemacht. Was den Gipfel betrifft, so meine ich, geln der Wirtschaft, die Regeln, die dann gültig wir sollten zunächst einmal alle Maßnahmen wirken las- sind, wenn man mit Geldpolitik noch etwas aus- sen und nicht ständig neue Maßnahmen fordern. Sonst richten kann. Sie haben nicht begriffen, dass in Eu- besteht die Gefahr, dass bestimmte Maßnahmen erst zu ropa wie in Amerika mittlerweile ein Depressions- einem Zeitpunkt wirken, zu dem sie eine sich dann viel- klima eingezogen ist, in dem die normalen Regeln leicht abzeichnende Inflation verstärken könnten. (B) (D) nicht mehr gelten. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der LINKEN) Es gibt eine Reihe von Punkten, über die wir uns hier Ich zitiere weiterhin Nobelpreisträger Krugman, einen im Hause einig sind. Ich sehe jetzt einmal von dem lesenswerten Mann: Kampf von Reich gegen Arm ab – der Beitrag meines Vorredners passte nicht in diese Debatte –, der löst die Sobald wir wieder normale Verhältnisse haben, Probleme nicht, sondern erzeugt höchstens Emotionen. werde ich denjenigen, die wie Herr Steinbrück fis- Wenn ich also diesen Beitrag weglasse, dann sind wir kalische Disziplin predigen, gern die ihnen gebüh- uns alle darin einig, dass wir mehr Transparenz brau- rende Ehre erweisen. Sich jetzt aber an die Ortho- chen. Ich sage als Ordnungspolitiker: Wir brauchen lei- doxie zu klammern, ist hochgradig destruktiv für der auch mehr Reglementierung, aber nur im Bereich Deutschland, Europa und die Welt. der Finanzmärkte. (Beifall bei der LINKEN) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Meine Damen und Herren, die Linke fordert kurzfris- NEN]: Aha, genau!) tig einen Rettungsschirm für die Menschen und langfris- Es gibt jetzt eine allgemeine Stimmung auch in Deutsch- tig einen grundlegenden Wechsel in der Politik sowohl land, in vielen Bereichen mehr zu reglementieren. Wir der Bundesregierung als auch der EU. Wir müssen weg haben mit der sozialen Marktwirtschaft gute Chancen, von einer Politik für eine Minderheit der Reichen und aus der Krise herauszukommen. Wenn wir aber jetzt hin zu einer Politik, in der die Interessen der Bürgerin- auch die Realwirtschaft, den internationalen Handel usw. nen und Bürger und die Bewältigung der globalen He- stärker reglementieren, dann wird der Weg schwieriger. rausforderungen im Mittelpunkt stehen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ich danke Ihnen. Deshalb sage ich: Wir haben keine Krise der Marktwirt- (Beifall bei der LINKEN) schaft, wir haben keine Krise der Demokratie, sondern wir haben eine internationale Finanzkrise, und wir sind Präsident Dr. Norbert Lammert: dabei, die Ursachen zu analysieren, um die richtigen Ich erteile dem Kollegen Otto Bernhardt, CDU/CSU- Konsequenzen zu ziehen. Fraktion, das Wort. Ich will einige Punkte aus dieser Debatte aufgreifen, (Beifall bei der CDU/CSU) nicht zuletzt um sie richtigzustellen. Ich beginne mit der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22723

Otto Bernhardt (A) Bankenaufsicht. Zunächst einmal stelle ich fest, dass Ich sage genauso deutlich: Der Ansatzpunkt in dem (C) die Bankenaufsicht in Deutschland in der Krise insge- Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerhin- samt gut gehandelt hat. Das gilt für die Bundesbank, und terziehung ist falsch. 95 Prozent aller Deutschen, die mit das gilt für die BaFin. Österreich, der Schweiz, Liechtenstein und vergleichba- ren Staaten seit Jahrzehnten wirtschaftliche Beziehungen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) haben, haben sie nicht, um Steuern zu hinterziehen. Die Bundesregierung hat ein Gutachten in Auftrag gege- (Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Aha!) ben, um all das zu überprüfen. Wir werden die Konse- quenzen aus diesem Gutachten ziehen und einige Dinge Vor diesem Hintergrund ist es unangemessen – es ist noch in dieser Legislaturperiode verändern. Das ändert Ausdruck einer falschen Grundeinstellung zu diesem nichts an der Grundposition meiner Fraktion. Da unter- Thema –, diejenigen, die mit diesen Ländern seit Jahr- scheidet sich unsere Auffassung von der der Sozialde- zehnten Kontakte haben, steuerlich bestrafen zu wollen. mokraten. In dieser Hinsicht stimmen wir mit den Freien Das ist der falsche Ansatz. Demokraten überein. Wir sind für eine Konzentration der gesamten Bankenaufsicht bei der Deutschen Bundes- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) bank. Weil wir diesen Ansatz für falsch halten, kann man uns (Hellmut Königshaus [FDP]: Dann macht es hier nicht als diejenigen hinstellen, die Steuerhinterzie- doch!) hung nicht bekämpfen wollen. Wir wollen sie bekämp- fen. Wir haben klare Vorstellungen. Übrigens, wir haben Nur, in einer Krise wie dieser sollte man keine grundle- in der Großen Koalition einen gemeinsamen Antrag ver- genden Veränderungen vornehmen. Wir haben zurzeit abschiedet, zu dem in der nächsten Woche, so glaube andere Sorgen. Da das System im Grundsatz funktio- ich, eine Anhörung stattfindet. Dann erfahren wir die niert, ist jetzt nicht der Zeitpunkt für eine grundlegende Auffassung der Fachleute. Veränderung. Dennoch haben wir ein klares Ziel. In diesem Zusammenhang möchte ich einen weiteren (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Punkt nennen, der für mich als Banker bei den jetzigen NEN]: Aha!) Maßnahmen sehr wichtig ist: Viel Unheil ist von der Ich greife einen zweiten Punkt auf, der Emotionen Verbriefung und Strukturierung ausgegangen. hervorruft und zum Teil mit unfairen Vorwürfen verbun- (Beifall des Abg. [SPD]) den ist. Es geht um die Steuerhinterziehung und die Steueroasen. Ich finde es infam, wenn immer wieder Ich sage das, ohne dieses Thema zu vertiefen. Ich gehöre (B) versucht wird, die Union als die Partei darzustellen, die zu denjenigen – ich bitte die Kanzlerin, diese Auffas- (D) Spaß an den Oasen hat und die diejenigen Leute, welche sung auf dem G-20-Gipfel intensiv zu vertreten –, die sa- Steuern hinterziehen, schützen will. Nein, auch wir sind gen: Wer in Zukunft Kredite verkauft, muss mit einem dafür, dass Steueroasen trockengelegt werden. Für uns bestimmten Anteil in der Haftung bleiben. ist Steuerhinterziehung kein Kavaliersdelikt. Das, was Herr Zumwinkel gemacht hat, ist für uns nicht akzepta- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und bel, unabhängig von der rechtlichen Position. der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Nur dann werden wir sicherstellen, dass die Verbriefung einer vernünftigen Begrenzung unterliegt. Jetzt ein Wort zum Finanzminister. Viele wissen, dass ich ihn schätze, aber es gibt einige Verhaltensweisen, die Ich stelle abschließend fest: Die Bundesregierung und ich nicht schätzen kann. In einer Hinsicht irrt der Finanz- die sie tragenden Fraktionen haben immer sehr schnell minister. Es ergibt keinen Sinn, Staaten, mit denen wir alle notwendigen Entscheidungen getroffen, um gegen seit Jahrzehnten hervorragende Kontakte haben – für die Finanzkrise gewappnet zu sein. Wir werden morgen Bayern und Baden-Württemberg ist die Schweiz seit das SoFFin-Gesetz weiterentwickeln, in dem wir not- Jahrzehnten ein ganz wichtiger Handelspartner –, öffent- wendige Anpassungen vornehmen. Wir werden morgen lich zu beschimpfen. Das bringt nichts, das ist nicht gut, etwas dafür tun – morgen steht die erste Lesung des Ge- und das sollten wir nicht machen. setzentwurfs auf der Tagesordnung –, dass sich Mana- gergehälter in Zukunft nicht mehr an kurzfristigen Para- (Joachim Poß [SPD]: Die Schweiz war doch metern orientieren. Dies zeigt: Die Große Koalition war gar nicht genannt!) handlungsfähig, und sie wird auch bis zur Bundestags- – Herr Kollege, man hat sie als Indianer bezeichnet. Sie wahl handlungsfähig bleiben. mussten Ihren Minister verteidigen. Wenn wir einen Mi- Danke schön. nister hätten, der solche Fehler machen würde, würde auch ich ihn verteidigen. Aber Gott sei Dank haben wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- keinen, der so etwas sagt. Die Art, wie der Minister mit neten der SPD) der Schweiz umgeht, ist nicht hinnehmbar. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Präsident Dr. Norbert Lammert: Joachim Poß [SPD]: Die Schweiz war nicht Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast, genannt!) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. 22724 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): New Deal, nur Frau Merkel und die CDU/CSU – von Ih- (C) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eigentlich nen da mal ganz zu schweigen – haben mal wieder nicht wollte ich diesen Redebeitrag mit ein paar Worten zu gemerkt, wo die Probleme der Welt liegen. Frau Merkel beginnen. Frau Merkel, Sie rutschen bei mir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) jetzt ausnahmsweise in die zweite Reihe. Ich finde näm- lich, dass Guido Westerwelle heute wirklich den Vogel Es gibt viele Ankündigungen, etwa die, man wolle abgeschossen hat. die IWF-Mittel verdoppeln. Wo eigentlich ist die Ent- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- scheidung dazu? Eine Ankündigung lautet, die Europäi- SES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Guido sche Union wolle mit einer Stimme sprechen. Ich sehe Westerwelle [FDP]: Was heißt hier „heute“?) aber nur, dass Deutschland in der Europäischen Union ständig und immer wieder der Bremser ist, zuletzt beim – Na ja, ich wäre nicht so fröhlich. – Herr Westerwelle, Konjunkturpaket der EU: Es wird gebremst bis zur letz- heute haben Sie wieder einmal für soziale Kälte gesorgt: ten Sekunde, und am Ende, nach Sonderregeln für die Bei Ihren Ausführungen zum Thema Steueroasen bzw. Telekom und noch einem Extra für die deutschen Milch- den Oasen allgemein haben Sie gesagt, es gehe um die bauern, weil Sie ihre alten Versprechungen nicht gehal- Wüste drum herum. Ich sage Ihnen einmal ganz klar: In ten haben, wird Ja gesagt. So, meine Damen und Herren, den Oasen saufen die großen Kamele, und Sie haben sieht keine treibende gute Rolle Deutschlands in der Eu- sich heute wieder einmal als Schutzheiliger der großen ropäischen Union aus. Kamele, die den anderen das Wasser wegsaufen, betä- tigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Alles Überschriften, kein Text! Ein bisschen Regis- bei der SPD und der LINKEN – Jörg van trierung von Hedgefonds. Schauen wir uns einmal die Essen [FDP]: Diese ständig schlechtgelaunte Schrottpapiere an! Dazu gibt es nur sehr allgemeine Frau!) Leitlinien, mit denen nicht viel umgesetzt wird. – Herr van Essen, seien Sie nicht so verklemmt, auch Man kann eines sagen, auch wenn Sie versuchen, sich nicht in Ihren Bemerkungen. hier so groß darzustellen: Deutschland blockiert in der Europäischen Union auch und gerade Regeln für die Fi- (Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ nanzmärkte. Das ist die Wahrheit. DIE GRÜNEN – Lachen bei Abgeordneten der FDP) (Joachim Poß [SPD]: Es blockiert doch kei- ner!) (B) – So habe ich es gar nicht gemeint, auch wenn ihr jetzt (D) lacht. Wo ist die europäische Ratingagentur, die wirklich regu- liert und beaufsichtigt – das wäre Verbraucherschutz! –, Herr Westerwelle, Sie äußern jetzt Mitleid mit der über die Sie immer reden, für die Sie bisher aber weder Energielandschaft in Deutschland. Sie klagen über die international noch national irgendetwas angeboten ha- vielen bürokratischen und Investitionshemmnisse. Die ben? Wo ist die EU-Finanztransaktionssteuer, die Speku- Sorge vor Korruption spielt bei Ihnen gar keine Rolle. lationen abbaut und Märkte wirklich stabilisiert? Herr Wie erklären Sie sich bei all der Sorge über zu viel Büro- Steinbrück möchte sie gern ins Wahlprogramm schrei- kratie, die Sie hier zum Besten gegeben haben, dass Eon ben. Warum handeln wir gerade an der Stelle eigentlich im letzten Jahr 10 Milliarden Euro Reingewinn erzielt nicht jetzt, statt bis zum nächsten Jahr zu warten? hat? Das ist doppelt so viel wie im Vorjahr. Wer in der Lage ist, seinen Reingewinn von einem Jahr zum ande- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ren auf 10 Milliarden Euro zu verdoppeln, der ist nicht Alle reden über die Schließung von Steueroasen – au- bürokratisch gehemmt. Man sollte ihn vielmehr fragen, ßer Guido Westerwelle. Es gibt überall Bewegung, aber was er für die Allgemeinheit zu tun bereit ist. die Regierung ist unfähig, auch nur ein Gesetz gegen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Steuerhinterziehung in Deutschland zu beschließen. und bei der SPD – Dr. Guido Westerwelle Wieder diese Uneinigkeit Guttenberg und Steinbrück! [FDP]: Investieren!) Auch an der Stelle muss man sagen, dass die CDU/CSU im Ergebnis blockiert, um Steuerhinterzieher zu schüt- Nun zum G-20-Gipfel und den Vorbereitungen da- zen. Das ist die ganze Wahrheit, meine Damen und Her- rauf. Ich muss sagen: Frau Merkel hat heute wieder wun- ren. derbare Geschichten darüber erzählt, was sie alles tun würde, was alles in Vorbereitung sei. Aber am Ende ist (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es doch wieder eine schöne Inszenierung, der eigentlich nichts folgt. Wo sind eigentlich – um noch einen Punkt zu nennen – Ihre Aktivitäten gegenüber deutschen Banken, die De- Wo ist eigentlich der Text nach all den wunderschö- pendancen auf den Cayman Islands, in Singapur, in Lu- nen Überschriften? Es ist immer das Gleiche: Uns wird xemburg haben? Allen voran ist hier die Commerzbank erzählt, man müsse jetzt erst einmal in die Bankenkrise zu nennen, der wir gerade die Steuergelder hinterherwer- investieren, sozusagen systemisch relevante Banken ab- fen. Wenn Sie so handlungsfähig sind, wie Sie sich dar- sichern, aber dann müsse man wieder zur sozialen stellen, dann sagen Sie hier und jetzt, was Sie an dieser Marktwirtschaft zurück. Alle Welt redet vom Green Stelle eigentlich Positives erreicht haben! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22725

Renate Künast (A) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und sozialen Aspekten für den globalen Handel entge- (C) gengesetzt wird, damit nicht auf Kosten der Bürgerinnen Mein Vorredner hat gesagt, man werde wunderbare und Bürger gewirtschaftet wird. Regeln hinsichtlich der Gehälter von Managern schaf- fen. Sie bieten uns hier an, dass die Haltefrist für Aktien- Wenn ich mir jetzt anschaue, was Frau Merkel anbie- pakete von zwei auf vier Jahre erhöht werden soll. Das tet, dann finde ich nur den Verweis auf eine Charta für sind Peanuts! Heute sind die meisten Unternehmen auf- nachhaltiges Wirtschaften bzw. die Forderung – das grund freiwilliger Vereinbarungen schon bei einer Frist hat sie an anderer Stelle gesagt – nach Einsetzung eines von drei Jahren. Sie bieten also faktisch eine Erhöhung Weltwirtschaftsrates. Einige aus meiner Fraktion haben von drei auf vier Jahre an. Zehn Jahre, das wäre der Ein- sich nun die Mühe gemacht, über Kleine Anfragen he- stieg in langfristiges Denken. Dazu haben Sie nicht den rauszubekommen, was eigentlich dahintersteckt. Wis- Mut. sen Sie, was wir festgestellt haben? Keiner weiß, worum (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) es dabei gehen soll. Die verschiedenen Ressorts antwor- ten entweder, sie wüssten es nicht, oder, sie verträten Wie wenig mutig Sie an der Stelle sind, sieht man diese Position nicht. Wenn ich mich nun entgegenkom- auch an all den Rettungspaketen, die wir hier verab- menderweise darum bemühe, herauszubekommen, was schieden müssen. Das erste Rettungspaket ist geschei- hinter diesem Angebot steckt, dann komme ich zu dem tert. Schluss, dass Ihr Weltwirtschaftsrat bzw. Ihre Charta für (Joachim Poß [SPD]: Von der Sache hat sie nachhaltiges Wirtschaften, Frau Merkel, eher vom Alten keine Ahnung!) ist. Sie beweisen an der Stelle, dass Sie nichts ändern wollen, sondern nur jetzt über die Konjunkturpakete Morgen findet die Abstimmung über das zweite Ret- Geld investieren, um später wieder zu den alten Regeln tungspaket statt. Das ist eine Lex Hypo Real Estate. Im der Marktwirtschaft zurückkehren zu können. Das ist Ausschuss war auf Einladung der FDP auch Herr Flowers unverantwortliche Politik. von Hypo Real Estate. Da konnte man sehen, was deren Vorstellungen von marktwirtschaftlicher Ordnung sind. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die denken immer noch: Der Profit gehört uns, ansonsten werden Steuergelder eingesetzt und die Steuerzahler fak- Statt solche Wolkenkuckucksheime zu errichten, wäre es tisch enteignet. – Das ist Ihre Art von Finanzpolitik. doch hilfreicher, international für die Einführung einer Rechnungslegung über ökologische und soziale Indika- Ich sage Ihnen: Die Zeit der Spielereien muss zu Ende toren zu sorgen; das wäre ja ganz simpel zu machen. sein, auch für den smarten Herrn Guttenberg, der am Dann hätte man Kriterien, anhand derer man Politik aus- Times Square herumturnt und von dem wir alle nun wis- (B) richten könnte. (D) sen, dass er gut Englisch kann. Wir brauchen jetzt wirk- lich eine Verstaatlichung der HRE und nicht irgendein Die Absichten von Frau Merkel werden in Gänze Herumerzählen oder noch eine Umdrehung nach dem sichtbar, wenn man die von ihr verfassten Texte zu Ende Motto, man könnte vielleicht irgendwann einmal das In- liest. In dem gemeinsam mit Herrn Balkenende verfass- solvenzrecht verändern. Jetzt, meine Damen und Herren, ten Text wird zum Beispiel am Ende deutlich, was sie brauchen wir Aktionen. wirklich will, nämlich kein nachhaltiges Wirtschaften, sondern – dieser Satz steht auch hier wieder als Erstes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Zusammenhang mit der internationalen Wirtschaft – sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Freiheit der Wirtschaft. Ich sage Ihnen: Wir haben ge- Eine Sekunde lang hat mich nachdenklich gemacht, nug von Freiheit der Wirtschaft. Das wurde nämlich im- mer als Freiheit von Verantwortung für das Gemein- (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Eine Sekunde wesen ausgelegt. Wir brauchen jetzt ein Bekenntnis lang?) dazu, dass jeder, der wirtschaftet, auch Verantwortung was Frau Merkel zu dem Beitrag gesagt hat, den sie zu- für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen hat. sammen mit Herrn Balkenende für die FA Z verfasst hat. Auch sonst hört man von Frau Merkel ja immer wieder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – den Satz, man müsste jetzt Regeln für eine neue Art des [CDU/CSU]: Das steht schon Wirtschaftens aufstellen. Im gemeinsam mit Herrn immer im Grundgesetz, Frau Künast!) Balkenende verfassten Text heißt es – heute wurde es Frau Merkel hat auch gesagt, wir bräuchten jetzt drin- ähnlich formuliert –, dass die internationale wirtschafts- gend eine weitere Liberalisierung des Handels, sprich politische Zusammenarbeit mit der Globalisierung der Fortschritte bei den Doha-Verhandlungen und einen ent- Wirtschaft nicht Schritt gehalten hat. Das hat sie ja heute sprechenden Abschluss bei der nächsten Welthandels- auch wieder gesagt. runde. Meine Damen und Herren, genau das brauchen Meine Damen und Herren, ich finde es schon putzig, wir jetzt definitiv nicht. In der Vergangenheit wurde der wie geschichtsvergessen Frau Merkel ist. Es ist ja nicht Handel schon zu stark liberalisiert. Die WTO erlaubt der wahr, dass die internationale Wirtschaftspolitik nicht Wirtschaft, Raubbau auf Kosten der Menschen und der Schritt gehalten habe, sondern die Wahrheit ist, dass ge- Umwelt zu betreiben. Wenn Frau Merkel nun fordert, in rade die Unionsparteien und ihre Fraktion hier im Bun- diesem Jahr zu einem entsprechenden Abschluss bei der destag sich jahrelang dagegen gewehrt haben, dass der WTO zu kommen, entlarvt sie ihre Absicht, dass es ihr Freiheit der Wirtschaft ein Rahmen mit ökologischen doch eher um mehr Liberalisierung für einige wenige 22726 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Renate Künast (A) geht als um den Schutz des Klimas und der Finanz- interessanterweise auch von den Marktradikalen und (C) märkte. Apologeten der Deregulierung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich bin ganz froh, dass wir es in der Koalition ge- schafft haben, das auf Initiative von Frank-Walter Wenn Frau Merkel in der Stimmung und mit den Aus- Steinmeier vorgelegte Konjunkturpaket umzusetzen, um sagen, die sie hier an den Tag gelegt hat, heute zum Investitionen in Bildung, Innovation und Nachhaltigkeit Europäischen Gipfel oder am 2. April nach London zu tätigen und, Herr Westerwelle, um die Kaufkraft der fährt, dann steht zu befürchten, dass Europa jetzt die Ge- Geringverdiener, der Rentner und der Familien zu stär- legenheit verpatzt, eine Führungsrolle zu übernehmen. ken, statt Steuern für diejenigen zu senken, die hohe und Genau diese wollen wir aber. Wir wollen, dass eine neue höchste Einkommen beziehen. Art zu wirtschaften die Oberhand gewinnt, die nicht mehr auf Kosten anderer geht. Europa hätte dabei die (Beifall bei der SPD) Aufgabe, Frau Merkel, dabei voranzugehen, sich nicht vor Kopenhagen zu drücken, sondern dieses Thema auf Wir investieren in den Arbeitsmarkt, um damit in Über- die Tagesordnung zu setzen, entsprechende Vorschläge einstimmung mit der Lissabon-Strategie nachhaltig et- zu entwickeln und zu sagen, was Europa selber will. was für die Zukunft zu tun, damit Fachkräfte die Innova- tionen und die neuen Ideen umsetzen können, die wir brauchen. Präsident Dr. Norbert Lammert: Frau Kollegin. Diese Krise ist nicht national entstanden. Deswegen kann sie auch nicht national bewältigt werden. Für inter- nationales Krisenmanagement und Krisenverhinderung Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ist zunächst einmal eine Übereinstimmung in der Euro- Sofort. – Die anderen sind nicht unsere Verhandlungs- päischen Union nötig. Wir brauchen gemeinsame Maß- gegner bzw. unsere Gegenspieler, mit denen wir zocken nahmen und eine Abstimmung auf europäischer Ebene. müssen, sondern die Europäische Union hat die Auf- Angesichts dieser wirtschaftlich schwierigen Zeiten er- gabe, zu zeigen, wie national und international auf den warten die Bürger mehr denn je, dass die Europäische Feldern der Finanzen und des Klimas etwas erreicht wer- Union hier tätig wird und dass Anstrengungen unter- den kann. nommen werden, damit es nicht zu Massenarbeitslosig- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) keit und nicht zu einer sozialen und politischen Krise kommt. Nur dann können wir das Vertrauen stärken. Deswegen brauchen wir neben Sozial- und Globalisie- Präsident Dr. Norbert Lammert: (B) rungsfonds insbesondere Maßnahmen zum Erhalt der (D) Gunther Krichbaum ist der nächste Redner für die Arbeitsplätze. Wir brauchen eine besser abgestimmte CDU/CSU-Fraktion. und besser koordinierte Wirtschafts- und Finanzpolitik (Joachim Poß [SPD]: Die SPD-Fraktion ist in der EU. Dann haben wir Chancen für die Zukunft. eigentlich an der Reihe!) (Beifall bei der SPD) – Entschuldigung, das stimmt. Frau Kollegin Schwall- Wir brauchen zweitens europäische Solidarität; sie Düren, Sie haben das Wort. Bitte schön. ist nötiger denn je. Wir reden oft davon, dass die EU eine Wertegemeinschaft ist. Dazu gehört vorrangig Solidari- Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD): tät. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es Was heißt das in dieser Krise? Solidarität heißt in der gibt doch noch ein paar Differenzen zwischen unserem Tat: kein Protektionismus, keine nationalen Egoismen. Koalitionspartner und uns. Deswegen ist es schon rich- Ich möchte ganz deutlich sagen: Wenn wir erwarten, tig, dass ich – und nicht Herr Krichbaum – für die SPD dass sich die Bürger und Bürgerinnen am 7. Juni an der spreche. Europawahl beteiligen, dann können wir nicht sagen: Der Frühjahrsgipfel ist traditionell der Gipfel, auf Wir müssen erst einmal das eigene Hemd retten; die an- dem die Finanz- und Wirtschaftspolitik auf der Tages- deren sind uns egal. – Das ist nicht nur ein Verstoß gegen ordnung steht, insbesondere die Lissabon-Strategie. die europäischen Werte, sondern auch ökonomisch und Noch nie hatten wir einen Frühjahrsgipfel, auf dem wir volkswirtschaftlich unvernünftig. Denn wenn wir nicht mit einer derartigen Krise konfrontiert waren wie in die- gemeinsam dazu beitragen, dass unsere Volkswirtschaf- sem Jahr. ten diese Krise überstehen, dann sind wir jeweils mitbe- troffen. Was brauchen wir in dieser Krise? Wir brauchen zu- nächst einmal entschlossenes Handeln der Politik. Denn (Beifall bei der SPD) eines ist inzwischen klar geworden: Die Rolle des Wir haben das am Beispiel der Abwrackprämie durch- starken und handlungsfähigen Staates ist wieder in diskutiert. Wir können das auch durchdeklinieren ange- den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Nicht der Nacht- sichts der Frage, was mit Opel geschieht. Auch hier wächterstaat und auch nicht der Staat des Laisser-faire muss es eine europäische Lösung geben. werden gebraucht, sondern der Staat, der als Regulator, Stimulator und Garant für öffentliche Güter da einschrei- Solidarität heißt außerdem, dass wir in der EU keine tet, wo die Marktkräfte versagt haben. Das hören wir sich widersprechenden Maßnahmen beschließen kön- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22727

Dr. Angelica Schwall-Düren (A) nen. Es darf, wie die Frau Bundeskanzlerin gesagt hat, Liebe Kolleginnen und Kollegen, diesbezüglich hege (C) nicht zu einem Unterbietungs- oder Überbietungswett- ich aber doch den einen oder anderen Zweifel. Es reicht lauf in Bezug auf Subventionen, aber auch in Bezug auf nämlich nicht, davon zu sprechen, dass wir bei den Rating- Lohn-, Sozial- und Steuerstandards kommen. agenturen einen Verhaltenskodex brauchen. Wir brau- chen eine europäische gesetzliche Regelung. Es reicht Solidarität heißt auch: Unterstützung der Nicht-Euro- ebenfalls nicht – das ist mehrfach angesprochen worden –, Mitgliedstaaten in der EU. Wir haben Lettland und dass wir uns bei den Steueroasen nach dem Motto „bla- Ungarn bereits geholfen und müssen vielleicht noch an- ming and shaming“ verhalten, sondern auch hier brau- deren helfen. chen wir Regelungen. In diesem Zusammenhang appel- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) liere ich, auch was die Managergehälter anbelangt, an unseren Koalitionspartner. Vergleichbares könnte man zu Lassen Sie mich an dieser Stelle auf Folgendes hin- dem Thema „Selbstbehalt bei Verbriefungen“ sagen, wo weisen: Am 15. März dieses Jahres hat sich zum 20. Mal die Sozialdemokraten 20 Prozent fordern, die Konserva- der Tag gejährt, an dem die Opposition anlässlich des tiven und die Liberalen aber allenfalls 5 Prozent zugeste- ungarischen Nationalfeiertages den Siegeszug in Ungarn hen wollen. begonnen hat. Wenige Wochen zuvor fand die erste Sit- zung des runden Tisches in Polen statt. Dem Mut unserer Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wann soll die europäischen Freunde haben wir unsere Freiheit und EU einig sein, die Herausforderungen anpacken und die Einheit zu verdanken. Ich glaube, es ist nicht mehr als Probleme lösen, wenn nicht jetzt? Die EU ist weiterhin wirtschaftlich stark. Jetzt braucht es den politischen Wil- recht und billig, dass sich in dieser Krise ein Teil unserer Dankbarkeit in europäischer Solidarität zeigt. len. Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück haben mit ihren Finanzmarktgrundsätzen gute Voraussetzungen (Beifall bei der SPD) geschaffen. Frau Merkel, liebe Bundeskanzlerin – ich weiß nicht, wo Sie gerade sind –, Da auf diesem Frühjahrsgipfel weitere Themen auf der Tagesordnung stehen, will ich unter dem Stichwort der (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das wissen Solidarität die europäische Nachbarschaftspolitik und wir oft auch nicht!) insbesondere die Östliche Partnerschaft ansprechen. nutzen Sie dieses Potenzial! Motivieren Sie Ihre euro- Denn es ist dringend notwendig, dass wir die Transfor- päischen Kollegen und Kolleginnen, einen gemeinsamen mationsprozesse bei unseren Nachbarn in Richtung De- Standpunkt zu finden und weitreichende Vorschläge zu mokratie, wirtschaftlichen Erfolg und Rechtsstaatlich- entwickeln, die auch die USA und andere Staaten über- keit erst recht in der Krise unterstützen. zeugen, damit wir gemeinsam zukünftigen Krisen vor- (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten beugen können. Ich wünsche der Kanzlerin und der Bun- (D) der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE desregierung bei diesem Vorhaben viel Erfolg. GRÜNEN) Danke schön. Ich glaube zutiefst, dass Investitionen in die Ener- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gieinfrastruktur, die im Rahmen des europäischen Kon- der CDU/CSU) junkturprogramms angedacht sind – auch wenn noch keine Einigkeit im Detail besteht –, im Zusammenhang Präsident Dr. Norbert Lammert: mit dem Klimaschutz unerlässliche Maßnahmen sind Nun hat der Kollege Gunther Krichbaum das Wort für und dass wir im europäischen Verbund die Effizienzstei- die CDU/CSU-Fraktion. gerung, den Einsatz erneuerbarer Energien und den Netzausbau solidarisch voranbringen müssen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Nicht zuletzt bedeutet Solidarität aber auch, dass wir im Rahmen der G 20 die Entwicklungsländer nicht ver- Gunther Krichbaum (CDU/CSU): gessen dürfen, die in dieser Krise am meisten leiden. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Finanzmarktkrise hat die Welt verändert, und sie wird sie Wir müssen drittens gemeinsam dafür sorgen, dass in weiter verändern. Doch wir haben jetzt die Möglichkeit, Zukunft eine derartige Krise von vornherein verhindert diese Veränderung mitzugestalten. Der bevorstehende wird. Das heißt, der G-20-Gipfel muss die weltweite Europäische Rat bietet hierfür eine große Chance. Diese Regulierung politisch voranbringen. Das wird uns nur kann aber nur dann genutzt werden, wenn Europa mit ei- dann gelingen, wenn wir Europäer gemeinsam auftreten. ner Stimme spricht; denn nur dann wird es gelingen, un- Wenn die Forderung von Frau Merkel und Herrn sere Überlegungen und Vorstellungen auf dem bevorste- Sarkozy, die sie auf dem Ministerrat in Frankreich erho- henden G-20-Gipfel Anfang April weltweit zum Standard ben haben, nämlich dass konkrete Ergebnisse erfolgen zu machen. sollen, wirklich Realität werden soll, dann müssen sich die Europäer auf diesem Frühjahrsgipfel einigen, damit Ich denke, es war ein ermutigendes Signal, dass von sie überzeugend wirken und die USA sowie andere Staa- Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Initiative ten auf dem Weg zu einer entsprechenden Finanzmarkt- ausging. Das ist unter anderem auch ein wichtiger Im- regulierung mitnehmen können. puls für das deutsch-französische Verhältnis. Solche Im- pulse haben gerade in der letzten Zeit gefehlt. Deswegen (Beifall bei der SPD) ist die Bedeutung dieser Initiative für die Wiederbele- 22728 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Gunther Krichbaum (A) bung des deutsch-französischen Verhältnisses nicht zu Gunther Krichbaum (CDU/CSU): (C) unterschätzen. Wenn wir es jetzt noch schaffen, unsere Die Frage des Herrn Kollegen Westerwelle wird britischen Freunde und Partner mit ins Boot zu nehmen, wahrscheinlich durch meine Ausführungen beantwortet. dann wird es uns gelingen – davon bin ich überzeugt –, die Leitplanken einzuziehen, die wir auf den Finanz- (Beifall des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] märkten brauchen. Eines ist wichtig: Wir müssen jetzt [CDU/CSU] – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Standards setzen. Wir müssen jetzt ein Immunsystem Heißt das jetzt Ja oder Nein? Kann ich jetzt schaffen, damit sich eine derartige Krise nicht wiederho- fragen oder nicht?) len kann. Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Weil mein Kollege Bernhardt auf die Aufsichtssys- teme, die hierfür notwendig sind, hinlänglich eingegan- Nehmen Sie als Beispiel Großbritannien. Dort wurde gen ist, möchte ich einige andere Aspekte ansprechen. genau das gemacht. Das hatte aber die Folge, dass die Wenn es darum geht, Krisen vorzubeugen, brauchen wir Verbraucher davon nicht profitiert haben, weil Preissen- zweierlei: zum einen eine Stärkung des IWF, des Inter- kungen nicht an die Verbraucher weitergegeben wurden nationalen Währungsfonds, und zum anderen eine Stär- (Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie das einmal der kung der Europäischen Zentralbank. Hier sind die Poten- CSU!) ziale bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Angesichts der Tatsache, dass Produkte die Grenzen überschreiten, und die Profite woanders geblieben sind. Deswegen ist muss auch die Aufsicht Grenzen überschreiten. es richtig, dass die Bundesregierung dies nicht machen wird. Beim Konjunkturpaket hätten wir uns sicherlich eini- ges mehr vorstellen können. Richtig ist, dass die Verant- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und wortung bei den Mitgliedstaaten liegt. Bei einem Kon- der SPD) junkturpaket in einer Größenordnung von 5 Milliarden Ich möchte noch auf weitere Aspekte zu sprechen Euro, wie es die Europäische Union schnürt, können die kommen, die beim Europäischen Rat nicht unter den Wirkungen nur begrenzt sein. Da die Bundesrepublik Tisch fallen sollten. Das sind die Lissabon-Strategie Deutschland davon immerhin circa 1 Milliarde Euro tra- und die Östliche Partnerschaft. Bei der Lissabon-Strate- gen wird, sollten wir darauf hinwirken, dass diese kon- gie befinden wir uns im sogenannten zweiten Dreijahres- junkturellen Maßnahmen schnell wirksam werden, vor zyklus zwischen 2008 und 2010. Ich denke, es hat schon allem aber auch dem Mittelstand zugutekommen. Denn heute Sinn, über die Zukunft der Lissabon-Strategie gerade der Mittelstand ist bei alledem besonders gebeu- nach 2010 nachzudenken. Deswegen muss an dem Kern- telt und bedarf unserer Unterstützung. (B) anliegen, für mehr Wachstum und Beschäftigung zu sor- (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- gen, festgehalten werden. Die Strategie sollte aber inso- neten der SPD) weit neu ausrichtet werden, als dass in Zukunft stärker auf stabiles, nachhaltiges Wachstum Wert gelegt wird. Ein Wort zu Ihnen, Herr Westerwelle: Wer jetzt hier Genau diese qualitative Komponente beim Wachstum mit Mehrwertsteuersenkungen und ermäßigten Mehr- muss in Zukunft stärker betont werden. wertsteuersätzen operieren möchte, streut den Bürgern Sand in die Augen. Die Östliche Partnerschaft wurde bereits von Kolle- gin Schwall-Düren angesprochen. Ich denke, es hat (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Sinn, dass wir diese Östliche Partnerschaft auch von der SPD – Joachim Poß [SPD]: Sagen Sie das deutscher Seite forcieren und unterstützen. Ich möchte mal der CSU! – Alexander Ulrich [DIE an dieser Stelle allerdings auch darauf hinweisen, dass es LINKE]: Was sagt denn Seehofer dazu?) noch offene, klärungsbedürftige Punkte gibt. Zum einen betrifft dies die Finanzierung. Zum anderen ist es wich- Ganz nebenbei: So viel Sand, wie Sie den Bürgern in die tig, dass wir kein Konkurrenzverhältnis zur Schwarz- Augen streuen, gibt keine Wüste dieser Welt her. meersynergie aufbauen und die Prozesse und Mechanis- (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Meinen Sie die men, die wir bereits haben, aufeinander abstimmen. Wir CSU? – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ken- alle wollen, so denke ich, keine Duplizierung der Struk- nen Sie Bayern? – Dr. Axel Troost [DIE turen; dies wäre teuer und ineffektiv. LINKE]: Das liegt in der Nähe von der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Schweiz!) der SPD) Auch Sie müssen einmal zur Kenntnis nehmen, dass Ein weiterer Punkt ist die europäische Integration. niedrige und ermäßigte Mehrwertsteuersätze nur sehr Wir können diese aktuelle Krise nur bewältigen, weil wir begrenzt an die Verbraucher weitergegeben werden. diesen Stand der europäischen Integration haben. Des- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) wegen muss die europäische Integration weitergehen. Das betrifft auch die Staaten, mit denen wir Beitrittsver- handlungen führen. Aber man muss auch nüchtern kon- Präsident Dr. Norbert Lammert: statieren, dass es bei einzelnen Beitrittsländern nur sehr Herr Kollege Krichbaum, gestatten Sie eine Zwi- schleppend vorangeht. Wir unterstützen Kroatien. Maze- schenfrage des Kollegen Westerwelle? donien aber hat noch sehr viele Aufgaben vor sich. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22729

Gunther Krichbaum (A) Im Hinblick auf die Türkei muss ein klärendes Wort Dr. Guido Westerwelle (FDP): (C) erlaubt sein – ich sage dies ohne Schaum vor dem Mund –: Herr Kollege, da Sie meine Zwischenfrage nicht zu- Die jüngsten Bestrebungen der türkischen Regierung gelassen haben, möchte ich Ihnen meine Fragen im Rah- hinsichtlich der Begrenzung der Pressefreiheit sind nicht men einer Kurzintervention stellen. Sie haben die FDP akzeptabel. und meine Person dafür kritisiert, dass wir uns für redu- zierte Mehrwertsteuersätze ausgesprochen haben. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ja, leider! Das war eine viel zu gute Denn die Repressalien, mit denen vor allem die Dogan- Vor lag e! ) Gruppe konfrontiert wird, zielen darauf ab, dass ein Un- ternehmen vom Markt verschwinden soll. Man muss auf Sie haben gesagt, mit dieser Forderung würden wir den Folgendes hinweisen: Ohne Pressefreiheit keine Mei- Bürgerinnen und Bürgern Sand in die Augen streuen. nungsfreiheit, ohne Meinungsfreiheit keine Demokratie; aber ohne Demokratie ist ein Beitritt in die Europäische (Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wüstensand!) Union völlig undenkbar. Wir müssen die Vertreter der türkischen Regierung an ihre Verantwortung erinnern. Tut das auch der Bundeswirtschaftsminister, der das- Die Reformen müssen zunächst einmal den Bürgerinnen selbe sagt wie ich? und Bürgern im eigenen Land dienen. Sie dürfen nicht (Kurt Bodewig [SPD]: Der hätte Ihre Rede nur durchgeführt werden, um der Europäischen Union nicht gehalten! Da bin ich mir sicher!) zu gefallen. Hier muss nachgebessert werden. Die Tür- kei muss gewissermaßen auf den Pfad der Tugend zu- Tut das auch die CSU, ein immerhin nicht unmaßgebli- rückkehren. cher Teil Ihrer Fraktionsgemeinschaft, die dasselbe sagt wie ich? Tut das auch der bayerische Ministerpräsident, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- der dasselbe sagt wie ich? neten der SPD) Außerdem hätte ich gerne von Ihnen gewusst: Die europäische Integration ist eine Erfolgsge- schichte. Ohne sie gäbe es weder den Euro noch den (Ute Kumpf [SPD]: Meine Güte! Heute möch- Schengen-Raum. Auch 20 Jahre nach dem Mauerfall ten Sie aber besonders viel wissen!) muss man darauf hinweisen, dass die eigentlichen Errun- genschaften der europäischen Integration für die Bürger Wie erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern, dass – mit erst mit der Kreierung des Schengen-Raums greifbar einer einzigen Ausnahme, nämlich mit der Ausnahme (B) wurden. Der Eiserne Vorhang war zwar gefallen, die ei- Dänemarks – alle Nachbarländer Deutschlands einen (D) sernen Gardinen, wenn man so will, aber noch nicht. Wir niedrigeren Mehrwertsteuersatz für Hotels und Gastro- müssen den Schengen-Raum sukzessive erweitern; denn nomie haben? Von europäischer Ebene wurde das als hiervon profitieren die Bürgerinnen und Bürger am Möglichkeit ausdrücklich bestätigt. In Österreich, der meisten. Dabei spielen auch Visaerleichterungen eine Schweiz, den Niederlanden, in Frankreich und in Lu- Rolle. xemburg beträgt der Mehrwertsteuersatz für Hotels und Gastronomie 3 Prozent, in Belgien 6 Prozent, und auch (Beifall des Abg. Kurt Bodewig [SPD]) in Tschechien und Polen ist er geringer als in Deutsch- land. Mit anderen Worten: Mit einer Ausnahme, nämlich Wir müssen den jungen Menschen, insbesondere in Ost- mit der Ausnahme Dänemarks, ist Deutschland in der europa, die Möglichkeit geben, das – in Anführungszei- gesamten Europäischen Union das einzige Land, das bei chen – alte Westeuropa kennenzulernen. Nur wer diese Hotels und Gastronomie den vollen Mehrwertsteuersatz Möglichkeit hat, kann auch die Werte der Europäischen erhebt. Union teilen. (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: In den (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und anderen Ländern sind die Preise aber teilweise der SPD) deutlich höher als bei uns! Das interessiert Sie wohl nicht! Gehen Sie doch mal in Frankreich Diese Aspekte dürfen nicht in Vergessenheit geraten. essen! Dann merken Sie, dass da alles viel teu- Last, not least: Der Londoner Gipfel bietet die rer ist als hier!) Chance, eine neue Finanzmarktarchitektur zu kreieren. Finden nicht auch Sie, dass das eine enorme Wettbe- Die anderen Themen, die von Bedeutung sind, dürfen werbsverzerrung zulasten unseres Mittelstandes ist? dabei aber nicht in Vergessenheit geraten. Zum Schluss möchte ich auf das Thema Medika- Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. mente zu sprechen kommen. Medikamente sind etwas, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) was die Menschen wirklich brauchen. Der normale Bür- ger kann, wenn er krank ist, nicht auf Medikamente ver- zichten. Ist Ihnen bekannt, dass neben Deutschland nur Präsident Dr. Norbert Lammert: vier Länder in ganz Europa, nämlich Bulgarien, Däne- Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Guido mark, Österreich und Schweden, den vollen Mehrwert- Westerwelle das Wort. steuersatz auf Medikamente erheben? 22730 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Guido Westerwelle (A) (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wa- Elsass, nur weil dort vielleicht die eine oder andere (C) rum haben Sie denn unserem Antrag nicht zu- Speise 1 Euro weniger kostet. gestimmt?) (Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Dort ist Vor diesem Hintergrund würde ich gerne von Ihnen wis- es teuer; das weiß ich! – Ute Kumpf [SPD]: Es sen: Ist es nicht so, dass Deutschland das Land ist, das ist dort teurer und schlechter!) seine Position überprüfen muss, wenn 22 von 27 Mit- gliedstaaten der Europäischen Union einen anderen Weg Ich kann nur empfehlen, die Gastronomie im Elsass, die gehen und das tun, was die FDP vorschlägt? exzellent ist, einmal kennenzulernen. Sie werden dort aber eher mehr Geld lassen als in den hervorragenden (Beifall bei der FDP – Dr. [DIE baden-württembergischen Restaurants. Das kann ich mit LINKE]: Wir haben das doch beantragt! – Sicherheit auch in Bezug auf viele andere Restaurants im Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ge- restlichen Deutschland behaupten. nau! Wir waren das! Das stimmt! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Warum hat die FDP da- Ihr Populismus, mit dem Sie hier versuchen, den gegengestimmt?) Menschen etwas vorzugaukeln, gehört gebrandmarkt. Es ist also dienlich, diese offenen Punkte einmal zu benen- nen, was Ihnen ganz offensichtlich nicht gefallen hat. Präsident Dr. Norbert Lammert: Zur Erwiderung Herr Kollege Krichbaum. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Das gefällt mir sehr! Das gefällt mir so sehr, dass wir Ihre Gunther Krichbaum (CDU/CSU): Antwort gleich versenden werden! Das gefällt Werter Kollege Westerwelle, ich wehre mich gegen mir außerordentlich!) den grenzenlosen Populismus, den Sie in diesem Hohen Hause betreiben. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das Wort erhält nun der Kollege Alexander Ulrich der SPD) von der Fraktion Die Linke. Bei den Bürgerinnen und Bürgern im Land erwecken Sie (Beifall bei der LINKEN) den Eindruck, als würde eine Reduzierung der Mehr- wertsteuersätze automatisch die Konjunktur beleben. Das ist ein Irrglaube. Andere Länder – siehe Großbritan- Alexander Ulrich (DIE LINKE): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die (B) nien – haben bereits unter Beweis gestellt, dass redu- (D) zierte Mehrwertsteuersätze nicht in Form von niedrige- Linke hat beantragt, dass der verringerte Mehrwertsteu- ren Preisen an die Verbraucher weitergegeben werden. ersatz auch für Medikamente gelten soll. Herr Das, was Sie hier machen, ist populistisch. Westerwelle, die FDP hat damals nicht zugestimmt – so viel zur Ehrlichkeit. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Populistisch ist auch, dass Sie einzelne Steuersätze Die massive Umverteilung von Arm zu Reich, der herauspicken, so zum Beispiel den reduzierten Mehr- massive Sozialabbau, der mit der Lissabon-Strategie ver- wertsteuersatz in manchen Bereichen in Dänemark. Es bunden ist, die Privatisierung der sozialen Sicherungs- gehört dann aber zur Ehrlichkeit dazu, auch zu erwäh- systeme und der öffentlichen Daseinsvorsorge waren nen, dass der normale Mehrwertsteuersatz in Dänemark wichtige Ursachen der jetzigen Wirtschaftskrise. weit über dem bundesdeutschen liegt. Deutschland wurde durch seine wachstums- und europa- feindliche Lohndrückerei Exportweltmeister. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Wenn man sich die heutige Regierungserklärung an- Deswegen funktioniert Ihre Rosinenpickerei nicht, hört, denkt man sich: Die Bundeskanzlerin sollte nicht Herr Westerwelle. Deutschland liegt, was die Steuerbe- die Letzte sein, die einsieht, dass Europa und Deutsch- lastung der Bürger angeht, im Mittelfeld der Europäi- land nicht Opfer, sondern Mitverursacher der jetzigen schen Union. Man muss immer wieder darauf hinweisen, Krise sind. Die Schröder- und die Merkel-Regierungen dass dem Staat die notwendigen Ressourcen zur Verfü- haben diesen gescheiterten Finanzmarktkapitalismus gung gestellt werden müssen, wenn man Schulen, Bil- massiv gefördert und mit verursacht. dungsinfrastruktur und Straßenbau finanzieren möchte. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) Die Bundesregierung hat daher eine besondere interna- tionale Verantwortung zur Belebung der Konjunktur. Die Ein weiterer Punkt betrifft die Gastronomie. Ich Bundesregierung tritt aber weiter auf die Bremse. Ich zi- komme aus Baden-Württemberg – das kann man un- tiere die Worte vom Wirtschaftsnobelpreisträger Paul schwer an meinem Zungenschlag heraushören –, einem Krugman aus dem Stern der letzten Woche: Bundesland, in dem es auf Fläche und Dichte bezogen die meisten Zwei- und Drei-Sterne-Restaurants gibt. Deutschland war bislang nur ein riesiger Stolper- Kein Mensch fährt ins nur wenige Kilometer entfernte stein, ein gewaltiges Hindernis. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22731

Alexander Ulrich (A) Weiter wird er in dem Artikel zitiert: (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) NEN]: Ihr wollt ja nicht! Ihr seid doch Verant- Finanzminister Peer Steinbrück scheine mit koordi- wortungsverweigerer!) nierten Konjunkturprogrammen „ein echtes Pro- blem“ zu haben. Wie wollen Sie ernsthaft Mindestlöhne einführen, wie wollen Sie Steueroasen schließen, wie wollen Sie den Außerdem sagte Krugman, manchmal glaube er – ich zi- Finanzmarktkapitalismus regulieren, wenn Sie eine Ko- tiere –, alition mit der FDP wollen? in Deutschland begreift man das ungeheure Aus- (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- maß der Krise immer noch nicht ganz. NEN]: Sie wollen doch nicht regieren!) Die Bundesregierung ist nicht in der Lage, die Krise Das ist unglaubwürdig, und das nimmt Ihnen niemand in ihrer Dimension zu erkennen. Sie ist nicht in der mehr ab. Lage, die richtigen Antworten zu finden. Die Bundesre- (Beifall bei der LINKEN) gierung versagt auf Kosten von Wohlstand und Arbeits- plätzen in unserem Land. Wie wollen Sie die internatio- Ihr Problem ist nicht Guido, sondern Ihre Inhaltsleere. nalen Ungleichgewichte mit dieser Politik verringern? Sie wollen nur regieren, unabhängig davon, welche In- Die Linke fordert, wie Jean-Claude Juncker, eine Euro- halte dabei herauskommen. Anleihe, um die öffentliche Kreditbeschaffung in Europa zu verbilligen. (Beifall bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben (Beifall bei der LINKEN) schon Schaum vor dem Mund!) Ein Staatsbankrott wird auf jeden Fall teurer. Doch Ich komme zum Schluss. Wir brauchen eine Bundes- die Bundesregierung zeigt wieder ihr antieuropäisches regierung, die ihrer Verantwortung für die Menschen ge- Gesicht und beharrt auf nationalen Anleihemärkten. recht wird und nicht weiter kläglich versagt. An dieser Politik ist aber eines ganz besonders Vielen Dank. schlimm: Viele Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz. (Beifall bei der LINKEN – Axel Schäfer [Bo- Die Opel-Beschäftigten erwarten zu Recht schnelle Hilfe chum] [SPD]: Sie sind die obersten Verantwor- der Bundesregierung. Was wird gemacht? Der Wirt- tungsverweigerer! – Dr.Guido Westerwelle schaftsminister reist zu PR-Zwecken in eigener Sache in [FDP]: Lieber Oasen-Guido als Wüsten-Peer!) die USA, erreicht gar nichts und will das auch noch als (B) (D) Erfolg verkaufen. Die Bundesregierung kennt scheinbar Präsident Dr. Norbert Lammert: zwei Klassen von Menschen: Arbeitnehmer und Bank- Das Wort erhält die Kollegin Nina Hauer, SPD-Frak- manager. Deshalb braucht die Bundesregierung den au- tion. ßerparlamentarischen Druck. Die Linke unterstützt die Forderungen und den Protest am 28. März in Berlin und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Frankfurt unter dem Motto: Wir zahlen nicht für eure Krise. Nina Hauer (SPD): (Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Westerwelle, wenn man der Meinung ist, Frau Bundeskanzlerin, reisen Sie nicht als Lobbyist dass die Leute lieber im Ausland essen gehen, weil dort der Finanzwirtschaft auf den Gipfel und zu G 20! Es die Mehrwertsteuer etwas geringer ist, dann ist es nur reicht nicht aus, nur für mehr Transparenz zu sorgen. folgerichtig, Steueroasen zu verteidigen. Das Kasino muss endgültig geschlossen werden. Es muss verboten werden, mit Währungen, Rohstoffen und (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Lebensmitteln zu zocken. Die Finanzmärkte müssen un- Es geht nicht allein darum, dass wir eine bessere Ko- ter demokratische Kontrolle gebracht werden. Wir brau- operation der europäischen Staaten bei der Bekämpfung chen eine Transaktionssteuer. Hedgefonds müssen ver- der Steuerhinterziehung erreichen. Vielmehr geht es da- boten und Steueroasen geschlossen werden. rum, dass wir verhindern, dass es Staaten gibt, die auf Dauer einen Teil ihrer Wertschöpfung dadurch erzielen, (Beifall bei der LINKEN) dass sie Steuerflüchtlingen Zuflucht bieten. Es geht auch Ich finde es sehr interessant – wir erleben ja zurzeit in nicht allein darum, in der Finanzmarktkrise mit Kon- Deutschland den Vorwahlkampf –: Trittin, Frau Künast, junkturprogrammen an einzelnen Punkten zu helfen. Müntefering, Steinbrück, Steinmeier, alle schwadronie- Darüber sollten wir es aber nicht versäumen, unser Sys- ren von der Ampel. Heute Morgen haben wir festgestellt, tem mit neuen Regeln neu aufzustellen. dass man Steueroasen zusammen mit dem Oasen-Guido Wer diese Krise bewältigen und für die Zukunft vor- schließen will. sorgen will, der muss jetzt dafür sorgen, dass wir Regeln (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) bekommen, an die sich auf dem Finanzmarkt alle hal- ten. Ich finde, bei dem Vortreffen ist schon einiges er- Deshalb wird von Rot-Grün jetzt schon die nächste reicht worden. Dass die Ratingagenturen beaufsichtigt Wahlkampflüge vorbereitet. und registriert werden, das ist ein großer Fortschritt. 22732 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Nina Hauer (A) Frau Künast, es geht nicht darum, ob sie europäisch oder nen und überprüft werden kann, ob die nötige Liquidität (C) amerikanisch sind, sondern es geht darum, wer kontrol- vorhanden ist, um ein Risiko im Geschäft auszugleichen. liert, was sie eigentlich machen. Wer nimmt ihr Ge- Dazu gehört auch, dass wir dafür sorgen, dass diejeni- schäftsmodell unter die Lupe? Wer bewertet, wie sie ihre gen, die Geschäfte tätigen, nicht nur dann immer hoch Bewertungen aufstellen? Wenn wir schon vor ein paar belohnt werden, wenn das Risiko und die Verantwortung Jahren Regelungen geschaffen hätten, die außerbilan- möglichst weit auseinanderklaffen. Ich finde schon, dass zielle Zweckgesellschaften verhindern, dann wäre uns jemand, der ein Risiko eingeht, belohnt werden sollte, viel geholfen. aber das muss an Regeln gebunden sein, und es muss klar sein: Wenn ich nachhaltig wirtschafte – das ist auch Immerhin – ich weiß nicht, wie der Finanzminister am Finanzmarkt notwendig –, dann ist meine Vergütung dies erreicht hat, vielleicht mit Diplomatie, offensicht- am Ende höher, als wenn ich ein Risiko eingehe, für das lich aber auch mit Durchsetzungskraft – haben wir er- hinterher die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen auf- reicht, dass die USA mit uns darüber reden wollen, wie kommen müssen. – Diese Regeln wollen wir am Finanz- wir die Hedgefonds beaufsichtigen und regulieren. Ich markt verankern. finde, das ist ein großer Fortschritt. Das wäre vor zwei Jahren noch nicht ohne Weiteres möglich gewesen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Ich finde, dass wir hier schon große Schritte weiterge- kommen sind. Dass wir überhaupt international darüber Es geht aber – das hat mich etwas an der Regierungs- reden, dass wir alle Produkte, Akteure und Finanzmärkte erklärung der Bundeskanzlerin enttäuscht – nicht nur da- beaufsichtigen müssen, und dass dort Vorschläge ge- rum, zu sagen, dass wir neue Regeln wollen. Wir wollen macht werden, ist schon ein erheblicher Fortschritt. Bis auch ein Leitbild für den Finanzmarkt entwerfen. Dabei vor Kurzem gab es noch viele Staaten – übrigens auch geht es darum, dass diejenigen, die ein hohes Risiko ein- viele Politiker und Politikerinnen hier in Deutschland –, gehen – das muss man auch weiterhin am Finanzmarkt die gesagt haben: Der Finanzmarkt braucht gar keine Re- dürfen –, dafür auch die Verantwortung tragen. Risiko geln. Er hat ganz eindeutig das Interesse, die Rendite zu und Verantwortung müssen sich also die Waage halten. maximieren. Wenn das nach diesem Prinzip geht, dann (Beifall bei Abgeordneten der SPD) läuft das schon. Das war bisher aber nicht der Fall. Wenn jemand Pa- Das ist falsch und auch nicht die Aufgabe des Finanz- piere kauft, die zu Paketen geschnürt worden sind, die marktes. Seine Aufgabe ist es, Kapital für Ideen von Un- Kredite enthalten, die nicht zurückgezahlt werden kön- ternehmen hier und anderswo in der Welt zur Verfügung nen oder bei denen das Risiko groß ist, dass sie aufgrund zu stellen und es zu ermöglichen, dass wir Verbrauche- (B) der Zinsbedingungen nicht zurückgezahlt werden kön- rinnen und Verbraucher unser Geld für das Alter, zur (D) nen, dann muss derjenige einen Teil des Risikos tragen, Vorsorge und für alles andere dort anlegen können. Da- wenn er diese Papiere weiterverkauft. bei müssen wir natürlich auch nachvollziehen können, was mit dem Geld passiert. Deshalb finde ich den Vorschlag unseres stellvertre- tenden Parteivorsitzenden und Kanzlerkandidaten Das sind die Leitlinien, an denen wir uns orientieren Frank-Walter Steinmeier richtig, dass ein Teil des Risi- sollten. Ich bin froh, dass wir als SPD schon sehr früh kos bei denjenigen bleiben soll, die die Pakete schnüren. Vorschläge zu diesen Leitlinien eingebracht haben. Bei einem Selbstbehalt von 20 Prozent bei Verbriefun- Vielen Dank. gen beispielsweise, die wir am Finanzmarkt ja brauchen – wir wollen sie nicht abschaffen –, wird sich der eine (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Gunther oder andere schon überlegen, was darin enthalten ist, be- Krichbaum [CDU/CSU]) vor er verkauft und bevor am Ende niemand mehr nach- vollziehen kann, wohin eigentlich verkauft worden ist. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Nun erhält der Kollege Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Genauso finde ich, dass es beim Risiko und bei der Verantwortung darum geht, wie viel Eigenkapital ein (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Guido Unternehmen bereithält. Wir wollen mit unseren Eigen- Westerwelle [FDP]: Wie wird das denn jetzt kapitalstandards nicht prozyklisch dann reagieren, wenn bei der Mehrwertsteuer?) wir sehen, dass in Europa die Bereitschaft sinkt, Kredite für die Wirtschaft zu vergeben. Für die Zukunft wollen Thomas Silberhorn (CDU/CSU): wir, dass diejenigen, in deren Bilanzen große Risiken Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und stehen, diese auch mit dem entsprechenden Eigenkapital Herren! Wir sind uns einig, dass aufgrund der globalen unterfüttern müssen. Hier müssen dann eben alle mitma- Dimension dieser Finanzmarktkrise auch globale Lö- chen. Ausgerechnet die USA setzen Basel II nicht um. sungsansätze erforderlich sind. Ich finde es gut, dass wir Ausgerechnet jetzt, da wir es am dringendsten gebrau- an uns den Anspruch stellen, dass der Globalisierung aus chen könnten, haben sie gesagt: Wir machen das an die- diesem Anlass ein politischer Ordnungsrahmen gegeben ser Stelle nicht mit. werden muss. Wir wollen mit diesen Anforderungen an Eigenkapi- Die Europäische Union kann mit dem Gipfel, der jetzt tal erreichen, dass Stresstests durchgeführt werden kön- bevorsteht, eine Pilotfunktion wahrnehmen, weil es da- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22733

Thomas Silberhorn (A) rum geht, dass wir internationale Standards setzen, die angehen, dass wir eine Art Softkriminalität in Vorstands- (C) auf der Grundlage demokratischer Vorbilder und auf der etagen hinnehmen, die dadurch zustande kommt, dass Grundlage der sozialen Marktwirtschaft zustande kom- man mit dem System von Bonuszahlungen Handeln im men. Wir sind uns über das Ob einig, aber wir müssen Eigeninteresse fördert und unternehmerische Entschei- über den richtigen Weg streiten. dungen letztlich nicht im Interesse des Unternehmens, der Kunden und schon gar nicht der Beschäftigten ge- Als beispielsweise schnell der Vorschlag gemacht troffen werden. wurde, jetzt eine zentralisierte europäische Aufsichts- behörde für den Finanzmarkt zu errichten, wurde ich (Beifall bei der CDU/CSU) doch sehr skeptisch. Kann es wirklich zielführend sein, Wenn wir solche Fehlentscheidungen dadurch korrigie- eine europäische Behörde einzurichten, wenn es um eine ren, dass wir Steuergelder der kleinen Leute einsetzen, Finanzkrise globalen Ausmaßes geht? Eine Insellösung dann liegt es nahe, dass das Vertrauen in das Funktionie- der Europäischen Union wird dieser Herausforderung ren der sozialen Marktwirtschaft untergraben wird. Des- nicht gerecht und die strukturellen Schwächen auf dem wegen rate ich dazu, dass wir dort, wo die Gelegenheit Finanzsektor weltweit ganz sicher nicht beseitigen. besteht, die Akteure in Haftung nehmen. Ich halte ein solches Modell auch nicht unbedingt für Vorstände von Aktiengesellschaften sind schaden- praktikabel; denn Aufsicht findet immer lokal statt. ersatzpflichtig. Sie haften mit ihrem vollen Privatvermö- Wenn man Regulierungsstandards setzt, über die wir uns gen für ihr Tun. gerne international verständigen können, dann muss die Beachtung dieser Regulierungsstandards vor Ort kon- (Joachim Poß [SPD]: Nach geltendem Recht!) trolliert und durchgesetzt werden. Es ist nicht hinnehmbar, dass unternehmerische Fehlent- Es ist auch nicht unbedingt verantwortungsbewusst, scheidungen mit Abfindungen, Bonuszahlungen und wenn man europäische Behörden einrichten will, aber Auszahlungen der Rente in Millionenhöhe belohnt wer- im Krisenfall die Folgen von den Mitgliedstaaten getra- den und dies zum Teil noch gerichtlich eingeklagt wird. gen werden müssen. Ich glaube, dass eine Lehre dieser Stattdessen sollten wir den Spieß umdrehen und die Finanzkrise darin bestehen muss, Handeln und Haften Handelnden in Haftung nehmen. zusammenzuführen. Insofern mahne ich, dies nicht Wenn man das angehen will, braucht es einen Kläger. durch neue Institutionen oder Organisationsfehler aus- Wenn der Bund in die Verlegenheit kommen sollte, sich einanderfallen zu lassen. an Aktiengesellschaften wie der Hypo Real Estate zu be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) teiligen, dann ist die Gelegenheit, ernsthaft zu prüfen, in- wieweit die Handelnden in Form von Schadenersatzleis- (B) Ich halte es auch für riskant, eine Krise, die mögli- tungen herangezogen werden können, und damit dafür (D) cherweise durch kollektives Versagen vieler Beteiligter zu sorgen, dass Handeln und Haften wieder zusammen- entstehen konnte, dadurch lösen zu wollen, dass man geführt werden. Ich bitte darum, dass die Bundesregie- jetzt die Entscheidungen, die bisher viele getroffen ha- rung in diesem Sinne tätig wird, bevor wir entspre- ben, in einer Behörde zentralisiert. Wenn dann eine Fehl- chende Anträge vorlegen müssen. entscheidung getroffen wird, ist die Wirkung umso schlimmer. Die spanische Finanzaufsicht beispielsweise (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hat den spanischen Banken untersagt, diese vergifteten Darin liegt für uns durchaus die Chance, insoweit auch Finanzprodukte aufzulegen. Wir müssen uns die Frage in der Europäischen Union stilbildend und vertrauensbil- stellen, weshalb die kritische spanische Aufsicht, die dend zu wirken und zu versuchen, das, was an Vertrauen sich letzten Endes als richtig erwiesen hat, nicht europa- zerstört worden ist, so weit wie möglich wiederherzu- weit die nötige Aufmerksamkeit gefunden hat. Mein stellen. Vorschlag ist, die Aufsicht international zu koordinieren. Wir dürfen sie aber nicht zentralisieren, sondern müssen Erlauben Sie mir noch eine kritische Anmerkung zu die nationalen Aufsichtsbehörden besser miteinander den bevorstehenden Verhandlungen in der Europäischen vernetzen. Union. Ich glaube, wir haben alles getan, was in unseren Möglichkeiten steht. Wir sind bis an die Grenzen unserer Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung zu diesem Leistungsfähigkeit gegangen. Deswegen muss jetzt wie- Punkt. Wenn man sich in Brüsseler Fluren darüber strei- der ein Konsolidierungskurs eingeschlagen werden. tet, wo der Sitz einer solchen europäischen Finanzauf- Ich rate dazu, diese Krise nicht dazu zu missbrauchen, sichtsbehörde sein könnte, dann ist das ein verdammt neue Sünden zu begehen, von einem Sonderfonds für kleines Karo vor dem Hintergrund der globalen Krise. osteuropäische Staaten über Euroanleihen, die Auswei- Ich rate uns dazu, von solchen Kuhhandeln Abstand zu tung des Globalisierungsfonds bis hin zum Aufschnüren nehmen und durch eine Vernetzung der bestehenden na- der Finanziellen Vorausschau und allem, was das Sün- tionalen Einrichtungen eine globale Lösung in Angriff denregister sonst noch umfasst. Im Zweifel sollte das zu nehmen. Beichtstuhlverfahren, für das die europäischen Gipfel- Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der aus treffen berühmt sind, wieder zur Anwendung kommen, meiner Sicht in der gesamten Debatte über die Wirt- aber es sollte keine Absolution erteilt werden, wenn man schafts- und Finanzkrise zu kurz kommt, nämlich die nicht von diesen Sünden lassen will. persönliche Verantwortung der Akteure, die die Ursa- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. chen für diese Krise geschaffen und unternehmerische Fehlentscheidungen getroffen haben. Es kann doch nicht (Beifall bei der CDU/CSU) 22734 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Vizepräsidentin : EU. Es dürfen aber nicht infolge der Krise Geschenke (C) Nächster Redner ist der Kollege Kurt Bodewig für die verteilt werden, da sonst nur Mitnahmeeffekte erzielt SPD-Fraktion. würden. Da diese Projekte trotzdem wichtig sind, müs- sen wir neben der konjunkturellen Wirkung darüber (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nachdenken – dabei geht es nicht um neues Geld –, was wir nach der Überwindung der Krise in der Konsolidie- Kurt Bodewig (SPD): rungsphase tun werden. Dann können diese Projekte Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und wieder eine Rolle spielen. Aber sie dürfen nicht verzer- Kollegen! In einer Debatte soll man auch auf die Rede- rend wirken. Nabucco ist genauso wichtig wie Nord beiträge der anderen eingehen. Eine kurze Anmerkung Stream. Interkonnektoren sind in den Ostseeanrainer- zur Rede des Kollegen Silberhorn: Das Haftungsrecht staaten genauso wichtig wie in Südosteuropa. All das besteht; wir müssen es nur anwenden. Das ist keine ge- führt dazu, dass wir die künstliche Trennung etwa im setzgeberische Frage, sondern eine Frage der Kultur in Energieversorgungsbereich zwischen Ost und West in den Unternehmen. Auf diese können wir gemeinsam Europa aufheben können. Darüber sollten wir schon einwirken. heute nachdenken; das ist mir sehr wichtig. Die Barroso- (Beifall bei der SPD) Vorschläge dürfen nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung führen. Das Problem ist, dass dann bereits geplante In- Ich gehe gerne noch auf die populistische Kurzinter- vestitionen zurückgestellt würden, weil man sich Mit- vention ein. Ich möchte den Bundeswirtschaftsminister nahmeeffekte erhofft. ausdrücklich in Schutz nehmen. Eine solche Rede, Herr Westerwelle, wie Sie sie gehalten haben, würde er nie- Wir sollten das fortsetzen, wofür Deutschland steht mals halten; das ist eine wichtige Grundvoraussetzung. und was wir seit zehn Jahren sehr intensiv betreiben. Ihre sehr eigenartige, unverhohlene Sympathie für Steu- Energieeffizienz stellt eine Haupteinsparquelle dar. Wir eroasen – diese sind nichts anderes als der Zufluchtsort wollen die erneuerbaren Energien und Energieformen, für Steuerhinterzieher – teilt niemand in der Bundes- die nicht belastend wirken. Deswegen ist Offshore ein regierung und der Koalition; das sollten wir ausdrücklich ganz wichtiges Thema. Hierbei handelt es sich übrigens feststellen. Ich glaube, Sie haben sich Ihren neuen Spitz- um eine der Technologien, die im Obama-Programm mit namen zu Recht erarbeitet. 3,2 Milliarden US-Dollar Forschungsmitteln begleitet wird. Wir haben hier Planungen und eine entsprechende (Dr. Guido Westerwelle [FDP]: Kann ich den Technologie. Wir sollten daher auch zur Anwendung noch einmal hören, bitte? Für die Öffentlich- kommen. Ich glaube, wir Europäer haben große Chan- keit!) cen, die Meinungsführerschaft auszuüben. Vorausset- (D) (B) – Ihre Egopflege dürfen Sie selbst betreiben. zung ist aber, dass wir Geschlossenheit zeigen. In diesem Sinne dienen die Barroso-Vorschläge eher der (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) Ablenkung als der Konzentration und Fokussierung auf Ich fahre fort und gehe auf die Bemerkungen des dieses Thema. Bundesfinanzministers ein. Ich glaube mich richtig zu Ich möchte noch andere Bereiche ansprechen. Wir erinnern, dass er die Schweiz mit keinem Wort erwähnt brauchen in der Konsolidierungsphase Investitionen, die hat. Er hat von den Instrumentarien der OECD gespro- sich rechnen und gleichzeitig den neuesten Stand der chen. Die heftige Reaktion in der Schweiz dokumentiert Technologie abbilden. Ein Beispiel ist die betriebsopti- – das ist sehr interessant –, dass man sich dort offenbar mierte Anlagetechnologie in der deutschen Braunkohle- angesprochen fühlt. Auch das sollten wir wahrnehmen. industrie. Diese Technologie könnte in China den Wir- (Beifall bei der SPD) kungsgrad bei der Steinkohleverwertung verfünffachen, vielleicht sogar versiebenfachen. Das wäre eine Investi- Ich möchte eigentlich noch auf einen anderen Punkt tion für den Klimaschutz. Gleichzeitig hätte diese große eingehen, der heute und morgen eine besondere Rolle Technologie eine Anreizfunktion und würde sich auf die spielt, nämlich das Zusammenwirken der europäischen deutsche Wirtschaft, an der mir sehr gelegen ist, positiv Staaten bei der Energieversorgungssicherheit; die auswirken. Wir haben also etwas vorzuweisen; auch Bundeskanzlerin hat das bereits angesprochen. Das wird CCS und andere Verfahren sind in diesem Bereich au- ein Thema sein, in der Zeit bis zur Klimakonferenz in ßerordentlich zukunftsträchtig. Kopenhagen. Ich würde mich freuen, wenn der Europäische Rat die Wir sollten uns die Barroso-Vorschläge sehr genau Gelegenheit nutzen würde, strategisch über die Initiie- anschauen; denn das, was er im Moment macht, ist rung von zukunftsfähigen Investitionen zu sprechen, an- nichts anderes als eine Reise der Wahlgeschenke, die sei- statt länderausgewogen alle Teile Europas mit kleinen ner Wiederwahl als Kommissionspräsident dient. Er 100-Millionen-Euro-Projekten zu unterstützen. Die Bun- macht Programmvorschläge, die das Thema Konjunktur- deskanzlerin hat recht, wenn sie sagt: Diese Form der programm in keiner Weise berühren. Seine vorgeschla- Unterstützung müssen wir auf den Prüfstand stellen. genen Programme sind nicht geplant und stehen zurzeit Gleichzeitig muss ein Appell des ganzen Hauses erfol- nicht an. Sie werden daher auch keine konjunkturelle gen, Europa so zu entwickeln, dass wir selber die Zu- Wirkung haben. Das alles passt nicht an diese Stelle. Si- kunft gestalten können. cherlich handelt es sich um wichtige Projekte; aber sie gehören in das ganz normale Haushaltsverfahren der Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22735

Kurt Bodewig (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich finde es besorgniserregend, dass entgegen allen (C) der CDU/CSU) Beteuerungen seit dem G-20-Gipfel in Washington im November letzten Jahres 17 der dort vertretenen Staaten Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: insgesamt 47 neue Handelsbeschränkungen verfügt Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege haben. Wichtiger denn je ist deshalb ein Fortführen und Thomas Bareiß für die CDU/CSU-Fraktion. Aktivieren der Doha-Runde und der WTO-Gespräche. Protektionistischen Tendenzen muss vor allem in dieser (Beifall bei der CDU/CSU) Krise Einhalt geboten werden. Davon profitiert Deutsch- land. Thomas Bareiß (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herren! Am Schluss dieser Debatte zeigt sich, dass kei- NEN]: Sie wollen doch nur exportieren! Wir ner von uns wirklich sagen kann, ob wir am Anfang oder dürfen keinen Raubbau beim Klima zulassen!) am Ende dieser Krise stehen und welche Herausforde- – Frau Künast, davon profitieren vor allen Dingen auch rungen wir noch bewältigen müssen. Doch eines möchte die Schwellen- und Entwicklungsländer, die aus einem ich zu Beginn meiner Ausführungen klarstellen: Ich fairen und freien Welthandel großen Nutzen ziehen. glaube, dass wir diesen Herausforderungen in einer Posi- tion der Stärke gegenüberstehen. Deutschlands Volks- Aber nicht nur die Doha-Runde und die WTO-Ge- wirtschaft ist so stark wie seit langem nicht mehr. Wir spräche sind eine wichtige Komponente. Auch die haben eine starke handlungsfähige Regierung, Märkte, insbesondere der europäische Binnenmarkt und (Zuruf von der LINKEN: Wo denn?) der US-Markt, sind ein Motor der Weltwirtschaft. Diese beiden Märkte machen 60 Prozent der weltweiten Ein- auch aufgrund dessen, dass wir drei Jahre lang Haus- kommen aus und vereinen über 70 Prozent der weltwei- haltskonsolidierung betrieben haben. ten Direktinvestitionen auf sich. Allein diese beiden (Hans-Joachim Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr Märkte nehmen 40 Prozent aller Exporte der Entwick- richtig!) lungs- und Schwellenländer auf. Daraus entsteht eine enorme Wirtschaftskraft, aber auch eine enorme Verant- Wir haben ein starkes dreigliedriges Bankensystem. wortung für diese beiden Wirtschaftszweige. Trotz aller Probleme sorgt es dafür, dass auch in der Flä- che Kredite vergeben werden. Außerdem haben wir nach Aus diesem Grund ist der von Bundeskanzlerin drei Boomjahren eine starke deutsche Wirtschaft. Wir Angela Merkel initiierte Transatlantische Wirtschafts- rat wichtiger denn je. Er sorgt dafür, dass Handels- (B) befinden uns also in einer Position der Stärke. Das ist ge- (D) rade in der jetzigen Zeit für uns enorm wichtig. hemmnisse abgebaut werden und der Welthandel wieder funktioniert. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Heute, am Tag des Zusammentreffens des Europäi- Wer die Warenströme kennt, weiß, dass dies sowohl für schen Rates, und wenige Tage vor dem G-20-Treffen in unsere Automobil- und Chemieindustrie als auch für die London müssen wir die richtigen Schlussfolgerungen Energie- und Umwelttechnologien wichtig ist. In diesen ziehen. Viele meiner Vorredner gingen auf diese Bereichen können wir ebenso wie im Sicherheits- und Schlussfolgerungen ein. Ich möchte nur einen Punkt he- im Umweltbereich Standards in der Welt setzen und da- rausgreifen, der mir besonders wichtig ist: Ein Haupt- mit zu einem Vorreiter für andere Länder werden. Eine auslöser der Krise war eine maßlose und oftmals auf erfolgreiche Fortsetzung der Gespräche im Transatlanti- Schulden basierte Ausgaben- und Liquiditätspolitik schen Wirtschaftsrat hat deshalb nicht nur für Europa, aller Finanzmarktteilnehmer: der Zentralbanken, der Re- sondern auch für das Weiße Haus und die Obama-Admi- gierungen, der Wirtschaft und auch der Privathaushalte. nistration oberste Priorität. Dies stimmt mich zuversicht- Diese maßlose Politik hat dazu geführt, dass eine Blase, lich. Dieses Instrument stellt zugleich eine ganz wichtige größtenteils in den USA, entstanden ist. Als diese Blase Antwort auf die derzeitige Krise dar. geplatzt ist, hat dies die Volkswirtschaften der Welt in die Krise gestürzt. Ich nehme deshalb diejenigen, die Meine Damen und Herren, wir haben jetzt die jetzt besorgt vor weiteren größeren Ausgaben warnen, Chance, zu einem entscheidenden Durchbruch zu kom- ernst. Ich habe heute gelesen, dass die Fed 1 Billion US- men. Dass wir global handeln und diese Chance nutzen Dollar in den Markt pumpen will. Das erfüllt mich per- müssen, liegt auf der Hand. Die Weltwirtschaft kann aus sönlich mit Sorge. Vor einem solchen Handeln auch in dieser Krise gestärkt hervorgehen. Für die EU und die Europa müssen wir warnen. Deshalb bin ich dankbar, USA ist dies von besonderer Bedeutung. Lassen Sie dass die Bundeskanzlerin und der Finanzminister Forde- mich zum Schluss dieser Debatte betonen, dass auch wir rungen nach weiteren Konjunkturprogrammen aus den in Europa für mehr Handelsfreiheit sorgen müssen. USA, England und Japan eine klare Absage erteilt ha- Diese Gunst der Stunde sollten wir jetzt nutzen. ben. Eine solide Haushalts- und Finanzpolitik ist ein Ga- rant für das Vertrauen, das wir so dringend brauchen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) neten der SPD) 22736 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Höhn, Hans-Josef Fell, Sylvia Kotting-Uhl und (C) Ich schließe die Aussprache. der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir kommen nun zu den Abstimmungen über die Alte Atomkraftwerke jetzt vom Netz nehmen Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschlie- – Drucksachen 16/6319, 16/7882 – ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/12296? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Berichterstattung: Entschließungsantrag ist damit mit den Stimmen der Ko- Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein alitionsfraktionen, der FDP-Fraktion und der Fraktion Christoph Pries Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Angelika Brunkhorst Die Linke abgelehnt. Hans-Kurt Hill Hans-Josef Fell Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/12297? – Wer d) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsan- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz trag ist damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Sylvia Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Kotting-Uhl, Cornelia Behm, weiterer Abgeord- Linke abgelehnt. neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN Der Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/ Sicherheit geht vor – Besonders terroranfäl- Die Grünen auf Drucksache 16/12298 soll zur federfüh- lige Atomreaktoren abschalten renden Beratung an den Ausschuss für Umwelt, Natur- schutz und Reaktorsicherheit und zur Mitberatung an – Drucksachen 16/3960, 16/8469 – den Auswärtigen Ausschuss, den Ausschuss für wirt- Berichterstattung: schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie an Abgeordnete Dr. Georg Nüßlein den Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi- Christoph Pries schen Union überwiesen werden. Sind Sie damit einver- Angelika Brunkhorst standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so Hans-Kurt Hill beschlossen. Hans-Josef Fell Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 5 a bis g auf: e) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz (B) a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate (D) Künast, Fritz Kuhn, Hans-Josef Fell, weiterer und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Sylvia DIE GRÜNEN Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Energiewende vorantreiben – Atomausstieg NEN fortsetzen Vertragstreue Abschaltung alter Atomkraft- – Drucksache 16/12288 – werke in Osteuropa Überweisungsvorschlag: – Drucksachen 16/11764, 16/12312 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Innenausschuss Berichterstattung: Finanzausschuss Abgeordnete Christian Hirte Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Christoph Pries b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia Angelika Brunkhorst Kotting-Uhl, Jürgen Trittin, Cornelia Behm, wei- Hans-Kurt Hill terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Hans-Josef Fell NIS 90/DIE GRÜNEN f) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Verantwortlichkeiten für die Zustände im und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) Endlager Asse II benennen und Konsequenzen zu dem Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- für die Endlagersuche ziehen Uhl, Renate Künast, Fritz Kuhn und der Fraktion – Drucksache 16/10359 – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Für eine Schließung des Forschungsendlagers Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Asse II unter Atomrecht und eine schnelle Ausschuss für Bildung, Forschung und Rückholung der Abfälle Technikfolgenabschätzung – Drucksachen 16/4771, 16/12270 – c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz Berichterstattung: und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu dem Abgeordnete Axel E. Fischer (Karlsruhe-Land) Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Bärbel Dr. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22737

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Cornelia Pieper würden sie auch noch ein erhebliches Sicherheitsrisiko (C) Dr. Petra Sitte darstellen. Das funktioniert nicht. Priska Hinz (Herborn) Dass das nicht nur unsere Meinung ist, haben wir ge- g) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten rade erfahren. Die Briten setzen bekanntlich auf Atom- Angelika Brunkhorst, Cornelia Pieper, Michael kraft. Deshalb haben sie bei den großen Energiekonzer- Kauch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion nen eine Stellungnahme darüber angefordert, wie sich der FDP der Ausbau der erneuerbaren Energien in Großbritannien darstellt. Eon und EDF sagen, dass Großbritannien den Informations-Materialien der Bundesregie- Ausbau der erneuerbaren Energien beschränken müsse, rung zum Thema „Fakten und Kontroversen wenn der Ausbau der Atomkraft gewünscht werde. EDF zum so genannten Ausstieg aus der friedlichen spricht von einer Deckelung bei 20 Prozent, Eon geht et- Nutzung der Kernenergie“ für Kinder und was darüber hinaus. Das heißt, nicht nur wir Grünen, Heranwachsende sondern auch die Energiekonzerne sind der Meinung, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien mit dem – Drucksachen 16/9509, 16/11343 – Ausbau der Atomkraft nicht zusammengeht. Deshalb Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für muss doch die Alternative heißen: Ja zu den erneuerba- die Aussprache eineinhalb Stunden vorgesehen. – Sie ren Energien. sind damit einverstanden. Dann können wir so verfah- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ren. und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Ich eröffne die Aussprache. Als erster Rednerin er- LINKEN) teile ich der Kollegin Bärbel Höhn für die Fraktion Wir sind aber auch für den Atomausstieg, weil Atom- Bündnis 90/Die Grünen das Wort. kraft lebensgefährlich ist. Sichere Atomkraftwerke gibt es nicht. Je älter ein Atomkraftwerk ist, desto gefährli- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): cher ist es. Kein Atomkraftwerk der Welt wäre vor einer Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Reaktorkatastrophe wie in Tschernobyl in der damaligen Wir Grünen haben diese Debatte über die Energiewende Sowjetunion oder in Harrisburg in den USA gefeit. Wer und den Atomausstieg beantragt, weil unser Land vor ei- von uns hätte gedacht, dass wir vor drei Jahren in dem ner energiepolitischen Richtungsentscheidung steht. Es Land mit der größten Sicherheitskultur, in Schweden, geht darum, wie die Energie der Zukunft aussehen soll: fast einen GAU in einem Atomkraftwerk gehabt hätten? Wollen wir auf erneuerbare Energien oder auf die Re- Das war in Forsmark. Der Chef dieses AKWs hat gesagt: (B) naissance der Atomkraft setzen? Wir Grüne setzen auf Ich hätte das nicht für möglich gehalten. – Es war aber (D) erneuerbare Energien und sagen: Eine Renaissance der doch möglich, und es bleibt möglich. Weil wir diese Atomkraft und erneuerbare Energien – beides zusammen Möglichkeit ausschließen wollen, wollen wir raus aus geht nicht; wir müssen uns entscheiden. der Atomkraft. Wir wollen dieses Risiko nicht. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN) LINKEN) Wir sind für den Atomausstieg, weil Atomkraft Warum geht das nicht? Man denkt ja zuerst einmal, es schmutzig ist. Ich wundere mich immer über Plakate, auf könnte sein. Auch die Bundesregierung sagt, dass der denen steht, Atomkraft sei saubere Energie. Das, finde Anteil der erneuerbaren Energien im Jahr 2020 30 Pro- ich, ist absurd und unverfroren. Eine Technik, die Atom- zent betragen soll, wir Grünen wollen mehr, nämlich müll produziert, der für Hunderttausende von Jahren ge- über 40 Prozent, und die Unternehmen im Sektor erneu- fährlich ist, von dem wir nicht wissen, wo er gelagert erbare Energien sprechen sogar von 47 Prozent. Wir werden kann, erzeugt keine saubere Energie. Diese Be- wissen, dass davon ein großer Anteil Windenergie sein hauptung ist falsch. wird. Auch wenn wir immer besser prognostizieren kön- nen, wann der Wind weht, und auch wenn die großen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Windkraftanlagen auf dem Meer kontinuierlicher Strom und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der liefern, so wissen wir doch, dass es Zeiten gibt, in denen LINKEN) der Wind nicht weht. Das heißt, dass wir zusätzlich zu Atommüll ist giftig, Atommüll strahlt, und wir wissen den erneuerbaren Energien Kraftwerke brauchen, die nicht, wohin damit. Wir haben das Problem der Endlage- schnell und flexibel hoch- und heruntergefahren werden rung überhaupt nicht gelöst. Wenn man sich den Skandal können und die erneuerbaren Energien ergänzen können. bei dem Versuchslager Asse anschaut, dann sieht man: Dazu taugen Atomkraftwerke nicht. Strahlenmüll kann nicht sicher eingeschlossen werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN In Asse ist in einem Bergwerk, das für Hunderte von und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Jahren als sicher galt, Müll ausgesifft. Das funktioniert LINKEN) also nicht. Das Atommüllproblem ist nicht gelöst. Die Endlagerfrage ist nicht beantwortet. Wir wollen deshalb Sie sind langsam, sie sind schwerfällig, und sie sind un- mit dem Weiterbetrieb der Atomkraftwerke die Pro- flexibel. Wenn man sie hoch- und herunterfahren würde, bleme mit dem Atommüll nicht verstärken. Wir fordern 22738 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Bärbel Höhn (A) den Atomausstieg, damit das Problem des Atommülls Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) endlich ein Ende hat. Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege Christian Hirte. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU) Wir sind für den Atomausstieg, weil Atomkraft teuer ist. In Finnland sind die Kosten des Reaktorbaus von Christian Hirte (CDU/CSU): 3 Milliarden Euro auf mittlerweile 4,5 Milliarden Euro Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gestiegen. Wer zahlt das? Es sind der deutsche und der Es ist zwar bald Ostern; die Anträge der Grünen erinnern französische Steuerzahler. Eine halbe Milliarde Euro aber eher an das alte Weihnachtslied „Alle Jahre wie- zahlt Siemens – damit hat Siemens weniger Gewinn –, der“: Jahr für Jahr legen uns die Grünen Anträge zum und 1 Milliarde Euro zahlt der französische Steuerzahler, Atomausstieg oder zumindest zur Fortsetzung des Atom- weil EDF an dem Kraftwerksbau beteiligt ist. Es ist also ausstiegs vor, keinesfalls so, dass Atomkraft billig ist. Sie ist günstig für die Konzerne, aber nicht günstig für die Gesellschaft; (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Monatlich!) denn alle Kosten, zum Beispiel die, die mit der Endlage- jeweils in leicht abgewandelter Form, um ihnen einen rung verbunden sind, muss am Ende der Steuerzahler neuen Anstrich zu geben. Indes bleiben die Anträge die tragen. So verschlingen zum Beispiel die Asse oder alten – so wie die Sachlage. Geändert hat sich vielleicht Morsleben Milliarden. Diese wird am Ende der Steuer- nur die Auffassung der Bevölkerung. Dort ist nämlich zahler zahlen müssen. Atomkraft kommt uns also teuer eindeutig eine Trendwende hin zur Kernenergie zu be- zu stehen. Deshalb wollen wir die Atomkraft nicht. merken. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Weil den Leuten Sachen versprochen Atomkraft ist aber auch überflüssig. Wir brauchen werden, die überhaupt nicht stimmen!) keine Atomkraft. Die Atomkraftwerke Brunsbüttel, Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Krümmel, Biblis A und Biblis B waren in den letzten Emnid sprechen sich mittlerweile 48 Prozent der Deut- zwei Jahren im Schnitt neun Monate am Netz, also nur schen für eine Verlängerung der Laufzeiten aus, nur in etwas mehr als einem Drittel der Zeit. Das heißt, diese 42 Prozent dagegen. Atomkraftwerke wurden in einem Großteil der Zeit überhaupt nicht betrieben. Teilweise waren sieben (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Atomkraftwerke gleichzeitig abgeschaltet. Haben Sie ir- Pfeifen im Wald!) (B) (D) gendwo gesehen, dass eine Lampe geflackert hat? Haben Das Bundesumweltministerium hatte auf seiner Home- Sie irgendwo gesehen, dass ein Kühlschrank ausgefallen page die Ergebnisse einer Umfrage veröffentlicht, in der ist? Nein, im Gegenteil: Deutschland hat in dieser Zeit sich immerhin 57 Prozent der Teilnehmer für eine Ver- enorm viel Strom exportiert. Deshalb gilt: „Stromlücke“ längerung der Laufzeiten ausgesprochen haben. ist eine Stromlüge. Wir haben genug Strom, auch ohne die Atomkraftwerke. (Marco Bülow [SPD]: Was ist denn das für eine Umfrage? So ein Quatsch!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Diese Ergebnisse haben dort bekannterweise nicht lange sowie bei Abgeordneten der LINKEN) gestanden. Das DIW konstatiert, dass sich dieser Trend Das ist in vielen Studien, die von der Bundesregierung zu einem Ja für längere Laufzeiten noch verstärkt. selbst in Auftrag gegeben worden sind, bewiesen. Das Der Neuaufguss der Grünen-Anträge ist durchaus heißt, wir haben genug Strom. Es geht ohne Unfallrisi- nachvollziehbar – Frau Höhn hat das gerade ausgeführt –: ken, ohne Terrorgefahren und ohne Strahlenmüll. Des- Uns steht ein Wahlkampf bevor, und die Grünen hoffen halb sagen wir: Wir wollen raus aus der Atomkraft. natürlich, ihre bei diesem Thema abtrünnige Klientel im Wahljahr wieder auf Kurs zu bringen. Wir werden die Debatte darüber in den kommenden Monaten führen. Die Menschen haben ein Recht darauf, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: die Argumente zu hören. Sie sollen wissen, dass wir an Wir haben gar keine abtrünnige Klientel!) der Weggabelung stehen. Sie sollen wissen: Wir müssen Dieses Thema ist allerdings zu ernst, um es für rein uns entscheiden, ob wir eine Renaissance der Atomkraft wahlkampftaktische Manöver zu missbrauchen. Wir alle oder ob wir erneuerbare Energien wollen. Wir als Grüne sind uns dem Grunde nach darin einig, dass Kohlen- sagen: Wir gehen den Weg der erneuerbaren Energien. dioxid einen wesentlichen Anteil am vom Menschen Wir wissen: Die Mehrheit der Bevölkerung wird uns fol- verursachten Treibhauseffekt hat. Deutschland ist mit gen. knapp einem Viertel der größte Treibhausgasproduzent in der Europäischen Union. Daher stellt sich für uns die Vielen Dank. He-rausforderung einer schnellen CO2-Reduktion in be- sonderer Weise und Verantwortung. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Zentrales politisches Anliegen der Energiepolitik LINKEN) muss aber sein – obwohl es leider keine Selbstverständ- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22739

Christian Hirte (A) lichkeit mehr ist –: eine sichere Energieversorgung bei lehnt werden, würde das dazu führen, dass wir in relativ (C) möglichst geringer Importabhängigkeit für die Bürger kurzer Zeit über 70 Prozent des importierten Gases aus und für die Wirtschaft zu bezahlbaren Preisen – und dies Russland beziehen müssten. alles mit möglichst niedrigen CO -Emissionen. 2 (Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Genau!) (Beifall bei der CDU/CSU) Was eine derartig große Importabhängigkeit von auslän- Aus diesem Spannungsfeld ergibt sich sodann die grund- dischem Gas bedeuten kann, haben wir am Beispiel der legende Frage: Wie können wir unsere Klimaziele errei- Ukraine vor einiger Zeit erlebt. chen, ohne dabei die Versorgungssicherheit und die Ich will jetzt gar nicht auf die Nachteile des Methans Wirtschaftlichkeit zu vernachlässigen? eingehen – dieser Hauptbestandteil von Erdgas ist selbst Bei der Energieerzeugung gibt es sicherlich keinen ein Treibhausgas –, sondern nur kurz darauf verweisen, Königsweg. Aus diesem Grunde ist es nach wie vor ver- ohne das näher erläutern zu wollen, dass die russischen nünftig, auf ein breites Fundament zurückzugreifen. Pipelines, auch was die Dichtigkeit angeht, sicherlich Auch die Enquete-Kommission „Nachhaltige Energie- nicht den deutschen Maßstäben entsprechen und damit versorgung unter den Bedingungen der Globalisierung die Energiebilanz von Gas nicht so positiv ist, wie sie und der Liberalisierung“ erwartet, dass die Kraftwerks- manchmal dargestellt wird. kapazitäten in den nächsten Jahren weiter erhöht werden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) müssen. Es wird sogar davon ausgegangen, dass in den kommenden Jahren bis 2020 ein Ersatzbedarf bei der Aus diesen Gründen halte ich eine Energieversorgung Kraftwerksleistung von etwa 40 Gigawatt vorliegt; das für richtungsweisend, die die Abhängigkeit von anderen ist mithin ein Drittel der derzeitigen Kraftwerkskapazitä- Staaten auf ein erträgliches Maß reduziert. ten. Das verdeutlicht die Brisanz und auch die Dimen- (Christoph Pries [SPD]: Uran, ja!) sion, vor der die deutsche Energiewirtschaft steht. Ich erspare mir an dieser Stelle weitere Ausführungen. Die Anträge der Opposition enthalten zwar jede Ich habe aber den Eindruck, dass die Opposition keine Menge Forderungen, eine konkrete Antwort auf die eigenen Optionen liefert. Frage, wie Deutschland diesen immensen Energiebedarf decken soll, aber leider nicht. (Zuruf des Abg. Lutz Heilmann [DIE LINKE]) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: – Moment! – Es ist nach wie vor die Auffassung der Das machen Sie doch selber in Ihren Studien!) Union, dass wir derzeit, auch als Überbrückung, auf die Kernenergie nicht verzichten können. Die Kernenergie (B) Deutschland braucht also zumindest mittelfristig ei- ist nämlich die einzige sofort verfügbare Energieform, (D) nen vielfältigen Energiemix. Entgegen dem, was Frau die praktisch keine klimaschädlichen Abgase produziert. Höhn gesagt hat, geht doch beides, sowohl erneuerbare Energien als auch Kernkraft. Ich meine sogar: Beides (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. bedingt einander, weil die Kernkraft kostenbewusst er- Heinz-Peter Haustein [FDP] – Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – möglicht, die erneuerbaren Energien zu unterstützen. Ute Kumpf [SPD]: Unglaublich! – Marco (Lachen bei der SPD – Marco Bülow [SPD]: Bülow [SPD]: Da muss er selber lachen!) „Kostenbewusst“!) Ich will dieses Mal nicht umfangreich auf die Kern- Wenn die erneuerbaren Energien dem Ziel der Bun- kraft eingehen – dazu wird die weitere Debatte sicherlich desregierung entsprechend bis 2020 etwa 20 bis noch Gelegenheit bieten –, aber abschließend Stephen 30 Prozent der Stromerzeugung leisten, heißt das im Tindale, den ehemaligen Direktor von Greenpeace, Umkehrschluss, dass 70 bis 80 Prozent der Stromerzeu- wörtlich zitieren: gung weiter aus konventionellen Kraftwerken kommen Es war ein wenig wie eine religiöse Bekehrung. Ge- müssen. gen die Kernkraft zu sein war lange Zeit eine essen- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: tielle Position, wenn man Umweltschützer war. 70 bis 80 Prozent, Sie wollen aber nur 20 Pro- Aber nun, wenn ich mit anderen Umweltschützern zent erneuerbare Energien!) darüber spreche, ist die Ansicht tatsächlich ziem- lich weit verbreitet, dass die Kernkraft zwar nicht Wir brauchen in Deutschland also auch künftig neue und ideal, aber immer noch besser als der Klimawandel effiziente Kraftwerke, das heißt auch Gas- und Kohle- sei. kraftwerke. Vielen Dank. Einerseits wehrt man sich gegen konventionelle (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Kraftwerke. Andererseits sind wir uns darüber im Kla- neten der FDP) ren, dass kurzfristig die erneuerbaren Energien noch nicht den gesamten Energiebedarf decken können. Wir müssen uns also Alternativen überlegen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion die Kolle- Wir wissen, dass die Stromerzeugung überwiegend gin Angelika Brunkhorst. aus Gas erfolgt, das wir importieren. Wenn wir nur auf Gas setzten, weil konventionelle Kohlekraftwerke abge- (Beifall bei der FDP) 22740 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Angelika Brunkhorst (FDP): Ihre Vision einer Energieversorgung überwiegend aus (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! erneuerbaren Energien ist ambitioniert. Die können Sie Uns liegen sechs Anträge der Grünen vor, Frau Höhn, gerne vertreten; das ist Ihre Sache. Mich stört aber der aus dem von Ihnen auserkorenen Lieblingsfeld Kernen- Absolutheitsanspruch, mit dem Sie sie vertreten: nur Er- ergie. Es ist immer wieder dieselbe Predigt, es sind im- neuerbare und nichts anderes. Ich sehe das etwas anders. mer wieder dieselben von Ihnen auch gerade wieder be- Ich glaube, dass wir heute und auch zukünftig noch eine schriebenen Angstszenarien. Liebe Grüne, die Menschen lange Weile einen Dreiklang aus erneuerbaren Energien, im Lande haben eine sehr viel differenziertere Meinung aus konventionellen und hoffentlich modernisierten zur Energiepolitik, als Ihnen lieb sein dürfte. Sie erken- Kraftwerken sowie aus Kernenergie haben werden. nen nämlich an, dass wir in Zukunft weiter einen Ener- Diese drei werden also noch länger Schwestern im Netz giemix brauchen, auch im Hinblick auf Versorgungssi- bleiben. Darauf setzt die FDP. cherheit und Qualitätssicherung, und dass der Schauen wir einmal, was unsere europäischen Nach- Energiemix uns bezahlbare Energie liefert. barn machen. Nur einige Beispiele: In Finnland ist der (Beifall bei der FDP) EPR-Reaktor im Bau, weitere sind geplant. Auch Italien steigt jetzt wieder in den Bau von Kernkraftwerken ein. Viele wissen schon, dass wir den Energiemix technolo- gisch hoch anspruchsvoll und umweltschonend ausge- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: stalten können. Warten wir einmal ab!) (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ Schweden hat seinen Ausstiegsbeschluss von 1980 zu- CSU]) rückgenommen und will nun wieder in die Kernenergie einsteigen, und auch viele osteuropäische Länder wollen Was die Akzeptanz der Kernenergie im Lande an- alte Reaktoren durch neue Reaktoren ersetzen. Just in geht, so möchte ich gern, auch wenn Herr Hirte das diesem Moment fordern Sie den Ausstieg aus der Euro- schon getan hat, auf die Onlinebefragung des BMU zu päischen Atomgemeinschaft. Ich finde, das Verbleiben sprechen kommen, und zwar wonnevoll. 57 Prozent der in EURATOM ist gerade jetzt so wichtig wie nie zuvor. Befragten – immerhin waren das mehr als 14 700 – ha- Weil so viele Reaktoren in west- und osteuropäischen ben sich zum Ausstieg aus dem Ausstieg bekannt, und Ländern hinzukommen, ist EURATOM wichtiger denn nur 28 Prozent wollten am Ausstieg festhalten. Aber die je. Wir brauchen nämlich den Austausch technologi- Umfrage ist ja ganz schnell wieder von der Internetseite schen Wissens, wir brauchen die gemeinsame For- des Umweltministeriums heruntergenommen worden. schung, und wir brauchen vor allen Dingen eine gemein- Sie von den Grünen versuchen nun auch in Ihrem ak- same, hochambitionierte Sicherheitsarchitektur. All das (B) tuellsten Antrag, den Nutzen der Kernenergie ganz be- kann man gut über EURATOM erreichen. Der Vertrag (D) wusst kleinzureden. Sie sprechen davon, dass sie nur über EURATOM könnte sicherlich modifiziert werden; ganz wenig Energie bereitstelle, nämlich nur 6 Prozent, dagegen hätten wir nichts. vergessen dabei aber, zu erwähnen, dass die Kernenergie (Beifall bei der FDP) zumindest zur Grundlaststromversorgung 45 Prozent beiträgt, also eine der Hauptsäulen darstellt. Konkret zu Ihrem aktuellsten Antrag: Sie beklagen darin ungeniert Zustände, die Sie in den sieben Jahren (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: von Rot-Grün, in denen Sie mitregierten, hätten ändern Das ist falsch!) bzw. bei denen Sie Veränderungen hätten in Gang setzen – Das steht in einer neuen Broschüre des Bundeswirt- können. schaftsministeriums. Ich kann sie Ihnen gerne geben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Die Kernenergie produziert CO2-freien Strom. der CDU/CSU) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie beschwören insbesondere immer wieder die unge- Auch das ist falsch!) löste Endlagerfrage.

Immerhin 150 Millionen Tonnen CO2 werden gespart. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein Segen für unser Klima. Lassen Sie uns doch Schacht Konrad besu- chen!) Auch die FDP setzt auf den weiteren Ausbau der er- neuerbaren Energien. Deren Anteil wird auf jeden Fall Sie haben damals den AK End installiert. Dessen Bericht steigen. Wir erkennen auch die technologische Leistung wurde nie ausgewertet. Herr Trittin hat diverse Gutach- an; das ist gar keine Frage. ten in Auftrag gegeben, die nie veröffentlicht, sondern gleich immer wieder einkassiert wurden, weil die Ergeb- (Beifall bei der FDP) nisse nicht so ganz passten. Wir wünschen uns aber, dass die erneuerbaren Energien (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: passgenau und umweltverträglich ausgebaut werden – da Lassen Sie uns doch nach anderen Stätten su- gibt es Probleme; das wissen auch Sie –, und wir wollen chen!) vor allen Dingen, dass sie nicht zulasten anderer Nut- zungsoptionen, jedoch zu möglichst günstigen und Herr Trittin, Sie haben ein zehnjähriges Moratorium für marktfähigen Preisen ausgebaut werden. Das ist uns Gorleben verfügt, Ihre Kollegen schreiben nun aber im ganz wichtig; das ist nämlich auch eine soziale Frage. aktuellsten Antrag – ich zitiere –: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22741

Angelika Brunkhorst (A) Die umstrittene Erkundung am Standort Gorleben dings sehr, dass in den Unterrichtsmaterialien „Einfach (C) beruht nicht auf dem neuesten Stand von Wissen- abschalten?“ dieses Bekenntnis untergraben wird. Ein- schaft und Technik. leitend steht darin: Ja, was denn? Das Moratorium lässt nichts anderes zu. Mit Hilfe der vorliegenden Materialien sollen die Dann fordern Sie auch noch, das Moratorium zu verlän- Schülerinnen und Schüler den Sachstand zur Pro- gern. Das ist Politik aus dem Tollhaus. blematik der Nutzung der Atomenergie (Unfälle, Risiken, Auswirkungen, Umweltschäden …) erfas- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten sen. der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Eben nicht!) Es ist überhaupt kein positives Element der Kernenergie enthalten wie Klimafreundlichkeit, Wirtschaftlichkeit Das Thema nukleare Sicherheit, Frau Höhn, ist uns und Versorgungssicherheit. Liberalen auf jeden Fall sehr wichtig. Wir wollen aber Erkenntnisgewinn, der zu konkreten und vor allen Din- Herr Gabriel wird dann weiter zitiert mit dem Satz: gen auch zeitnahen Lösungen führt. Ein solches Bestre- Die Atomkraft ist eine Technologie des letzten ben konnte ich bei Ihnen bislang überhaupt nicht erken- Jahrhunderts … nen. Ich muss schon sagen: Das ist jetzt nicht unbedingt neu- (Beifall bei der FDP) tral, Herr Minister. Ich habe eher den Eindruck, die Grünen leben davon, (Gerd Bollmann [SPD]: Aber richtig!) eine nukleare Unsicherheit zu beschwören, weil ihnen das hilft, eine möglichst gute Argumentationskette für Von Neutralität in der Darstellung keine Spur! den Ausstieg in der Hand zu haben. Ich komme zum Schluss. Ich appelliere an das Bun- Abschließend möchte ich zu den Anträgen, die Sie desumweltministerium – Herr Minister Gabriel, das hat hier heute vorgelegt haben, Folgendes sagen: Sie haben Ihr ehemaliger Ministerkollege Glos auch getan –, die eine Kleine Anfrage zur nuklearen Sicherheit gestellt. Indoktrination unserer Schüler zu stoppen Diese erweckt bei mir persönlich und wohl auch bei eini- (Zurufe von der SPD: Oh!) gen anderen den Eindruck, dass es Ihnen wiederum nur darum geht, quantitativ möglichst viele Unsicherheits- und die Unterrichtsmaterialien entweder zu überarbeiten fragen aufzuwerfen und damit zu suggerieren, diese Fra- oder aber aus dem Netz zu nehmen. gen seien nicht zu lösen. Aber wir wollen sie lösen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (B) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: der CDU/CSU) (D) Sie sind nicht zu lösen! Das ist das Problem!) Ich bitte Sie, sich in Zukunft wieder an den Beutels- Sie wissen ganz genau, dass die Asse II einen neuen Be- bacher Konsens zu halten. treiber hat und in einer neuen Zuständigkeit liegt. Wir Vielen Dank. sind zuversichtlich, dass man jetzt ernsthaft die Endla- gerfrage angehen will. Ich bin Herrn Gabriel durchaus (Beifall bei der FDP) dankbar, dass er sich – zumindest vorübergehend – dafür sehr eingesetzt hat. Ich hoffe, dies bleibt auch so. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist der Kollege Christoph Pries für Ich mache einen Schnitt und komme noch auf unsere die SPD-Fraktion. Große Anfrage zu den Unterrichtsmaterialien „Einfach abschalten?“ des Bundesumweltministeriums zu spre- (Beifall bei der SPD) chen. Ich möchte vorab sagen, dass es gewisse Grund- sätze gibt, wie man politische Bildungsarbeit zu gestal- Christoph Pries (SPD): ten hat. Dazu gehört der sogenannte Beutelsbacher Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Konsens von 1976. Darin ist ein Überwältigungsverbot Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren heute zum enthalten. Das heißt, politische Bildung soll nicht indok- wiederholten Male in dieser Legislaturperiode über den trinieren. Weiter heißt es: Atomausstieg. Es liegen uns sechs Anträge und die Ant- Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, wort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage vor. muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen … Die zur Abstimmung vorliegenden Anträge der Grünen Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine sind – das sage ich trotz unserer Sympathie – in einigen politische Situation und seine eigene Interessenlage Punkten entweder überholt, durch Regierungshandeln zu analysieren … erledigt oder nicht umsetzbar. Wir lehnen sie daher ab. Heranwachsende sollen also unterstützt werden, eine ei- In meinen Ausführungen möchte ich heute exempla- gene Meinung bilden zu können. Sie sollen hierzu um- risch auf zwei Schlagworte eingehen. Sie fassen symbo- fassend informiert und nicht beeinflusst werden. Da sind lisch die Diskussion über die Atomenergie der vergange- wir uns, glaube ich, alle einig. nen Jahre zusammen. Da ist zunächst die angebliche Renaissance der Atomenergie, wie sie von der Atom- Die Bundesregierung bekennt sich ausdrücklich zu lobby im Verbund mit Union und FDP propagiert wird. dem Beutelsbacher Konsens. Wir wundern uns aller- Die Kolleginnen und Kollegen auf der rechten Seite des 22742 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Christoph Pries (A) Hauses behaupten seit Jahren: Der Atomausstieg ist das zember 2008 erklärte der staatliche Energiekonzern Es- (C) Werk ideologisch verblendeter Technologiefeinde. Die kom, der Neubau eines Druckwasserreaktors werde aus Große Anfrage der FDP zielt genau darauf. Sie behaup- finanziellen Gründen aufgegeben. ten ferner: Die Atomenergie ist weltweit auf dem Vor- marsch, und Deutschland isoliert sich durch den Atom- Dieses Schicksal wird vor dem Hintergrund der Fi- ausstieg. – Sehr geehrte Damen und Herren, das sind nanzkrise auch zahlreiche Neubauankündigungen in Märchen. Europa ereilen. In Polen ist keineswegs klar, woher das Land 16 bis 18 Milliarden Euro für seine geplanten (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Atomkraftwerke nehmen soll. Ob in Schweden wirklich DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der neue Atomkraftwerke als Ersatz für Altanlagen entste- LINKEN – Angelika Brunkhorst [FDP]: Das hen, bleibt ebenfalls abzuwarten; denn die Anlagen müs- ist Realität!) sen komplett privatwirtschaftlich finanziert werden. Wir sagen: Atomenergie ist aus ökologischen, ökono- Derartige Bedingungen haben bisher noch jedem hoch- mischen und sicherheitspolitischen Gründen nicht ver- fliegenden Atomprogramm zur Bruchlandung verholfen. antwortbar. Wir sagen: Atomenergie ist eine Form der Es gibt aber auch Lichtblicke in der Atomdebatte. Energieerzeugung des letzten Jahrhunderts. Wir sagen: Selbst Union und FDP sind sich ihrer Sache nicht wirk- Deutschland ist nicht der isolierte Nachzügler einer welt- lich sicher. Deshalb kleiden sie ihre Befürwortung der weiten Atomrenaissance. Deutschland ist vielmehr Vor- Atomenergie derzeit in den Begriff der Übergangstech- reiter beim Aufbau einer modernen Energieversorgung. nologie. Dazu sagen wir: Herzlichen Glückwunsch! Sie (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten haben die Beschlusslage der SPD von 1986 erreicht. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD – Heiterkeit bei Abgeord- Liebe Kolleginnen und Kollegen von Union und FDP, neten der LINKEN) abgesehen vom radioaktiven Abfall strahlt Atomkraft nur in den Hochglanzbroschüren der Lobbyverbände. Ich meine das gar nicht negativ, lehrt doch der Blick in Wer deren aktuelle Ausbaupläne liest, fühlt sich unwei- die Vergangenheit, dass die bürgerlichen Parteien bei gerlich an die Luftschlösser der 70er-Jahre erinnert. Die vielen Themen etwas länger gebraucht haben. Prognose der Internationalen Atomenergie-Organisa- (Heiterkeit bei der SPD, der LINKEN und dem tion damals: Im Jahre 2000 würden weltweit Atomkraft- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) werke mit einer Leistung von 4 500 Gigawatt installiert sein. Die Realität im Jahr 2008: 372 Gigawatt. Die be- Denken wir zum Beispiel an das Frauenwahlrecht, an die (B) stehenden 436 Reaktoren decken gerade einmal 2,5 Pro- Finanzmarktkontrolle oder die Familienpolitik. (D) zent des weltweiten Energieverbrauchs. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Gerd Bollmann [SPD]: Hört! Hört!) des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Fazit: Gemessen an den Erwartungen ist Atomener- Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, ich gie immer Ankündigungsenergie geblieben. möchte aber auch noch auf das eingangs angekündigte (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ zweite Schlagwort der Atomdebatte eingehen, auf die DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der sogenannte Renaissance des Widerstands. Es ist uns al- LINKEN) len klar, dass dieses Schlagwort vor allem der Absiche- rung des grünen Wählerpotenzials dient. Das ist erlaubt. Nun wenden die Kolleginnen und Kollegen von Ihr aktueller Antrag zeigt aber wieder einmal deutlich, Union und FDP ein, überall würden bald neue Atom- dass Sie krampfhaft versuchen, die SPD in der Frage des kraftwerke gebaut. Atomausstiegs zu übertrumpfen. (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Ja!) (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt – allerdings nur auf dem Papier. Ach was! Das haben wir doch gar nicht nötig! – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Was? Finn- NEN) land zum Beispiel!) Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, in Die Realität sieht folgendermaßen aus: Im Jahr 2008 Ihrem Interesse rate ich Ihnen: Verkohlen Sie die Bürge- ging zum ersten Mal seit 42 Jahren kein einziges Atom- rinnen und Bürger nicht! Nicht alles, was moralisch oder kraftwerk ans Netz. Selbst ein Vertreter der Internationa- politisch wünschbar wäre, ist auch rechtlich umsetzbar. len Atomenergie-Organisation stellte in der Süddeut- Versprechen Sie nichts, was Sie am Ende nicht halten schen Zeitung zum angeblichen Atomboom fest, eine können! Beim Kohlekraftwerk Moorburg sind Sie schon Renaissance bei der Atomkraft gebe es lediglich – ich zi- einmal als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelan- tiere – „beim theoretischen Interesse“. Wie so ein theore- det. tisches Interesse aussieht, möchte ich am Beispiel Süd- afrika verdeutlichen. Im August 2007 brach dort laut (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der n-tv die Atomära aus. 15 Milliarden Euro sollten in fünf FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE Jahren in den Ausbau der Atomenergie investiert wer- GRÜNEN]: Das sollten gerade Sie nicht sa- den. Diese Ära dauerte genau 15 Monate. Bereits im De- gen!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22743

Christoph Pries (A) Noch eines: Wir werden Ihnen auf jeden Fall nicht übertroffen worden, und jede Woche ereilen sie neue (C) durchgehen lassen, die SPD als Handlanger der Atomin- Hiobsbotschaften. dustrie abzustempeln, Frau Höhn. Was hören diese Menschen hier oder auch sonst im (Beifall bei der SPD) politischen Raum? Ich zitiere die stellvertretende Vorsit- zende der CDU/CSU-Fraktion, , die am In der Frage des Atomausstiegs brauchen wir uns vor 26. Februar im Inforadio Berlin gesagt hat, der Vergleich niemandem zu verstecken. Wir haben in den vergange- zwischen Asse und Gorleben sei „ein durchsichtiges po- nen drei Jahren nicht gewackelt – trotz einer beispiello- litisches Manöver“. sen PR- und Öffentlichkeitskampagne der Atomlobby, trotz Drohungen, Gerichtsverfahren und populistischen (Katherina Reiche [Potsdam] [CDU/CSU]: Ist Lockangeboten. Die Standfestigkeit von Sigmar Gabriel es auch!) und der SPD-Bundestagsfraktion müssen andere erst einmal unter Beweis stellen. Im Gegensatz zu Asse verfüge Gorleben über einen in- takten Salzstock. Außerdem sei Gorleben in den vergan- (Beifall bei der SPD – Bärbel Höhn [BÜND- genen 25 Jahren systematisch untersucht worden. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Mein Gott!) (Katherina Reiche [Potsdam] [CDU/CSU]: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die SPD steht für Genau so ist es!) die Renaissance der Vernunft in der Energiepolitik. Ich zitiere wörtlich: (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) Über einen langen, transparenten und wissen- Eine vernünftige Energiepolitik ist langfristig angelegt. schaftsgeleiteten Prozess ist man zu dem Schluss Sie löst Probleme und schafft keine neuen. Mit dem gekommen, Gorleben sei geeignet. Atomausstieg haben wir einen gesellschaftlichen Kon- flikt gelöst, der dieses Land 25 Jahre lang gespalten und (Katherina Reiche [Potsdam] [CDU/CSU]: energiepolitisch gelähmt hat. Mit dem Ausbau der er- Das ist auch richtig!) neuerbaren Energien, mit Energieeinsparung und einer Das lässt Schlimmes erahnen. Die Menschen fühlen Steigerung der Energieeffizienz legen wir die Grundla- sich verhöhnt und bedroht. Das, was ich hier von den gen für die Energieversorgung der Zukunft. Mit unserer möglichen Koalitionspartnern einer möglichen Ampel ökologischen Industriepolitik schaffen wir die Basis für höre, beruhigt die Menschen meiner Ansicht nach nicht. wirtschaftliches Wachstum und den Wohlstand unserer Kinder. Lassen Sie uns gemeinsam auf diesem Weg vo- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert ranschreiten, statt unsere Energie mit der fruchtlosen Winkelmeier [fraktionslos]) (B) (D) Fortführung von Kämpfen aus der Vergangenheit zu ver- Die Menschen fühlen sich von CDU/CSU, FDP und geuden. Atomindustrie für dumm verkauft. Ihnen wird immer Danke, dass Sie mir zugehört haben. wieder erzählt, die Atomkraft sei sicher; vor der Haustür erleben sie aber das Gegenteil. Es werden Märchen er- (Beifall bei der SPD) zählt, die sie selber als Horrorgeschichten empfinden.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Das erste Märchen lautet, Atomstrom sei billig. Das Nächste Rednerin ist die Kollegin Dorothée Menzner haben wir auch hier heute wieder gehört. Die mehreren für die Fraktion Die Linke. Milliarden, die je nach gewählter Option für die Asse fällig werden und die für den Steuerzahler zur Zahlung (Beifall bei der LINKEN) anstehen, werden nicht erwähnt. Auch die über 2 Mil- liarden Euro, die zur Schließung des Endlagers Morsle- Dorothée Menzner (DIE LINKE): ben anfallen, werden nicht erwähnt; von Gorleben, Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Schacht Konrad und den Kosten für die Transporte ein- Als Linke begrüßen wir diese Debatte. Sie ist überfällig. mal ganz zu schweigen. Ich erinnere nur an den 26. Februar 2009, als ungefähr Wir wissen auch, dass Uran nicht unbegrenzt vorrätig 15 000 Menschen Braunschweig, Asse und Schacht ist. Wir merken, dass sich das Vorkommen seinem Ende Konrad – das ist eine Wegstrecke von 52 Kilometern – nähert. Die Wissenschaftler sagen, dass es noch rund durch eine Lichterkette unter dem Motto „Wir bringen 50 Jahre reichen wird. Das wird auch an der Preisent- Licht ins Dunkel“ miteinander verbanden. wicklung deutlich: Während 1 Pfund Uran 2001 noch Ich zitiere aus dem Antrag der Grünen: ungefähr 7 US-Dollar kostete, kostete es 2007 140 US- Dollar. Der Statusbericht zu den Zuständen im Forschungs- endlager Asse II hat unsere schlimmsten Vermutun- Von dem Kollegen Hirte und der Kollegin Brunkhorst gen noch übertroffen. haben wir eben wieder einmal gehört, Atomstrom sei klasse, um CO2 zu sparen. Ich möchte nur darauf hinwei- Das spiegelt die Stimmung in der Region wider, und sen, dass Strom aus südafrikanischem Uran heute je Ki- zwar nicht nur der Menschen, die sich seit Jahrzehnten lowattstunde 126 Gramm CO verursacht. gegen Atomkraft engagieren, sondern auch der ganz nor- 2 malen Bürgerinnen und Bürger, der ganz normalen An- Auch über die Unverzichtbarkeit hören wir immer wohnerinnen und Anwohner. Ihre Befürchtungen sind wieder vieles. Das lässt sich trefflich widerlegen. 22744 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dorothée Menzner (A) Wichtig ist eine transparente und umfassende Kos- ser Salzstock durchlöchert ist wie ein Schweizer Käse. (C) tenbeteiligung der Konzerne. Das muss unser gemein- Nach heutigen Maßstäben würde niemand mehr auf die sames Ziel sein. Dafür werden wir streiten. Idee kommen, dort Atommüll einzulagern. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten Die Asse wurde 1965 als Forschungsbergwerk vom des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bund übernommen. Bis 1978 – in dem Jahr stoppte Ernst Albrecht die Einlagerung – wurden 126 000 Fässer Einen Vorwurf kann ich den Kolleginnen und Kolle- schwach- und mittelradioaktiven Abfalls eingelagert. gen der Grünen, die in ihren Anträgen viel Richtiges Betreiber der Asse war das GSF, das Forschungszentrum schreiben, nicht ersparen: Bündnis 90/Die Grünen hat in für Umwelt und Gesundheit, aufgegangen im Helmholtz- der Vergangenheit Vertrauen zerstört, und zwar nicht nur Zentrum München. Es erforschte im Auftrag des Bundes Vertrauen in die eigene Partei, sondern in die Politik ins- im Salzstock die Einlagerung radioaktiver Abfälle. gesamt: (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Die Einlagerung erfolgte nicht etwa geordnet, son- NEN]: Unsinn! – Renate Künast [BÜND- dern man kippte nach ersten Versuchen den Müll einfach NIS 90/DIE GRÜNEN]: Da mache ich eine in die Schächte und überdeckte ihn mit Salzgrus, was Gegenkampagne zu Ihren SED-Geldern!) eine mögliche Rückholung heute so schwierig macht. Dazu kommt – das ist seit vielen Jahren bekannt –, dass mit dem sogenannten Atomkonsens, der eine Betriebs- ausgebeutete Salzbergwerke dazu neigen, abzusaufen. garantie für die Konzerne war, dem Wegschauen und Das heißt, die durchlöcherten Salzstöcke fallen unter dem Aussitzen bei Asse II, Gorleben und Schacht dem Druck des Deckgebirges zusammen, und Grund- Konrad, solange man in der Koalition war, und zwar so- wasser findet seinen Weg in den Berg. Genau das ge- wohl in Niedersachsen als auch im Bund. schieht seit 1988. Täglich fließen 12 Kubikmeter Salz- lauge in das Bergwerk. Bislang kommt das Wasser nicht Es ist zwar lobenswert, jetzt in der Opposition gute in Kontakt mit den radioaktiven Abfällen. Genau das Anträge zu schreiben – wir werden gerne mit Ihnen strei- muss dauerhaft verhindert werden, damit Radioaktivität ten und versuchen, gemeinsam aktiv zu werden –, aber nicht durch das Wasser in die Biosphäre gelangt und es könnte sehr nach Wahlkampfgeklingel aussehen, Mensch und Umwelt schädigt. (Zuruf von der SPD: Da haben Sie ja Erfah- rung!) Erschwerend kommt hinzu, dass einige der ausgebeu- teten Kammern, die sich in der Nähe der Kammern mit wenn man nicht deutlich macht: Die Macht der vier gro- dem Atommüll befinden, mit feuchtem Versatz verfüllt ßen Energiekonzerne, von K+S und anderen DAX-Kon- worden sind, um ein Zusammenbrechen zu verhindern. (B) zernen ist groß. Dagegen müssen wir angehen; aber das In der Folge ist das so in den Berg eingebrachte Wasser in (D) schaffen wir nicht allein. die Kammern mit dem Atommüll eingedrungen. Seit Juni letzten Jahres ist bekannt, dass es in der Asse Lau- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert gen gibt, die mit Cäsium 137 kontaminiert sind und zu- Winkelmeier [fraktionslos]) dem ohne Wissen und Genehmigung der Überwachungs- Das schaffen wir nur gemeinsam mit den Menschen, behörden innerhalb des Schachtes umgelagert worden wenn wir die nötige Transparenz herstellen und wenn sind. wir mit ihnen, die sie sich seit Jahren und Jahrzehnten engagieren und Kompetenz angeeignet haben, streiten. Das Vertrauen der Bevölkerung in den Betreiber Ich glaube, nur so kommen wir in der Frage des Atom- GSF war – das ist aus meiner Sicht absolut nachvollzieh- ausstiegs weiter, also gemeinsam mit den Menschen und bar – erheblich gestört. Die nicht genehmigte Umlage- nicht, indem wir Parlamentarier sagen, dass wir alles lö- rung brachte das Fass zum Überlaufen. Seit dem sen können. Vielmehr brauchen wir den Druck der 1. Januar dieses Jahres wurde ein Betreiberwechsel vor- Straße, den Druck der Bewegung und die entsprechende genommen. Nun ist das Bundesamt für Strahlenschutz Kompetenz. zuständig. Ich danke. Wichtigste Aufgabe ist es nun, unter Einbeziehung der Bevölkerung und mit höchstmöglicher Transparenz (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert die Anlage geordnet zu schließen. Die GSF hatte vorge- Winkelmeier [fraktionslos]) schlagen, einen Teil des Bergwerks zu fluten. Das traf angesichts der Ungewissheit, ob der radioaktive Müll Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zurückgeholt werden kann, auf absolutes Misstrauen der Das Wort hat die Kollegin Dr. Maria Flachsbarth für Bevölkerung. Um neues Vertrauen aufzubauen, hatten die CDU/CSU-Fraktion. bereits im Herbst 2007 das niedersächsische Umweltmi- nisterium als Kontrollbehörde, das Bundesforschungs- (Beifall bei der CDU/CSU) ministerium, das Bundesumweltministerium und die GSF im Zuge erweiterter Öffentlichkeitsbeteiligung ver- Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): einbart, die Vertreter der Bevölkerung in der Region eng Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und in die Prüfung unterschiedlicher Konzepte einzubezie- Herren! Im Zentrum dieser Debatte heute Morgen steht hen. Genau das halten wir als Union für richtig. Seit wieder einmal die Schachtanlage Asse II. Von 1909 bis März 2008, also seit gut einem Jahr, prüft die Arbeits- 1964 wurde dort Salz abgebaut mit der Folge, dass die- gruppe Optionenvergleich Stilllegungskonzepte, entwi- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22745

Dr. Maria Flachsbarth (A) ckelt Maßnahmen zur Verbesserung der Grubenstabilität halt noch vor wenigen Wochen zu erheblichen Diskus- (C) und untersucht mithilfe externer Sachverständiger die sionen. Möglichkeit, die radioaktiven Abfälle aus der Asse zu- rückzuholen. Herr Minister, es ist auch kontraproduktiv, dass sich Ihre Meinung zur Finanzierung der erheblichen Kosten Ich führe das deshalb so ausführlich aus, um zu doku- der Asse-Stilllegung wie eine Fahne im Wind dreht. Der mentieren, dass die Probleme nicht neu sind, dass man, Deutsche Bundestag hat am 30. Januar dieses Jahres im wenn man sich interessiert hätte, sehr wohl von diesen Rahmen der Änderungen des Atomgesetzes auch den Problemen hätte wissen können und dass diese Bundes- Wechsel der Betreiber der Asse beschlossen; das wissen regierung – ganz anders als die Vorgängerregierung mit wir alle. Der Entwurf dieses Gesetzes kam aus Ihrem ihrem grünen Umweltminister – die Probleme in der Hause. Asse beherzt angeht, In diesem Gesetzentwurf und in einer Formulierungs- (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ hilfe zum Änderungsantrag der Koalitionsfraktionen hat CSU]) das Ministerium die Möglichkeit, die Kernkraftwerksbe- treiber an der Sanierung der Asse finanziell zu beteili- auch wenn die Grünen heute versuchen, in ihren Anträ- gen, aus rechtlichen Gründen ausdrücklich ausgeschlos- gen einen gegenteiligen Eindruck zu erwecken. sen. Dazu wurden im Umweltausschuss Fragen gestellt. (Beifall bei der CDU/CSU) Außerdem haben Sie, Herr Minister, dem ZDF drei Tage vor der Beschlussfassung in diesem Hause ein Interview Der optimale Schutz von Anwohnern und Umwelt zu diesem Thema gegeben. und eine zeitnahe und sichere Schließung der Asse sind – das habe ich bereits gesagt – das vordringliche Anlie- In diesem Interview haben Sie, wie es auch Ihr Staats- gen der Union. Allerdings müssen wir tatsächlich zügig sekretär im Umweltausschuss getan hat, erklärt, eine Be- handeln. Gutachten besagen, dass das Bergwerk nur teiligung der Kernkraftwerksbetreiber an den Kosten der noch bis Mitte des nächsten Jahrzehnts standfest ist. Im Sanierung der Asse sei aus rechtlichen Gründen nicht Januar dieses Jahres hat unter der Obhut des Bundesam- möglich. Nur eine Woche nach der Verabschiedung des tes für Strahlenschutz ein Expertengespräch stattgefun- Gesetzentwurfs des BMU in diesem Hause haben Sie den. Man ist zu dem Ergebnis gekommen, dass wir doch Ihre Auffassung plötzlich geändert und sich dafür ausge- noch bis zum Jahr 2020 Zeit haben, allerdings nur, wenn sprochen, dass die Betreiber der Kernkraftwerke nun sich die Laugenzuflüsse nicht erhöhen. Genau das ist al- doch an der Sanierung der Asse finanziell beteiligt wer- lerdings die Gretchenfrage, die niemand beantworten den sollten. Nun ging es Ihnen angeblich nicht mehr um kann. Daher muss zügig gehandelt werden. rechtliche Notwendigkeiten, sondern vielmehr um politi- (B) sche Beweggründe. (D) Die Arbeitsgruppe Optionenvergleich hat im Februar dieses Jahres einen Zwischenbericht vorgelegt. Sie legt Man könnte es als Irreführung des Parlaments be- sich aber noch nicht fest, welche Methoden sie beim zeichnen, wenn ein Minister, eine Woche nachdem der Umgang mit dem Atommüll und bei der Stilllegung der Deutsche Bundestag seinen Gesetzentwurf verabschie- Anlage favorisiert. Vielmehr werden Machbarkeitsstu- det hat, politische Forderungen erhebt, die er ohne Wei- dien und Auswirkungsstudien angefordert. Eine ab- teres in seinen eigenen Gesetzentwurf hätte einfließen schließende Bewertung soll bis Ende des Jahres vorlie- lassen können. Dass Sie sich nicht getraut haben, kann gen. Das muss es dann aber auch sein. Wir müssen zügig sich bei Ihnen wirklich niemand vorstellen. handeln, Ich rufe uns alle auf, auch in Zeiten des herannahen- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) den Wahlkampfes nicht zu versuchen, durch die Verun- sicherung der Bürgerinnen und Bürger vermeintliche po- damit wir nicht in die Situation kommen, im Rahmen der litische Vorteile zu erlangen. Aufgabe der Politik ist es, akuten Asse-Gefahrenabwehr unüberlegt und plötzlich keine Angst zu schüren. Aufgabe der Politik ist auch, die handeln zu müssen. Sorgen und Ängste der Menschen ernst zu nehmen, Lö- Die Politik hat ihre Hausaufgaben gemacht. Wir ha- sungsvorschläge zu erarbeiten und diese offensiv und ben in den Haushalt des BfS des letzten Jahres über 70 transparent zu kommunizieren. zusätzliche Stellen eingestellt. Wie schon gesagt, sind Herzlichen Dank. das Zurückgewinnen von Vertrauen und verantwortli- ches Handeln erforderlich. Es dürfen keine politischen (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Spielchen stattfinden; das betone ich. Angelika Brunkhorst [FDP]) Es war kontraproduktiv, dass gerade der Bundesum- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: weltminister während seiner Sommerreise im letzten Jahr den Verdacht geschürt hat, die von mir bereits er- Nächste Rednerin ist die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl wähnten Laugenzuflüsse von 12 Kubikmetern pro Tag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. seien radioaktiv kontaminiert und ihr Verbringen in an- dere stillzulegende Salzbergwerke in Niedersachsen ge- Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): fährde möglicherweise die dortige Bevölkerung. Es hilft Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie uns über wenig, das im Nachhinein zurückholen zu wollen. Im die Kosten und über die Mär von der billigen Atomkraft Celler Kreistag führte dieser längst aufgeklärte Sachver- reden. Billig ist Atomstrom nur für die Betreiber abge- 22746 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Sylvia Kotting-Uhl (A) schriebener Atomkraftwerke. Volkswirtschaftlich ist 43 Cent über ihren Strompreis subventionieren. Wenn (C) Atomstrom so teuer wie kein anderer Strom. man die volkswirtschaftlichen Kosten und die 40 Milliarden Euro an Subventionen einrechnet, stellt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN man fest, dass der billige Atomstrom überhaupt nicht sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. marktfähig ist. Dorothée Menzner [DIE LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich nenne Ihnen ein paar Beispiele. Beginnen wir ganz am Anfang, beim Uran. Die „billige“ Ressource Vor allem handelt es sich um eine Technologie, die Uran kommt normalerweise von weiter her; so viel zum der Devise folgt: Risiken und Nebenwirkungen trägt die Stichwort Importunabhängigkeit. Aber auch in Deutsch- Bevölkerung. Dies gilt nicht nur für diejenigen, die heute land gab es einmal den Uranabbau, und zwar in Wismut. leben, sondern auch für diejenigen, die noch gar nicht Für die Sanierung des Uranabbaus in Wismut sind bisher geboren sind. So ist das Stichwort Nachhaltigkeit nicht 6,4 Milliarden Euro von der Bundesregierung eingestellt gemeint. worden. Wer zahlt das? Der Steuerzahler. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sehen wir uns das Ende der Geschichte an. Beispiel sowie bei Abgeordneten der SPD) Morsleben: Ihren angehäuften schwach- und mittelakti- ven Müll loszuwerden, kostete die westdeutschen Atom- Lassen Sie uns aber auch über Vertrauen und Verant- kraftwerksbetreiber in den 90er-Jahren gerade einmal wortung reden. Jahrelang hat man uns erzählt, die Asse 183 Millionen DM. Die Entsorgung dieses Mülls ermög- sei ein Forschungsendlager. Heute wissen wir, dass sich lichte die damalige Umweltministerin; das war übrigens quer durch die Genehmigungsbescheide für die Atom- Angela Merkel. Allein für die Stabilisierung des ein- kraftwerke bis Ende der 70er-Jahre die Asse als ausge- sturzgefährdeten Lagers wurden bis heute 2,2 Milliarden wiesenes Endlager hindurchzieht. Das hört sich zum Euro veranschlagt. Wer zahlt das? Der Steuerzahler. Beispiel so an: 1972 erste Teilgenehmigung für Isar 1: Für die BRD wird das stillgelegte Salzbergwerk Asse bei Beispiel Asse: Forschung für die sichere Endlagerung Wolfenbüttel als Endlagerstätte für radioaktive Abfälle mit Atommüll, billigst oder auch umsonst eingelagert. hergerichtet. Die Sanierung der Katastrophe Asse ist nun öffentliche Aufgabe, schließlich kommen 90 Prozent des radioak- Es gab auch eine Ausnahme: 1974 zweite Teilgeneh- tiven Potenzials in der Asse aus der Wiederaufarbei- migung für Krümmel: Seit April 1967 wird das ehema- tungsanlage Karlsruhe. In die WAK kam es aber aus den lige Salzbergwerk Asse II in der Nähe von Braun- AKWs. 70 Prozent dieses radioaktiven Potenzials kamen schweig für die Lagerung hochradioaktiver Abfälle alleine aus dem Atomkraftwerk Obrigheim. vorbereitet. In den 80er-Jahren ändert sich die Tonlage. (B) Da ist dann nur noch von der in der Asse erprobten Ein- (D) Die Wiederaufarbeitungsanlage Karlsruhe funk- lagerungstechnologie und davon, dass die Asse für die tionierte wie eine Waschanlage. Die schmutzige Hinter- Endlagerung vorgesehen ist, die Rede. In den Teilgeneh- lassenschaft der Atomstromproduktion wurde zu öffent- migungen für Brokdorf heißt es, das Bergwerk solle in lichem Forschungsmaterial. Das war für die erster Linie als Versuchsanlage für Gorleben dienen. ursprünglichen Verursacher des Mülls sehr bequem. Die Kosten sind heute noch überhaupt nicht abzuschätzen, Wer alles – die Helmholtz-Gemeinschaft, das For- aber sie werden mindestens die Größenordnung der Kos- schungsministerium und die Kolleginnen und Kollegen ten für die Sanierung von Morsleben haben. Wer zahlt von FDP und Union – hat uns nicht erzählt, die Asse das? Der Steuerzahler. habe mit Gorleben nichts zu tun. Sie haben einen Unter- suchungsausschuss zur Asse abgelehnt, obwohl als ver- Herr Gabriel, ich kann Ihnen an dieser Stelle aus- trauensbildende Maßnahme nichts notwendiger wäre als nahmsweise nicht ersparen, Frau Flachsbarth recht zu die Aufklärung und Benennung der verfehlten Verant- geben; das passiert selten in diesen Debatten. Ja, Sie ha- wortlichkeit. ben einen Schlingerkurs betrieben. Erst hieß es, die AKW-Betreiber sollen sich beteiligen. Dann hieß es (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN während der Novellierung des Atomgesetzes: Es ist sowie bei der LINKEN) reine Aufgabe der öffentlichen Hand. Nun heißt es wie- Der ehemalige Umweltminister Trittin hat, ganz anders der, sie sollen sich beteiligen. – Sie wollen dafür die ur- als Sie, überhaupt nichts gegen die Einsetzung eines Un- sprünglich von uns geforderte Brennelementsteuer ver- tersuchungsausschusses, sondern er hat ihn ausdrücklich wenden. Das ist löblich. Wenn wir aber die Option der befürwortet. Rückholung des Mülls aus der Asse tatsächlich wahrma- chen, werden Sie mit 1,6 Milliarden Euro nicht weit Die Asse ist inzwischen nicht nur der GAU der Endla- kommen. gerfrage. Die Asse wird zum Symbol der Unzuverlässigkeit der Atomtechnik samt ihrer ganzen Betreibergemeinde. In Das System der privatisierten Gewinne und der sozia- dieser Situation wollen Sie die Laufzeitverlängerung der lisierten Kosten zieht sich durch alles, was mit Atom- Atomkraftwerke und die unverzügliche Inbetriebnahme kraft zu tun hat: die Deckelung der Haftpflichtversiche- von Gorleben. rungen, die steuerfreien Rückstellungen und auch die jahrtausendelange Überwachung des Atommülls. Atom- Sie sind immer noch nicht in der Lage, bis drei zu kraftbefürworter argumentieren gern mit dem so teuren zählen. Volkswirtschaftlich viel zu teuer, energetisch Fotovoltaikstrom, den die Bezieher mit 31 bzw. völlig überflüssig und der Vertrauens-GAU, das ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22747

Sylvia Kotting-Uhl (A) Atomkraft. Zum Glück hat Deutschland den Atomaus- beschlossen, der ein sukzessives Aussteigen vorsieht. (C) stieg beschlossen. Sie können sich ausrechnen, dass sich die Einnahmen auf einen zweistelligen Milliardenbetrag belaufen wer- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den, die Sie nutzen können, damit nicht der Steuerzahler sowie bei Abgeordneten der SPD sowie des die Sanierung von Asse, Morsleben und anderer Stand- Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) orte bezahlt. Damit würde die Atomindustrie endlich an- gemessen an den katastrophalen Hinterlassenschaften Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: beteiligt, die sie uns vor die Füße oder besser gesagt: un- Für die Bundesregierung hat Herr Bundesminister ter die Füße gekippt hat. Sigmar Gabriel das Wort. Das ist mein Vorschlag. Sie haben während Ihrer Re- (Beifall bei der SPD) gierungszeit nichts unternommen, um sich diesem Thema zu widmen oder um die Finanzierung sicherzu- Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- stellen. schutz und Reaktorsicherheit: (Beifall bei der SPD und der FDP – Bärbel Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Sie mich zunächst einmal etwas zu dem angeblichen wirklich unglaublich!) Schlingerkurs sagen. Meine Frage an die Grünen ist: Warum haben Sie sich eigentlich sieben Jahre lang nicht Es gibt zwei pharisäerhafte Umgänge mit der Asse. um die Sanierung der Asse gekümmert? Das sind einerseits diejenigen, die dort billig entsorgt ha- ben, und andererseits die Grünen, die derzeit die Asse (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der entdecken. FDP) Vielleicht liegt es daran, dass ich dort wohne. Deshalb Warum haben Sie eigentlich sieben Jahre lang keinen brauchen Sie mir nicht zu erzählen, was dort los ist. Ich Gesetzentwurf erarbeitet, mit dem Sie den Versuch un- hätte es aber besser gefunden, Sie hätten während Ihrer ternehmen, die deutsche Atomindustrie 30 Jahre rück- Regierungszeit im Bundesumweltministerium nicht alles wirkend an der Finanzierung der Sanierung von Mors- unternommen, um die Zuständigkeit des Bundesum- leben oder der Asse zu beteiligen? Warum haben Sie das weltministeriums zu verhindern. nicht gemacht? (Beifall bei der FDP) (Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich hätte es gut gefunden, Sie hätten in Ihrer Regie- (B) Sie haben das deshalb nicht gemacht, weil Sie damals, rungszeit nicht die Stellen im Bundesumweltministerium (D) als Ihr Minister noch in der Regierung war – er ist ge- gestrichen, die für die Beobachtung der Asse mit zustän- rade draußen – – dig gewesen sind. Ich hätte mir außerdem gewünscht, Sie hätten Anträge wie diesen eingebracht, die richtig (Zuruf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sind. Hätten Sie wesentlich früher mit der Sanierung der – Ich weiß, bei Ihnen sind immer die Sozis schuld, wenn Asse begonnen, dann hätten wir heute nicht derartig dra- Sie etwas nicht hinbekommen, nur Sie selbst nicht. matische Probleme. (Beifall des Abg. Horst Friedrich [Bayreuth] (Beifall bei der FDP) [FDP]) Ich finde, was Sie hinsichtlich der Asse machen, ist Sie haben das deshalb nicht gemacht, weil Sie wuss- hochgradig pharisäerhaft. ten, dass dies rechtswidrig gewesen wäre. Einige derje- nigen, die mir jetzt im Blickfeld sitzen, haben einmal et- (Beifall bei der SPD und der FDP) was mit Regierungstätigkeit zu tun gehabt. Sie wussten, Sie haben nichts unternommen. Sie wollten das nicht. die Verfassung verbietet es uns, die Atomindustrie rück- Sie haben sich der Politik gebeugt, das so zu belassen, wirkend an der Finanzierung zu beteiligen. wie es ist. Sie wollten nicht hinschauen, und heute regen Deswegen kann man das nicht in einem Gesetz ma- Sie sich darüber auf. chen, mit dem wir die Asse sanieren. Deshalb können Ich muss bei aller kollegialen Wertschätzung der Anti- wir keine rückwirkende Finanzierung beschließen. Man atompolitik ganz offen sagen: So einfach kommen Sie kann aber sehr schnell ein Gesetz auf den Weg bringen, vor Ort nicht davon. Sie sind mitverantwortlich für das mit dem die Atomindustrie dadurch an der Finanzierung Handeln. beteiligt wird, dass der Staat Steuern im Bereich der Kernbrennstoffe einnimmt. Das ist der richtige Weg. Das ist kein Schlingerkurs. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischen- (Beifall bei der SPD) frage der Kollegin Höhn? Wenn Sie schon darüber reden, Frau Kotting-Uhl, dann bitte unter Beherrschung der Grundrechenarten. Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- Dies sind Einnahmen von 1,6 bis 2 Milliarden Euro pro schutz und Reaktorsicherheit: Jahr. Sie haben gemeinsam mit uns einen Atomkonsens Sehr gern. 22748 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sagt habe, das Bundesumweltministerium ist zuständig, (C) Frau Höhn, bitte sehr. wenn eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit eintritt. Dafür war damals nach § 19 des Atomgesetzes zu sor- Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gen. Herr Umweltminister, können Sie bestätigen, dass das Ich habe dann gesagt, es ist sinnvoller, dass wir beide Umweltministerium im Jahr 1998, als Jürgen Trittin in uns einigen und mit der Asse beschäftigen, als dass wir die Regierung eingestiegen ist, überhaupt nicht für die ein rechtsförmliches Verfahren beginnen. Dann haben Asse verantwortlich war, sondern dass die Kollegin wir etwas gemacht, was Sie nie getan haben, wir haben Bulmahn als Bundesforschungsministerin die Verant- dann nämlich einen Statusbericht in Auftrag gegeben, wortung für die Asse getragen hat? All das, was Sie jetzt um zu wissen, was dort eigentlich los ist. Als der Status- über die Asse sagen, lag also in der Zuständigkeit Ihrer bericht vorlag, erwies sich, dass ein Irrtum vorlag, was SPD-Kollegin Bulmahn. wir bis dahin nicht vermutet hatten: Die niedersächsi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schen Behörden unter Leitung von Herrn Umweltminis- ter Sander von der FDP – einschließlich der Bergbehör- den – waren nicht in der Lage, das Verfahren rechtmäßig Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- zu führen. schutz und Reaktorsicherheit: Ich kann bestätigen, dass in mehreren Vermerken des Das ist übrigens auch die Antwort auf den Einwurf Bundesumweltministeriums die Rechtsauffassung des von Frau Flachsbarth hinsichtlich des nicht sachgemä- Bundesforschungsministeriums durch Ihren Minister be- ßen Umgangs mit Laugen. Ich habe niemals gesagt, stätigt wurde, dass es richtig sei, die Asse nicht unter dass die Strahlenbelastung zu hoch ist. Atomrecht zu bringen, und dass es richtig sei, die Asse in der Verantwortung des Forschungsministeriums zu (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Aber na- belassen, und dass es keine weiteren Anmerkungen zu türlich!) diesen Vorstellungen des Forschungsministeriums gege- – Nein, ich habe gesagt, sie hätten gegen geltendes ben hat. Sie haben all das also wissentlich unterstützt, Strahlenschutzrecht verstoßen. Das ist damals auch ge- und Sie haben sogar noch eine Stelle gestrichen, durch tan worden. die die Asse bei uns im Ministerium mit unter Beobach- tung stand. (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Nein, nein!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir haben das alles aufgeklärt. Wir haben kooperativ (B) Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwi- zusammengearbeitet, statt uns diese Dinge immer hin- (D) schenfrage: der Kollegin Kotting-Uhl? und herzuspielen. Ich will gar nicht rechtfertigen, was dort auch unter Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- früheren SPD-Regierungen gemacht worden ist. Es geht schutz und Reaktorsicherheit: mir nur darum, dass Sie sich hier jetzt aufspielen, als Da sie sich anscheinend getroffen fühlen, gerne. So ist seien Sie der Retter der Asse. Sie haben die Leute dort das Leben. sieben Jahre lang alleingelassen.

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte sehr. Bulmahn hat sie alleingelassen! Das war Bulmahn, und das wissen Sie auch!) Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das ist das Ergebnis Ihrer Politik. Ich finde einfach, da- Ich diskutiere gerne mit Ihnen, Herr Minister. – Erin- rüber muss man öffentlich reden, wenn Sie so mit dem nern Sie sich, dass auch Sie bis zum Sommer 2008 der Thema anfangen. Meinung waren, die Zuständigkeit für die Asse liege besser beim Forschungsministerium, wie Sie das jetzt Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: rückblickend dem Minister Trittin zuschreiben? Erin- Herr Bundesminister, es gibt jetzt noch einen nern Sie sich, dass Sie die gleichen Worte benutzt ha- Wunsch, eine Zwischenfrage zu stellen, nämlich den des ben? Erinnern Sie sich auch, dass Sie auch nicht durch Kollegen Fell. unseren Antrag, sondern erst durch die Macht der Fak- ten, als nämlich die radioaktiven Laugen auftauchten, dazu bewegt werden konnten, die Asse unter Ihre Auf- Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- sicht zu stellen? schutz und Reaktorsicherheit: Ich muss mich einmal nach der Geschäftsordnung er- Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- kundigen und fragen, ob ich eigentlich noch die Chance schutz und Reaktorsicherheit: habe, meine Rede zu halten. Ich erinnere mich gut, dass ich gesagt habe, wir wer- den dieses Problem gemeinsam lösen. Die Kollegin Frau Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Schavan war die Erste, die das Bundesumweltministe- Ich habe die Uhr angehalten. Sie haben noch jede rium einbezogen hat. Ich erinnere mich gut, dass ich ge- Menge Gelegenheit dazu. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22749

(A) Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- Debatte, die Sie hier lostreten, wonach Sie das alles bes- (C) schutz und Reaktorsicherheit: ser gemacht hätten und wonach es bei uns einen Schlin- Dann gerne. gerkurs hinsichtlich der Finanzierung gebe. Das alles ist – seien Sie mir nicht böse – Kokolores. Daran stimmt Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nichts. Wir haben das endlich in den Griff bekommen Herr Kollege Fell, bitte sehr. und versuchen, mit großer Intensität weiter daran zu ar- beiten. Die Menschen vor Ort erwarten von uns, dass wir (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: Eine inter- diesen Zirkus nicht fortsetzen, aktive Rede!) (Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Minister, danke, dass Sie mir die Gelegenheit – hört doch auf! –, sondern in der Art und Weise, in der geben. – Sie haben so sehr hervorgehoben, dass Sie aus wir uns in der Sache einig sind, arbeiten. der Umgebung der Asse kommen und bestens über die Es gibt zwei Dinge, die nicht gehen. Frau Kollegin Probleme, die es dort seit vielen Jahren gibt, Bescheid Flachsbarth, es ist nicht möglich, mit dem Hinweis auf wissen. Ich frage Sie: Warum haben Sie von diesen die angeblichen Sicherheitsbedenken das zu tun, was Missständen eigentlich nicht auch als Ministerpräsi- der Kollege Sander in Niedersachsen will, nämlich mög- dent in Niedersachsen richtig Kenntnis gehabt, und wa- lichst schnell alles zu verfüllen, Deckel drauf und Ende, rum haben Sie nicht eingegriffen, sodass diese Miss- ohne zu wissen, was sich darin befindet und ob es lang- stände beseitigt wurden? zeitsicher ist. Das machen wir nicht. Wir können das nicht einfach nur deshalb, weil wir keine Lust mehr ha- Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- ben, uns damit zu befassen, zulasten unserer Urenkel schutz und Reaktorsicherheit: vergraben. Das ist unmöglich. Ich will diese Frage gerne beantworten: (Beifall bei der SPD) In der Tat war ich zum ersten Mal als 16-Jähriger und Zweitens geht es nicht an – das sage ich kritisch an später als Abgeordneter mehrfach in der Asse. Die nie- die Grünen gerichtet –, dass wir den Fehler wiederholen, dersächsische Landesregierung unter dem damaligen den die Atomindustrie gemacht hat. Die Atomindustrie Ministerpräsidenten Gerhard Schröder hat als erste Lan- hat politische Vorgaben machen wollen, wie mit der desregierung damit begonnen, Sanierungsmaßnahmen in Asse umzugehen ist. Das hat dazu geführt, dass dieses der Asse durchzuführen – übrigens mit der Umweltmi- Chaos entstanden ist. Jetzt sagt Ihr Landstagskollege in nisterin , einer sozialdemokratischen (B) Niedersachsen: „Der Gabriel muss das jetzt alles vor der (D) Kollegin hier im Deutschen Bundestag. Damals wurde Bundestagswahl entscheiden; sonst glauben wir ihm damit begonnen, die Südflanke, so meine ich, zu stabili- nicht, dass das notfalls herausgeholt wird.“ sieren, nachdem vorher dort jahrzehntelang nichts pas- siert war. (Zuruf der Abg. Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Danach ist der Antrag durch das Forschungsministe- rium gestellt worden, mit der Planfeststellung zu begin- – Tun Sie mir einen Gefallen, Frau Pothmer: Lassen Sie nen. Ab diesem Moment waren wir an der Debatte über uns mit den Leuten reden, die etwas von der Sache ver- die Sicherungsmaßnahmen beteiligt. Wir haben sie so stehen. Sie gehören nicht dazu. kritisch bewertet, wie Sie das auch heute von uns hören. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Bärbel Wir waren aber die Ersten in Niedersachsen, die Stüt- Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist zungsmaßnahmen in der Asse veranlasst haben. Vorher ein bisschen überheblich!) hat sich niemand darum gekümmert.

Das ist die Antwort. Sie können aber gerne noch ein Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: paar Fragen stellen. Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der (Heiterkeit bei der SPD) Kollegin Flachsbarth? Verstehen Sie mich richtig: Ich bin doch nicht der Sigmar Gabriel, Bundesminister für Umwelt, Natur- Überzeugung, dass nur die Atomwirtschaft dort Fehler schutz und Reaktorsicherheit: gemacht hat. Mich regt aber die pharisäerhafte Debatte Nein, ich würde gerne fortfahren. – Sie fordern „Alles auf. Ich sage Ihnen: Die Sozialdemokraten haben das raus, aber schnell!“. Das ist ein Motto für den Winter- nicht unter die Verantwortung des Umweltministeriums schlussverkauf. Für die Asse ist es nicht geeignet. Die gestellt, die Christdemokraten haben das nicht getan, die kritischen Wissenschaftler aus der Region sagen, dass Grünen haben nicht darum gekämpft, sondern alles beim wir Zeit brauchen. Genauigkeit geht vor Schnelligkeit. Alten belassen, und die Linkspartei hat sozusagen die Es darf keine Schlampigkeit geben, nur weil die Bundes- Gnade der späten Geburt. Für das Erbe ihrer Vorläufer- tagswahl bevorsteht. Das werden wir durchhalten. Was organisation SED sind wir in Morsleben allerdings auch immer Sie vor Ort sagen, wir werden nichts am Konzept zuständig. der Langzeitsicherheit ändern, und wir werden nicht, Wir alle haben dort also politisch unser Päckchen zu nur weil Sie gerne politischen Wahlkampf machen wol- tragen. Ich wehre mich aber gegen diese pharisäerhafte len, Maßnahmen vorschlagen, die die Menschen dort auf 22750 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Bundesminister Sigmar Gabriel (A) lange Sicht gefährden werden. Das werden wir nicht ma- Regelkraftwerke. Das sind dann unter den Bedingungen (C) chen, Frau Pothmer, auch wenn Sie es öffentlich fordern. des Emissionshandels Kohle- und Gaskraftwerke. Dass die Grünen den Ausstieg aus Atomenergie und aus (Beifall bei der SPD) der Kohleenergie fordern und dann als einzige Regel- Ich möchte noch einige wenige Bemerkungen zum energie die Gasverstromung zur Verfügung steht, ist Thema Kernenergie machen. Ich finde, es macht Sinn, nicht möglich. Das ist zu teuer. Deswegen ist eine De- den Blick darauf zu richten, wie in der Vergangenheit ar- batte über die Nutzung im Rahmen des Emissionshan- gumentiert worden ist. Dazu habe ich eine schöne An- dels für Kohle notwendig. zeige gefunden. Das, was heute zu diesem Thema ge- Die Atomenergie ist weltweit bei weitem nicht auf sagt wurde, scheint wieder in dieselbe Richtung zu dem Vormarsch, wie es öffentlich behauptet wird. Es führen. Der Wiedergänger in dieser Debatte, Frau gibt 436 Atomkraftwerke. 200 davon sind so alt, dass sie Brunkhorst – das immer wieder auftauchende Thema –, in den nächsten Jahren erneuert werden müssten. Es lie- ist die Kernenergie selber. Es sind nicht diejenigen, die gen um die 40 Bauanträge vor. Einige davon sind vor den Gefahren warnen. Ich zitiere: 20 Jahre alt. Strom aus Wind: Ja, aber … Vielleicht will man sich nicht auf politische Aus- – Das entspricht ein bisschen Ihrer Debatte. – stiegsbeschlüsse verlassen. Auf den Kapitalismus kann man sich in der Regel eher verlassen. Es geht um Kosten Die Dänen sind europäischer Spitzenreiter bei der in Höhe von 3 bis 5 Milliarden Euro. Es dauert 15 Jahre, Nutzung der Windenergie: 1988 wurde in Däne- bis man das Geld zurückbekommt. Ich bin gespannt, wie mark fast jede hundertste Kilowattstunde aus Wind sexy dieses Investment nach den Erfahrungen des Fi- erzeugt – das entspricht einem Anteil von nanzmarktes beim Wiederanspringen der weltweiten 0,9 Prozent am gesamten Stromverbrauch. Konjunktur ist. In Europa befindet sich de facto ein Jetzt kommt es: Atomkraftwerk im Bau, und zwar in Finnland. Das wird gerade vor die Wand gefahren. 700 Millionen Euro hat Eine vergleichbar intensive Nutzung der Windkraft dort ein deutsches Unternehmen versenkt, glaube ich. ist in der Bundesrepublik wegen anderer klimati- Die Mehrkosten belaufen sich auf über 1 Milliarde Euro. scher Bedingungen nicht möglich … Fragen zur Die Bauzeit verlängert sich um zwei Jahre. Wenn man so Kernenergie beantwortet gerne: Informationskreis etwas als Wirtschaftsförderung in Deutschland einführen Kernenergie will, dann kann ich nur gute Besserung wünschen. Dieselbe Debatte erleben wir heute. Sie wollen den (Beifall bei der SPD) (B) Leuten weismachen, man brauche die Atomenergie in (D) der Grundlast, weil die erneuerbaren Energien nicht aus- Völlig unterschätzt wird die Proliferationsgefahr. reichten. Ich sage Ihnen: Das Gegenteil ist richtig. Wer Wenn wir den Leuten weltweit sagen: „Die Atomenergie öffentlich erklärt, man brauche wegen der fluktuierenden ist das Richtige“, dann machen wir das, was die Inder Energie im Netz aus Wind oder Sonne die Atomenergie tun: Sie setzen nicht auf Uran – Frau Kotting-Uhl hat in der Grundlast, der hat entweder nicht verstanden, wie recht, wenn sie sagt, das Uranvorkommen sei begrenzt –, ein Elektrizitätsnetz oder ein Atomkraftwerk funktio- sondern gleich auf Plutonium. Das bedeutet, die Verbrei- niert, oder er sagt der Öffentlichkeit bewusst die Un- tung waffenfähigen Nuklearmaterials nimmt weltweit wahrheit. auf dramatische Weise zu, wie wir es uns zur Zeit des Kalten Krieges nicht hätten vorstellen können. Wer der (Beifall bei der SPD und bei der LINKEN so- Welt erklärt, allein die Atomenergie sei die Energie der wie des Abg. Hans-Josef Fell [BÜNDNIS 90/ Zukunft, der darf sich nicht wundern, wenn ein paar Ver- DIE GRÜNEN]) rückte in dieser Welt zuhören und sie auch haben wollen. Atomenergie und erneuerbare Energien sind nicht zu (Katherina Reiche [Potsdam] [CDU/CSU]: kombinieren. Wer wissen will, was dabei herauskommt, Wer tut denn das?) wenn man es versucht, konnte dies gerade beim Abfah- ren von Biblis A erleben. Man kann Atomkraftwerke – Unter anderem Sie mit Ihrer Propaganda und der Be- nicht als Regelkraftwerke nutzen. Deswegen funktio- hauptung, es gebe eine Renaissance der Kernenergie. niert die Kombination Atomenergie und erneuerbare (Beifall bei der SPD – Katherina Reiche [Pots- Energien nicht. dam] [CDU/CSU]: Ach Gott!) (Widerspruch bei der CDU/CSU) Frau Reiche, es war nicht der Bundesumweltminister, der erklärt hat, Atomenergie sei Bioenergie. Das waren – Es tut mir leid, dass Sie sich jetzt getroffen fühlen. doch Sie von der CDU/CSU. Für Sie ist wahrscheinlich Aber ich meinte Sie auch. die Asse eine Biotonne; das nehme ich stark an. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der Diese Kombination funktioniert nicht. Allerdings LINKEN) braucht man Regelkraftwerke aus anderen Energiefor- Wir jedenfalls setzen weiterhin auf Effizienz und erneu- men. Selbst wenn wir – wie es die Grünen wollen – bis erbare Energien. 2020 den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung auf 40 Prozent erhöhen, brauchen wir (Zuruf von der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22751

Bundesminister Sigmar Gabriel (A) – Herr Kollege, ich habe nicht erwartet, dass meine Rede Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) auf ungeteilten Beifall stößt; das wollte ich auch nicht. Nächster Redner ist der Kollege Michael Kauch für die FDP-Fraktion. Ich möchte Ihnen nicht die Umfragen ersparen, die Sie so nett zitiert haben. Das war zwar sehr freundlich, (Beifall bei der FDP) aber ich muss Sie leider korrigieren. Wir haben auf der BMU-Homepage eine Onlinebefragung – auf diese haben Michael Kauch (FDP): Sie verwiesen – durchgeführt. Es gab 14 726 Votings. Al- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir de- lerdings waren Mehrfachabstimmungen zugelassen. Das battieren heute über einen Antrag der Grünen; dort heißt Ergebnis ist: 57 Prozent sind gegen den Atomausstieg. es: Atomkraft ist lebensgefährlich. Liebe Kolleginnen Nun hat die Welt, die sich solchen Umfragen offensicht- und Kollegen von den Grünen, Sie haben sieben Jahre lich sehr verbunden fühlt, diese Umfrage fortgeführt. lang den Umweltminister gestellt. Wenn Anlagen le- Man hat wahrscheinlich gedacht: Wir ärgern jetzt den bensgefährlich sind, dann muss man sie abschalten, und Umweltminister, führen seine Umfrage fort – da so viele dann macht man keinen Kompromiss. Ein Bundesum- Menschen für die Kernenergie sind – und zeigen, wie weltminister muss unsichere Anlagen abschalten. das geht. – Bei der fortgeführten Umfrage gab es 59 734 Votings. Dabei waren Mehrfachabstimmungen ausge- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schlossen. Nun raten Sie einmal, wofür es eine Mehrheit der CDU/CSU) gab? 51 Prozent waren für den Atomausstieg. Sie waren aber offensichtlich nicht so unsicher, dass sie lebensgefährlich waren. Sie machen diese PR-Show (Dr. Maria Flachsbarth [CDU/CSU]: Warum rechtzeitig vor der Bundestagswahl, damit Sie ein Thema haben Sie das dann von Ihrer Homepage ge- haben, weil Ihnen sonst im Bundestagswahlkampf nichts nommen?) einfällt. Das ist ein wirklich durchsichtiges Manöver. – Sie irren sich. Die Ergebnisse finden Sie weiterhin auf (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten unserer Homepage. der CDU/CSU) Es wird noch besser. Unabhängig von dieser gekaper- Die FDP-Bundestagsfraktion strebt langfristig eine ten Umfrage bietet diese Zeitung seit dem 18. Februar vollständig regenerative Energieversorgung an. Aber ihren Lesern ein weiteres Onlinevoting zum Atomaus- mittelfristig werden wir weiterhin einen Energiemix stieg an. Auf die Frage: „Sollen alle deutschen Atom- brauchen. Alles andere ist Wunschdenken. Man kann es kraftwerke abgeschaltet werden?“ nicht so machen, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern. (B) Dort steht: „ … bis 2020 können es 30 – 50 % sein.“ Der (D) (Dr. Norbert Röttgen [CDU/CSU]: „Onlinevo- Hintergrund ist: Die Grünen sind sich doch selber nicht ting“!) einig, wie schnell der Umstieg auf die regenerativen Ener- gien erfolgen kann. Sie haben auf ihren Parteitagen im- – Sie haben das in Ihrer Rede eingeführt, ich zitiere nur mer wieder die Debatte gehabt, ob die vollständige Ver- die Umfragen, die Sie auch zitiert haben; mehr mache sorgung durch regenerative Energien bis 2020 möglich ich nicht – erklären 84 Prozent derjenigen, die an dieser ist. Herr Fell sagt das eine, Herr Loske das andere. Das Umfrage teilgenommen haben: Ja, sofort aussteigen. Das ist Chaos. So kann man keine verantwortliche Energie- Pünktchen auf dem I in Sachen Umfragen setzt die glei- politik in Deutschland machen. che Zeitung mit einem Bericht vom 1. März 2009, in dem sie auf eine repräsentative Umfrage der GfK im (Beifall bei der FDP) Auftrag der Welt am Sonntag – nun dürften alle im Saal Wir als FDP-Bundestagsfraktion glauben, dass eine beruhigt sein – hinweist. Unter der Überschrift „Mehr- Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke nötig heit will den Atomausstieg“ heißt es: ist. Ich sage ganz eindeutig: Die Kernenergie ist für uns Das Ergebnis zeigt, dass die Vorbehalte gegen eine Übergangsenergie. Deshalb bedeutet die Forderung Kernenergie in der Bevölkerung noch immer über- nach einer Laufzeitverlängerung nicht die Forderung wiegen: 53,2 Prozent der Befragten plädierten da- nach einem Neubau von Kernkraftwerken. Wir glauben aber, dass wir die Grundlastversorgung für den Wirt- für, am deutschen Atomausstieg wie geplant festzu- schaftsstandort Deutschland eben nicht zu einem ver- halten. Nur 29,7 Prozent hielten es dagegen für nünftigen Preis sicherstellen können, wenn wir nur auf richtig, die gesetzlich begrenzten Laufzeiten der Gas setzen. Nur auf Gas setzen bedeutet auch die Ab- deutschen Meiler doch wieder zu verlängern. hängigkeit von nur wenigen Quellen. Das ist eben nicht Fazit: Die Debatte über die Renaissance der Kern- verantwortbar. Wir können die Energiepolitik nicht aus- energie wird von den Marketingabteilungen der Unter- schließlich nach einigen wenigen Kriterien machen, die nehmen getriggert. Diejenigen, die sich hier missbrau- Sie sich wünschen, sondern wir müssen darauf achten, chen lassen, machen sich zu Lobbyisten der vier großen dass die Energieversorgung zu einem vernünftigen Preis Energieversorger, die 1 Million Euro pro Tag an einem auch für unsere Industrie gesichert ist. weiterlaufenden, abgeschriebenen alten Atomkraftwerk (Beifall bei der FDP) verdienen. Darum geht es, und nicht um Klimaschutz. Wir haben hier viel über die Asse gesprochen. Wir (Beifall bei der SPD) sollten aber auch Folgendes in den Blick nehmen: Was 22752 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Michael Kauch (A) ist falsch gelaufen, und was machen wir in der Zukunft? Der Begriff Atomausstieg verbietet sich eigentlich; (C) Unabhängig davon, ob wir die Kernkraft weiter betrei- denn durch ewig lange Stillstandszeiten und andere ben oder nicht und wie lange wir sie weiter betreiben: Tricksereien wurde ermöglicht, Restlaufzeiten zu bun- Klar ist, dass wir in den letzten 50 Jahren Atommüll kern und die Abschaltung in die nächste Wahlperiode zu produziert haben. Daran sind wir alle beteiligt. Meine verschleppen – natürlich in der Hoffnung, unter einer an- Damen und Herren von den Grünen, viele von Ihnen wa- deren Regierung den Ausstieg endlich zu kippen. Dies ren früher in anderen Parteien, waren zum Teil auch in haben wir heute bis zum Erbrechen gehört. Es bewahr- politischen Jugendorganisationen tätig, zum Teil bei uns heitet sich die damalige Prognose der Linken: Die garan- – Ihre Vorsitzende etwa war bei den Jungdemokraten – tierten Restlaufzeiten sind nicht nur eine Verstromungs- oder bei den Sozialdemokraten. Sie können sich hier garantie für AKW-Betreiber, die sie vorher nie hatten, nicht reinwaschen und so tun, als sei Ihre Bewegung völ- sondern sie verhindern auch, dass der Ausstieg unum- lig frei von irgendwelchen historischen Verantwortun- kehrbar wird. Wir aber wollen einen unumkehrbaren gen. Sie haben sieben Jahre lang den Umweltminister Ausstieg. gestellt. Dieser Umweltminister hat sieben Jahre lang (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert nichts getan, um den Atommüll unter die Erde oder wo- Winkelmeier [fraktionslos]) hin auch immer zu bringen. Seit Monaten hören wir nun ein Trommelfeuer der (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stromkonzerne, Union und Liberalen, sekundiert von Wir haben den Atomausstieg beschlossen!) RWE-U-Booten bei der Deutschen Energie-Agentur. Es Sie haben kein Konzept. Sie können nur kritisieren. Aber wird behauptet, wir bräuchten in Deutschland neue Sie haben nichts geleistet. Atom- und Kohlekraftwerke sowie längere Laufzeiten, da es bald eine Stromlücke geben werde. Das ist falsch. (Beifall bei der FDP) Ich wiederhole: Deutschland hat keine Strom-, sondern Wir wollen nicht – wie hier gerade behauptet wurde, eine Handlungslücke. um eine neue Gorleben-Lüge aufzubauen – Gorleben als (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Endlager in Betrieb nehmen. Wir wollen, dass geforscht neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN wird. Wir wollen im Übrigen auch, dass Konzepte einer und des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) rückholbaren Lagerung von Atommüll geprüft werden, aber nicht so, wie das der Umweltminister will, um das Hier nützt auch die Imagekampagne der Energiekon- Ganze auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben, zerne nichts, die explizit für Frauen Überzeugungsarbeit sondern um tatsächlich eine seriöse Abschätzung zu er- leisten soll. Frauen sind nicht so dumm; sie wissen, was Zukunftsfähigkeit heißt. (B) reichen: Welches Konzept ist für kommende Generatio- (D) nen von der historischen Verantwortung her, die wir hier (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert alle zu tragen haben, am ehesten zu verantworten? Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der FDP – Markus Kurth [BÜND- Gerade in der letzten Woche wurde auf dem Jahres- NIS 90/DIE GRÜNEN]: So lange wollen Sie kongress der Erneuerbaren Energien die Ausbaupro- die laufen lassen und immer mehr Müll produ- gnose bis 2020 bekanntgegeben. Stimmen die politi- zieren! Peinlich! Verantwortungslos!) schen Rahmenbedingungen, so ist bis dahin mit einem Ökostromanteil von 47 Prozent zu rechnen. Anfang der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: 90er-Jahre war noch allgemeine Lehrmeinung, dass es Für die Fraktion Die Linke hat nun die Kollegin Eva niemals mehr als 4 Prozent erneuerbare Energien im Bulling-Schröter das Wort. Netz geben werde. Seitdem sind regelmäßig alle Progno- sen übertroffen worden, nicht nur die der Bundesregie- (Beifall bei der LINKEN) rung und der Wissenschaft, sondern auch die der Erneu- erbaren-Branche selbst. Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Interessanterweise hat die jetzige Prognose den Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stromverbrauch vorsichtshalber fast konstant gelassen. Wenn die Dinge schlecht laufen, werden wir im Herbst Dies ist angesichts der fehlenden politischen Impulse zur eine Regierung haben, die den Atomausstieg zurückneh- Senkung des Energieverbrauchs – man könnte auch sa- men will. Wie das dann läuft, haben wir gerade erfahren. gen: angesichts der Blockade – kein Wunder. Das Ener- Im Übrigen: Wer brüllt, hat nicht immer recht. gieeffizienzgesetz – Sie wissen, wovon ich spreche; wir (Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Ausschlie- streiten im Umweltausschuss gerade darüber – ist längst ßen kann man es auch nicht!) überfällig und wird vom neuen Wirtschaftsminister tor- pediert. Erstaunlich ist aber, dass das CCS-Gesetz, das Leider könnte dann Schwarz-Gelb die Früchte einer jetzt auch als Kohleverstromungsgarantiegesetz bekannt Taktik ernten, die darin bestand, das Abschalten von ist, innerhalb von wenigen Monaten nach Erlass der EU- AKWs in dieser Legislaturperiode zu verhindern. Ob- Richtlinie ins Kabinett kommt. In der nächsten Woche wohl der sogenannte Atomkompromiss unter Rot-Grün soll dies so weit sein. Die Milliarden für die riskante bereits 2000 beschlossen wurde, gingen seitdem gerade Technik stehen auch schon bereit, obwohl es gesell- einmal zwei AKWs vom Netz, unter der jetzigen Koali- schaftlich und wissenschaftlich höchst umstritten sein tion kein einziges. dürfte, ob es sinnvoll ist, Milliarden an Tonnen Kohlen- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22753

Eva Bulling-Schröter (A) dioxid unter die Erde zu pressen. Das Energieeffizienz- denn das bedeutet nicht nur 30 Jahre mehr Risiko und (C) gesetz hingegen, das nach EU-Recht schon seit fast ei- zusätzliche Berge von Atommüll, sondern das bedeutet nem Jahr umgesetzt sein sollte, liegt immer noch auf Eis. auch 30 Jahre mehr Extraprofite in Milliardenhöhe aus dem Zertifikatehandel. Dann wird es nichts mit sozialen Man hat gelegentlich den Eindruck, als sei die Koali- Preisen. Da geht es nur noch um die Gewinne der Kon- tion auf der Suche nach einer sich selbst erfüllenden Pro- zerne. Vielleicht verspekulieren sie dieses Geld, und phezeiung: bloß keine wirklichen Fortschritte beim Ener- dann müssen wir ihnen Zuschüsse geben wie jetzt vielen giesparen, damit das Märchen von der Stromlücke Wahr- anderen. heit werden kann. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Für interessant halte ich die Aussage von Minister Winkelmeier [fraktionslos]) Gabriel im Spiegel, mit einer Großen Koalition sei eine stimmige Energie- und Umweltpolitik nicht zu machen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wahre Worte! Nächster Redner ist der Kollege Dr. Georg Nüßlein (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: für die CDU/CSU-Fraktion. Da hat er recht! – Volker Schneider [Saarbrü- (Beifall bei der CDU/CSU) cken] [DIE LINKE]: Wo er recht hat, hat er recht!) Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Meine Frage ist jetzt, ob es mit einer Ampel funktioniert. Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Die Angesichts der heutigen Reden wage ich dies zu bezwei- heutige Debatte ist zum einen dem Bundestagswahl- feln. kampf geschuldet, zum anderen habe ich den Eindruck, dass insbesondere bei den Grünen allmählich ankommt, (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) dass sich das Blatt in Sachen Kernenergie wendet. Der Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Union will nun Kollege Hirte hat den früheren Greenpeace-Direktor tatsächlich mit der Legende in den Wahlkampf ziehen, Stephen Tindale zitiert. Das Bemerkenswerte an dem Zi- Atomstrom senke die Strompreise. Man glaubt offen- tat ist nicht, dass er von seiner Meinung gesprochen hat, bar, dass Eon und Co. die Preise jemals unter den Groß- sondern das Entscheidende ist, dass er auf die wach- handelspreis senken würden. Warum sollten sie das tun? sende Zahl von Umweltschützern hingewiesen hat, die Atomstrom ist in der Herstellung gegenwärtig vielleicht sagen, Kernkraft sei vielleicht nicht ideal, aber besser als noch preiswert, auch weil die Risiken und Nachfolge- der Klimawandel. kosten nicht eingepreist sind. Die Konzerne brauchen (Marco Bülow [SPD]: Sie müssen genau hin- (B) (D) auch keine Versicherungsprämien zu bezahlen, weil sehen!) keine Versicherung sie annimmt. Sie verkaufen den Atomstrom zum Großhandelspreis an der Börse. Das Es lassen sich eine ganze Reihe von Zeugen aus diesem heißt natürlich, dass die Preise nicht sinken. Deshalb Umfeld finden. Da gibt es zum Beispiel Chris Goodall, sind Atomkraftwerke – übrigens auch Braunkohlekraft- ein britischer Grüner, also einer von Ihrer Couleur, und werke – Gelddruckmaschinen. Jeder Tag Laufzeitverlän- etliche andere. gerung bringt den AKW-Betreibern rund 1 Million Euro (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Profit. Diese Zahl wurde schon genannt. Ich denke, das Zwei, drei finde ich auch bei Ihnen!) müssen wir den Wählerinnen und Wählern noch viel öf- ter sagen. So viel zum Thema soziale Preise, von denen – Mir war klar, dass Sie jetzt diesen Zwischenruf brin- Sie, Frau Brunkhorst, reden. gen. Ich wiederhole: 1 Million Euro Profit pro Tag. Um Ich führe aber jetzt einen ganz anderen an, weil der diesen Profit abzukassieren, wäre vielleicht die Brenn- Herr Bundesumweltminister dazu einige Bemerkungen elementesteuer geeignet, die Herr Minister Gabriel gemacht hat, nämlich den Ausstiegskanzler Gerhard schon seit Monaten plant, die er aber leider nicht durch- Schröder. Er hat am 21. Februar 2009 gesagt, der Iran setzen kann. Ich habe schon in den Haushaltsberatungen habe das Recht auf die friedliche Nutzung der Kernener- gesagt, dass wir eine Brennelementesteuer unterstützen. gie. Jetzt frage ich mich, wie das mit dem kompatibel ist, Das wäre der einzige Weg, irgendwie an die absurd ho- was vorhin der Bundesumweltminister in Bezug auf hen Gewinne heranzukommen, die den AKW-Betreibern Schurkenstaaten und zum Thema atomwaffenfähiges aus dem Emissionshandel zusätzlich zufließen; denn Material gesagt hat. Wie geht denn das zusammen? durch die Zertifikatekosten steigt der Großhandelspreis (Widerspruch bei der SPD und dem BÜND- noch ein Stück an. Ich meine, in dieser Beziehung muss NIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der SPD: wesentlich mehr getan werden. Sagen Sie doch mal Ihre Meinung dazu!) Zum Schluss kann ich sagen: Wer wie die Union die Schröder war immerhin der Kanzler der rot-grünen Ko- Laufzeiten der Kernkraftwerke um weitere 30 Jahre ver- alition. Dass Ihnen das nicht gefällt, meine Damen und längern will, ist ein verantwortungsloser Lakai der Herren, ist mir klar. Frau Höhn sagte vorhin, Schweden Atomverstromer; habe kurz vor dem Super-GAU gestanden; (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Winkelmeier [fraktionslos]) Ja!) 22754 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Georg Nüßlein (A) deshalb müsse Deutschland aus der Atomenergie aus- Das ist ein Unding. Die politische Institution ist das eine. (C) steigen. Da frage ich mich, warum die Konsequenz aus Menschen in diesem Land komplett zu verunsichern, sie diesem angeblichen Super-Gau in Schweden der Wie- in Angst und Schrecken zu versetzen, und zwar nur aus dereinstieg ist. Das ist doch etwas, was man sich beim einem Interesse, nämlich daraus politisches Kapital zu allerbesten Willen nicht erklären kann. schlagen, ist das andere. Das, was Sie dort tun, ist unver- antwortlich. (Beifall bei der CDU/CSU)

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen- Kollegin Höhn? frage der Kollegin Höhn?

Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Ja. Wenn die Frau Kollegin einen Dialog wünscht, dann gern. Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Nüßlein, Sie haben eben auf Schweden hingewie- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sen und gesagt, Schweden habe die Konsequenz gezogen, Frau Höhn, bitte sehr. nach dem Fast-Super-GAU wieder in die Atomkraft ein- zusteigen. Können Sie bestätigen, dass Schweden eine Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schwarz-gelbe Regierung hat, und damit der Bevölkerung Herr Nüßlein, Sie haben eben Krümmel angespro- hier deutlich machen, was kommen würde, wenn wir chen. In Krümmel hat der Trafo gebrannt. Wollen Sie nach der Bundestagswahl Schwarz-Grün hätten, nämlich hier ernsthaft behaupten, dass diesem Trafobrand die ein Einstieg in die Atomkraft? Sicherheitsstufe 0 entsprach? Das hätten wir gerne im (Zurufe von der SPD: Schwarz-Gelb!) Protokoll. – Schwarz-Gelb natürlich. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Gemäß der internationalen INES-Skala entsprach das Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): der Stufe 0. Liebe Frau Kollegin, ich weiß nicht, was uns Schwarz-Grün an dieser Stelle bringen würde. Dieses (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (B) Szenario hier auszubreiten, würde – so gern ich es tun Eben nicht!) (D) würde – den Rahmen sprengen. So ist meine Auskunft. Natürlich ist das eine energiepolitische Entscheidung einer solchen Koalition. Die Koalition dort vertritt die (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bevölkerung. Wenn das, was Sie behauptet haben, wahr Aha!) wäre – dass man dort tatsächlich vor einem GAU gestan- So muss ich das an dieser Stelle weitergeben. So haben den hat –, dann wäre es – da bin ich mir sicher – völlig wir es recherchiert. Dass Ihnen das nicht gefällt, ist kein egal gewesen, welche politische Farbe eine Koalition Grund, die INES-Skala zu ändern, Frau Höhn. hat. Sie würden unter solchen Umständen nichts zu- stande bringen. Ich sage Ihnen ganz offen: Ich glaube (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: nicht, dass das mehrheitsfähig wäre; es wäre hier wie Keine Ahnung! Recherchieren Sie beim dort nicht durchsetzbar. Damit möchte ich nur zeigen, nächsten Mal besser!) wie sehr Sie mit dem, was Sie an dieser Stelle immer be- Es stimmt doch, dass sich Ihr Sprachschatz in diesem haupten, überzeichnen. Zusammenhang aus Wörtern wie „Risiken“, „Terror“, (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Lebensgefahr“ und „unverantwortlich“ zusammensetzt. Sie glauben an den Weihnachtsmann!) Ich muss an das anknüpfen, was der Kollege Kauch vor- hin schon gesagt hat. All das, was Sie jetzt sagen, haben Das zeigt sich durchgängig auch in Ihren Anträgen. In Sie schon gesagt, bevor Sie in Regierungsverantwortung Bezug auf Krümmel und Brunsbüttel sprechen Sie, die kamen. Dann haben Sie beschlossen, dass die Kernreak- Grünen, tatsächlich von Störfällen, obwohl Sie genau toren in diesem Land noch maximal 20 Jahre laufen dür- wissen, dass das, was dort geschehen ist, nach der inter- fen. Ihr Beschluss! In Ihrer Regierungszeit waren Sie nationalen achtstufigen INES-Skala der Stufe 0 ent- also plötzlich der Meinung: Die Kernenergie ist für die sprach, nächsten 20 Jahre ungefährlich und akzeptabel. (Widerspruch der Abg. Bärbel Höhn [BÜND- (Marco Bülow [SPD]: Ein Kompromiss war NIS 90/DIE GRÜNEN]) das!) also einem Ereignis ohne Bedeutung; das ist klipp und – Kompromiss oder nicht Kompromiss: Wenn wir der klar festzustellen. Sie wollen das Ganze natürlich inte- Meinung wären, dass das Ganze tödlich, lebensgefähr- ressegeleitet hochstilisieren, um Stimmung zu machen. lich, von Terrorrisiken nicht abschirmbar ist, dann wür- (Beifall bei der CDU/CSU) den wir dort sofort aussteigen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22755

Dr. Georg Nüßlein (A) Im Übrigen haben Sie mit der „Vereinbarung zwi- golten hat. Damals haben Sie gemeint, dass die existie- (C) schen der Bundesregierung und den Energieversor- renden Anlagen diesem Sicherheitsgrundsatz entspre- gungsunternehmen vom 14. Juni 2000“ – ich habe sie chen. In der Opposition sind Sie, liebe Kollegen von den da; vielleicht wollen Sie sie noch einmal anschauen – et- Grünen, offenkundig anderer Meinung. Das gilt entspre- was anderes unterschrieben. In dieser Vereinbarung wird chend für die Linken. den deutschen Kernkraftwerken explizit ein hohes Si- cherheitsniveau attestiert. Ich wiederhole: Sie haben Die Frage ist: Was hat sich seitdem getan? Sie führen diese Vereinbarung unterzeichnet. jetzt Terrorgefahren an. Der große Terroranschlag in den USA war am 11. September 2001. Danach haben Sie noch vier Jahre regiert. Da fand sich bei Ihnen kein Satz Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zu diesem Thema. Herr Kollege, Herr Kollege Kauch von der FDP-Frak- tion würde gern eine Zwischenfrage stellen. Gestatten Sie sagen: Keiner der heute betriebenen Reaktoren Sie diese? könnte dem gezielten Angriff mit einem vollgetankten Großraumjet standhalten; das bestätigten sogar die Re- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): aktorbetreiber übereinstimmend. Gern. Mir sagen die Reaktorbetreiber etwas anderes.

Michael Kauch (FDP): (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kollege, bei aller grundsätzlichen Übereinstim- Was sagen die Ihnen denn?) mung möchte ich Sie fragen, ob es nicht hilfreich wäre Abgesehen von der Frage, ob man die an der Stelle als – auch im Hinblick darauf, die Akzeptanz der Kernener- Kronzeugen nehmen soll: Wenn Sie sie als Zeugen an- gie als Übergangsenergie zu sichern –, sich mit Fragen führen, dann bitte nicht auch noch falsch und nur zu Ih- der Reaktorsicherheit aktiv auseinanderzusetzen. Wir ren Zwecken! können nicht so tun, als gäbe es keine Gefahren, als gäbe es keine Störfälle in deutschen Kernkraftwerken. Es ist Bei Ihnen, meine Damen und Herren, gilt der Grund- wichtig, dass wir uns mit diesen Fragen seriös auseinan- satz: Der Zweck heiligt die Mittel. Deshalb argumentie- dersetzen und diese Punkte nicht in diesen Schlagab- ren Sie mit Störfällen so, wie Sie es brauchen. Das ärgert tausch einbinden. mich persönlich. Mich als glühenden Anhänger der erneuerbaren Ener- Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): gien ärgert besonders, dass hier ein Gegensatz konstru- (B) Niemand sagt, dass wir das nicht tun. Wir tun es auch. iert wird. Das ist falsch. Herr Bundesumweltminister, (D) Wir haben immer gesagt: Kernenergie muss ein hohes wenn Sie sagen, erneuerbare Energien und Kernenergie Sicherheitsniveau einhalten. Das ist ganz entscheidend. gingen nicht miteinander, dann verkennen Sie die Reali- Im Umweltausschuss haben wir zum Beispiel den Aus- tät. Es funktioniert doch. Wir haben die erneuerbaren stieg aus Euratom abgelehnt – den die Grünen gefordert Energien ausgebaut, beginnend mit dem Stromeinspeise- haben –, weil wir der Meinung sind: Angesichts der Tat- gesetz unter der Regierung Kohl über das EEG – ein gro- sache, dass sich immer mehr Staaten um uns herum wie- ßes Verdienst von Rot-Grün; unbestritten – bis hin zu der für die Kernenergie entscheiden, müssen wir das ko- dessen aktueller Novellierung. Wir brauchen aber auch ordinieren. Dass dabei die nationale Sicherheit ein grundlastfähige Kraftwerke. Grundlast liefern nun ein- Thema ist, ist klar. Aber das, was um uns herum passiert, mal die Kernenergie und die Kohle. Wenn man gegen muss uns auch deshalb bewegen – das ist an der Stelle beides ist, muss man sagen, wofür man ist. ganz wesentlich –, weil wir nicht sagen können: Deutschland ist die Insel der Glückseligen; bei uns ist In nur einem Jahr haben die Bürgerinnen und Bürger das Sicherheitsniveau hoch, und was mit einem Kern- in diesem Land erlebt, wie nacheinander jeweils eine kraftwerk auf der anderen Rheinseite ist, ist uns letztend- Ecke des Zieldreiecks, das wir hier immer beschwören, lich egal. wichtiger geworden ist: zunächst der Klimaschutz, dann der Preis, als nämlich die Wirtschaft geboomt hat, und Das ist auch die Problematik, über die wir hier disku- dann die Verlässlichkeit, als Russland den Gashahn zu- tieren: Was bringt unter Sicherheitsgesichtspunkten der gedreht hat. Das sensibilisiert die Leute. Wir werden er- deutsche Ausstieg aus der Kernenergie? Gar nichts, leben – davon bin ich überzeugt –, dass ein Umdenken meine ich. Wenn um uns herum Kernkraftwerke en einsetzt und zu Umfrageergebnissen führt, die dem Bun- masse existieren und mit einer gewissen Wahrschein- desumweltministerium nicht passen. lichkeit auch noch neue gebaut werden, dann wird sich an der Sicherheitslage für die Bürgerinnen und Bürger Vielen, herzlichen Dank. nichts, aber auch gar nichts ändern. (Beifall bei der CDU/CSU) (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Mir reicht es schon! Ich brauche nicht noch eines im Saarland!) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nächster Redner ist für die SPD-Fraktion der Kollege In Deutschland sind nur Anlagen zulässig, von denen Marco Bülow. keine Gefahren für Leben und Gesundheit ausgehen. Das ist Atomrecht, das auch schon unter Rot-Grün ge- (Beifall bei der SPD) 22756 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Marco Bülow (SPD): Mittlerweile gibt es ja auch in der Union viele glühende (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Damen und Her- Verehrer, wie wir vernehmen konnten. Ich hätte mir al- ren! Wir brauchen einen nachhaltigen Umbau unseres lerdings gewünscht, dass die Zustimmung zum EEG Energiesystems. Am Ende muss stehen: Unser Energie- vonseiten der Union schon in der letzten Wahlperiode system ist höchst effizient und basiert zu 100 Prozent auf noch höher ausgefallen wäre. erneuerbaren Energien. Ich glaube, das ist die wichtigste (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Botschaft; diese sollte man immer wieder an den Anfang DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/ setzen. Alles andere wäre klimaschädlich und umwelt- CSU) schädlich. Aber nicht nur das: Es wäre auch wirtschaft- lich und sozial nicht verträglich. Es ist aber gut, dass sich da etwas verändert hat. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Nun wird also gegen die Erneuerbaren vorgebracht: des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ja, aber der Wind weht nicht immer, die Sonne scheint nicht immer; eine sichere Versorgung bekommen wir nur Wir alle wissen ja, dass die fossilen Ressourcen – das hin, wenn wir auf Atomenergie zurückgreifen können. gilt übrigens auch für Uran – endlich sind, sogar sehr Auch das stimmt nicht. Es gibt zum einen viele Kraft- endlich, wenn wir in Zukunft mehr davon verbrauchen. werke auf Basis fossiler Energieträger, die dazu ihren Wir wissen auch, dass wir von vielen dieser Ressourcen Beitrag leisten können, und zum anderen – darauf hat abhängig sind und eine Abhängigkeit von Ländern, in noch kein Redner hingewiesen – gibt es die Möglichkeit, denen Risikoregierungen herrschen, auch für uns ein Si- verschiedene Arten erneuerbarer Energien in Kombi- cherheitsrisiko darstellt. kraftwerken zusammenzuschließen. Die Frage ist also eher: Wie lange brauchen wir für (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: den Umstieg auf ein anderes Energiesystem, und aus Ja!) welchem Energieträger steigen wir zuerst aus? Die So- zialdemokratie beantwortet den zweiten Teil der Frage Wenn wir das fördern, werden wir sehen, dass durch das damit, dass wir insbesondere aus der hochriskanten Zusammenwirken verschiedenster erneuerbarer Ener- Atomtechnologie aussteigen sollten. Ich erinnere daran, gien auch der Grundlaststrombedarf abgedeckt werden dass es sich bei der Vereinbarung zum Atomausstieg, kann. Darüber müssen wir eine Diskussion führen; denn die ja gerade auch von Ihnen, Herr Nüßlein, noch einmal dabei geht es um Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit. dargestellt worden ist, um einen Kompromiss handelt. (Beifall bei der SPD) Ich gehörte zu denjenigen, die früher aussteigen wollten, und viele in meiner Partei ebenso. Ich könnte noch auf viele weitere Geschichten einge- (B) hen. Über Asse ist ja schon viel diskutiert worden. Es (D) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des handelt sich natürlich auch um eine typische Atomlüge, BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) wenn gesagt wird, die Asse sei sicher. Diese Reihung Wir haben uns aber zusammengesetzt, weil wir einen könnte man noch deutlich weiterführen. Aber zur Asse friedlichen Übergang haben wollten, und haben einen ist, wie ich denke, genügend gesagt worden. Kompromiss geschlossen. Wir stehen so lange zu dem Kompromiss, wie das die Atomindustrie auch tut. Sie ist Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: jedoch diejenige, die jeden Monat, fast sogar jede Woche Herr Kollege Bülow, darf ich Sie unterbrechen? Herr mit Sprüchen und Ankündigungen versucht, einen Bei- Kollege Fell hätte gerne eine Zwischenfrage gestellt. trag zur Aufkündigung dieses Kompromisses zu leisten. Wenn sie ihn aufkündigt, werden auch wir ihn aufkündi- Marco Bülow (SPD): gen. Das steht so fest wie das Amen in der Kirche. Das Bitte schön. werden wir immer wieder deutlich machen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Kollege Bülow, ich fand es sehr bemerkenswert, wie vehement Sie für erneuerbare Energien sprechen Ich bin es auch leid, immer wieder dagegen anzure- und dass Sie dargestellt haben, dass im Zusammenhang den, wenn diese falschen Versprechungen, diese Lügen, mit erneuerbaren Energien nicht wirklich ein Grundlast- die von der Atomlobby vorgebracht werden, für bare problem besteht. Ich stimme Ihnen völlig zu, dass man Münze genommen werden. Herr Minister Gabriel hat ja dieses Problem auch innerhalb des Systems der erneuer- gerade ein gutes Beispiel gebracht. 1990 – so lange ist baren Energien lösen kann, da deren Wachstumsge- das ja noch nicht her – hat der Informationskreis Kern- schwindigkeit ja sehr hoch ist. energie verlautbaren lassen, dass ein Anteil der Wind- energie an der Stromerzeugung in Deutschland von mehr Ich möchte Sie nun fragen: Warum spricht Ihr Minis- als 0,9 Prozent technisch unmöglich sei. Deren Anteil ter Gabriel nicht solche Worte? Er spricht davon, dass beträgt jetzt 7 Prozent. Das haben wir in kurzer Zeit ge- der Anteil erneuerbarer Energien bis 2020 maximal schafft. Wir werden noch viel mehr schaffen. 20 Prozent betragen könne, obwohl wir wissen, dass de- ren Wachstumsgeschwindigkeit wesentlich höher liegt. Dann kommt die nächste Lüge gegen die erneuerba- Er spricht weiterhin davon, dass man im Rahmen des ren Energien, nachdem sie jetzt einen gewissen Anteil Ausbaus erneuerbarer Energien Kohlekraftwerke, ob- haben und man sie nicht mehr ganz verteufeln kann. wohl diese das Klima zerstören, zur Abdeckung der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22757

Hans-Josef Fell (A) Grundlast bräuchte. Ich bin verwirrt über diese Darstel- Euro in die Atomenergie geflossen; weltweit sind es Bil- (C) lungen vonseiten eines SPD-Ministers. Welcher wirkli- lionen –, dass die Atomenergie zu einem großen Erfolg chen Erkenntnis folgt denn nun die SPD? wird. Was ist das Ergebnis nach 50 Jahren? Es gibt 435 Atomkraftwerke, die aber nur einen Anteil von Marco Bülow (SPD): 2,5 Prozent am Endenergieverbrauch haben. Die Erkenntnis der SPD und genauso die des Minis- Das Uran wird knapper. In den letzten Jahren – das ters ist, dass wir die Erneuerbaren immer weiter fördern zur Renaissance der Atomkraft – sind mehr Atomkraft- und ausbauen. Ich denke, es ist wichtig, auch das noch werke abgeschaltet als neue gebaut worden. Die Terror- einmal zu erwähnen. Viele von den Grünen haben ja be- gefahr ist gewachsen. Weltweit werden weiterhin Steuer- fürchtet, dass es unter einer Großen Koalition zu einem gelder bereitgestellt. Diese müssen auch bereitgestellt Abbruch bei der Entwicklung der Erneuerbaren komme. werden, weil die Endlagerfrage immer noch nicht gelöst Genau das ist nicht der Fall. Die Erneuerbaren sind wei- ist. Und das alles nach 50 Jahren! Die Atomenergie ist ter ausgebaut worden, und zwar unter Schwarz-Rot, und für mich der größte Technikflop der letzten Jahrzehnte. dieser Ausbau wird fortgeführt. Es ist überfällig, einmal darüber zu sprechen. Wir diskutieren gerade darüber – übrigens zusammen (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ mit dem Ministerium; hier gibt es schon in weiten Teilen DIE GRÜNEN) Einigkeit –, einen Kombikraftwerkbonus zu installieren, um erstens die Marktintegration der Erneuerbaren zu Die Atomenergie ist vor allem eines nicht: generatio- fördern und zweitens dazu beizutragen, dass auf diese nengerecht. Im Zusammenhang mit den Finanzen und Weise auch Grundlast bereitgestellt wird. Es gibt an die- mit vielen anderen Themen wird viel über Generationen- ser Stelle eine große Einigkeit in der SPD und auch eine gerechtigkeit gesprochen. Ich denke, das ist zum Teil ge- Annährung von SPD und Union. Die Große Koalition ist rechtfertigt. Aber was ist generationengerecht daran, also auf einem guten Weg, den wir gemeinsam mit dem wenn wir bestimmen, dass die Atomenergie genutzt wird Bundesministerium weitergehen werden. und so der strahlende Müll viele kommende Generatio- nen belasten wird? Die Generationen, die zukünftig (Beifall bei der SPD) durch die Kosten und den Atommüll belastet werden, werden vorher nie die Chance gehabt haben, darüber zu Ich möchte jetzt auf das Argument „Atomenergie ist entscheiden, ob sie Atomkraft haben wollen oder nicht. so billig“ – auch das ist schon angesprochen worden – Das ist nicht nur nicht nachhaltig, sondern die größte eingehen. Dieses Argument lässt sich mit einem Satz Ungerechtigkeit, die man den zukünftigen Generationen wegwischen. Ich frage mich: Wenn Atomkraft so billig antun kann. ist, warum haben dann die Bürgerinnen und Bürger (B) nichts davon? Die Atomenergie hat in Baden-Württem- Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten lieber (D) berg den höchsten Anteil an der Stromerzeugung, näm- über das diskutieren, worüber es jetzt zumindest Ansätze lich 55 Prozent. Der Strompreis in Baden-Württemberg von Einigkeit gibt. Wir müssen unsere Effizienz deutlich müsste also besonders günstig sein. Das ist er aber nicht. steigern. Das ist aber bis jetzt nur ein Lippenbekenntnis, Das Gleiche lässt sich für Bayern sagen. Daran erkennt weil wir in diesem Punkt in der Großen Koalition nicht man: Atomkraft macht den Strompreis nicht günstiger. zusammenkommen. Der alte Wirtschaftsminister – ich Das sollte man als Fakt festhalten. fürchte, das wird auch beim neuen Wirtschaftsminister so sein – hat uns Energieeffizienzgesetze vorgelegt, die Als nächsten Fakt sollte man festhalten, dass bis jetzt uns keinen Schritt weiterbringen. Wir brauchen aber eine – die Zahl ist je nach Rechenweise verschieden; gehen Steigerung der Energieproduktivität von 3 Prozent pro wir einmal von der untersten Grenze aus – 45 bis Jahr, die wir im Augenblick leider nicht erreichen. Die- 100 Milliarden Euro an Investitionen und Subventionen ses Potenzial müssen wir stärker ausnutzen. der öffentlichen Hand in die Atomenergie geflossen sind. Wenn in anderen Bereichen diese Summe mit solch Wir müssen den Ausbau der erneuerbaren Energien geringem Erfolg investiert worden wäre, hätte sich das vorantreiben. Da sind wir in der Großen Koalition ein betreffende Thema schnell erledigt. Stück weitergekommen. Wir dürfen an dieser Stelle nicht nachlassen. Gerade im Wärmebereich sind die Po- Es gibt keine Brennstoffsteuer. Für die Atomenergie tenziale sehr groß. Wir müssen außerdem dafür sorgen, gibt es die Möglichkeit, steuerfreie Rückstellungen in dass immer mehr Energie eingespart wird, die im Mo- beliebiger Höhe zu bilden. Außerdem wird nicht die ei- ment noch nutzlos verpulvert wird. Diesen Weg müssen gentlich notwendige Versicherungssumme abgedeckt. wir weiterverfolgen. Wir müssen effizienter werden, Das sind versteckte Subventionen, die wir einmal offen- Energie einsparen und die erneuerbaren Energien aus- legen müssen. Erst dann lassen sich die eigentlichen bauen. Wenn wir das erreichen, haben wir eine sehr gute Kosten berechnen. Chance, ein Energiesystem auch ohne Atomenergie zu Lassen wir einmal – das ist auch gefordert worden – schaffen, das Sicherheit garantiert und zukunftsfähig ist. die ganze Sicherheitsdiskussion beiseite. Tun wir einmal Damit können wir weltweit zeigen, dass das der Weg ist, so, als wäre die Atomenergie supersicher und als würde den man beschreiten kann und den auch andere einschla- nie etwas passieren, obwohl Herr Kauch gerade dan- gen können. Dies sollte der Weg im Hinblick auf eine kenswerterweise zugegeben hat, dass dem sicherlich nachhaltige Energiewende sein. nicht so ist. Seit 50 Jahren wird geforscht, gefördert, Vielen Dank. subventioniert, lobbyiert und alles dafür getan – in Deutschland sind, wie gesagt, 45 bis 100 Milliarden (Beifall bei der SPD) 22758 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: auch die FDP trotz der Anwerbeversuche der SPD ge- (C) Das Wort hat Philipp Mißfelder für die Fraktion der genüber den Liberalen ihr Fett abbekommen hat. CDU/CSU. (Angelika Brunkhorst [FDP]: Ich habe sehr (Beifall bei der CDU/CSU – breite Schultern! – [SPD]: [SPD]: Jetzt kommt der Lobbyist!) Reden Sie auch noch mal zum Thema heute?) Sie werden ja ansonsten von der SPD bei jeder sich bie- Philipp Mißfelder (CDU/CSU): tenden Gelegenheit umgarnt. Es wurde also der Großen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Koalition eine Absage erteilt, und die Ampel wackelte. Herren! Zunächst einmal möchte ich, ähnlich wie es schon andere Redner getan haben, auf den eigentlichen Noch mehr erstaunt hat mich das Feuerwerk, das ge- Grund dieser sehr ausführlichen Debatte am heutigen gen die Positionierung der Grünen abgebrannt worden Tage eingehen. Sie, Frau Kollegin Höhn, sowie Ihre ist. Das kann nun wirklich nicht auf taktischen Überle- Kolleginnen und Kollegen versuchen hier, Ihre Samm- gungen beruhen, sondern nur auf rein sachlichen Überle- lung von vielen Anträgen, über die wir schon seit Jahren gungen. diskutieren und zu denen Sie und wir schon oft hier im (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hause gesprochen haben, im Vorwahlkampf zu platzie- Was haben Sie eigentlich an Argumenten?) ren. Um nichts anderes geht es hier. Es geht Ihnen nicht um die Sache, Dem möchte ich mich anschließen; denn ich bin wie der Bundesumweltminister dezidiert der Meinung, dass Sie (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Polemik betrieben und keinen Schritt in Richtung einer Sie sehen das so! Sie haben ein Problem! Ge- stärkeren Versachlichung der Debatte gemacht haben. hen Sie doch mal auf die Argumente ein!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sondern darum, die schlechten Umfragewerte der Grü- nen dadurch zu konterkarieren, dass Sie zu Ihren Wur- Ich möchte auf einiges eingehen, was Sie in Ihren An- zeln zurückkehren. Deshalb tragen Sie heute diese vielen trägen dargestellt haben; Sie sind darauf sehr wenig ein- Anträge vor. gegangen. Zum Beispiel schlagen Sie anderen Ländern vor, Energie zu sparen, um den Klimawandel abzumil- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- dern. Dabei nennen Sie explizit auch die osteuropäi- neten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ schen Länder. Ich frage Sie ganz konkret: Wie soll das DIE GRÜNEN]: Weil Sie sich nicht mit den denn bitte vonstattengehen? Sie sagen, sie sollten die Argumenten auseinandersetzen wollen!) (B) Kernkraftwerke abschalten. Dadurch würden sie aber in (D) Am erstaunlichsten finde ich dabei, dass das nicht nur hohem Maße auf ihren erreichten Lebensstandard ver- für uns offensichtlich ist, sondern auch für jeden anderen zichten. Wissen Sie eigentlich, wie sich insbesondere in dadurch sichtbar wird, dass nur noch eine sehr erlesene Osteuropa die wirtschaftliche Situation angesichts der Schar von Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion an- internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise darstellt? wesend ist. Wenn Ihnen das alles so wichtig ist, wie Sie Es ist eine Katastrophe, was gerade in diesen Ländern sagen, dann frage ich mich: Wo sind die alle von den passiert. Grünen? Warum sind nur so wenige da, wenn ihnen das (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Thema so am Herzen liegt, wie Sie es die ganze Zeit in Die Erneuerbaren schaffen Arbeitsplätze im Ihren Reden behauptet haben und wie es an Ihren Zwi- Gegensatz zur Atomkraft!) schenrufen deutlich wird? Sie sagen dann mit der Arroganz des Wohlstands: Das ist (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- kein Problem. Das interessiert uns nicht; sollen die doch neten der FDP) Energie sparen. – Dazu muss ich Ihnen ganz ehrlich sa- Vielleicht haben sie Besseres zu tun, als an dieser De- gen: An dieser Stelle verstehe ich Ihre Argumentation batte teilzunehmen. überhaupt nicht mehr. (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vielleicht haben Sie keine guten Argumente, NEN]: Was wollen Sie eigentlich sagen?) weil Sie über diese Dinge reden!) Ich möchte den Bogen direkt zur innenpolitischen Das Zweite, was ich im Verlauf dieser Debatte sehr Debatte in Deutschland schlagen. Sie sagen immer wie- interessant fand, war die Richtung, in die der Bundesum- der: weltminister argumentiert hat. Man wusste gar nicht, (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wohin er wollte. Wohin er in der Sache will, daran habe NEN]: Was sagen Sie eigentlich?) ich keinen Zweifel; das ist bekannt. Man wusste aber nicht, welche Richtung er im Hinblick auf die Farben- Wir müssen mehr in erneuerbare Energien investieren. – spiele einschlagen wollte. Es ist nicht überraschend, dass Das tun wir auch. Das tut die Regierung. Da haben wir er die CDU/CSU – ich nehme meine liebe Kollegin sehr viel erreicht, im Übrigen auch im Konsens mit fast Reiche in Schutz, die der Bundesumweltminister in sei- allen Fraktionen. Aber es ist trotzdem so, dass dies zu- nen Schlussausführungen explizit angesprochen hat – nehmend auch eine soziale Qualität bekommt; denn es angegriffen hat. Ein bisschen mehr überrascht mich, dass ist immer noch nicht geklärt, wer die Kosten dafür letzt- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22759

Philipp Mißfelder (A) endlich tragen soll. Wer soll den Ausbau der erneuerba- gen, die leider nie eine Mehrheit fanden. Jetzt höre ich (C) ren Energien um jeden Preis bezahlen? von Ihnen, dass Sie sich auch um die ärmeren Menschen in diesem Land kümmern wollen. Wie könnte eine sol- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – che Regelung Ihrer Meinung nach ausschauen? Sind Sie Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: bereit, einen Teil dieser Profite abzuschöpfen, um diese Wer soll die Kosten für die Atomkraft tragen?) Menschen zu unterstützen? Ich kann nicht verstehen, warum Sie sich da festbei- ßen und nur in Richtung einer Verteuerung der Energie- Philipp Mißfelder (CDU/CSU): preise in Deutschland argumentieren, was besonders die In den vergangenen Wochen und Monaten mag der Menschen in unserem Land treffen würde, die wenig Eindruck entstanden sein, der Staat könne wirklich alles verdienen, aber noch zu viel, um vom Staat alimentiert regeln und müsse auch an jeder Stelle eingreifen. Ich zu werden. aber glaube, Frau Kollegin, dass die Zukunft einer siche- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – ren, klimafreundlichen und preisgünstigen Energiever- Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sorgung in Deutschland vor allem davon abhängt, ob wir Atomkraft ist viel teurer! Sie haben eben nicht in Zukunft genügend Investitionen in unserem Land ha- zugehört!) ben. Deshalb glaube ich, dass der Markt in diesem Zu- sammenhang nicht das Schlechteste ist. Das kann ich einfach nicht unterstützen. Für mich ist das eine soziale Frage. Wir müssen auch in Zukunft Energie- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: preise haben, die für Bezieher niedriger Einkommen be- Das ist ja gar kein Markt!) zahlbar sind. Ich wünsche mir natürlich mehr Wettbewerb und einen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) stärkeren Markt, auch im Bereich der Energieversor- gung. Von mehreren Rednern wurden hier prominente Ver- treter der grünen Bewegung aus der ganzen Welt ange- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: führt. Der frühere Greenpeace-Chef ist hier schon mehr- Es gibt doch gar keinen Markt!) fach zitiert worden; auch ich will das tun. Ich sage aber auch, dass wir Investitionen nicht durch (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: eine falsche Gesetzgebung verhindern dürfen. Es wäre Greenpeace ist nicht automatisch grün! – Zu- falsch, wenn wir in der Politik die Richtung einschlagen ruf von der SPD: Sie hätten auch Herrn Töpfer würden, die Sie fordern. Wir müssen vielmehr für unse- nennen können!) ren Standort werben und dafür sorgen, dass dieser Stand- (B) ort so attraktiv ist und die Investitionshürden so gering (D) sind, dass wir in Deutschland das Bestmögliche und das Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: technologisch Wirksamste haben. Wir brauchen tatsäch- Herr Mißfelder, wollen Sie vielleicht, bevor Sie das lich die beste Technologie im Bereich der Energie. tun, Frau Bulling-Schröter Gelegenheit zu einer Zwi- schenfrage geben? (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch keine Ahnung von dem Ener- Philipp Mißfelder (CDU/CSU): giebereich!) Ja, sehr gern. Ich glaube, dass das sozialer ist, als eine Umverteilungs- maschinerie in Gang zu setzen. Eine solche Forderung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ist angesichts der Geschichte Ihrer Partei allerdings nicht Bitte schön. verwunderlich. Sie überraschen mich damit kaum. (Beifall bei der CDU/CSU) Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Jetzt möchte ich mich aber doch noch einmal mit dem Herr Mißfelder, Sie haben über soziale Energiepreise Antragsteller, den Grünen, beschäftigen. Frau Höhn, Sie gesprochen. Ich denke, das ist ein wichtiges Thema. Da- haben hier gerade aktiv für eine schwarz-grüne Koopera- mit müssen wir uns wesentlich mehr beschäftigen. Es tion geworben. Anscheinend ist Ihr Herz von dieser ver- freut mich, dass Sie das angesprochen haben. meintlichen Option so voll, dass Ihnen das rausgerutscht Meine Frage an Sie lautet: Wir haben uns ja schon des ist. Ich muss Sie aber enttäuschen: Das wird so nicht Öfteren über Windfall Profits unterhalten. Die Energie- funktionieren. Dafür müssten Sie realitätsnäher werden. konzerne erhalten 91 Prozent der Zertifikate kostenlos. Sie müssten sagen, wie Sie die Energiepolitik in Zukunft Sie preisen sie allerdings ein, geben die Preise also wei- gestalten wollen. ter. (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ (Beifall der Abg. Bettina Herlitzius [BÜND- CSU] – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE NIS 90/DIE GRÜNEN]) GRÜNEN]: Sie verschwenden Ihre Redezeit!) Das wird vonseiten der Bundesregierung nicht bestritten. Ich rate Ihnen, sich in den von Ihnen bevorzugten Ur- Das sind Sonderprofite. Einen Teil davon könnten wir laubszielen einmal umzuschauen. Ich meine nicht Sie nutzen, um die sozialen Energiepreise zu gestalten. Von persönlich. Ich weiß nicht, wohin Sie in Urlaub fahren, unserer Seite gab es dazu eine ganze Reihe von Anträ- und ich will es auch nicht wissen. Sie sollten aber einmal 22760 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Philipp Mißfelder (A) genau hinschauen, was die bevorzugten Urlaubsdomizile Titel „Vertragstreue Abschaltung alter Atomkraftwerke (C) der Grünen sind. Lieblingsurlaubsziele der Grünen sind in Osteuropa“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be- – die Toskana nenne ich jetzt nicht – Schweden und schlussempfehlung auf Drucksache 16/12312, den An- Finnland. trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11764 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussemp- (Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: fehlung? – Die Gegenstimmen? – Die Enthaltungen? – Herr Mißfelder, reden Sie doch mal zum Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Thema! – Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/ Koalitionsfraktionen angenommen. Die Fraktion Bünd- DIE GRÜNEN]: Haben Sie eine Umfrage un- nis 90/Die Grünen und die Fraktion Die Linke haben da- ter den Grünen gemacht?) gegen gestimmt. Die Fraktion der FDP hat sich enthalten. Schauen Sie sich in diesen Ländern einmal an, was dort Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus- passiert. Dort gibt es eine Renaissance der Kernenergie, ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät- weil diese Länder keine Abhängigkeit vom Gas aus zung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Russland wollen, weil sie eine sichere und preisgünstige mit dem Titel „Für eine Schließung des Forschungs- Energieversorgung wollen und weil sie auch in Zukunft endlagers Asse II unter Atomrecht und eine schnelle gegen den Klimawandel angehen wollen. Das geht nun Rückholung der Abfälle“. Der Ausschuss empfiehlt in einmal nur, wenn Sie die Kernenergie als Option erhal- seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12270, ten – nicht ausschließlich; aber sie darf nicht vernachläs- den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf sigt werden. Drucksache 16/4771 abzulehnen. Wer stimmt für die Be- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. schlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? – Die Enthal- tungen? – Damit ist die Beschlussempfehlung angenom- (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. men bei Zustimmung von SPD, CDU/CSU und FDP und Angelika Brunkhorst [FDP] – Martin Burkert Gegenstimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd- [SPD]: Lobbyist!) nis 90/Die Grünen.

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 39 a bis 39 d und 39 f bis 39 r sowie die Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf: Damit ist die Aussprache geschlossen. 39 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Zwischen den Fraktionen ist verabredet, die Vorlagen gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur auf den Drucksachen 16/12288 und 16/10359 an die Änderung des Direktzahlungen-Verpflichtun- Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesordnung auf- gengesetzes geführt sind. – Damit sind Sie offensichtlich einverstan- (B) (D) den. Dann ist die Überweisung so beschlossen. – Drucksache 16/12117 – Wir kommen jetzt zur Beschlussempfehlung des Aus- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und schusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Verbraucherschutz (f) zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit dem Titel „Alte Atomkraftwerke jetzt vom Netz neh- b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- men“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur fehlung auf Drucksache 16/7882, den Antrag der Frak- Änderung des Gefahrgutbeförderungsgesetzes tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/6319 abzulehnen. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – – Drucksache 16/12118 – Die Gegenstimmen? – Die Enthaltungen? – Damit ist die Überweisungsvorschlag: Beschlussempfehlung angenommen bei Zustimmung der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion und Gegen- Innenausschuss stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Fraktion Die Linke. c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhe- ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu bung der Freihäfen Emden und Kiel dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Sicherheit geht vor – Besonders terroranfäl- – Drucksache 16/12228 – lige Atomreaktoren abschalten“. Der Ausschuss emp- Überweisungsvorschlag: fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache Finanzausschuss (f) 16/8469, den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung nen auf Drucksache 16/3960 abzulehnen. Wer stimmt für d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- die Beschlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? – Die gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit dem Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer gleichen Stimmverhältnis wie die vorherige angenom- Stiftung Deutsche Geisteswissenschaftliche In- men. stitute im Ausland, Bonn Ich komme zur Beschlussempfehlung des Ausschus- – Drucksache 16/12229 – ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu Überweisungsvorschlag: dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ausschuss für Bildung, Forschung und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22761

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Technikfolgenabschätzung (f) k) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (C) Auswärtiger Ausschuss gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Ausschuss für Kultur und Medien Änderung von Verbrauchsteuergesetzen f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 16/12257 – gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung der Überweisungsvorschlag: Gemeinsamen Marktorganisationen und der Finanzausschuss (f) Rechtsausschuss Direktzahlungen Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Drucksache 16/12231 – Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und l) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Verbraucherschutz (f) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Rechtsausschuss rung medizinprodukterechtlicher Vorschriften Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union – Drucksache 16/12258 – g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergän- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) zung behördlicher Aufgaben und Kompetenzen Rechtsausschuss im Bereich des wirtschaftlichen Verbraucher- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schutzes m)Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick – Drucksache 16/12232 – Döring, Horst Friedrich (Bayreuth), Joachim Günther (Plauen), weiterer Abgeordneter und der Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Fraktion der FDP Verbraucherschutz (f) Innenausschuss Verkehrsschilder reduzieren – Verkehrssicher- Rechtsausschuss heit bewahren h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- – Drucksache 16/10612 – gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich- Überweisungsvorschlag: tung eines Sondervermögens „Vorsorge für Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Schlusszahlungen für inflationsindexierte Bun- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (B) deswertpapiere“ (Schlusszahlungsfinanzierungs- Ausschuss für Tourismus (D) gesetz – SchlussFinG) n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Anton – Drucksache 16/12233 – Hofreiter, Winfried Hermann, Peter Hettlich, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Überweisungsvorschlag: NIS 90/DIE GRÜNEN Haushaltsausschuss i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Mehr Sicherheit auf deutschen Straßen – Mas- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem terplan Vision Zero Zweiten Protokoll vom 26. März 1999 zur – Drucksache 16/11212 – Haager Konvention vom 14. Mai 1954 zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Kon- Überweisungsvorschlag: flikten Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit – Drucksache 16/12234 – Überweisungsvorschlag: o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Patrick Auswärtiger Ausschuss (f) Döring, Angelika Brunkhorst, Hans-Michael Ausschuss für Kultur und Medien Goldmann, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP j) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ausbauziele der Offshore-Windenergie nicht Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen gefährden – Raumordnungsplanung des Bun- zwischen den Europäischen Gemeinschaften des überarbeiten und ihren Mitgliedstaaten einerseits und Bos- nien und Herzegowina andererseits – Drucksache 16/11214 – Überweisungsvorschlag: – Drucksache 16/12235 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Auswärtiger Ausschuss (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Innenausschuss Verteidigungsausschuss p) Beratung des Antrags der Abgeordneten Winfried Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Hermann, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer 22762 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ c) Beratung der Unterrichtung durch die Deutsche (C) DIE GRÜNEN Welle Bahnstrom auf erneuerbare Energien umstel- Zweite Fortschreibung der Aufgabenplanung len der Deutschen Welle 2007 bis 2010 mit Per- spektiven für 2010 bis 2013 – Drucksache 16/11930 – und Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Zwischenevaluation 2008 Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Drucksache 16/11836 – Überweisungsvorschlag: q) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bun- Ausschuss für Kultur und Medien (f) desrechnungshofes Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Entwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsjahr 2008 Haushaltsausschuss – Einzelplan 20 – d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- – Drucksache 16/12091 – gierung Überweisungsvorschlag: Bericht der Bundesregierung zur Mitnahme- Haushaltsausschuss fähigkeit von beamten- und soldatenrechtli- r) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine chen Versorgungsanwartschaften Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike – Drucksache 16/12036 – Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Überweisungsvorschlag: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Innenausschuss (f) Rechtsausschuss Stärkung des europäischen Haischutzes Verteidigungsausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend – Drucksache 16/12290 – Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag: Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und ten Verfahren ohne Debatte. (B) Verbraucherschutz (f) (D) Ausschuss für Gesundheit Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu Ausschuss für Bildung, Forschung und überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Technikfolgenabschätzung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 j sowie Zusatzpunkt 3 auf. Es handelt sich um Beschlussfassun- fahren gen zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese- (Ergänzung zu TOP 39) hen ist. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Tagesordnungspunkt 40 a: gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege- lung der Verständigung im Strafverfahren Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- nen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/ – Drucksache 16/12310 – DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge- Überweisungsvorschlag: setzes zur Änderung der Strafprozessordnung – Rechtsausschuss (f) Erweiterung des Beschlagnahmeschutzes bei Innenausschuss Abgeordneten b) Beratung des Antrags der Abgeordneten – Drucksache 16/10572 – Dr. Hermann Otto Solms, Rainer Brüderle, Carl- Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- Ludwig Thiele, weiterer Abgeordneter und der schusses (6. Ausschuss) Fraktion der FDP – Drucksache 16/12314 – Maßnahmen zur effektiven Regulierung der Finanzmärkte Berichterstattung: Abgeordnete Siegfried Kauder (Villingen- – Drucksache 16/10876 – Schwenningen) Christine Lambrecht Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Jörg van Essen Rechtsausschuss Wolfgang Nešković Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Jerzy Montag Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22763

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- Lutz Heilmann (C) empfehlung auf Drucksache 16/12314, den Gesetzent- Sylvia Kotting-Uhl wurf auf Drucksache 16/10572 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um lung auf Drucksache 16/12313, der Verordnung der Bun- das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun- desregierung auf Drucksache 16/12106 zuzustimmen. gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung ein- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Ge- stimmig angenommen. genstimmen? – Die Enthaltungen? – Damit ist die Be- schlussempfehlung bei Zustimmung der Fraktionen der Ich komme zur CDU/CSU, der SPD, der Linken und der FDP und bei Enthaltung des Bündnisses 90/Die Grünen ohne Gegen- dritten Beratung stimmen angenommen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen Kollegin- Wir kommen jetzt zu den Beschlussempfehlungen des nen und Kollegen, die dem Gesetzentwurf zustimmen Petitionsausschusses. wollen, aufzustehen. – Die Gegenstimmen? – Die Ent- haltungen? – Der Gesetzentwurf ist auch in dritter Bera- Tagesordnungspunkt 40 d: tung einstimmig angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Tagesordnungspunkt 40 b: ausschusses (2. Ausschuss) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des Sammelübersicht 536 zu Petitionen von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Stabilisierungs- und – Drucksache 16/12123 – Assoziierungsabkommen zwischen den Euro- Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- päischen Gemeinschaften und ihren Mitglied- tungen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig ange- staaten einerseits und der Republik Montene- nommen. gro andererseits Tagesordnungspunkt 40 e: – Drucksache 16/12064 – Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärti- ausschusses (2. Ausschuss) gen Ausschusses (3. Ausschuss) – Drucksache 16/12305 – Sammelübersicht 537 zu Petitionen (B) (D) Berichterstattung: – Drucksache 16/12124 – Abgeordnete Philipp Mißfelder Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- tungen? – Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig Dr. angenommen. Monika Knoche (Bremen) Tagesordnungspunkt 40 f: Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- schlussempfehlung auf Drucksache 16/12305, den Gesetz- ausschusses (2. Ausschuss) entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/12064 Sammelübersicht 538 zu Petitionen anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- wurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Die Gegen- – Drucksache 16/12125 – stimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent- wurf bei Zustimmung der CDU/CSU, der SPD, des Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Bündnisses 90/Die Grünen und der FDP und bei Ableh- tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der nung der Fraktion Die Linke angenommen. Koalitionsfraktionen, der FDP und des Bündnisses 90/ Die Grünen und bei Enthaltung der Fraktion Die Linke Tagesordnungspunkt 40 c: ohne Gegenstimmen angenommen. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Tagesordnungspunkt 40 g: richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Verordnung der Bundesregierung ausschusses (2. Ausschuss) Zweite Verordnung zur Änderung der Alt- Sammelübersicht 539 zu Petitionen fahrzeug-Verordnung – Drucksache 16/12126 – – Drucksachen 16/12106, 16/12181, 16/12313 – Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Berichterstattung: tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der Abgeordnete Michael Brand CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/ Gerd Bollmann Die Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion Die Horst Meierhofer Linke angenommen. 22764 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Tagesordnungspunkt 40 h: Ernst Burgbacher (FDP): (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- In der letzten Woche haben die Finanzminister der EU ausschusses (2. Ausschuss) beschlossen, dass bei arbeitsintensiven Dienstleistungen Sammelübersicht 540 zu Petitionen jedes Land selbst den reduzierten Mehrwertsteuersatz einführen kann. Der Finanzminister der Bundesrepublik – Drucksache 16/12127 – Deutschland hat dieser potenziellen Steuersenkung auf Wer stimmt dafür? – Die Gegenstimmen? – Enthal- europäischer Ebene zugestimmt, gleichzeitig aber ge- tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der sagt, dass er sie dem eigenen Land vorenthalten will. Koalitionsfraktionen, der Linken und des Bündnisses 90/ Das ist für uns ein unglaublicher Vorgang. Die Grünen und bei Gegenstimmen der Fraktion der (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) FDP angenommen. Es kann nicht sein, dass ein deutscher Finanzminister auf Tagesordnungspunkt 40 i: europäischer Ebene so handelt. Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- (Beifall bei der FDP) ausschusses (2. Ausschuss) Das ist allerdings genau der Stil des Bundesfinanzmi- Sammelübersicht 541 zu Petitionen nisters: Wenn die Großen etwas wollen, werden sie mit offenen Armen empfangen. Wenn die kleinen und mit- – Drucksache 16/12128 – telständischen Familienbetriebe etwas wollen, wird die Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal- Tür zugeschlagen. Exakt das ist hier der Fall. Wenn Sie tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der 1 000 Familienbetriebe in Hotellerie und Gastronomie Koalitionsfraktionen und der FDP und bei Gegenstim- mit durchschnittlich 20 Arbeitskräften pro Betrieb neh- men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Frak- men, kommen Sie auf 20 000 Beschäftigte. Die stehen tion Die Linke angenommen. dann auf der Straße, und es kümmert sich niemand. Um die Großen aber kümmert man sich. Tagesordnungspunkt 40 j: (Beifall bei der FDP) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Ich will mich aufgrund der mir zur Verfügung stehen- ausschusses (2. Ausschuss) den Zeit in der Argumentation auf Hotellerie und Gas- Sammelübersicht 542 zu Petitionen tronomie beschränken und Ihnen an ganz konkreten Bei- spielen aufzeigen, worum es geht. Früher sind viele (B) (D) – Drucksache 16/12129 – Deutsche über den Rhein nach Frankreich, vor allem in Wer stimmt dafür? – Die Gegenstimmen? – Enthal- das Elsass, gefahren, um dort essen zu gehen. Durch tungen? – Die Sammelübersicht ist bei Zustimmung der enorme Qualitätssteigerungen in der deutschen Gastro- Koalitionsfraktionen, bei Gegenstimmen der Fraktionen nomie hat sich das mittlerweile nahezu ausgeglichen. der FDP und der Linken und bei Enthaltung des Bünd- Der Trend geht eher in die andere Richtung. Bisher lag nisses 90/Die Grünen angenommen. der Mehrwertsteuersatz in Frankreich im Gastronomie- bereich bei 19,6 Prozent. Jetzt wird er, und zwar sehr Zusatzpunkt 3: schnell, auf 5,5 Prozent gesenkt. Deutschland aber bleibt bei 19 Prozent. Das ist unglaublich. Beratung des Antrags der Bundesregierung (Beifall bei der FDP) Ausnahme von dem Verbot der Zugehörigkeit zu einem Aufsichtsrat für Mitglieder der Bun- Was bedeutet das konkret? Wenn eine Familie in desregierung Deutschland essen geht und dafür 100 Euro bezahlt, dann bleiben dem deutschen Wirt davon 84 Euro. Wenn – Drucksache 16/12282 – dieselbe Familie über den Rhein nach Frankreich fährt und dort 100 Euro bezahlt, bleiben dem französischen Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage- Wirt 94,80 Euro, also knapp 95 Euro. Das sind 11 Euro gen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist einstimmig ange- mehr. Für den deutschen Gastronomen bedeutet das, nommen. dass er entweder die Preise erhöhen oder die Qualität re- Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 4 auf: duzieren muss, sei es in der Küche oder beim Service. Er ist dann aber nicht mehr wettbewerbsfähig. Genau das Aktuelle Stunde ist der Punkt. auf Verlangen der Fraktion der FDP In 22 von 27 Ländern der Europäischen Union gilt der Umsetzung des Beschlusses der EU in reduzierte Mehrwertsteuersatz für die Hotellerie. In 11 Deutschland für einen ermäßigten Mehrwert- von 27 Ländern gilt der reduzierte Mehrwertsteuersatz steuersatz auf Dienstleistungen für die Gastronomie. Sie können nach den Ecofin-Be- Der Kollege Ernst Burgbacher hat für die FDP-Frak- schlüssen davon ausgehen, dass diese Zahl ebenfalls auf tion das Wort. 22 steigt. Das heißt, heutzutage ist der reduzierte Mehr- wertsteuersatz in Europa der Normalfall. Der Finanz- (Beifall bei der FDP) minister aber sagt: Mit mir gibt es in Deutschland keine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22765

Ernst Burgbacher (A) Änderungen. – Wer so argumentiert, der setzt die Ar- Für die FDP erkläre ich klipp und klar: Die FDP steht (C) beitsplätze von Hunderttausenden Menschen und auch dazu. Wir wollen die Einführung dieser reduzierten von weit über einhunderttausend Auszubildenden aufs Mehrwertsteuersätze, – Spiel. Er nimmt nicht nur in Kauf, dass keine neuen Ar- beitsplätze geschaffen werden – was durchaus möglich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wäre –, sondern auch, dass bestehende Arbeitsplätze ge- Herr Kollege, klipp und klar: Ihre Redezeit ist zu fährdet werden. Das alles tut er als Sozialdemokrat. Ende. (Zuruf des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das ist schon beeindruckend!) Ernst Burgbacher (FDP): – und zwar möglichst nicht erst nach der Wahl, son- Die Menschen draußen werden sich sehr gut überle- dern jetzt; denn die Probleme stellen sich nicht erst spä- gen, wie sie das zu bewerten haben. ter, sondern jetzt. Angesichts der Wettbewerbssituation in Europa und Herzlichen Dank. der Verpflichtung des Gesetzgebers, unseren Unterneh- men durch die Schaffung fairer Wettbewerbsbedingun- (Beifall bei der FDP) gen zu helfen, fordert die FDP klipp und klar die Einfüh- rung des reduzierten Mehrwertsteuersatzes von 7 Prozent Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: für Hotellerie und Gastronomie. Es spricht der Kollege Eduard Oswald für die CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall bei der FDP – Lena Strothmann [CDU/CSU]: Sagt ihr auch, wer das finanzie- (Beifall bei der CDU/CSU) ren wird?) Liebe Freunde von der Union, was Sie hier gerade lie- Eduard Oswald (CDU/CSU): fern, ist kein wohlschmeckendes Gericht. Der Herr Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seehofer kündigt eine Bundesratsinitiative für diese Wo- Gleich vorweg: Im gemeinsamen Wahlprogramm von che an und zieht sie wieder zurück. CDU und CSU werden wir für den Bereich der Steuer- politik unter anderem drei Punkte darstellen: (Dr. [CDU/CSU]: Das stimmt doch überhaupt nicht!) Erstens. Wir werden die Ungereimtheiten im System der Mehrwertsteuer beseitigen. Der Tourismusbeauftragte reist mit dieser Forderung (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Oh! Wann durch das Land, hat aber im eigenen Lager noch nicht (B) denn?) (D) einmal eine Mehrheit. Der baden-württembergische Fi- nanzminister Stächele spricht sich für den reduzierten Zweitens. Wir werden an der Reform der Lohn- und Mehrwertsteuersatz aus, Einkommensteuer arbeiten, sodass die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wieder mehr Geld in der Tasche (Joachim Poß [SPD]: Der ist noch nicht lange haben werden. im Amt; der kennt sich noch nicht so aus!) (Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Burgbacher der baden-württembergische CDU-Abgeordnete Krichbaum [FDP]: Wann?) lehnte ihn heute Morgen strikt ab. Wir erwarten jetzt von Ihnen eine Positionierung, Drittens. Im Rahmen der Unternehmensteuerreform werden wir Hemmschwellen beseitigen, die die wirt- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) schaftliche Entwicklung eines Unternehmens heute blockieren. Damit werden wir den Standort Deutschland und wir erwarten von Ihnen, dass Sie endlich den mittel- stärken. ständischen und kleinen Familienbetrieben helfen und dass Sie heute klar signalisieren, dass der reduzierte (Beifall bei der CDU/CSU) Mehrwertsteuersatz eingeführt werden wird! Übrigens, Kollege Burgbacher: Eine Umsetzung in (Beifall bei Abgeordneten der FDP) deutsches Recht kann bekanntlich erst im Rahmen einer Änderung der Mehrwertsteuerrichtlinie erfolgen. Sie müssen das jetzt tun. Ich sage ganz deutlich: Wir werden es Ihnen nicht durchgehen lassen, Der Ecofin-Rat ist übrigens dem sehr viel weiter rei- chenden Vorschlag der tschechischen Ratspräsident- (Zuruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Das sind schaft nicht gefolgt, den ermäßigten Umsatzsteuersatz ja Drohungen!) generell auf Lieferung, Bau, Renovierung, Umbau und Instandhaltung von Wohnungen zur Anwendung zuzu- dass Sie ein paar Leute vorschicken, die sagen dürfen, lassen. Auch dies muss erwähnt werden. was sie wollen, und alle anderen zurückgepfiffen wer- den. Es geht um kleine mittelständische Familienunter- Die Forderung verschiedener Branchen nach einer nehmen. Es geht um viele Hunderttausend Menschen, Aktualisierung des Mehrwertsteuerkatalogs – dieser ist die in diesem Bereich Arbeit finden. Sie haben es in der umfassender, als dies Herr Kollege Burgbacher darge- Hand, ob in diesem Bereich neue Arbeitsplätze entste- stellt hat – ist für mich gut nachvollziehbar, da die über- hen oder ob bestehende vernichtet werden. wiegende Zahl der aktuell geltenden Mehrwertsteuerer- 22766 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Eduard Oswald (A) mäßigungen auf das Jahr 1968 zurückgeht und Ich will, dass eine Mehrwertsteuerermäßigung über (C) zwischenzeitlich das eine oder andere heute nicht mehr Preissenkungen tatsächlich an die Verbraucher weiterge- nachvollziehbar ist. geben wird. Darum geht es uns. Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass wir das (Beifall bei der CDU/CSU) Thema angehen müssen. Einzelne Beispiele machen dies Das Problem ist aber, dass dies leider niemand sicher- deutlich. Dass Pralinen und Gänseleber mit 7 Prozent stellen kann, da die Mehrwertsteuer nur ein Preisbe- besteuert werden, Mineralwasser jedoch mit dem vollen standteil von vielen ist. Mehrwertsteuersatz, versteht man ebenso wenig wie die Regelung, dass man auf Futter für Haustiere 7 Prozent, Wir werden also ein schlüssiges Gesamtkonzept erar- für Babynahrung jedoch 19 Prozent entrichten muss. beiten (Zuruf von der SPD) (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wann?) Äpfel zum Essen werden ermäßigt besteuert. Der – dabei werden wir sorgfältig vorgehen – und eine trag- Fruchtsaft – wenn man sie durch die Presse schickt – fähige und umfassende Lösung entwickeln, durch die die wird voll besteuert. Für Kaffee gilt Ähnliches. Kaffee- Menschen überzeugt werden und die zudem auch solide pulver wird mit 7 Prozent versteuert. Handelt es sich um finanzierbar ist. Kaffee, dann ist der volle Steuersatz fällig. Weitere Bei- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wann denn?) spiele könnte man erwähnen. In den verbleibenden sieben Sitzungswochen bis zur Wir brauchen – und dafür steht unsere Fraktion – eine Wahl einen Schnellschuss abzugeben, wäre auch ange- für jeden Bürger verständliche Lösung, ein schlüssiges sichts der Herausforderungen, die wir im Rahmen der Konzept, das auch logisch ist. Der Bürger darf nicht erst Finanz- und Wirtschaftskrise zu bewältigen haben, wirk- im Katalog nachschauen müssen, wie nun versteuert lich die falsche Antwort. wird. Es muss steuersystematisch richtig sein. Es wird doch wohl zu schaffen sein, dass wir im Steuerrecht et- (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE was hinbekommen, was nicht kompliziert ist. GRÜNEN]: Ihr hättet das ja schon vorher ma- chen können!) (Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Burgbacher [FDP]: Schön wär’s!) Wir werden das richtig machen, ohne einen Schnell- schuss abzugeben. Hier können Sie uns beim Wort neh- Im Gastronomiebereich zeigen sich heute schon Wett- men. bewerbsverzerrungen in grenznahen Regionen. Durch (Beifall bei der CDU/CSU) (B) einen Mehrwertsteuersatz von nur 10 Prozent in Öster- (D) reich und einem noch niedrigeren in der Schweiz werden Gaststätten, die gerade in den grenznahen Tourismusre- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gionen in einem harten Wettbewerb stehen, unzumutbar Jetzt spricht die Kollegin Dr. Barbara Höll für die benachteiligt. Das steht außer Frage. Für mich persön- Fraktion Die Linke. lich gilt auch: Wer es den EU-Nachbarn gestattet, die (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Mehrwertsteuer zu senken, muss auch für das eigene Winkelmeier [fraktionslos]) Land eine Lösung erarbeiten. (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): LINKE]: Wer ist denn in der Regierung?) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An Ihren Taten sollt Ihr sie messen. Zum 1. Januar 2007 Deshalb ist selbstverständlich auch die Frage nach wurde der allgemeine Regelsatz der Mehrwertsteuer den Auswirkungen auf den Haushalt zu stellen. Wir ha- durch SPD und CDU/CSU von 16 Prozent auf 19 Pro- ben in dieser Periode vieles geleistet, auch bei der Sanie- zent erhöht. Das war die größte Steuererhöhung in der rung des Haushaltes. Manches, was heute in der Finanz- Geschichte der Bundesrepublik und Wirtschaftskrise getan werden muss, wäre ohne diese Sanierung nicht möglich. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Genau!) Zur Ehrlichkeit gehört aber auch, zu sagen, dass wir und eine der unsozialsten Maßnahmen. Das sind Ihre Ta- bei einer Absenkung des Steuersatzes im Bereich der ten. Gastronomie Steuerausfälle in Höhe von rund 3 Milliar- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert den Euro zu verzeichnen hätten. Nimmt man den Be- Winkelmeier [fraktionslos] – Dr. Volker reich Beherbergung dazu, fallen die Steuerausfälle ver- Wissing [FDP]: Das war nicht die FDP!) mutlich um 1 Milliarde höher aus. Arzneimittel würden mit fast 4 Milliarden Euro, Mineralwasser mit 0,3 Milliar- Skandalöserweise haben Sie Teile der Mehreinnah- den Euro, Kinderbekleidung und Schuhe mit 1 Milliarde men durch die Steuererhöhung dann auch noch für Steu- Euro, Kinderspielzeug mit 0,5 Milliarden Euro zu Buche ererleichterungen für Vermögende und Unternehmen schlagen. Damit habe ich einige der Felder beschrieben, verwendet. Die Linke sagt: Erhöhungen der Mehrwert- bei denen von der Politik zu Recht etwas erwartet wird. steuer sind sozial ungerecht. Die dadurch verursachte Die Aufgabe ist also etwas umfassender, als vorhin dar- Steuerbelastung ist natürlich umso stärker, je geringer gestellt wurde. das Einkommen der Menschen ist. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22767

Dr. Barbara Höll (A) Um die unsoziale Wirkung Ihrer Steuererhöhung ab- festgelegt. Deutschland wollte nie mitmachen. Ich habe (C) zumildern, haben wir Ihnen hier bereits Vorschläge un- keine Stimmen der FDP im Ohr, dass sie damals dafür terbreitet, und zwar nicht für die letzten sieben Sitzungs- gewesen ist. Nein, wir haben das gefordert, Sie haben wochen, sondern schon vorher. Wir haben Ihnen für das alles immer abgelehnt. diese Wahlperiode den Vorschlag unterbreitet, den Schauen wir uns das noch einmal an, um vielleicht ein Mehrwertsteuersatz auch für folgende drei Produktgrup- wenig zu illustrieren, wie Sie als FDP argumentiert ha- pen bzw. Dienstleistungen zu ermäßigen: Waren und ben. Ich habe mir einige Zitate herausgesucht, zum Bei- Dienstleistungen für Kinder, apothekenpflichtige Medi- spiel von Frau Frick aus der 13. Legislaturperiode oder kamente und – das haben wir immer gefordert – arbeits- auch von Herrn Wissing, der gesagt hat: Wer sich so ver- intensive Handwerksdienstleistungen. hält und einen solchen Antrag stellt, der verhält sich chao- Es liegt doch auf der Hand: Eine solch große Senkung tisch und betreibt Flickschusterei. des Mehrwertsteuersatzes von 19 Prozent auf 7 Prozent, (Hellmut Königshaus [FDP]: Ja, weil der An- die natürlich bei den Menschen auch ankommen muss, trag schlecht war!) stellt gerade für die Bezieherinnen und Bezieher von Transferleistungen eine Entlastung dar. Sie wissen, dass Schau an, was Sie heute tun! Sie sagten, es sei chao- über 2 Millionen Kinder und Jugendliche in der Bundes- tisch und eine Flickschusterei. Nein, Sie als FDP verhal- republik von Hartz IV und Sozialhilfe leben müssen. Für ten sich heute zu dem Thema einfach wie ein Trittbrett- fahrer. Sie haben in den vergangenen Jahren weder als sie wäre das eine Entlastung. Sie in der Regierung waren noch in der Opposition tat- (Gabriele Frechen [SPD]: Aber nur, wenn das sächlich in dieser Richtung gehandelt, bei ihnen ankommt!) (Ernst Burgbacher [FDP]: Aber selbstver- Es wäre auch gut, die Kosten für arbeitsintensive ständlich!) Handwerksdienstleistungen zu verringern, um auch von sondern immer nur nebulös gefordert, man müsse das der Ideologie der Wegwerfgesellschaft wegzukommen, Ganze noch einmal neu betrachten. sodass es sich wieder lohnt, Produkte reparieren zu las- sen. Das ist eben arbeitsintensiver als einfach etwas Warten Sie nicht ewig, bis Sie eine Gesamtbetrach- wegzuschmeißen und neu zu kaufen bzw. durch etwas tung vornehmen! Werden Sie jetzt endlich aktiv! Die EU Neues zu ersetzen. gestattet uns das. Ich finde, wir sind dann auch in der Pflicht, tatsächlich zu handeln. Wenn wir uns verständi- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert gen, dass wir etwas tun wollen, dann können wir uns Winkelmeier [fraktionslos]) auch verständigen, was wir tun. Wir haben Ihnen unsere (B) Vorschläge unterbreitet. Darin sind auch die arbeitsinten- (D) Wir haben das auch für die apothekenpflichtigen Me- siven Handwerksdienstleistungen enthalten. Man muss dikamente gefordert. Wie haben Sie sich verhalten? Ich unter den Gegebenheiten, die sich jetzt neu entwickeln, greife nur einmal unseren Antrag bezüglich der Produkte auch diskutieren, wie mit dem Hotel- und Gaststättenwe- für Kinder heraus, über den hier im Februar des vergan- sen und der Gastronomie zu verfahren ist. Eine Aufrech- genen Jahres namentlich abgestimmt wurde. Alle hier im nung von 100 Euro hier gegen 100 Euro da ist mir ein Hause – bis auf zwei Abgeordnete von der CDU/CSU, bisschen zu platt. Ich glaube, wir müssen in diesem Zu- die sich enthalten haben – waren nicht unserer Meinung sammenhang Schwerpunkte setzen. und haben mit Nein gestimmt, und jetzt wird groß ge- tönt. Am besten wäre es, Sie hätten Ihre große Mehrwert- steuererhöhung gar nicht erst vorgenommen. Dann hät- (Lydia Westrich [SPD]: Wer?) ten die betroffenen Bürgerinnen und Bürger einige Pro- bleme weniger. Um noch einmal darauf zurückzukommen, dass Sie sich an Ihren Taten messen lassen sollen: Bereits die Ich danke Ihnen. PDS war auf diesem Gebiet aktiv. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Die war auch Winkelmeier [fraktionslos] – Eduard Oswald noch woanders aktiv! – Joachim Poß [SPD]: [CDU/CSU]: Das Glas bleibt hart!) Ach, die PDS!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Sie werden es nicht glauben, aber lesen Sie das bitte ein- Die Kollegin Lydia Westrich spricht jetzt für die SPD- mal nach. Bereits im Jahr 1998 haben wir einen Antrag Fraktion. mit dem Titel „Ermäßigter Mehrwertsteuersatz für ar- beitsintensive Leistungen“ in den Bundestag – damals (Beifall bei der SPD) noch in Bonn – eingereicht und gefordert, dass der da- malige Finanzminister auf europäischer Ebene aktiv Lydia Westrich (SPD): werden sollte. Das haben wir nach der Neuwahl wieder- Vielen Dank, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen holt, nämlich gleich zu Beginn der 14. Wahlperiode. und Kollegen! Frau Höll, ich will nicht drum herumre- den: Die Umsetzung der Mehrwertsteuerermäßigung in Auf EU-Ebene ist dann etwas geschehen. Unser Deutschland würde allein für diesen Bereich mehr als Druck hier im Land hat leider nicht ausgereicht. Auf 6 Milliarden Euro kosten. EU-Ebene wurde aber zumindest ein Modellversuch ge- startet. Im Februar 2000 wurden die Teilnehmerstaaten (Ernst Burgbacher [FDP]: Wie viel?) 22768 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Lydia Westrich (A) Mehr als die Hälfte davon entfällt auf die Restaurantleis- (Joachim Poß [SPD]: Dafür haben die jetzt die (C) tungen. Herr Burgbacher hat dies bereits angesprochen. Immobilienblase!) Ich habe sehr viel Verständnis dafür, dass eine Bran- Bei Friseurleistungen ist die Entwicklung im Grunde che, die Sie hier so gut vertreten haben, darauf hinweist, ähnlich verlaufen. dass ihr die Finanzspritze gut täte. Ihr Fraktionsvorsit- Die Untersuchung der Wirkung ermäßigter Mehr- zender Westerwelle hat heute früh festgestellt, dass die wertsteuersätze bei häuslichen Pflegeleistungen in Ermäßigung auch eine gute Hilfe für den Mittelstand be- Frankreich hat ergeben, dass sie keine oder nur sehr be- deuten würde. grenzte Auswirkungen haben. In diesem Bereich betrug (Zuruf von der FDP: Darum kümmert er sich die Preisdifferenz bei einer Dienstleistung ohnehin zwi- halt!) schen 44 und 165 Prozent, sodass selbst eine Mehrwert- steuerermäßigung um 12,5 Prozentpunkte bei der Preis- Die Mehrwertsteuer ist aber – vielleicht wissen Sie oder findung nicht zu Buche geschlagen ist. Bei der weiß er das nicht – eine Verbrauchsteuer. Ermäßigungen Instandhaltung und Reparatur von Wohnungen in Frank- sollten dort spürbar werden, wo die Belastungen wirk- reich sind die Preise im ersten Jahr tatsächlich um lich auftreten, nämlich beim Verbraucher. Als Pfälzerin 5 Prozent gefallen. Im nächsten Jahr sind sie aber wieder fahre ich ebenso wie Sie ab und zu über die französische um 8 Prozent gestiegen. Das gilt auch für die Nieder- Grenze, um im Elsass essen zu gehen. Das Essen ist dort lande und Portugal. aber nicht billiger, im Gegenteil. Ich könnte die Liste beliebig fortsetzen. Überall dort, (Dr. Volker Wissing [FDP]: Schmeckt es Ihnen wo eine Mehrwertsteuerermäßigung vorgenommen bei uns nicht mehr? – Ernst Burgbacher wurde, kam es zu ähnlichen Ergebnissen. Dabei handelt [FDP]: Die haben 19,6 Prozent, Frau es sich nicht um die erste und einzige Untersuchung, die Westrich!) die Senkung der Mehrwertsteuersätze auf ihre Wirksam- keit überprüft hat. Alle Untersuchungen sind bislang Inzwischen kommen auch viele Franzosen über die zum gleichen Ergebnis gekommen. Eine Mehrwertsteu- Grenze in unsere pfälzischen Restaurants, um dort her- ersenkung ist nicht das am besten geeignete Instrument, vorragend und günstig zu essen. um die Wirtschaftstätigkeit anzukurbeln – selbst nicht (Zuruf von der FDP: Das ist ja Tourismuswer- im Restaurantbereich –, Arbeitsplätze zu schaffen und bung vom Feinsten!) die Schattenwirtschaft einzudämmen. Dafür verursacht dieses Instrument im Verhältnis zu seiner Wirksamkeit Das Beispiel McDonalds mit den gleichen Preisen für hohe Kosten, in diesem Fall 7 Milliarden Euro. Natür- (B) die mit ermäßigtem Steuersatz belegte Ware außer Haus lich wachsen dann die Begehrlichkeiten in anderen (D) oder der mit normalem Steuersatz belegten dort verzehr- Branchen; das hat Herr Oswald schon erklärt. ten Ware ist bekannt. Sicherlich würde McDonalds auch noch das Geld einstreichen, das es bei einer Mehrwert- Finanzminister Steinbrück hat im Interesse Deutsch- steuerermäßigung für die im Lokal verzehrte Ware zu- lands richtig gehandelt, als er dieses Instrument in Brüs- sätzlich einnehmen würde. Das Unternehmen hat die sel abgelehnt hat. Mehrwertsteuerermäßigung bisher nicht an die Kunden (Ernst Burgbacher [FDP]: Er hat es doch nicht weitergegeben. Warum sollte es dies jetzt tun? abgelehnt! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß (Beifall bei der SPD) [SPD]: Für Deutschland abgelehnt!) Alle Untersuchungen der Wirkungen ermäßigter Es handelt sich hier um eine reine Subventionierung be- Mehrwertsteuersätze auf die Wirtschaftsaktivität, die Ih- stimmter Branchen. Das haben Sie auch deutlich gesagt. nen so sehr am Herzen liegt, zeigen, dass dies nicht die Das kann man wollen. Auch unsere Tourismuspolitiker wirksamste Maßnahme ist, aber den Staatshaushalt stark liebäugeln hin und wieder mit einer solchen Maßnahme. belastet. Die Schaffung eines Arbeitsplatzes – selbst in Aber Sie von der FDP lehnen sonst Subventionen vehe- der Gastronomie – durch die Ermäßigung des Mehrwert- ment ab. Herr Westerwelle hat das heute erneut lautstark steuersatzes kostet den Steuerzahler sage und schreibe erklärt. Gleichzeitig hat er aber eine Mehrwertsteuer- 60 000 Euro. Andere Fördermaßnahmen sind da sinn- ermäßigung, also eine Subventionierung, gefordert. Ent- voller. weder kennt er die Gutachten nicht, die einer Mehrwert- steuerermäßigung negative Auswirkungen bescheinigen, Einer Untersuchung zufolge haben zum Beispiel in oder diese Wendung in zwei, drei Sätzen – einmal gegen Belgien bei Reparaturleistungen 87 Prozent der Dienst- Subventionen und dann wieder dafür – zeigt das ganze leister die Steuerermäßigung als Gewinn einbehalten, Wirrwarr der Lösungsversuche der FDP, wenn es um die statt sie an die Verbraucher weiterzugeben. In Griechen- Bewältigung der Wirtschaftskrise geht. Ich gehe von land ist die Preisentwicklung in den ermäßigten Bran- Letzterem aus. chen mit der Preisentwicklung in anderen Sektoren Hand in Hand gegangen. Die Ermäßigung hat sich nicht auf Wir von der Koalition haben für die steuerliche Ab- die Verbraucherpreise ausgewirkt. setzbarkeit haushaltsnaher Dienstleistungen gesorgt und die Möglichkeit eröffnet, Handwerkerrechnungen steuer- In Spanien sind die Preise für Instandhaltung und Re- mindernd geltend zu machen. Wir haben damit zielge- paraturen an Wohnungen, die eigentlich sinken sollten, richtet gehandelt. Den größten Effekt hat die von uns sogar mehr als allgemein gestiegen. durchgesetzte Senkung der Arbeitskosten. Ich nenne des Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22769

Lydia Westrich (A) Weiteren die Umweltprämie und das Konjunkturpro- weit Zustimmung. Interessanterweise fordert Ihr Par- (C) gramm zur Verbesserung der Infrastruktur. Die haben ein teivorsitzender Ostern 2008 die Ermäßigung des Mehr- Vielfaches an Wirkung. wertsteuersatzes auf die Energieprodukte, also eine Ver- komplizierung. Nun wollen Sie eine weitere Ermäßigung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: – und damit eine weitere Verkomplizierung – durchset- Frau Kollegin, Sie müssen dringend zum Schluss zen; denn eine Abgrenzung ist bei Handwerksleistungen kommen. sehr schwierig. Sie wollen eine weitere Ermäßigung ein- führen, obwohl Sie keinen Gesamtansatz haben. Das halte ich für ziemlich schwach. Lydia Westrich (SPD): Noch einen Satz. – Frau Höll, das Schulbedarfspaket (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für finanzschwache Familien, das wir bis zum 13. Schul- Ich möchte aus einer Rede zitieren, die der Kollege jahr gewähren und auf Familien mit Kinderzuschlag aus- Wissing am 14. Februar des vergangenen Jahres, also weiten, kurbelt den Konsum direkt an. Das hilft den Fa- vor gut einem Jahr, gehalten hat. Damals ging es um ei- milien. Das ist der richtige Weg und nicht eine nen Antrag der Linken. Was war der Vorwurf des Kolle- Mehrwertsteuerermäßigung; denn man weiß nicht, wem gen Wissing? Ich zitiere: sie zugutekommt. Sie brauchen eine vernünftige, systematische Vor- (Beifall bei der SPD – Dr. Barbara Höll [DIE stellung des Ganzen. Einfach hinzugehen und Sym- LINKE]: Anhebung der Regelsätze wäre der bolpolitik in die Welt zu blasen, das hilft doch kei- richtige Weg! Dann käme ständig etwas!) nem … Wie das abgegrenzt und … ausgestaltet werden soll, sagen Sie aber nicht. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für Genau das könnte man heute zu Ihrem Vorschlag sagen. die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Ich sage Ihnen: Messen Sie sich selber einmal an Ihren eigenen Ansprüchen. Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN): sowie bei Abgeordneten der SPD) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein weiterer Punkt ist Europa. Sie haben auf die ande- Es ist interessant, wie Herr Burgbacher Mittelstandspoli- ren europäischen Länder verwiesen. Entschuldigung, wir tik definiert. Offensichtlich besteht der deutsche Mittel- erleben doch gerade in der Finanzmarktkrise, dass es stand aus Hotellerie und Handwerk. höchst problematisch gewesen ist, in den einzelnen (B) (D) (Ernst Burgbacher [FDP]: Ich habe diese als Punkten immer wieder auf die anderen zu hören und ge- Beispiele genannt!) nau das nachzumachen, was die anderen machen, auch wenn es schlecht ist. Genau damit sind wir an vielen Sie sagen nicht, wie eine Mehrwertsteuerermäßigung ge- Stellen auf die Nase gefallen. Es wäre doch gut gewesen, genfinanziert werden soll. Das bedeutet dann aber, dass wenn unser Finanzmarkt besser reguliert gewesen wäre das aus dem allgemeinen Steueraufkommen bestritten und wir nicht ständig auf Luxemburg oder Irland verwie- werden muss. Dann müssen viele andere kleine und sen hätten. mittlere Unternehmen die Last tragen. Ihnen geht es nur um die Begünstigung einer kleinen Gruppe. Sie haben Das gilt auch für das Steuersystem. Bloß weil andere keinen systematischen Ansatz. Wenn ihre Mittelstands- ihr Steuerrecht verkomplizieren, heißt das doch nicht, politik so aussieht, dann sollten wir mit Ihnen über Wett- dass wir das auch machen müssen. Schauen Sie sich bewerb und Mittelstand noch einmal gründlicher disku- doch bitte noch einmal die Studie von Copenhagen Eco- tieren. nomics an. Darin steht sehr deutlich, dass man natürlich in einem Bereich, in dem der Anteil der Schwarzarbeit (Joachim Poß [SPD]: Klientelismus!) sehr hoch ist, steuerrechtlich eingreifen kann. In der Stu- Vielleicht kann der neue Wirtschaftsminister, der sich die steht aber auch: Prüfen Sie bitte die Alternativen. als ordnungspolitischer Leuchtturm und Erbe Ludwig Dieser Punkt hat in Ihrer Argumentation wieder völlig Erhards geriert, etwas zum System der Marktwirtschaft gefehlt. Ich möchte nur daran erinnern, dass dieses Haus sagen. Für meine Fraktion kann ich nur sagen: Wir ver- vor ganz kurzer Zeit im Konjunkturpaket I beschlossen stehen unter Marktwirtschaft etwas anderes als die Privi- hat, dass Handwerkerleistungen in einem größeren Um- legierung einzelner Gruppen. fang steuerlich absetzbar sein sollen – diese Forderung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben wir schon seit längerem erhoben –, damit in die- und bei der SPD) sem Bereich gerade die energetische Modernisierung stattfinden kann und dies auf legalem Wege erfolgt. Sie Meine Damen und Herren von der FDP, Sie haben im haben nichts dazu gesagt, dass genau in diesem Bereich Oktober 2006 einen Antrag – Drucksache 16/3013 – ein- schon etwas gemacht worden ist und was die sonstigen gebracht, in dem Sie auf das komplizierte Mehrwert- Alternativen wären. Das war eine schwache Leistung. steuersystem verweisen. Sie stellen darin fest, dieses sei laufend verändert und verkompliziert worden. Sie Eine Frage ist auch: Gibt es eine weiter gehende Per- fordern den Bundestag auf, eine Vereinfachung des spektive, die allgemein für die Märkte gilt? Wir Grüne Mehrwertsteuersystems zu beschließen. Wunderbar! So schlagen vor, gezielt im unteren Einkommensbereich die 22770 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Gerhard Schick (A) Sozialabgaben zu senken. Das würde nicht nur einer be- Wir geben zu, dass die bestehende Kasuistik nicht (C) stimmten Gruppe, die gerade der FDP auffällt, sondern mehr hinnehmbar ist. Ich zitiere nur einmal Nr. 22 dieser allgemein der deutschen Wirtschaft eine Verbesserung 20-seitigen Liste der dem ermäßigten Steuersatz unter- bringen und die Schwarzarbeit wirksam bekämpfen. Ich liegenden Gegenstände: wäre dankbar, wenn wir mehr ans Ganze denken würden und nicht nur Teilbereiche im Blick haben. Johannisbrot und Zuckerrüben, frisch oder getrock- net, auch gemahlen; Steine und Kerne von Früchten Ich würde mich auch freuen – das richtet sich jetzt an sowie andere pflanzliche Waren (einschließlich die Kollegen der Großen Koalition –, wenn man nicht nicht gerösteter Zichorienwurzeln der Varietät Ci- erst nach dreieinhalb Jahren Regierungsverantwortung chorium intybus sativum) der hauptsächlich zur anfängt, große Ansagen für die Zukunft zu machen, Herr menschlichen Ernährung verwendeten Art, … aus- Kollege Oswald, sondern sich einmal fragt, was in den genommen Algen, Tange und Zuckerrohr dreieinhalb Jahren gemacht wurde. Wir haben in einem Arbeitsprozess angefangen, fraktionsübergreifend an (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das Manuskript Fortschritten zur Änderung der Mehrwertsteuer zu arbei- musst du ans Protokoll abgeben!) ten. Dieser Prozess ist leider etwas eingeschlafen. Ich Das ist nur ein Auszug aus der Liste der Produkte mit er- möchte die Kolleginnen und Kollegen bitten, daran wei- mäßigtem Mehrwertsteuersatz. terzuarbeiten, damit wir zu einer guten Reform des Ge- samtsystems Mehrwertsteuer kommen. (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Das musst du jetzt noch einmal für alle wiederholen!) Danke schön. Es gibt ein Schreiben vom BMF, Frau Kressl, wonach (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) genießbare getrocknete Schweineohren, auch wenn als Tierfutter verwendet, dem ermäßigten Umsatzsteuersatz Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: unterliegen, während getrocknete Schweineohren, die Manfred Kolbe spricht jetzt für die CDU/CSU-Frak- nicht für den menschlichen Verzehr geeignet sind, tion. (Simone Violka [SPD]: Die kann man auch nicht kauen!) (Beifall bei der CDU/CSU) unter den vollen Satz fallen. Das ist eine wahre Glanztat Manfred Kolbe (CDU/CSU): Ihres Hauses. Das ist Stoff für Büttenredner im Karne- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! val. Das müssen wir beenden. (B) Herr Kollege Burgbacher, das war eine klassische (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) Lobbyrede, neten der SPD – Eduard Oswald [CDU/CSU]: Auf Karneval wollen wir trotzdem nicht ver- (Ernst Burgbacher [FDP]: Nein!) zichten!) mit der Sie der betroffenen Gruppe wahrscheinlich kei- Es bestehen auch gravierende Bewertungswidersprü- nen großen Gefallen getan haben, weil dieses Manöver che in dieser Liste: Warum werden Musik-CDs niedriger zu durchsichtig war. Sogar der Kollege Wissing, der jetzt besteuert als Babywindeln? Warum wird Tierfutter nied- neben Ihnen sitzt, machte ein etwas gequältes Gesicht riger besteuert als Arzneimittel? Warum werden Hum- und hielt sich auch beim Beifall merklich zurück. Ich mer und Trüffel niedriger besteuert als Mineralwasser? habe das genau beobachtet. Das spricht für dich, Volker Wissing. ( [Heidelberg] [SPD]: Das ha- ben die Länder 2002 verhindert!) (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dies gibt alles keinen Sinn mehr, und wir sind hier ge- Was wir brauchen, Herr Burgbacher, ist eine Gesamt- fordert, zumal sich die Problematik laufend verschärft. konzeption, statt jedes halbe Jahr – wenn auch vernünf- Jede Mehrwertsteuererhöhung – wir haben eine be- tige – Einzelanträge zu stellen. schließen müssen – bedeutet natürlich eine Vergröße- (Ernst Burgbacher [FDP]: Fragen Sie doch mal rung des Abstandes zum ermäßigten Mehrwertsteuer- Herrn Hinsken, was er jeden Tag fordert!) satz. Ich sage ja nicht, dass Ihr Antrag unvernünftig ist. Es hat Herr Burgbacher, nicht neue Ausnahmeregelungen auch Anträge der Linken gegeben, den Mehrwertsteuer- sind das Gebot der Stunde, sondern ein einfacheres und satz auf Waren und Dienstleitungen für Kinder sowie leistungsgerechteres Steuersystem und auch Mehrwert- Arzneimittel zu senken. Auch diese waren im Kern nicht steuersystem. unvernünftig. Mir fallen Dutzende von Dingen ein, bei (Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Burgbacher denen der ermäßigte Mehrwertsteuersatz berechtigt [FDP]: Da stimme ich zu!) wäre. Aber am Ende müssten wir dann allen den ermä- ßigten Mehrwertsteuersatz mit der Konsequenz gewäh- Darüber müssen wir uns in der Tat ernsthaft Gedanken ren, dass wir diesen dann auf 19 Prozent erhöhen müss- machen. Einzelfalllösungen führen uns nicht weiter, so ten. Damit wäre niemandem gedient. Wir brauchen also berechtigt sie auch sein mögen. Die Gastwirte haben na- ein Gesamtkonzept. türlich sehr gute Gründe. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22771

Manfred Kolbe (A) (Ernst Burgbacher [FDP]: Sie stehen auch im (Florian Pronold [SPD]: Weil es 2002 von (C) Wettbewerb, Herr Kolbe!) euch und von der CDU/CSU abgelehnt wor- den ist!) Aber ich denke nur an die letzte Änderung, die wir hier beschlossen haben. Seinerzeit haben wir den Mehrwert- Herr Schick sagt, es könne nicht sein, dass Liberale steuersatz für Seilbahnen und Skilifte ermäßigt. jetzt einen Einzelpunkt aufgriffen, wo doch die FDP im- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das war die mer gesagt habe, sie wolle eine Gesamtlösung. Union, die das wollte!) (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- – Ich darf hier einmal ein Geheimnis ausplaudern: Das NEN]: Und die nie vorgelegt hat!) war in der Großen Koalition nicht ganz unumstritten. Ich erläutere Ihnen, wie die Situation ist, im Übrigen Aber hat uns dies weitergeführt? Ich glaube nicht, dass auch, was es mit der Wettbewerbssituation und der wir die Probleme, die unser Mehrwertsteuersystem mit Marktwirtschaft auf sich hat: sich bringt, dadurch gelöst haben. Wenn wir jetzt die Mehrwertsteuer für Gaststätten senk- Nicht die FDP hat auf europäischer Ebene einen Fi- ten, bekämen wir neue Probleme; dann stünden uns De- nanzminister losgeschickt, der sich eines Sachverhalts batten über den ermäßigten Steuersatz für Luxusrestau- annimmt, den die Franzosen als ein Problem ansehen, rants im Gegensatz zum vollen Mehrwertsteuersatz bei sondern es war ein sozialdemokratischer Finanzminister. Medikamenten ins Haus. Dies ergäbe keinen Sinn, Herr Er hat durch die Absenkung der Mehrwertsteuer für die Burgbacher, das müssen auch Sie zugeben. französischen Gastronomen eine Wettbewerbsverzer- rung geschaffen. Die FDP fragt sich, ob man der deut- Wir brauchen also eine Gesamtlösung. Es ist aller- schen Gastronomie diese Ungleichbehandlung zumuten dings an der Zeit, dass wir sie angehen. Das muss in der muss. nächsten Legislaturperiode passieren. Als Erstes sollten wir darüber nachdenken, ob ein Katalog noch die rich- (Beifall bei der FDP) tige Lösung ist, Frau Kressl, oder ob es nicht andere Lö- Ist es nicht eine patriotische Aufgabe, dafür zu sorgen, sungen als diesen Katalog gibt. Ich sage Ihnen voraus, dass in der Wirtschaftskrise mittelständische Unterneh- dass jeder Katalog Wertungswidersprüche provozieren men von solchen Wettbewerbsverzerrungen befreit wer- wird. Wir müssen in diesem Zusammenhang auch darüber den? Weil nicht wir, sondern Sie auf europäischer Ebene nachdenken, ob wir den ermäßigten Steuersatz wieder auf verhandeln können – Sie stellen die Bundesregierung –, den ursprünglichen Ansatz von 1968 zurückführen, nicht fordern wir dasselbe Recht für Gastronomen in mehr als das Existenzminimum zu privilegieren. Dann Deutschland, das Sie auf europäischer Ebene geschaffen könnten wir vielleicht sogar den allgemeinen Mehrwert- (B) haben. – Dies ist gemeint, Herr Kollege Schick, wenn (D) steuersatz senken. Eine konzeptionelle Gesamtlösung von fairen Wettbewerbsbedingungen gesprochen wird. muss in der nächsten Legislaturperiode gefunden wer- den, und dazu wünsche ich allen Fraktionen viel Erfolg. (Beifall bei der FDP) Danke. Sie sagen zu Recht, dass in dieser Legislaturperiode (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. in Sachen Reform des Mehrwertsteuersystems nichts Lothar Binding [Heidelberg] [SPD) – Lothar passiert sei. Das liegt an der Großen Koalition. Binding [Heidelberg] [SPD]: Am besten, wir (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE fangen gleich an!) GRÜNEN]: Ihr Vorschlag steht auch noch aus!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Jetzt hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP- – Sie wissen, dass dies nicht stimmt. Wir haben im Fi- Fraktion das Wort. nanzausschuss darauf gedrängt, dass es eine Selbstbefas- sung geben soll. Allerdings stand sie unter einem (Florian Pronold [SPD]: Ist das jetzt dieselbe schlechten Stern, weil die Koalition gesagt hat, man Rede wie vor einem Jahr? – Zuruf von der könne zwar darüber reden, aber sie werde in dieser Le- SPD: Dieselbe Rede wie immer!) gislaturperiode nichts ändern. Das liegt daran, dass Sie sich auf nichts verständigen können. Die Wahrheit ist Dr. Volker Wissing (FDP): doch, dass Sie auch in diesem Bereich reformunfähig Besten Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Kolleginnen sind, weil Sie sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner und Kollegen! Die Situation ist etwas anders, als Sie, einigen können. Das muss man doch den Leuten in Herr Schick, sie dargestellt haben. Richtig ist natürlich, Deutschland sagen. dass unser Mehrwertsteuersystem keine Logik hat; dies haben wir hier schon oft besprochen. Richtig ist auch, (Beifall bei der FDP) dass das Ganze keinem sozialen Sinn mehr folgt. Wir ha- Es tut sich nichts an einer wichtigen Reformbaustelle, ben schon gehört, dass Babywindeln voll besteuert, weil CDU/CSU und SPD nicht in der Lage sind, zusam- Trüffel und Gänsestopfleber aber steuerlich subventio- men eine vernünftige Steuer- und Finanzpolitik zu ma- niert werden. Dies kann niemand ernsthaft wollen, und chen. Das ist doch das Problem. die Bürgerinnen und Bürger fragen sich, warum so etwas immer noch im Gesetz steht. (Lydia Westrich [SPD]: Das ist doch Unfug!) 22772 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Volker Wissing (A) – Frau Kollegin Westrich, Sie haben gemeinsam mit Ih- dass diese Bundesregierung nicht nur ein Herz für die (C) ren SPD-Kollegen Ihr Wahlversprechen gebrochen und europäischen Nachbarn, sondern in erster Linie ein Herz der Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte für Deutschland hat und dass sie sich um die Probleme zugestimmt. Jetzt haben Sie auch noch gesagt, dass Steu- des deutschen Mittelstandes kümmert. Das haben Sie ersenkungen Subventionen seien. Damit entlarven Sie versäumt. Die FDP fordert das ein. im Grunde genommen Ihre Handlung und sagen, dass Sie die Steuererhöhung gerne vorgenommen haben. (Beifall bei der FDP) (Zuruf von der SPD: Wer hat denn die Arbeits- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: kosten stabilisiert?) Die Kollegin Gabriele Frechen hat jetzt das Wort für Die Wahrheit ist doch, dass dieses Mehrwertsteuer- die SPD-Fraktion. system dringend reformiert werden muss. Man muss doch ein klares System vorschlagen. Als die Vertreter (Beifall bei der SPD) der Mineralbrunnen seinerzeit zu der Vorgängerin von Frau Kressl kamen und gefragt haben, warum Mineral- Gabriele Frechen (SPD): wasser nicht ebenso wie Lebensmittel mit einem vermin- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und derten Satz besteuert werden könnten, antwortete Frau Kollegen! Ich verstehe die Debatte über das, was unser Hendricks damals: Dann sollen die Leute doch Milch Finanzminister im Ecofin gemacht hat, überhaupt nicht. trinken. – Da versteht man, dass den Leuten in Deutsch- Ob man einer Forderung des Europäischen Rates folgt land irgendwann die Galle hochkommt; denn so viel und den Weg dafür freimacht, dass die Länder selber ent- Milch verträgt man gar nicht. scheiden können, welchen Weg sie gehen wollen, ist (Beifall bei der FDP) doch etwas anderes, als hier im Inland gezielt eine Maß- nahme zu ergreifen, die man für unsinnig hält. Es kann Man muss eine klare Linie haben. Das bedeutet, dass doch keiner verlangen, dass ein Finanzminister das man sich nicht für eine volle Besteuerung der Gastrono- macht. Auch wir möchten das nicht. Im Ecofin-Rat mie in Deutschland ausspricht, aber auf europäischer wurde den Ländern, die es wollen, jetzt die Möglichkeit Ebene dafür plädiert, die Gastronomie mit einem ver- eingeräumt, die Mehrwertsteuer auf bestimmte Dienst- minderten Steuersatz zu besteuern. leistungen und in bestimmten Sektoren zu ermäßigen. (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Aber kein Land muss jeden Unfug, den andere Länder NEN]: Da beantragen Sie eine Aktuelle wollen, mitmachen. Da hat Herr Schick völlig recht. Das Stunde, und Sie haben noch nicht einmal ein kann doch nicht gewünscht sein. (B) eigenes Konzept!) (D) (Beifall bei der SPD) Wir fordern: Ein Konzept, das man in Deutschland durchhalten will, muss auch auf europäischer Ebene gel- Wir haben bereits heute in den 27 Mitgliedstaaten ten. Dieses Mindestmaß an Fairness muss man gegen- völlig unterschiedliche Mehrwertsteuersätze, völlig un- über den Menschen wahren. Das müssen sie erwarten terschiedliche ermäßigte Steuersätze und völlig unter- können. schiedliche Handhabungen der Mehrwertsteuersätze. Das rührt zum Teil aus alter Zeit, weil die Ermäßigungen Es ist schön, dass die Bundesregierung ihr Herz für bzw. die Steuersätze Bestandskraft haben. Zum Teil hat Frankreich entdeckt hat. Das ist ein schönes Land. Man das eine oder andere Land auch von einer Übergangslö- kann aber auch in der Pfalz gut essen, Frau Kollegin sung Gebrauch gemacht, die in der Zwischenzeit ange- Westrich, man muss nicht über die Grenze fahren. Aber boten wurde. die Menschen in Deutschland fragen sich doch, wieso in der Krise durch die Steuer- und Finanzpolitik unsere Aber bereits 2003 hat die Europäische Kommission französischen Nachbarn unterstützt werden und nicht unsere, die deutsche Haltung bestätigt, dass die Weiter- eine steuerliche Entlastung in der Bundesrepublik gabe der steuerlichen Ermäßigung an die Verbraucher Deutschland erfolgt. Das können Sie nicht erklären. Da keinesfalls gesichert werden kann, eher im Gegenteil. können Sie so tolle Reden halten, wie Sie wollen. Wie Frau Westrich zu Recht gesagt hat, subventionieren wir damit den Umsatz und entlasten nicht den Verbrau- (Simone Violka [SPD]: Frankreich hat doch cher. Von einer positiven Lenkungswirkung ist ebenfalls den Mindestlohn! Sagen Sie mal was zum nicht auszugehen. Mindestlohn!) Jetzt komme ich auf die hiesige Mehrwertsteuer zu Wir fordern nichts anderes, als dass die Bundesregierung sprechen. Nachdem wir eine Debatte darüber geführt ha- die Wohltaten, die sie auf europäischer Ebene an mittel- ben, ob es sinnvoll ist, die Mehrwertsteuer auf Energie- ständische Betriebe verteilt – der Bundesfinanzminister kosten zu senken, ob sie der Preistreiber in dem ganzen tut das für die französische Wirtschaft und die französi- Spiel ist, muss doch gerade die Entwicklung der Ener- sche Gastronomie; anscheinend geht er gerne dort essen –, giekosten wirklich auch dem letzten denkenden Men- (Florian Pronold [SPD]: Weil es teurer ist, schen klargemacht haben, dass die Mehrwertsteuer das oder was?) Allerletzte ist, was bei der Preisbildung eine Rolle spielt. auch in Deutschland verteilt. Das ist nicht durchzuhal- (Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] ten. Wir fordern gleiches Recht für alle. Wir fordern, [SPD]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22773

Gabriele Frechen (A) Es gibt andere Dinge, die deutlich wichtiger sind, näm- Wegen der Beseitigung von Wettbewerbsnachteilen (C) lich die Spanne zwischen „Das kann ich noch erzielen“ wollen Sie die Steuerermäßigung zugegebenermaßen ei- und „Das geht nicht mehr“. Diese Spanne ist bei der gentlich nur für Gastronomen in grenznahen Bereichen. Preisbildung wichtig, deutlich wichtiger als der Mehr- Ich meine, der Gastronom in Mecklenburg-Vorpommern wertsteuersatz. braucht keine Steuerermäßigung, weil das Essen in Straßburg preiswerter ist. Stichwort „rezeptfreie Medikamente/Arzneimittel“: Es hat sich doch eindeutig gezeigt, dass Ihre Theorie nicht (Markus Löning [FDP]: Aber das Essen in stimmt. An dem Tag, an dem Ministerin Schmidt ange- Stettin ist preiswerter!) kündigt hat, dass die preiswertesten Generika künftig Erzählen Sie mir nichts! Aber was machen wir denn mit von der Zuzahlung befreit sind, purzelten die Preise; die der Konkurrenz zwischen Straßburg und Karlsruhe? Die Anbieter übertrafen sich gegenseitig. Warum? Weil jedes Baden-Badener sind näher an der Grenze als die Karlsru- Pharmaunternehmen ein Stück vom Kuchen haben her. Es könnte also zu einem innerdeutschen Wettbe- wollte, zur Not unter Inkaufnahme einer geringeren Ge- werbsnachteil kommen. winnspanne. Was hat das mit der Mehrwertsteuer zu tun? Die Mehrwertsteuer ist bei allen Generika die gleiche. Zum Schluss möchte ich noch etwas zu den Hotels sa- Ich spreche nur von Dingen, die im Inland gehandelt gen. Eine Ferienwohnung in Zinnowitz kostet im Fe- werden. Für das gleiche Schmerzgel zahlt man zwischen bruar 273 Euro und im Dezember 511 Euro. Der Preis- 6,41 Euro und 13,48 Euro, und das bei einem gleichen unterschied liegt nicht an der Mehrwertsteuer und auch Mehrwertsteuersatz. nicht an den Heizkosten; in Zinnowitz muss im Februar und im Dezember gleichermaßen geheizt werden. Wir haben die Handwerksleistungen auf eine ganz an- dere Art und Weise gefördert. Dazu brauchten wir keine Mehrwertsteuersenkung. Bei uns können die Kosten für Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: handwerkliche und haushaltsnahe Leistungen direkt von Frau Kollegin! der Steuer abgezogen werden. Finden Sie etwas Ver- gleichbares im europäischen Ausland! Unsere Lösung Gabriele Frechen (SPD): hat für mich den zusätzlichen Charme, dass sie Schwarz- Eltern mit schulpflichtigen Kindern wissen, woran es arbeit verhindert, was durch eine Senkung der Mehr- liegt: Es liegt nicht an der Mehrwertsteuer, sondern an wertsteuer nicht erreicht wird. der Gewinnspanne in der jeweiligen Saison; ich habe (Beifall bei Abgeordneten der SPD) eben darauf hingewiesen. (Beifall bei der SPD) (B) Wenn der Handwerker die berühmte Frage stellt: „Brau- (D) chen Sie eine Rechnung?“, und der Kunde das verneint, dann merkt er doch nicht, ob ihm 7 Prozent oder 19 Pro- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zent Mehrwertsteuer nachgelassen werden. Ich halte un- Frau Kollegin, Sie hatten Ihre Rede bereits beendet. sere Lösung also für besser. Gegen Vorlage der Rech- nungen einen Steuerabzugsbetrag von maximal 4 000 Gabriele Frechen (SPD): oder 1 200 Euro gewährt zu bekommen, das ist wie bares Entschuldigung, noch einen Satz von Heinz Erhardt Geld. Keine Rechnung zu erhalten, ist etwas anderes. in Richtung FDP: Zu den Restaurants. Wir haben eben spekuliert, ob Manche Menschen wollen glänzen, obwohl sie kei- Nachmittagsflüge von Berlin nach Frankreich angeboten nen blassen Schimmer haben. werden, weil das Mittagessen dort preiswerter ist, wenn dort die Steuern gesenkt werden. (Beifall bei der SPD)

(Ernst Burgbacher [FDP]: Sie haben doch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: keine Ahnung!) Der Kollege Klaus Brähmig hat das Wort für die – Doch, ich habe Ahnung. Ich komme aus Süddeutsch- CDU/CSU-Fraktion. land. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Zuruf von der CDU/CSU) – Genau, mit gutem Essen kenne ich mich aus. Ich Klaus Brähmig (CDU/CSU): komme aus Süddeutschland. Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Im Jahr 2008 hatte der Bundeshaushalt ein Volu- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Wer aus Süd- men von 288 Milliarden Euro. Auf der Einnahmeseite deutschland kommt, hat recht!) standen 94 Milliarden Euro Mehrwertsteuer; das sind Sie glauben doch nicht, dass jemand aus dem Rebland etwa 28 Prozent. In der aktuellen Diskussion wird mir zum Essen 100 Kilometer nach Colmar und wieder zu- manchmal schwummerig, wenn ich so höre, was wir al- rück fährt, weil in Colmar der Steuersatz niedriger ist. les auf breiter Front senken wollen, ohne dass einmal of- Ich möchte den Badener sehen, der zum Essen statt ins fen darüber gesprochen wird, dass wir das letztendlich Rebland nach Colmar fährt. gegenfinanzieren müssen, also entsprechende Einnah- men generieren müssen. Das dürfen wir nicht außer Acht (Beifall bei der SPD) lassen. 22774 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Klaus Brähmig (A) Das Thema, über das wir heute debattieren – es ist und Trüffel, ohne Essig haltbar gemacht: ermäßigter (C) nicht das erste Mal; ich bin ganz sicher, dass es für die Mehrwertsteuersatz; Pilze und Trüffel, mit Essig haltbar nächsten Wochen und Monate auch nicht das letzte Mal gemacht: normaler Mehrwertsteuersatz. sein wird –, eignet sich nicht für Populismus. Wichtig wird sicherlich sein, dass es nach dem Ende dieser Le- (Florian Pronold [SPD]: Gibt es in der Praxis gislaturperiode zu einem Kassensturz kommt und die da Preisunterschiede?) dann Regierenden eine Bewertung vornehmen. Diese Liste ließe sich unendlich fortführen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat sich in den Meine Vorredner haben deutlich gemacht, dass in viel- letzten Jahren immer für den Abbau von Wettbewerbs- fältiger Weise dringender Handlungsbedarf besteht und verzerrungen eingesetzt, auch von solchen in den Berei- entsprechende politische Maßnahmen getroffen werden chen Tourismus, Gastronomie und Hotellerie, und sich müssen. ganz massiv für die Harmonisierung innerhalb Europas engagiert. Ich bin sehr froh darüber, dass im Augenblick Ich will noch ganz kurz auf Folgendes eingehen: Die diese Diskussion stattfindet; denn das gibt uns die Mög- Regierungschefs werden ja heute oder morgen in Brüssel lichkeit – es setzt uns natürlich auch unter Druck –, et- eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung tref- was in dieser Richtung zu tun, nicht nur darüber zu spre- fen. Ich denke, sie wird derjenigen ähneln, die die Fi- chen, sondern auch konstruktive Vorschläge vorzulegen nanzminister getroffen haben. Danach muss von Brüssel und dann umzusetzen. die entsprechende Richtlinie erarbeitet werden. Erst dann beginnt bei uns die Umsetzung im Parlament, so- Ich kann mich gut daran erinnern, Frau Kressl, dass fern wir die Mehrheiten dafür organisieren. wir vor nicht allzu langer Zeit mit Frau Faße bei Ihnen im Ministerium waren. Die Branche animiert uns Fach- Ich selber werde mich im Rahmen der Arbeitsgruppe politiker ja ständig, Vorschläge zu unterbreiten. Ich hätte Tourismus mit den Branchenvertretern in den nächsten mir gewünscht, dass der Finanzminister, wenn er in Wochen zusammensetzen, damit es – das ist ganz wich- Brüssel schon zustimmt – wie uns allen bekannt ist, ist ja tig – nicht nur dazu kommt, dass wir die Lippen spitzen, Einstimmigkeit notwendig –, für Deutschland vorgibt, sondern auch dazu, dass wir pfeifen. wie wir es mit den ausgewählten Branchen halten wol- (Joachim Poß [SPD]: Hat er schon einen De- len. Der Anspruch der Branche, der Hotellerie und Gas- ckungsvorschlag genannt?) tronomie, ist durchaus berechtigt. Es geht nämlich da- rum, die Wettbewerbsverzerrungen innerhalb Europas, lieber Ernst Burgbacher, abzubauen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege! (B) (Beifall bei Abgeordneten der FDP) (D) und den Standort Deutschland nicht zu benachteiligen. Klaus Brähmig (CDU/CSU): Wir werden uns in der Diskussion und in den Beratun- Das Thema muss in die Wahlprogramme der Parteien gen der nächsten Wochen und Monate etwas einfallen aufgenommen werden; nur dann besteht die Chance, lassen müssen. Ich bin sehr sicher, dass wir beide An- dass es Eingang in einen Koalitionsvertrag findet und im sprüche berücksichtigen können. Jahre 2010 auch in die Praxis umgesetzt werden kann. Man muss wissen, dass die Mehrwertsteuer gerade für Vielen Dank. die Preiskalkulation in der Gastronomie ein ganz wichti- ger Punkt ist. Die Waren werden mit 7 Prozent Mehrwert- (Beifall bei der CDU/CSU) steuer eingekauft und mit 19 Prozent Mehrwertsteuer weitergegeben. Deshalb kann man einen Gastronomiebe- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: trieb fast als kleines Finanzamt ansehen; denn man leistet Für die Bundesregierung erteile ich das Wort der Kol- dort durchaus eine wichtige Arbeit für den Staat. legin Parlamentarische Staatssekretärin Nicolette Kressl. Da bin ich durchaus bei der Position der FDP. Wir als (Beifall bei der SPD) Tourismuspolitiker haben gemeinsam mit Ernst Hinsken in den letzten Wochen immer wieder vorgebracht, dass wir das vom Kopf auf die Füße stellen müssen. Ich Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin beim Bun- schließe mich da meinen Vorrednern an. Dieser Katalog desminister der Finanzen: bringt Kuriositäten mit sich, und das macht überhaupt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! keinen Sinn. Das ist einer der ersten Punkte, die so Ich möchte zuerst kurz auf einige wenige Beiträge aus schnell wie möglich in Ordnung gebracht werden müs- der bisherigen Debatte eingehen. sen. Erstens will ich noch einmal ganz deutlich machen, Ich will ergänzend nur noch einige Beispiele anfüh- wie dieser Kompromiss zustande gekommen ist: Alle ren: ermäßigter Mehrwertsteuersatz für Hausschweine, konnten im Dezember nachlesen, dass nach sehr langer normaler Mehrwertsteuersatz für Wildschweine; ermä- Debatte auf europäischer Ebene die Kanzlerin und Herr ßigter Satz für Kartoffeln aller Art, normaler Satz für Sarkozy bei einem Treffen der Regierungschefs mitei- Süßkartoffeln; ermäßigter Satz für Tomatenmark und nander vereinbart haben, in dieser Frage einen Kompro- Tomatensaft, normaler Satz für Tomatenketchup und To- miss zu schließen. Wir stehen zu diesem Kompromiss. matensoße. Ein ganz tolles Beispiel ist folgendes: Pilze Ich halte es aber nicht für zulässig, den Anteil daran nur Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22775

Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl (A) einem Teil der Regierung zuzuordnen, wie es gerade (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Die Bergbahnen- (C) teilweise passiert ist. regelung hat doch die bayerische SPD mitbe- schlossen!) Zweitens. Herr Kolbe, Sie haben ja recht, dass es sich einem, wenn man sich den Inhalt der Schreiben des dass die Vorteile von im Laufe der Zeit reduzierten BMF vor Augen führt, geradezu aufdrängt, dass es zu Mehrwertsteuersätzen so gut wie nie dauerhaft an die Veränderungen kommen muss. Sie haben dann weiterhin Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben wer- gesagt, das sei eine Glanzleistung unseres Hauses gewe- den. sen. Hier möchte ich einem Missverständnis vorbeugen: (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Joachim Ich weiß zwar, dass der Begriff „BMF-Schreiben“ im- Poß [SPD]: Das sind die Erfahrungen, Herr mer den Eindruck vermittelt, es handle sich um ein Burgbacher! Hören Sie einmal zu!) Schreiben des Bundesfinanzministeriums. Das ist aber nicht so. Das wissen Sie wahrscheinlich. Hier geht es um Herr Burgbacher und Herr Wissing, bis heute hatte eine Verwaltungsanordnung, die auf der Zustimmung ei- ich noch geglaubt, dass auch Sie der Meinung sind, dass ner Mehrheit der Bundesländer beruht. Ich will das nur die Einsparung an die Verbraucherinnen und Verbrau- noch einmal deutlich machen, damit nicht falsche Töne cher weitergegeben werden sollte. in die Debatte kommen. Das bedeutet also nicht, dass wir alles inhaltlich richtig finden, (Gabriele Frechen [SPD]: Aber nein!) Davon haben Sie aber in keinem Ihrer Redebeiträge ge- (Joachim Poß [SPD]: Kommt alles aus Sach- sprochen. Sie haben ausschließlich über den Gewinn in sen und Bayern!) der Gastronomie gesprochen. Wir sollten noch einmal sondern vielmehr, dass wir uns darum kümmern müssen, genau nachlesen, was Sie heute hier gesagt haben. hier zu einer noch größeren Vereinheitlichung zu kom- (Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing men. [FDP]: Jetzt drehen Sie aber das Wort im Munde herum!) Meine dritte Anmerkung betrifft die Ehrlichkeit in dieser Debatte, insbesondere vonseiten der FDP: Wer Die Aussage, dass noch nie eine Steuerersparnis an mehr Vereinheitlichung fordert, aber nicht zugleich alles die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergegeben mit dem halben Mehrwertsteuersatz belegen will, darf worden ist, ist nicht einfach nur dahergesagt. Es gibt nicht den Parteien und Fraktionen, die sich für eine ent- mehrere Studien dazu. Ich will nur kurz auf zwei einge- sprechende Vereinheitlichung einsetzen, vorwerfen, sie hen. Die Europäische Kommission konnte 2003 in ihrer (B) erhöhten die Steuern. Ich ahne, wie Sie im Zweifel den Evaluierung dieser „Experimente“ weder eine positive (D) Parteien, die sich auf diesen Weg machen, die Worte im Wirkung auf die Arbeitsplätze noch eine Eindämmung Mund umdrehen. Die Ehrlichkeit gebietet es, in einer der Schwarzarbeit feststellen. In der gleichen Studie Debatte nicht nur schön über Systematik zu reden, son- wird ergänzt, dass mit einem Einsatz von Haushaltsmit- dern auch zu sagen, auf was man sich einlässt. teln, die beispielsweise zur Senkung von Arbeitskosten verwendet werden, eine deutlich bessere Wirkung auf (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten die Arbeitsplätze erzielt werden kann als mit reduzierten der CDU/CSU – Dr. Volker Wissing [FDP]: Mehrwertsteuersätzen. Das machen wir doch nie! Wir drehen nieman- dem das Wort im Munde um! Wir nehmen die Herr Schick hat es schon erwähnt: 2007 gab es auf Leute nur beim Wort!) europäischer Ebene die Studie des Kopenhagener Øko- nomisk Instituts, in der deutlich festgestellt wird, dass Es ist so – wir haben es gehört –, dass das Experiment ermäßigte Mehrwertsteuersätze das am wenigsten geeig- „ermäßigter Mehrwertsteuersatz auf arbeitsintensive nete Mittel zur Verfolgung von Lenkungs- oder Entlas- Dienstleistungen“ auf europäischer Ebene für all die tungszielen sind Mitgliedstaaten dauerhaft nutzbar wird, die es wollen. Nicht ohne Grund hat sich mittlerweile aber eine zuneh- (Joachim Poß [SPD]: Hört! Hört!) mende Zahl von Mitgliedstaaten der Protokollerklärung und dass eine direkte Förderung in jedem Fall besser ist. angeschlossen und gesagt, dass sie das Instrument nicht nutzen werden. Das macht, wie ich glaube, auch Sinn. Das lässt mich den Bogen schlagen zu der Tatsache, Hier vorschnell zu entscheiden – bei manchen Redebei- dass die Bundesregierung und die beiden Koalitionsfrak- trägen hatte ich diesen Eindruck –, wäre unüberlegt. Da tionen genau diesen Weg beispielsweise bei der Absetz- bin ich mir sicher. barkeit von Handwerksleistungen von der Steuerschuld – in dieser Legislaturperiode wurde der entsprechende Die Prüfung der Mitgliedstaaten, ob sie diesen Weg Betrag verdoppelt – gegangen sind. Dies hat eine dop- mitgehen, sollte dabei unter dem Motto stehen: Bedenke pelte zielgenaue Wirkung: Zum einen bekommen die die Wirkung! Manche sagen ja, dass die einzige Wir- Handwerker mehr Aufträge – alle Beteiligten haben ge- kung, die in diesem Fall sicher ist, die ist, dass es zu sagt, dass diese Maßnahme zu einer Verbesserung der Steuermindereinnahmen kommt. Die Auswertung der Auftragslage geführt hat –, und zum anderen werden die europäischen Experimente hat doch gezeigt – ich sage Menschen nachvollziehbar und von uns überprüfbar ent- dazu in Klammern: das deutet sich ja offensichtlich auch lastet. Das wäre bei den ermäßigten Mehrwertsteuersät- bei den Bergbahnen an –, zen völlig anders. 22776 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Parl. Staatssekretärin Nicolette Kressl (A) Lassen Sie mich noch kurz auf die Steuerminderein- des Wertes der Dienstleistung ausmachen? Herr Kollege (C) nahmen eingehen, die sich mit Sicherheit ergeben wür- Burgbacher, schaffen wir hier das nächste Problem? Herr den. Sie würden im Bereich der kleinen Reparaturleis- Kollege Burgbacher, wenn Sie die Gastronomiee im tungen 230 Millionen Euro betragen, 640 Millionen Euro Blick haben, dürfen Sie das Beherbergungsgewerbe bei Friseurdienstleistungen und geschätzte 3,7 Milliar- nicht vergessen. den Euro im Bereich der Restaurantdienstleistungen. (Ernst Burgbacher [FDP]: Für Hotels gilt es (Ernst Burgbacher [FDP]: Da müssen Sie noch doch schon längst!) anderes mit einrechnen!) Wir schaffen damit für weitere Bereiche Bedingungen, In einem ersten logischen Denkschritt können wir davon wie es sie heute zum Beispiel im Fleischerfachgeschäft, ausgehen, dass die Steuerersparnis nicht weitergegeben im Bäckerladen oder bei McDonald’s gibt. Derjenige, wird. In einem zweiten logischen Denkschritt können der bei McDonald’s mit dem Auto vorfährt, zahlt eine wir erwarten, dass es Steuermindereinnahmen gibt. Dies Mehrwertsteuer von 7 Prozent, derjenige, der innen isst, führt uns zu einem dritten logischen Denkschritt, näm- eine Mehrwertsteuer von 19 Prozent. Ich weiß nicht, wo lich dass wir diese Mindereinnahmen an anderer Stelle an dieser Stelle die Differenz von 12 Prozent bleibt. kompensieren müssen. Das belastet aber auch die Men- (Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist doch ein Un- schen, die nicht entlastet worden sind. sinn!) (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) Wenn wir uns diesem Thema ernsthaft widmen wollen, Das ist eine doppelte Bestrafung und somit nicht der eine Regelung das Hotel- und Gaststättengewerbe um- richtige Weg. fassen soll und keine neue Bürokratie aufgebaut werden soll, dann muss man an dieser Stelle beides ohne Wenn (Beifall bei der SPD – Ernst Burgbacher und Aber zusammenpacken. [FDP]: Denken Sie mal an die Arbeitsplatzent- wicklung in diesem Bereich!) (Ernst Burgbacher [FDP]: Machen wir ja! Für Hotels gilt es doch schon!) Ich will ganz deutlich sagen: Die Erkenntnis, dass branchenbezogene Ausnahmen nicht der richtige Weg Herr Kollege Burgbacher, Sie haben sehr stark auf die sind – auch die Bundeskanzlerin hat deutlich gemacht, europäische Gastronomie abgehoben. Im Süden gibt es dass sie es für falsch hält, in dieser Legislaturperiode – das gebe ich zu – ein ungeheueres Problem. Ich möchte noch ein entsprechendes Gesetz auf den Weg zu bringen –, aber nicht, dass in Mecklenburg-Vorpommern, Schles- hat sich in der Bundesregierung durchgesetzt. Diese Ein- wig-Holstein und Niedersachsen der gleiche Mehrwert- sicht ist aber nicht nur in der Bundesregierung vorhan- steuersatz wie in Dänemark und Schweden gilt. Dieser (B) (D) den. Ich freue mich darüber, dass der Deutsche Indus- liegt nämlich in diesem Bereich bei 25 Prozent. Wenn trie- und Handelskammertag eine differenzierte wir uns dieses Themas annehmen – das ist meine klare Stellungnahme dazu abgegeben hat. Er ist der Meinung, Position als Wirtschaftspolitiker –, dann müssen wir das dass dies kein Weg ist, den man wirklich gehen sollte. gesamtheitlich und ohne Schnellschüsse regeln. Ich bin der Überzeugung: Wenn man auf Schnell- (Ernst Burgbacher [FDP]: Aber mit Fakten!) schüsse verzichtet, ehrlich ist und die von mir vorhin er- Wir müssen insbesondere die Dummheiten, die es beim wähnten logischen Denkschritte geht, dann kommen wir Thema Mehrwertsteuer gibt – ich habe einige beschrie- am Ende der Debatten sicherlich zu dem Ergebnis, dass ben; man könnte weitere beschreiben –, beseitigen. Das der von Ihnen vorgeschlagene Weg zur Entlastung des Grundprinzip muss sein: weniger Bürokratie. Mittelstandes und der Verbraucher, die wir wollen, falsch ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Vielen Dank. Frau Staatssekretärin, ich bin völlig Ihrer Meinung: Es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird eine spannende Debatte geben, zum Beispiel zum der CDU/CSU) Stichwort „Tierfutter“. Was machen wir mit den dort geltenden 7 Prozent, wenn wir ein Gesamtkonzept ange- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: hen? Der Kollege Eckhardt Rehberg spricht jetzt für die CDU/CSU-Fraktion. Ich will aber die Baustellen des Mittelstandes be- schreiben, die den Mittelstand im Augenblick besonders (Beifall bei der CDU/CSU) bedrücken. Das ist das Thema Zinsschranke. (Zurufe von der FDP: Ja!) Eckhardt Rehberg (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abge- Das ist die Anrechnung der Kosten für Mieten, Leasing ordneten! Wenn man ernst nimmt, was die Europäische und Pachten bei der Gewerbesteuer. Union zum Thema Mehrwertsteuer beschlossen hat, (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) dann stellen sich neue Fragen: Was sind kleinere Repara- turdienstleistungen an Fahrrädern? Was umfasst die Re- Das ist das Thema Verlustvorträge. Hier kann ich an die novierung von und Reparaturen in Privatwohnungen mit Kolleginnen und Kollegen der SPD nur appellieren, ihre Ausnahme von Materialien, die einen bedeutenden Teil Blockadehaltung aufzugeben; denn das sind gerade in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22777

Eckhardt Rehberg (A) dieser wirtschaftlich schwierigen Zeit Baustellen für den (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) Mittelstand. neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Burgbacher [FDP]: Sie haben dem doch zugestimmt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die letzte Rednerin in der Aktuellen Stunde ist die Diese Baustellen müssen wir beheben. Die eine oder an- Kollegin Simone Violka für die SPD-Fraktion. dere Unwucht, die es bei der Unternehmensteuerreform gegeben hat, müssen wir noch vor der Sommerpause be- (Beifall bei der SPD) heben; (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das haben wir Simone Violka (SPD): schon mehrfach beantragt, und Sie haben das Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und abgelehnt! Absurd!) Kollegen! Manchmal staunt man ja: Die FDP hat endlich die richtungsweisende Kompetenz Europas entdeckt! Ich denn wir werden danach keine Zeit mehr haben. Ich sage hätte mir gewünscht, dass die FDP genauso vehement Ihnen voraus – jetzt komme ich wieder zum Gastrono- für die Einführung der Antidiskriminierungsrichtlinie in mie- und Hotelbereich –: Gerade die Anrechnung der Deutschland eingetreten wäre. Auch das war eine euro- Kosten für Mieten, Leasing und Pachten im Gewerbe- päische Entscheidung. Damals hat die FDP aber mit Ve- steuerbereich ist ein wesentliches Problem, auch für den hemenz dafür geworben, dass man sie nicht umsetzt. Sie Einzelhandel. hat gesagt: Man sollte das nicht machen. Man sollte sich (Ernst Burgbacher [FDP]: Völlig richtig!) ein Hintertürchen offen lassen. Die Herabsetzung auf eine Anrechnung von 65 Prozent Nun hat die FDP plötzlich die richtungsweisende bei Immobilien ist nicht ausreichend. Da müssen wir Kompetenz von Europa entdeckt. Dabei stimmt das an deutlich unter 50 Prozent gehen. dieser Stelle noch nicht einmal. Es geht lediglich darum, einen Rahmen abzustecken, innerhalb dessen jedes Mit- (Beifall bei der CDU/CSU – Ernst Burgbacher gliedsland nach eigenem Ermessen entscheiden kann, [FDP]: Jetzt weichen Sie aber dem Problem was es umsetzen will und was nicht. Aber es müssen nicht aus!) Rahmenbedingungen gesetzt werden. Dann darf man Für die Zukunft ist auch die Frage berechtigt, was die auch keine Rosinenpickerei betreiben, wie es die FDP Ansatzpunkte sind, um Nachfrage zu generieren. Wir ha- tut. ben in dieser Legislaturperiode einiges getan, gerade Ich nehme Frankreich einmal als Beispiel. Natürlich beim Konjunkturpaket II. Ich möchte an die Aufsto- (B) muss man fragen, ob die Höhe der Mehrwertsteuersätze (D) ckung der steuerlichen Abzugsfähigkeit von handwerkli- zukünftig der einzige Unterschied zu Deutschland sein chen Leistungen, aber auch von haushaltsnahen Dienst- soll oder ob auch andere Rahmenbedingungen zu beach- leistungen und Kinderbetreuungskosten erinnern. Ich ten sind. Ich würde mir wünschen, dass die FDP sagt: erinnere an die degressive AfA. Wenn man dies alles be- Frankreich hat den Mindestlohn. Lasst ihn uns in trachtet, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass wir Deutschland einführen, damit alle die gleichen Möglich- eine Menge getan haben, um den Mittelstand zu stärken. keiten haben. – Das sehe ich noch nicht. Wir alle sollten uns darüber klar sein – dies möchte ich betonen –, dass all dies Steuermindereinnahmen bewirkt. (Beifall bei der SPD) Aber volkswirtschaftlich gesehen rechnet es sich lang- Dieses Verhalten passt zur FDP. Im Landtag von fristig. Sachsen hat die FDP in der letzten Woche noch vehe- Ich bin sehr dafür – ich sage das für die Wirtschafts- ment dafür geworben, den Schülerverkehr kostenlos an- politiker der CDU/CSU-Bundestagsfraktion –: zubieten. In dieser Woche hat die FDP im Kreistag von Zwickau aber selbst dagegen gestimmt. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Gibt es die noch?) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Hier sind wir aber – Die gibt es schon. – Wir brauchen ein Gesamtkonzept, im Bundestag!) was die Mehrwertsteuer betrifft. Wir brauchen insbeson- dere weniger Bürokratie. Wir brauchen eine Vereinfa- Das war ein SPD-Antrag. Wenn die FDP das möchte, chung. Ich sage ausdrücklich: Arbeitsintensive Dienst- dann muss sie das auf allen Ebenen durchhalten, dann leistungen dürfen nicht mit einem ermäßigten kann sie nicht da, wo sie in der Opposition ist, Forderun- Mehrwertsteuersatz belegt werden, während möglicher- gen aufstellen, und sich dort, wo sie die Möglichkeit hat, weise auf der Gegenseite die steuerliche Abzugsfähig- etwas zu entscheiden, zurückziehen, weil das Geld kos- keit von handwerklichen Dienstleistungen wegfällt. Wir tet. So kann man doch keine Politik machen. müssen uns sehr gut überlegen, was wir machen. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie sollten die Rede Wir sollten uns vor Schnellschüssen, vor Aktionismus lieber im Kreistag von Zwickau halten!) hüten. Herr Kollege Burgbacher, es wird nicht auf frucht- Herr Wissing, Sie haben recht: Das Steuersystem ist baren Boden fallen, wenn man nur eine Branche – und nicht logisch. Aber woran liegt das denn? Als es einge- dann noch selektiv die Gaststätten und nicht die Hotels – führt wurde, hatte es noch eine gewisse Logik. Dank des im Blick hat. Lobbyismus ist es in vielen Jahren und Jahrzehnten zu Danke schön. dem geworden, was es heute ist: eine recht unlogische 22778 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Simone Violka (A) Geschichte, die an vielen Stellen hinkt. Die FDP war len, dann gehört dazu, dass wir ein bezahlbares, gesun- (C) viele Jahre lang an der Regierung beteiligt und ist daher des und möglichst abwechslungsreiches Mittagessen an- mit dafür verantwortlich, dass Lobbyisten ihre Vorstel- bieten. Ich glaube, das ist eine wichtige Forderung. lungen durchsetzen konnten. Da Sie so extrem auf den Einfluss der Mehrwertsteuer (Beifall bei der SPD) auf die Preisfindung im Gaststättenbereich abstellen, Das darf man doch nicht vergessen. muss ich fragen, warum es in Berlin bei einer Tasse Kaf- fee eine Preisspanne von etwa 1 Euro bis 2,70 Euro – der Natürlich entwickelt sich die Welt weiter, auch Preis kann auch etwas darunter oder darüber liegen – Deutschland. Als man die Regelungen eingeführt hat, gibt. Mir ist nicht bekannt, dass es in Berlin nach Bezir- gab es verschiedene Dinge noch nicht. Deshalb konnten ken geordnet verschiedene Mehrwertsteuersätze gäbe. sie nicht aufgeführt werden. Mein Lieblingsbeispiel in Diese Preisspanne hängt vielmehr mit Verdienst, mit diesem Zusammenhang ist der Vergleich zwischen Hör- Miete, mit Nebenkosten und mit dem Standort zusam- buch und Buch. Als der ermäßigte Mehrwertsteuersatz men und erst an letzter Stelle mit der Mehrwertsteuer, bei Büchern eingeführt wurde, gab es noch keine Hörbü- zumal dann, wenn der Rahmen vergleichbar ist. cher. Ich gebe Ihnen recht: Das sollte man auf den Prüf- stand stellen und vergleichen, was vergleichbar ist. Da- Man kann nicht einfach nur auf Frankreich verwei- bei kann man durchaus zu der Erkenntnis kommen, dass sen; der Kollege hat es gesagt. Schauen wir einmal, wie man einiges ändern muss. Zum Beispiel kann man zu der es in den skandinavischen Ländern gehandhabt wird. – Erkenntnis kommen, dass Hörbücher wie Bücher besteu- Diese Beispiele nennen Sie komischerweise nicht; die ert werden sollen. Dafür bin ich offen. lassen Sie außen vor. Eine Harmonisierung bedeutet aber, dass es Plus und (Dr. Volker Wissing [FDP]: Weil wir uns um Minus gibt. Man darf also nicht sagen, dass alles, was die Wettbewerbsnachteile der deutschen Wirt- von Lobbyisten bisher erkämpft worden ist, sozusagen schaft kümmern!) eine Eule auf der Stirn trägt und nicht angefasst werden Ich glaube, dass wir alle uns zusammensetzen und völlig darf, dass also nur neue Sachverhalte aufgenommen emotionslos und unabhängig von Lobbyismus oder sonst werden dürfen. Dann muss ich vielmehr auch bereit sein, etwas darüber reden müssen. die Eulen abzunehmen und die Dinge neutral zu betrach- ten. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das haben wir ja versucht! – Ernst Burgbacher [FDP]: Da haben (Dr. Volker Wissing [FDP]: Richtig!) Sie nicht mitgemacht!) Als das versucht worden ist, war es aber die FDP, die (B) (D) hier lautstark von Steuererhöhungen gesprochen hat. Wenn man ein vernünftiges System einführen möchte, sollte dies ohne Lobbyismus und vor allen Dingen ohne (Dr. Volker Wissing [FDP]: Da wollten Sie ja eine Gewinnoptimierung auf Staatskosten, wie Sie es nur erhöhen!) heute eingefordert haben, geschehen. – Nein, das ist nicht richtig. Es ging darum, zu schauen, (Beifall bei der SPD) ob die Regelung im Sinne des Gesetzgebers ist. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das Gesetz war Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ein einziges Überraschungsei!) Damit schließe ich die Aussprache. – Nein, das war kein Überraschungsei. Dabei ging es um Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: viele Punkte. – Damals hat uns die FDP als erste vorge- halten, der Staat wolle durch die Hintertür Steuererhö- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- hungen durchsetzen. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur verbes- serten steuerlichen Berücksichtigung von Vor- (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Volker sorgeaufwendungen (Bürgerentlastungsgesetz Wissing [FDP]: So war es ja auch!) Krankenversicherung) Sie können doch nicht sagen: Wir wollen Harmonisie- – Drucksache 16/12254 – rung – aber nur dann, wenn der Steuersatz nach unten geht. Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) Wenn man so etwas vorhat – diesbezüglich bin ich Rechtsausschuss mit vielen Kolleginnen und Kollegen d’accord –, muss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit auch die eine oder andere politische Entscheidung ge- Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO troffen werden. Viele meiner ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen aus der SPD zum Beispiel haben gesagt: Hierzu ist verabredet, eine Dreiviertelstunde zu debat- Jawohl, wir möchten, dass bei der Schulspeisung der er- tieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das mäßigte Steuersatz zur Anwendung kommt, weil die so beschlossen. Schulspeisung eben nicht in Konkurrenz zu den Gast- Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der stätten steht, sondern eher zu der Streuselschnecke vom Parlamentarischen Staatssekretärin Nicolette Kressl. Bäcker, für die der ermäßigte Steuersatz gilt. Wenn wir für unsere Kinder und Jugendlichen etwas machen wol- (Beifall der Abg. Gabriele Frechen [SPD]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22779

(A) Nicolette Kressl, Parl. Staatssekretärin beim Bun- hohe Belastungen auch durch entsprechend hohe Ab- (C) desminister der Finanzen: zugsbeträge auswirken müssen. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Damit es im Vergleich zum geltenden Recht in Ein- Das Bundesverfassungsgericht hat im Februar 2008 ent- zelfällen nicht zu Benachteiligungen kommt, ist im Ge- schieden, dass Beiträge zu privaten Kranken- und Pfle- setzentwurf bis zum Jahr 2019 eine Günstigerprüfung geversicherungen bei der Einkommensteuer berücksich- vorgesehen. Insgesamt ist für den Steuerpflichtigen min- tigt werden müssen. Das ist heute noch nicht der Fall. destens der Betrag als Vorsorgeaufwendungen absetzbar, Die Bundesregierung legt daher den Entwurf eines Bür- der auch nach geltender Rechtslage angesetzt werden gerentlastungsgesetzes vor. Durch die Neuregelung wer- kann. den die Menschen in unserem Land ab 2010 um knapp 9,5 Milliarden Euro zusätzlich steuerlich entlastet. Die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) hiermit freigesetzte Kaufkraft wird unsere Wirtschaft ne- Durch die Günstigerprüfung wird das bisherige ben den beiden bereits verabschiedeten Konjunkturpake- Recht, vereinfacht gesprochen, konserviert. Es wird in ten zusätzlich stimulieren können. jedem Einzelfall geprüft, ob für den Steuerpflichtigen Der Gesetzentwurf sieht vor, dass alle Aufwendungen die Anwendung des bisherigen oder des neuen Rechts des Steuerpflichtigen für eine normale Kranken- und günstiger ist. Diese Prüfungen nimmt das Finanzamt von Pflegepflichtversicherung künftig steuerlich berücksich- Amts wegen vor. Der Steuerpflichtige muss in seiner tigt werden. Angesetzt werden allerdings nur diejenigen Einkommensteuererklärung lediglich die Höhe der von Krankenversicherungsbeiträge, die für eine medizini- ihm geleisteten Vorsorgeaufwendungen angeben. sche Grundversorgung mit modernen und wissenschaft- Sehr geehrte Damen und Herren, natürlich wird diese lich anerkannten Behandlungs- und Heilmethoden ge- Neuregelung auch im Lohnsteuerverfahren berücksich- zahlt werden. Diese Beitragsanteile sind künftig tigt. So können entsprechende Beiträge ab dem 1. Januar unbegrenzt abziehbar. 2010 bei der Ermittlung der Lohnsteuer angesetzt wer- Die Beitragsanteile für eine Komfort- oder Luxusver- den. Die Lohnsteuerpflichtigen werden also sofort steu- sorgung hingegen können nicht steuerlich berücksichtigt erlich entlastet. werden. Das hat das Bundesverfassungsgericht nicht ge- Ich hatte bereits darauf hingewiesen, dass das Bürger- fordert, und wir haben ausdrücklich entschieden, dass entlastungsgesetz zu Entlastungen der Bürgerinnen und wir das aus gutem Grunde nicht tun. Denn es liegt auf Bürger in einem Umfang von rund 9,5 Milliarden Euro der Hand, dass der Allgemeinheit der Steuerzahlerinnen führt. Begünstigt werden zu einem großen Teil Arbeit- und Steuerzahler nicht zugemutet werden darf, für teure, nehmerinnen und Arbeitnehmer; das Volumen ihrer Ent- (B) medizinisch nicht notwendige Zusatzleistungen in den lastung beträgt rund 7,2 Milliarden Euro. Das ist, wie ich (D) gemeinsamen Steuertopf einzahlen zu müssen. finde, ein wichtiger Hinweis, weil oft der Eindruck ent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) standen ist – er ist falsch –, als würde dieses Gesetz nur zu Entlastungen beispielsweise für Selbstständige füh- Von dieser finanzwirtschaftlichen Sichtweise einmal ab- ren. gesehen wäre es auch sehr ungerecht; denn begünstigt würden nur diejenigen, die sich die zum Teil sehr hohen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Beiträge für solche Tarife leisten können. Das will die der CDU/CSU) Bundesregierung nicht. Daher sieht der Gesetzentwurf Auch Beamte und Selbstständige werden deutlich vor, dass eine Aufteilung der Beiträge erfolgen muss. entlastet, Beamte im einem Umfang von 0,5 Milliarden Euro, Selbstständige um rund 1,6 Milliarden Euro. So Auch wenn der Beschluss des Bundesverfassungsge- viel weniger Steuern müssen sie in Zukunft zahlen bzw. richts sich ausschließlich auf die Beiträge eines privat so viel mehr Geld haben sie dann zur Verfügung. Ich Versicherten bezogen hat, gelten diese Neuregelungen hoffe, dass wir nach den Beratungen im Parlament, nach gleichermaßen für gesetzlich wie privat Kranken- und dem parlamentarischen Verfahren und nach der Anhö- Pflegeversicherte. Es war eine für uns selbstverständli- rung in der zweiten und dritten Lesung zu einer großen che politische Entscheidung, zu sagen, dass auch die Mehrheit für diese Entlastungen für die Menschen im Beiträge zu gesetzlichen Krankenversicherungen steuer- Land kommen werden. lich entsprechend berücksichtigt werden. Vielen Dank. Wir wollen ausdrücklich, dass auch die Beiträge des Steuerpflichtigen für seinen in der gesetzlichen Kran- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) kenversicherung mitversicherten Ehegatten bzw. seinen eingetragenen Lebenspartner und seine Kinder erfasst Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: werden. Insoweit sieht der Gesetzentwurf keine Begren- Carl-Ludwig Thiele spricht jetzt für die FDP-Frak- zung der Beiträge vor. Damit wird dem Umstand Rech- tion. nung getragen, dass gerade Familien für ihre Absiche- rung oft höhere Beiträge leisten müssen. Wie bei der (Beifall bei der FDP) Berücksichtigung von Beiträgen zum Aufbau einer Ba- sisversorgung im Alter werden nur die vom Steuer- Carl-Ludwig Thiele (FDP): pflichtigen tatsächlich geleisteten Beiträge angesetzt. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass sich Kolleginnen und Kollegen! Dieses Gesetz trägt das Wort 22780 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Carl-Ludwig Thiele (A) „Entlastung“ in seinem Titel. Es führt aber nicht für alle halb können sich die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh- (C) Bürger zu der vom Bundesverfassungsgericht geforder- mer dieser Abgabe überhaupt nicht entziehen. Die Be- ten Entlastung. Aus meiner Sicht ist es ein Steuererhö- gründung für die Streichung des Sonderausgabenabzugs hungsgesetz zulasten Vorsorge treibender Bürger. – wenn man Arbeitslosengeld beziehe, sei dies steuerfrei und unterliege nur dem Progressionsvorbehalt – ist doch (Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Ach was!) hanebüchen; denn zum Glück wird nicht jeder Arbeit- Karlsruhe hat Entlastungen gefordert. Diese Entlastun- nehmer und jede Arbeitnehmerin in unserem Land ar- gen werden aber nur unzureichend gewährt; auf die Ein- beitslos. Das heißt, die Großzahl derjenigen, die Arbeits- zelheiten gehe ich gleich ein. losenversicherungsbeiträge leisten, erhält nie einen Cent aus der Arbeitslosenversicherung. Aus meiner Sicht setzt die Große Koalition mit die- sem Gesetz ihre Steuererhöhungspolitik fort, allerdings (Beifall bei der FDP) klammheimlich. Insofern kann ich nur sagen: Die Große Diese Kosten können in Zukunft nicht einmal steuer- Koalition ist wieder einmal Weltmeister in Sachen lich berücksichtigt werden; daran ändert das Vergleichs- Sprachschöpfung. Warum sie von einem „Bürgerentlas- verfahren überhaupt nichts. tungsgesetz“ spricht, obwohl dieses Gesetz unter ande- rem vorsieht, dass Arbeitslosenversicherungsbeiträge in Zweitens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge zur Zukunft nicht mehr steuerlich berücksichtigt werden Erwerbsunfähigkeits- und Berufsunfähigkeitsversicherung. können, ist ihr großes Geheimnis. Was heißt das denn? Jeder, der erwerbstätig wird – ich sage das auch meinen Kindern –, muss sich gegen Be- Die Anforderungen, die Karlsruhe an die Entlastung rufsunfähigkeit versichern, schon aus Verantwortung für der Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge gestellt sich, aber umso mehr – wenn man eine Familie hat –, um hat, sind klar. Die Antwort der Großen Koalition lautet: das Einkommen der Familie zu sichern. Wenn wir auf der einen Seite entlasten müssen, dann müssen wir auf der anderen Seite streichen. Streichen Drittens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge zur bedeutet in diesem Fall konkret: Steuererhöhungen für Unfallversicherung. Gerade junge Familien brauchen andere. aber eine Unfallversicherung, weil sie es sich nicht leis- ten können, dass nach einem Unfall kein Einkommen (Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Nein! Günsti- mehr zur Verfügung steht. gerprüfung! – Antje Tillmann [CDU/CSU]: Eben nicht!) Viertens: der Sonderausgabenabzug der Prämien zur Haftpflichtversicherung. Jeder verantwortungsvolle Mensch – Eine Günstigerprüfung hat das Bundesverfassungsge- muss sich doch gegen Missgeschicke, die jedem passie- richt in seinem Urteil überhaupt nicht vorgesehen, Herr (B) ren können, absichern; denn die finanziellen Folgen ei- (D) Kollege Krüger. nes Missgeschicks können sehr groß sein – sowohl für (Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Aber im Ge- den Schädiger als auch für den Geschädigten. setzentwurf ist sie vorgesehen!) Fünftens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge der Daran, dass Sie eine Günstigerprüfung vorsehen, wird Risikoversicherung für den Todesfall. Wenn Bürgerinnen aus meiner Sicht eines deutlich: Bislang konnten Kran- und Bürger in unserem Land Eigentum bilden wollen, kenversicherungsbeiträge nicht steuerlich berücksichtigt das aber nur schaffen, wenn sie am Anfang Schulden auf- werden. Auf Basis des geltenden Rechts hätte man sie nehmen, dann müssen im Laufe des Erwerbslebens na- allerdings zusätzlich berücksichtigen müssen. Das ist im türlich Kreditzinsen gezahlt und die Schulden getilgt Grunde genommen das, worum es geht. werden. Wenn dann aber eine Berufsunfähigkeit eintritt oder ein Erwerbstätiger verstirbt, dann muss doch sicher- Um einige Grundsätze klarzustellen: Das Existenzmi- gestellt sein, dass die Familie nicht mit Schulden belastet nimum muss steuerfrei sein. Es gibt einen weiteren ver- wird, die sie gar nicht mehr tragen kann, weil das Ein- fassungsrechtlichen Grundsatz: Die erwerbsnotwendi- kommen nicht mehr vorhanden ist. Auch dieser Sonder- gen Aufwendungen, die Kosten zur Einnahmeerzielung, ausgabenabzug wird durch den Gesetzentwurf gestri- müssen steuerlich abgesetzt werden; das objektive chen. Nettoprinzip muss also durchgesetzt werden. Auf der einen Seite wird gesagt: Sorgt vor! Auf der Es gibt einen weiteren Grundsatz: das subjektive Net- anderen Seite wird gesagt: Wenn ihr vorsorgt, dann toprinzip. Er besagt, dass existenznotwendige Ausgaben müsst ihr das aus dem versteuerten Einkommen finan- steuerlich berücksichtigt werden müssen. Das sind Aus- zieren. Das kann doch überhaupt nicht richtig sein. gaben, denen ein Steuerpflichtiger nicht ausweichen kann. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Jetzt möchte ich dem Hohen Hause und der Öffent- lichkeit erklären, was alles durch dieses Gesetz gestri- Das regt mich wirklich auf. chen wird: Bei der Krankenversicherung soll der Sonderausga- Erstens: der Sonderausgabenabzug der Beiträge zur benabzug der Beitragsanteile der Krankenversicherungs- Arbeitslosenversicherung. Die Arbeitslosenversicherung prämien, die das Krankengeld absichern, gestrichen wer- ist eine notwendige Vorsorge für die Arbeitslosigkeit. Es den. Wer erhält denn Krankengeld? Das bekommt man ist eine Zwangsabgabe, die entrichtet werden muss. Des- doch nur, weil man krank ist und keine Einkünfte mehr Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22781

Carl-Ludwig Thiele (A) erzielt. Auch dort wird der Sonderausgabenabzug gestri- Im vergangenen Jahr hat es ein Urteil des Bundesver- (C) chen. fassungsgerichts gegeben. Danach muss das Existenzmi- nimum neu definiert werden. Ich weiß gar nicht, ob das allen Mitgliedern dieses Hohen Hauses bekannt ist. Was die Arbeitslosenversi- (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Es ist also cherung anbelangt, gehe ich angesichts der verblüfften kein Zuschuss!) Gesichter der SPD-Fraktion davon aus, dass die meisten davon gar nichts wissen. Auch die anderen Punkte sind Derzeit liegt das Existenzminimum bei 7 834 Euro. hier nicht bekannt. Hinzu kommen steuerfreie Pauschalen wie die Wer- bungskostenpauschale, der Altersentlastungsbetrag und Frau Staatssekretärin, ich habe noch nie in einem Ge- der Sparerpauschbetrag. setzentwurf so ein ärmliches Finanztableau gesehen wie in diesem. Sie weisen nur aus, wo entlastet wird. Sie Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Auch die weisen mit keinem Cent aus, wo gestrichen wird, wo ge- Beiträge für eine Krankenversicherung müssen steuer- genfinanziert wird, wo Bürger belastet werden, die Vor- frei gestellt werden, sofern diese Beträge das sozialhilfe- sorge betreiben. Das ist unsäglich. Das muss diskutiert gleiche Niveau erreichen. – Das machen wir mit diesem werden. Ich hoffe, dass im Rahmen der Diskussion viele Gesetz. Weil wir dies machen, kommen 9,3 Milliarden erkennen, dass hier bei den Krankenversicherungs- und Euro mehr bei den Bürgern an. Pflegeversicherungsbeiträgen zwar Vorgaben des Verfas- sungsgerichts umgesetzt werden, das Gesetz aber in Heute sieht die Situation so aus, Herr Thiele: Derzeit Kombination mit dem, was gestrichen wird, für viele können Beiträge zur Krankenversicherung, zur Arbeits- schlecht ist und die nächsten verfassungsrechtlichen Pro- losenversicherung, für eine Berufsunfähigkeitsversiche- bleme hervorruft. rung, für eine Haftpflichtversicherung und für eine Risi- kolebensversicherung in einer Größenordnung von Natürlich muss man sich gegen Arbeitslosigkeit ver- 1 500 Euro im Jahr geltend gemacht werden. Wenn die sichern. Warum das zukünftig aus versteuertem Einkom- Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt men erfolgen muss, ist überhaupt nicht einzusehen. Das werden, wird dies anders sein. muss grundlegend überarbeitet werden. So kann das überhaupt nicht bleiben. Nehmen Sie beispielsweise einen Arbeitnehmer, der im Monat 3 675 Euro und somit 44 100 Euro im Jahr (Beifall bei der FDP – Dr. Hans-Ulrich Krüger verdient. Dies entspricht einem Einkommen in der Höhe [SPD]: Keiner wird schlechter gestellt!) der Beitragsbemessungsgrenze. Heute kann dieser Ar- beitnehmer 1 500 Euro absetzen. Ab dem nächsten Jahr (B) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wird er 4 024 Euro absetzen können. Er wird also (D) 2 524 Euro mehr absetzen können. Das bedeutet, dass er Der Kollege Klaus-Peter Flosbach hat jetzt das Wort etwa 1 000 Euro netto mehr in der Tasche hat. Somit für die CDU/CSU-Fraktion. werden die Bürger durch unseren Gesetzentwurf entlas- (Beifall bei der CDU/CSU) tet. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist auch kein Steuergeschenk, wie ich verschie- Lieber Herr Thiele, ich schätze Sie als Kollegen sehr. dentlich gehört habe. Vielmehr wird deutlich festgehal- Was Sie aber hier abgeliefert haben, ging weit an der ten, dass einige zu viel Steuern zahlen. Das ist also et- Wirklichkeit vorbei. Sie haben sehr überzogen. was, was wir den Bürgern zurückgeben, aber kein Steuergeschenk. Hier wird ein Gesetzentwurf vorgelegt, mit dem die Bürger ab dem 1. Januar 2010 um 9,3 Milliarden Euro Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen unter- entlastet werden. Sie aber reden von Steuererhöhungen. scheiden zwischen dem Bereich der gesetzlichen Kran- Das kann wirklich nicht wahr sein. kenversicherung und dem Bereich der privaten Kranken- versicherung. Die gesetzliche Krankenversicherung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – erhebt Beiträge nach dem Einkommen der Versicherten. Joachim Poß [SPD]: Steuermindereinnahmen Außerdem gibt es eine Mitversicherung für Ehepartner, von 10 Milliarden! Das sind Steuererhöhungen für Kinder und für Lebenspartner. In der privaten Kran- bei Thiele!) kenversicherung ist das anders. Für jedes versicherte Mit diesem Bürgerentlastungsgesetz werden wir die Mitglied muss ein eigener Beitrag gezahlt werden, der Menschen mit 9,3 Milliarden Euro bezuschussen, damit sich nach dem Alter, nach dem Gesundheitszustand und sie wieder mehr Geld in der Tasche haben und mehr die nach dem Geschlecht richtet. Konjunktur ankurbeln können. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt: Es müssen (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Bezuschus- in Zukunft alle Beiträge, die Beiträge der gesetzlich Ver- sen nicht!) sicherten, aber auch die Beiträge der privat Versicherten, anerkannt werden. Auch für die private Krankenversi- Das ist ein Impuls für die Wirtschaft. Das passt genau in cherung gilt, dass ein sozialhilfegleiches Niveau der Ver- die jetzige Lage. sorgung sichergestellt sein muss. 22782 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Klaus-Peter Flosbach (A) Besonders begrüße ich an diesem Gesetzentwurf, dass (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (C) damit der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts ge- Carl-Ludwig Thiele [FDP]) folgt wird, dass Familien mit Kindern, die privat versi- chert sind, die Beiträge für ihre Kinder absetzen können Das Zweite ist die Berufsunfähigkeitsversicherung. müssen. Das war bisher nicht der Fall. Das heißt, gerade Sie wird als die wichtigste individuelle Versicherung an- Familien mit vielen Kindern werden eine deutliche Ent- gesehen. Warum ist das so? – In Deutschland beträgt das lastung erfahren. diesbezügliche Durchschnittsniveau etwa 700 Euro. Wenn ein junger Mensch berufsunfähig wird, dann muss Wir haben hier also eine neue Kinderkomponente, die lebenslang eine Leistung für ihn erbracht werden. Hat er bisher nicht vorhanden war. Bisher konnten nur in der eine private Versicherung, so kann er dies kompensieren. gesetzlichen Krankenversicherung Kinder ohne einen ei- genen Beitrag mitversichert werden. An dieser Stelle er- Gerade der Abzugsbetrag von bisher nur 1 500 Euro folgt also eine Kompensation der privat Versicherten. kam insbesondere Geringverdienern zugute. Sie konnten auch noch Teile – teilweise natürlich auch nur mit dem Zudem ist in der privaten Krankenversicherung von Eingangssteuersatz – absetzen. Für sie war es einfach Bedeutung, dass der sogenannte Basistarif abgesetzt wichtig, dass sie gerade in jungen Jahren – insbesondere werden kann. Das ist der Tarif, der den Leistungen der auch Ledige – diesen Betrag absetzen konnten. gesetzlichen Krankenversicherung entspricht. Es gibt aber natürlich viele, die sich nicht für den Basistarif, (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. sondern für eine private Vollversicherung entschieden Carl-Ludwig Thiele [FDP]) haben. Hierbei gibt es in Deutschland über Zehntausend Bisher gibt es die Möglichkeit der Berücksichtigung die- verschiedene Tarife. Es gab Überlegungen, nicht nur für ser Versicherung nur im Rahmen der Riester- bzw. jeden Tarif, sondern für jeden einzelnen Versicherten he- Rürup-Rente, wenn man eine Altersversorgung einbe- rauszurechnen, was dem sozialhilfegleichen Niveau ent- zieht. Das können junge Leute normalerweise nicht, und spricht und was Zusatzversicherung ist. das können vor allen Dingen diejenigen mit einem nied- Ich glaube, hier wurde in dem Gesetzentwurf eine rigen Einkommen nicht. sehr gute Lösung gefunden. Wir unterstützen es seitens Deshalb sollten wir dieses Thema im Rahmen der Be- der Union ausdrücklich, dass bei den Privatversicherten ratungen noch einmal aufgreifen und prüfen, ob wir ge- ein pauschaler Abzug für alle vorgenommen wird. So rade hinsichtlich der Haftpflichtversicherung, der können wir nämlich eindeutig Bürokratie verhindern. Berufsunfähigkeitsversicherung und der Unfallversiche- Ansonsten hätte dieser Gesetzentwurf eine Bürokratie rung hier nicht doch noch eine neue Lösung finden kön- ohne Grenzen geschaffen. Das konnten wir Gott sei nen. (B) Dank verhindern. (D) (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Insgesamt müssen wir zunächst einfach einmal fest- Carl-Ludwig Thiele [FDP]) halten, dass 60 Prozent der Bürger durch diesen Gesetz- entwurf um 9,33 Milliarden Euro entlastet werden. Das Es ist natürlich nicht unproblematisch, dass die recht- sind Menschen, die bisher zu viele Steuern für ihre lichen Grundlagen für die Altersversorgung und für die Krankenversicherungsbeiträge gezahlt haben. Krankenversicherung mit diesem Gesetzentwurf zum dritten Mal in den letzten fünf Jahren geändert werden. Eines gefällt mir allerdings nicht – das will ich noch Sie wissen, dass es dann ab 2010 ein neues Recht geben einmal ausdrücklich erwähnen –, dass nämlich der bis- wird. Mit dem Alterseinkünftegesetz haben wir ein spe- herige Abzugsbetrag für die Haftpflichtversicherung, die zielles Recht, und es besteht auch noch das alte Recht Unfallversicherung und die Berufsunfähigkeitsversiche- von 2004, weil es beispielsweise im Bereich der Kran- rung gar keine Berücksichtigung mehr finden soll. kenversicherung und vor allen Dingen im Bereich der (Beifall bei der CDU/CSU – Carl-Ludwig Altersversorgung langfristige Verträge gibt. Thiele [FDP]: Sehr richtig!) Wir begrüßen es seitens der Union ausdrücklich, dass Wir müssen bedenken, dass gerade die Haftpflichtversi- hier die sogenannte Günstigerprüfung eingeführt wird, cherung – so sagen es übrigens alle Verbraucherschützer, das heißt, dass diese Gesetzesänderungen nicht zu einem Verbraucherzentralen und auch die unabhängigen Bera- Nachteil des Steuerpflichtigen führen dürfen. Deshalb ter im Versicherungsbereich – eine der wichtigsten Ver- gibt es automatische Prüfungen seitens des Finanzamtes, sicherungen ist, und für den einzelnen Steuerpflichtigen wird genau aus- gerechnet, welcher Weg für ihn der günstigste ist. Wir (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Richtig!) begrüßen das außerordentlich. weil zum einen der Schädiger geschützt wird, damit er Diese Entlastung um 9,33 Milliarden Euro wird durch die Leistung überhaupt erbringen kann, und weil zum ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorgegeben. anderen vor allem auch der Geschädigte geschützt wird; Ich glaube, das passt gut in die aktuelle konjunkturelle denn wenn der Schädiger keine Versicherung hat, dann Situation. Auch bei den anderen Konjunkturpaketen ha- kann der Geschädigte seinen Anspruch auf Leistung ben wir über dieses Thema diskutiert. Dieser Gesetzent- nicht geltend machen – es sei denn, der Staat tritt ein. wurf ist ein wichtiger Baustein, um den Menschen zu Deswegen gibt es in solchen Fällen Folgekosten für den zeigen, dass sie nicht nur belastet, sondern auch entlastet Staat. werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22783

Klaus-Peter Flosbach (A) Wir unterstützen die Bundesregierung seitens der nur 6 Milliarden Euro Steuerausfälle zu erwarten wären. (C) Union, damit diese Entlastung zum 1. Januar 2010 wirk- Sie haben keine einzige Maßnahme zur Gegenfinanzie- sam wird. rung zulasten der Bezieherinnen und Bezieher höherer Einkommen vorgeschlagen. Diese Gruppe profitiert na- Vielen Dank. türlich stärker von der Neuregelung; denn wer höhere (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Beiträge zahlt, kann auch höhere Beiträge steuerlich gel- tend machen, und durch die Progression fällt die Entlas- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: tung deutlich höher aus. Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll für Hinzu kommt das Problem, das sowohl Herr Thiele die Fraktion Die Linke. als auch Herr Flosbach angesprochen haben. Sie haben durch Ihre Formulierung im Gesetzentwurf versucht, das (Beifall bei der LINKEN) still und heimlich zu kaschieren. Es wird darauf verwie- sen, dass § 10 des Einkommensteuergesetzes geändert Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): wird. Der bisherige Sonderausgabenabzug gelte jetzt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! eben nur noch für Krankheit und Pflege. Die Bürgerin- Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom nen und Bürger achten in der Regel nicht darauf, worauf Februar vergangenen Jahres das Grundprinzip bestätigt, er sich vorher bezogen hat. Man muss auch erst einmal dass alle Aufwendungen, die die Menschen zur Sicher- blättern, bis man die Beiträge zur Arbeitslosenversiche- stellung ihres Existenzminimums brauchen, nicht be- rung und zur Berufsunfähigkeitsversicherung vermisst. steuert werden dürfen, also steuerfrei zu stellen sind. Ich meine, vor Jahren gab es noch eine Berufsunfähig- (Zuruf von der FDP: Richtig!) keitsrente für gesetzlich Rentenversicherte. Auch diese gibt es nicht mehr. Dazu gehören auch die Aufwendungen für die private Krankenversicherung und Pflegeversicherung. Aller- Insofern ist man gezwungen, privat vorzusorgen. Als dings – das wurde schon betont – schließt das nicht alle Arbeitnehmerin oder Arbeitnehmer ist man gezwungen, Aufwendungen ein, sondern nur die Leistungen, die dem in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen. Katalog der gesetzlichen Krankenkassen zur Erlangung Die von Ihnen vorgesehene Regelung führt konkret des sozialhilferechtlich gleichen Lebensstandards ent- dazu, dass in einzelnen Fällen die Bezieherinnen und sprechen. Chefarztbehandlung und Einzelzimmer gehö- Bezieher von niedrigen Einkommen gar nichts oder nur ren also nicht dazu. Zum Glück folgt die Bundesregie- wenig steuerlich geltend machen können; denn wir ha- rung in ihrem Gesetzentwurf genau dieser Logik. ben in Deutschland leider keinen Mindestlohn, und die (B) Gleichzeitig zeigen sich aber die Schattenseiten des ge- Löhne sind – insbesondere für Frauen – sehr niedrig. (D) setzlichen Leistungskatalogs und damit die unsoziale Bisher konnten sie einen Betrag von bis zu 1 500 Euro Gesundheitspolitik von rot-grüner und Großer Koalition: steuerlich geltend machen. In Zukunft gilt das nur noch Die Menschen müssen Brillen komplett selbst bezahlen; für die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung; sie sind nicht mehr im Leistungskatalog enthalten. Hör- der Rest fällt weg. Sie können deshalb nur noch einen hilfen und Zahnersatz müssen zu großen Teilen selbst geringeren Betrag geltend machen und werden real stär- bezahlt werden und sind nicht einmal voll steuerlich ab- ker belastet. Das geht nicht. Ich bin gespannt, wie sich setzbar. die CDU/CSU für diesen Punkt starkmachen wird. Wir als Linke begrüßen ausdrücklich, dass die Bei- Das alles zeigt, dass eine stärkere Entlastung der Bes- träge zur gesetzlichen Krankenversicherung in vollem serverdienenden erfolgt und dass Ihr gesamtes Gesund- Umfang steuerlich berücksichtigt werden. Allerdings heitssystem krankt. Wir fordern in einem ersten Schritt – damit komme ich zum Knackpunkt, um den Sie he- die sofortige Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze. rumgeredet haben – wird die Neuregelung zu erhebli- chen Steuerausfällen in Höhe von 9 Milliarden Euro pro (Beifall bei der LINKEN) Jahr führen. Sie brüsten sich bereits damit. Aber ich Das ist doch wohl machbar; dem steht nichts im Wege. frage mich, wie das gegenfinanziert werden soll. Dazu Wir fordern die Rückkehr zur paritätischen Finanzierung sagen Sie bisher sehr wenig. und zu einem umfassenden Leistungskatalog, in dem In einer Pressemitteilung des Finanzministeriums auch die notwendige Sehhilfe enthalten ist. Man darf vom 16. Juli vergangenen Jahres heißt es: auch nicht an den Zähnen erkennen, ob jemand viel oder wenig Geld hat. Daher werden wir prüfen, welche Instrumente uns zur Verfügung stehen und wo Handlungsspielräume Wir fordern einen Weg hin zu einer solidarischen bestehen, um eine gerechte Finanzierung zu ge- Bürgerversicherung; das ist die Anforderung unserer währleisten. Dies führt dazu, dass die Entlastung im Zeit. Eine steuerliche Neuregelung muss sich auf alle Bereich der höheren Einkommensbezieher kleiner Fälle hieran orientieren. ausfällt, während sie bei den unteren und mittleren (Beifall bei der LINKEN) Einkommen wenn möglich nicht von der Gegenfi- nanzierung betroffen werden soll. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Wo ist das geblieben? Es ist nicht mehr zu finden. Im Ich gebe das Wort der Kollegin Christine Scheel, Gegenteil: Herr Steinbrück sprach auch mal davon, dass Bündnis 90/Die Grünen. 22784 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nennenswerter Weise durch das Gesetz entlastet werden. (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wer gut verdient, spart viele Steuern. Wer wenig ver- Das Bundesverfassungsgericht fordert den Gesetzgeber dient, spart wenig oder gar nichts. Das ist die praktische – man muss sagen: leider – wieder auf, etwas Sinnvolles Konsequenz. Dies hängt mit unserer Steuersystematik für die Bürgerinnen und Bürger zu tun. Es ist im Hin- und unserem Sozialversicherungsrecht zusammen. Para- blick auf die aktuelle schwierige wirtschaftliche Lage doxerweise verhält es sich bei der Belastung der Bürge- absurd, dass die Große Koalition das Ganze als Bestand- rinnen und Bürger mit Sozialversicherungsbeiträgen ge- teil des Konjunkturpakets verkauft. nau andersherum: Bei einem Bruttoeinkommen von beispielsweise 1 700 Euro machen die Beiträge zur Zum Inhalt: Mit dem Gesetz, dessen Entwurf vorliegt, Krankenversicherung und Pflegeversicherung 9 Prozent werden die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts aus; bei einem Bruttoeinkommen von beispielsweise umgesetzt. Wir begrüßen viele Stellen dieses Gesetzent- 6 700 Euro machen diese Beiträge aber nur noch wurfs, vor allem die Steuerfreiheit der Beiträge zur 5 Prozent aus. In absoluten Zahlen heißt das: Wer Kranken- und Pflegeversicherung. Wir meinen, dass das 20 000 Euro brutto verdient, wird um 100 Euro entlastet. eine gerechte Lösung ist, weil nur das Einkommen be- Wer 60 000 Euro brutto verdient, wird um 1 000 Euro steuert wird, das tatsächlich zur Verfügung steht. Das ist entlastet. auch in steuersystematischer Hinsicht eine gute Lösung, weil das Prinzip der Besteuerung nach der steuerlichen Aus diesem Grund ist es für uns Grüne immer wichtig Leistungsfähigkeit berücksichtigt wird. Wir, Grüne und gewesen, die Sozialversicherungsbeiträge für Bezieher SPD, hatten schon im Zusammenhang mit der Renten- von geringen Einkommen ganz gezielt zu senken. Damit versicherung an eine Steuerfreiheit gedacht. Wir Grüne soll der von mir genannte Effekt vermieden werden. Be- haben immer eine Gleichbehandlung von Privatver- zieher niedriger Einkommen sollen nicht in die Situation sicherten und gesetzlich Versicherten bei der steuerli- kommen, dass die Sozialversicherungsbeiträge wie ein chen Abzugsfähigkeit gefordert. Dabei muss man sich Fallbeil zuschlagen, sondern sie sollen langsam und stu- auf das Niveau der Sozialhilfe und die geleisteten Bei- fenlos ansteigen, so wie wir das auch im Steuerrecht ha- träge beziehen. Das wird nun umgesetzt. ben. Das wäre eine vernünftige Lösung. Die Vorrednerinnen und Vorredner haben aber bereits (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) deutlich gemacht, dass man nun für die Menschen eine Wir nennen diese Lösung Progressivmodell. Sie ist sehr schwierigere Situation schafft, wenn es um die Haft- gut und würde diese Problematik an der Wurzel bekämp- pflichtversicherung, die Berufsunfähigkeitsversiche- fen. Darüber werden wir im Ausschuss weiter diskutie- rung und die Unfallversicherung geht; das muss man se- ren können. (B) hen. Wenn man das umsetzt, was vorgeschlagen ist, wird (D) es sehr teuer. Der Regierungsentwurf sieht ein Steuerent- Danke schön. lastungsvolumen von 9,5 Milliarden Euro vor. Ich hoffe sehr, dass wir uns in den Ausschussberatungen genau an- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: schauen, wie sich das im Kontext mit den angesproche- nen Versicherungen verhält, die – da hat Kollegin Nächste Rednerin ist die Kollegin Gabriele Frechen, Dr. Höll recht – in der heutigen Zeit notwendig sind. SPD-Fraktion. Deswegen müssen wir uns Gedanken darüber machen, (Beifall bei der SPD) inwieweit diese Versicherungsbeiträge steuerlich absetz- bar gemacht werden können. Darüber müssen wir ge- Gabriele Frechen (SPD): meinsam diskutieren. Ich habe vernommen, dass sich die Union hier durchaus bewegt. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So manche Rede hier kommt mir so vor, als Ein solches Gesetz kann aber kein Ersatz für eine ver- sei sie nach dem Motto „Was ich schon immer einmal nünftige Gesundheitspolitik sein. sagen wollte“ gehalten worden. Viele dachten wohl: Jetzt rede ich nicht zum Bürgerentlastungsgesetz, son- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dern mauschel irgendetwas vor mich hin, was vielleicht sowie bei Abgeordneten der LINKEN) besser ankommt und was sich hier gut verkaufen lässt. Es handelt sich hier um eine rein steuerliche Regelung. Frau Dr. Höll, durch die Günstigerprüfung wird si- Viele Bürgerinnen und Bürger erfahren aufgrund einer chergestellt, dass genau das nicht passiert, was Sie be- verfehlten Gesundheitspolitik – Stichwort „Gesundheits- schrieben haben. Wenn jemand aufgrund seines geringen fonds“ – erst einmal eine höhere Belastung. Die vorgese- Einkommens nur geringe Beiträge zur Krankenversiche- hene steuerliche Entlastung kompensiert die höhere Be- rung zahlt und daher nach neuem Recht weniger steuer- lastung durch den Gesundheitsfonds zum Teil überhaupt lich geltend machen kann, dann wird geprüft, ob die Re- nicht. Das heißt, einige, die höhere Beiträge aufgrund gelung nach altem Recht für ihn steuerlich günstiger des Gesundheitsfonds zahlen müssen, werden trotz steu- ausfällt, und diese angewandt. Niemand wird nach dem erlicher Entlastung unter dem Strich höher belastet. Man neuen Recht schlechter gestellt. muss das gesamte System berücksichtigen und darf nicht isoliert die Steuerfrage betrachten. (Widerspruch bei der LINKEN) Das Bundesfinanzministerium selbst schätzt, dass nur Viele werden besser gestellt, aber niemand schlechter. 57 Prozent der Steuerpflichtigen, also jeder Zweite, in Das möchte ich als Kernbotschaft festhalten. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22785

Gabriele Frechen (A) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gabriele Frechen (SPD): (C) der CDU/CSU) Bei Ihrer Zwischenfrage habe ich erst einmal auf die Uhr geschaut, um zu wissen, warum Sie das Gleiche fra- Herr Flosbach, wenn ich auf das Schmierentheater gen, was Sie vorhin gesagt haben. von Herrn Thiele hätte eingehen müssen, dann wäre meine Reaktion sicherlich nicht halb so moderat ausge- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sie haben gesagt: fallen wie Ihre. Dafür möchte ich mich herzlich bedan- alles Mögliche!) ken. Aber vielleicht hat sich in der Zwischenzeit das Publi- Herr Thiele hat sich hier hingestellt und alle Versiche- kum geändert. Auch die neuen Besucher müssen all die rungen, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, auf- Versicherungen kennen, die Sie vorhin genannt haben. gezählt und so getan, als ob irgendjemand alle diese (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Wir hatten eine Versicherungen gleichzeitig steuerlich geltend gemacht andere Präsidentin, aber das war nicht der ein- hätte. zige Grund!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein! Jetzt reicht – Auch das kann sein. Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie es mir aber!) auch die Präsidentin ins Bild setzen. Wir führen heute Er hat darüber hinaus so getan, als ob bisher alle diese die erste Lesung durch. Versicherungen unbegrenzt abzugsfähig gewesen wären. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: So ist es!) Das stimmt doch gar nicht. Die meisten haben die Bei- träge für ihre Versicherungen treu und brav jedes Jahr in Herr Flosbach, haben Sie verschwiegen, dass die sonsti- ihr Steuererklärungsformular eingetragen. gen Vorsorgeleistungen gekürzt werden? (Dr. Hans-Ulrich Krüger [SPD]: Richtig!) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Vor mir hat nur die Staatssekretärin dazu gesprochen! Die hat Diese Beiträge hatten aber überhaupt keine Auswirkun- nichts dazu gesagt, kein Wort!) gen, weil die Krankenkassenbeiträge ausgereicht haben, um den Höchstbetrag der steuerlichen Absetzbarkeit Herr Thiele hat gerade gesagt, Sie hätten das verschwie- auszuschöpfen. gen. Ich habe das gehört. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Nein, er hat nach (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten mir gesprochen!) der CDU/CSU) – Aber warum stellen Sie jetzt die Frage mit demselben (B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Tenor noch einmal? (D) Frau Kollegin, Herr Kollege Thiele möchte gerne eine (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Weil es an Sie Zwischenfrage stellen. geht und Sie sagen, alles Mögliche solle gestri- chen werden!) Gabriele Frechen (SPD): – Er hat es nicht verschwiegen, wir werden es nicht ver- Klar. schweigen, und auch ich werde es sagen. Selbstverständlich hat das Bundesverfassungsgericht Carl-Ludwig Thiele (FDP): nicht gesagt, dass irgendetwas gestrichen werden müsse. Frau Kollegin Frechen, mich überrascht schon, dass Sie sagen, alles Mögliche könne geltend gemacht wer- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Aha, herzlichen den. Nach der derzeitigen Rechtslage kann nicht alles Dank! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß Mögliche geltend gemacht werden. Aber der Arbeitslo- [SPD]: Das hat auch niemand von uns behaup- senversicherungsbeitrag kann geltend gemacht werden, tet!) ebenso die Beiträge für die Erwerbsunfähigkeits- und So etwas macht das Verfassungsgericht auch nicht. Aber Berufsunfähigkeitsversicherung, die Unfallversicherung wir sorgen mit diesem Gesetz dafür, dass bei Menschen, und die Haftpflichtversicherung. Das ist doch nicht „al- die nach dem neuen Gesetz schlechter gestellt würden, les Mögliche“. die alte Regelung mit den anderen Versicherungsleistun- gen wieder auflebt. Ich weiß jetzt nicht, wo Sie mir et- Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat dem was – – Gesetzgeber mit keinem Wort vorgegeben, diese Rege- lung zu streichen. Das Bundesverfassungsgericht hat (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ich freue mich dem Gesetzgeber nur vorgegeben, dass die Einschrän- schon auf die Antwort des DGB in der Anhö- kung bei der Berücksichtigung von Krankenversiche- rung!) rungsbeiträgen, wie es das geltende Gesetz vorsieht, nicht erfolgen darf. Warum verschwiegen wird, dass all Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: das gestrichen wird, was ich vorgetragen habe, können Herr Kollege Thiele, die Rednerin beantwortet Ihre Sie mir als Antwort auf meine erste Frage erklären. Wa- Frage. Es wäre schön, wenn Sie zuhörten. rum Sie diese zu berücksichtigenden Ausgaben nicht ku- mulativ behandeln, sondern ausschließen wollen, kön- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ich habe nur eine nen Sie mir als Antwort auf meine zweite Frage sagen. Zwischenfrage gestellt!) 22786 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Gabriele Frechen (SPD): Arbeitnehmer sind damit die großen Gewinner der Re- (C) Solange die Uhr angehalten ist, dürfen Sie fragen, form. was Sie wollen. Für mich sind alle Menschen Leistungsträger, die sich (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) aktiv am erfolgreichen Miteinander unserer Gesellschaft beteiligen, egal ob sie – – Wir haben schon gehört, dass das Bundesverfassungs- gericht festgestellt hat, dass die steuerliche Behandlung der Krankenversicherungsbeiträge von Privat-Versicher- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: ten mit Kindern nicht verfassungsgemäß war. Dies wird Frau Kollegin, Herr Kollege Spieth möchte gerne eine mit diesem Gesetz geändert. Das Urteil bezog sich im Zwischenfrage stellen. Einzelfall auf Beiträge für Privat-Versicherte. Dass die Umsetzung in gleicher Weise für gesetzlich Versicherte Gabriele Frechen (SPD): gilt, ist selbstverständlich. Eine wie auch immer geartete einseitige Regelung ist mit uns natürlich nicht zu ma- Bitte. chen. Die Neuregelung wird zu Steuermindereinnahmen in Frank Spieth (DIE LINKE): Höhe von 9,3 Milliarden Euro führen. Dies bedeutet, un- Sie sprachen davon, dass 80 Prozent der Arbeitneh- technisch gesprochen, dass die Bürgerinnen und Bürger merinnen und Arbeitnehmer entlastet würden. Das ist, ab dem kommenden Jahr diese Summe zusätzlich im steuerrechtlich betrachtet, möglicherweise richtig; ich Geldbeutel haben werden. Wie Herr Thiele darauf will dies gar nicht kritisieren. Mit der steuerlichen Ab- kommt, dass es Steuererhöhungen sein sollen, bleibt sein setzbarkeit von Krankenversicherungsbeiträgen entsteht Geheimnis. Wahrscheinlich hat es damit zu tun, dass er aber ein verteilungspolitisches Problem bei der Beitrags- die FDP immer als Steuersenkungspartei bezeichnet. In finanzierung. Als Bundestagsabgeordnete zahlen wir ei- Wirklichkeit ist die FDP nichts weiter als eine Steuersen- nen Arbeitnehmeranteil von 8,2 Prozent in die Kranken- kungsankündigungspartei. versicherung. Das sind 301 Euro, der Höchstbetrag bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Unser volles Einkom- (Beifall bei der SPD) men wird nicht verbeitragt, was dazu führt, dass wir real Immer dann, wenn sie in der Opposition ist, fordert sie nur 3,93 Prozent unseres Einkommens zahlen. Wenn uns Steuersenkungen. In den vielen Jahren, in denen sie an relativ gut Verdienenden nun noch eine steuerliche Ent- der Regierung beteiligt war, ist nicht einmal eine Steuer lastung in Höhe von rund 120 Euro entsteht, zahlen wir gesenkt worden. Schwups, kaum in der Opposition, for- Bundestagsabgeordneten nur noch 2,36 Prozent. Ein (B) dert sie schon wieder Steuersenkungen. verheirateter Arbeitnehmer ohne Kinder, der 1 500 Euro (D) verdient, zahlt den vollen Krankenversicherungsbeitrag, (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Frau Frechen, also 8,2 Prozent seines Einkommens. Frau Frechen, wir haben keine Gewerbekapi- talsteuer mehr, wir haben das Kindergeld er- Ihre Fraktion hat zu Beginn dieser Debatte gesagt, wir höht!) müssten dieses Problem lösen. Meine Kollegin Höll hat vorgeschlagen, deshalb die Beitragsbemessungsgrenze Das war jetzt nur ein kleiner Ausflug in die Historie von entfallen zu lassen, weil diese – quasi wie eine Guillo- Herrn Thiele. tine wirkend – genau diesen Effekt erziele. Sind Sie be- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Das war unzutref- reit, in den weiteren Beratungen genau dieses Thema zu fend, absolut unzutreffend!) problematisieren? Im steuerlichen Teil liegen Sie richtig; was die beitragspolitische Seite betrifft, liegen Sie nach – Doch, das war genau zutreffend. Ich fertige einmal ein meiner Auffassung daneben, wenn Sie das nicht tun. Buch mit allen Steuersenkungen an, die die FDP in der Zeit ihrer Regierungsbeteiligung mitbeschlossen hat. Da (Beifall bei der LINKEN) werden wir sehr viel Papier sparen, weil in diesem Buch kein einziges Blatt sein wird. Gabriele Frechen (SPD): (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Carl- Vielen Dank für die Frage, Herr Kollege Spieth. Frau Ludwig Thiele [FDP]: Das hätten Sie gern, Höll hat das Thema in ihrem Redebeitrag schon ange- aber das ist an der Realität vorbei!) sprochen. Ich weiß nicht, ob Sie da noch nicht anwesend waren. – Nein, das ist nicht an der Realität vorbei. Aber ich habe vorausgesehen, dass Sie auch bei diesem Gesetz (Frank Spieth [DIE LINKE]: Doch! Ich habe wieder ein Haar in der Suppe finden und es ganz genüss- sehr gut zugehört! Ich möchte von Ihnen eine lich spalten werden. Sie haben mich nicht enttäuscht, Antwort!) was für mich natürlich auch eine Genugtuung ist. Das ist die erste Lesung zum Bürgerentlastungsge- Fakt ist, dass 80,2 Prozent der Arbeitnehmerinnen setz. Es geht um die steuerliche Behandlung der Kran- und Arbeitnehmer von diesem Gesetz profitieren. Allein kenversicherungsbeiträge, egal ob die Leute gesetzlich sie bekommen 7,2 Milliarden Euro zurück. Bei den oder privat krankenversichert sind, egal ob sie viel oder Selbstständigen sind es 1,6 Milliarden Euro, bei den Be- wenig Gehalt beziehen. Die Frage, die Sie gerade ge- amten 560 Millionen Euro. Die Arbeitnehmerinnen und stellt haben, geht knapp am Thema vorbei. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22787

Gabriele Frechen (A) (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das schmeckt kommen 6 213 Euro Krankenversicherung, und sie wer- (C) euch nicht als Sozialdemokraten!) den mit 996 Euro entlastet. Das ist ein Zeichen dafür, dass wirklich die mittleren Einkommen mit diesem Ge- – Es geht um die steuerliche Behandlung von Kranken- setz entlastet werden. Der ledige Arbeitnehmer mit ei- versicherungsbeiträgen. Sie haben doch gesagt, in steu- nem Einkommen von 40 000 Euro wird mit 722 Euro erlicher Hinsicht hätte ich recht. Somit bin ich für den entlastet. Moment zumindest zufrieden. Jetzt komme ich zu dem Problem, das von allen schon (Frank Spieth [DIE LINKE]: Sie haben meine angesprochen worden ist: Der Selbstständige mit glei- Frage nicht verstanden!) chem Einkommen wird mit dieser Änderung nicht ent- – Ich glaube, Sie haben meine Antwort nicht verstanden, lastet. Er bezahlt einen Krankenversicherungsbeitrag in oder Sie wollten sie nicht verstehen. Wir sollten etwas Höhe von 4 360 Euro. Das hängt natürlich damit zusam- höflicher miteinander umgehen. men, dass die sonstigen Vorsorgeaufwendungen nicht oder nicht mehr in gleicher Höhe wie zuvor zum Abzug (Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE]) zugelassen werden. Das ist die geringe Gegenfinanzie- – Ich kann Ihnen vielleicht nicht folgen, verstehen kann rung, die ich eben angesprochen habe. Deshalb gibt es ich Sie schon. Also das können Sie mir schon zutrauen. die Günstigerprüfung. Ich sage aber ganz offen: Darüber, inwieweit diese Vorsorgeaufwendungen gestrichen oder Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: gekürzt werden, werden wir selbstverständlich in den Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage der Kolle- anstehenden Beratungen sprechen müssen. Es gilt das gin Höll, Frau Kollegin? Struck’sche Gesetz: Kein Gesetz kommt so aus dem Bundestag heraus, wie es hineingekommen ist. Ich weiß also gar nicht, was die ganze Aufregung hier soll. Gabriele Frechen (SPD): Ja. (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Stehen Sie nicht zu dem Gesetz?) Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): – Das muss ich noch gar nicht. Es ist nämlich ein Regie- Liebe Frau Kollegin Frechen, das hat schon alles et- rungsentwurf, Herr Thiele. Aus ganz grauer Vorzeit wis- was mit unserem Problem zu tun; denn es geht auch um sen Sie vielleicht noch, was das bedeutet. die Frage der Gegenfinanzierung und zugleich um die ei- ner sozial gerechten Verteilung von Be- und Entlastung. (Jörg van Essen [FDP]: Mit der Regierung ha- Auf die Frage der sozial gerechten Verteilung der Belas- ben Sie nichts zu tun? – Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Haben Sie sich damit noch gar nicht (B) tung konnten oder wollten Sie nicht antworten. Ich (D) möchte Sie fragen, welche Vorstellungen überhaupt zur befasst? Ich hatte den Eindruck, Sie vertreten Gegenfinanzierung dieses Steuerentlastungspakets vor- das hier!) handen sind; denn bei anderen Diskussionen, die wir in Ich möchte jetzt gern einen ganz anderen Punkt ver- den vergangenen Jahren hatten, wurde uns erklärt, dass treten – er liegt mir sehr am Herzen –: Wir werden ge- zum Beispiel weder eine Erhöhung des Kindergeldsatzes meinsam – das steht noch nicht im Regierungsentwurf – auf 200 Euro noch eine Anhebung der Hartz-IV-Regel- das Schulstarterpaket ausweiten, und zwar auf die Zeit sätze auf mindestens 435 Euro möglich ist, weil dafür vom 11. bis zum 13. Schuljahr. das Geld fehlt. Jetzt beschließen wir ein Gesetz mit ei- nem Entlastungsvolumen von 9 Milliarden Euro, und (Beifall bei der SPD – Carl-Ludwig Thiele plötzlich ist das Geld da. Das verwundert mich etwas. [FDP]: Ach nein! Das haben Sie noch vor kur- Darauf hätte ich gerne eine Antwort. zem im Bundestag abgelehnt!) – Ja, ich konnte Sie überraschen. Das freut mich jetzt. – Gabriele Frechen (SPD): Für uns war nie verständlich, warum dieses Paket nur bis Liebe Frau Kollegin Höll, wir haben von Anfang an zum 10. Schuljahr angeboten wurde. gesagt, dass eine Gegenfinanzierung nicht vorgenom- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Für uns auch men wird. Es war vielleicht kein von uns forciertes und nicht! – Zuruf der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE auch nicht ein von uns gewünschtes Konjunkturpaket, LINKE]) aber in der jetzigen Situation halten ich, die Bundes- regierung und die Kolleginnen und Kollegen in der – Frau Höll, Sie sehen doch: Steter Tropfen höhlt den Fraktion es für sinnvoll, für 2010 dieses von uns nicht Stein. Man kommt auch dann zum Ziel, wenn man nicht propagierte, aber jetzt von uns umzusetzende Konjunk- so laut brüllt. turprogramm wirken zu lassen. Wir weiten dieses Paket jetzt aus. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es gibt noch Er- der CDU/CSU) kenntnisgewinn!) Im Einzelnen heißt das: Ein verheirateter Alleinver- – Genau. – Durch dieses Gesetz werden auch die Kinder diener mit zwei Kindern und einem Einkommen von von Geringverdienern, die die Schulklassen 11 bis 13 be- 70 000 Euro, der 3 950 Euro für sich und seine Familie suchen, mit dem Schulstarterpaket ausgestattet. bezahlt, erhält eine Entlastung von 274 Euro. Gehen beide Ehegatten arbeiten, zahlen sie bei gleichem Ein- (Beifall bei der SPD) 22788 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Gabriele Frechen (A) Darüber bin ich sehr erfreut. Das sind immerhin 250 000 Von der Rentenerhöhung zum 1. Juli dieses Jahres wer- (C) Schülerinnen und Schüler. Der Kreis der Empfangsbe- den 7,6 Millionen Bürgerinnen und Bürger profitieren, rechtigten wird auf die sogenannten Aufstocker ausgewei- die Arbeitslosengeld II und Grundsicherung im Alter tet. Damit haben wir einen weiteren Beitrag zur sozialen bzw. Sozialhilfe erhalten. Wir haben für die Bürgerinnen Gerechtigkeit geleistet. Ich freue mich auf konstruktive und Bürger mit kleinen und niedrigen Einkommen Be- Beratungen. träge ausgegeben, die viel höher sind als diejenigen, die heute zur Debatte stehen. Herzlichen Dank. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU) der CDU/CSU) Heute diskutieren wir ein Gesetz, das denjenigen zu- gute kommt, die all diese Sozialleistungen durch ihre Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Steuern finanzieren: die Steuerzahler, die wir in dieser Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin Legislaturperiode bisher nicht entlastet haben, jedenfalls Antje Tillmann, CDU/CSU-Fraktion. bei weitem nicht in dem Umfang, in dem wir die sozial Schwächeren entlastet haben. Das zum Anlass für eine (Beifall bei der CDU/CSU) Ungerechtigkeitsdebatte zu nehmen, ist schon weit her- geholt. Antje Tillmann (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will Ihnen an zwei Beispielen erklären, warum „Mitmachen statt Miesmachen“ heißt das Motto unserer dieses Gesetz überhaupt nicht ungerecht ist. Erstens. Ein Jugendorganisation. Die heutige Debatte zeigt wieder, Selbstständiger mit mittlerem Einkommen und zwei dass Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Oppo- Kindern zahlt über seine Steuern die Zuschüsse zur ge- sition, das Miesmachen für Ihr politisches Programm setzlichen Krankenversicherung mit, um die beitrags- halten. freie Mitversicherung von Kindern in der gesetzlichen Krankenversicherung zu sichern. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Gar nicht! – Jerzy Montag [BÜND- Sie erinnern sich: Der Steuerzuschuss zur gesetzli- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist nicht wahr!) chen Krankenversicherung wird mit Blick auf die bei- tragsfreie Mitversicherung in ebendieser Versicherung Das finde ich bedauerlich. Das wird uns aber nicht daran von 3,2 Milliarden Euro in 2009 bis 2014 auf hindern, diesen Gesetzentwurf als gute Grundlage in die 14 Milliarden Euro aufgestockt. Debatte einzubringen. (B) (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Dieser mittelverdienende Selbstständige, der das alles über seine Steuern mitfinanziert, bekommt weder zu den Herr Thiele hält Steuersenkungen in Höhe von Beiträgen für seine beiden Kinder in der privaten Kran- 9,5 Milliarden Euro für ein Steuererhöhungsprogramm. kenversicherung einen Zuschuss, noch kann er die Bei- Die Linken haben den üblichen Beißreflex. Dass Leute, träge steuerlich geltend machen. Es kann doch auch aus die höhere Beiträge zahlen, auch höher entlastet werden, Ihrer Sicht nicht gerecht sein, dass bei demjenigen, der kann aus ihrer Sicht natürlich nur unsozial und ungerecht mit seinen Steuern andere unterstützt, die Beiträge für sein. Ich bin froh, dass die Grünen ihre Position sehr die eigenen Kinder steuerlich gar nicht berücksichtigt ausgewogen dargestellt haben, Frau Kollegin Scheel. werden können. Aus unserer Sicht ist dieser Gesetzentwurf eine sehr gute Diskussionsgrundlage. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Wir beginnen heute mit der Beratung hier im Parla- ment; allerdings hat sich auf dem Weg vom Referenten- Das wird in diesem Gesetzentwurf geändert. Das finden entwurf zum Gesetzentwurf schon einiges getan: Wir wir richtig und gerecht. haben den Kreis derjenigen, deren Krankenversiche- rungsbeiträge begünstigt werden können, ausgeweitet. Zweites Beispiel. Ein besserverdienender Angestell- Neben den Ehepartnern und den Kindern sind jetzt auch ter zahlt nur deshalb so hohe Krankenversicherungsbei- die Lebenspartner aufgenommen. Für Geschiedene kön- träge, weil er mit seinen Beiträgen diejenigen unter- nen Krankenversicherungsbeiträge künftig über den Un- stützt, die sich aufgrund niedrigen Einkommens die terhaltsfreibetrag hinaus geltend gemacht werden. Ich Beiträge nicht leisten können. Das ist richtig. Das ist so- danke dem Ministerium dafür, dass dieses Ergebnis einer lidarisch. Das ist in Ordnung. Nicht in Ordnung ist, dass Beratung zum Referentenentwurf so schnell in den Ge- Sie meinen: Weil er hohe Krankenversicherungsbeiträge setzentwurf aufgenommen wurde. zahlt – in Klammern: aus solidarischer Gesinnung und weil wir es gesetzlich so vorgesehen haben –, soll er sie Liebe Kollegen von der Linken, wir haben uns in die- nicht steuerlich geltend machen dürfen. Wir können ser Legislaturperiode sehr ausführlich mit den Beziehern nicht erst Solidarität einfordern und dann denjenigen, von kleineren und mittleren Einkommen beschäftigt. von dem wir die Solidarität einfordern, im Regen stehen Wir haben den Kinderbonus eingeführt. Wir haben das lassen. Kindergeld erhöht. Wir haben den Grundfreibetrag er- höht. Wir haben den Eingangssteuersatz gesenkt. Wir (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- haben die Regelleistungen für 6- bis 13-Jährige erhöht. neten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22789

Antje Tillmann (A) Das wird durch diesen Gesetzentwurf geändert. Das ist Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (C) gerecht und solidarisch. Es ist auch nicht zu beanstan- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich den, dass jemand, der hohe Beiträge zahlt, diese Beiträge höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. in voller Höhe steuerlich geltend machen kann. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla- Frau Kollegin Frechen hat darauf hingewiesen, dass mentarische Staatssekretär Klaus Brandner. wir den vorliegenden Gesetzentwurf nutzen werden, um (Beifall bei Abgeordneten der SPD) auch in einem anderen Fall, in dem es um finanziell schwächere Familien geht, nachzubessern, nämlich beim Schulstarterpaket. Ja, es ist so: Wir haben dafür länger Klaus Brandner, Parl. Staatssekretär beim Bundes- gebraucht. Wir wollten das auch für diejenigen vernünf- minister für Arbeit und Soziales: tig regeln, die nicht unter die Hartz-IV-Regelungen fal- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine lieben Kolle- len. Wir wollten das Schulstarterpaket auch den Fami- ginnen und Kollegen! Das Opferentschädigungsgesetz lien zugutekommen lassen, die ein bisschen mehr als regelt eine Einstandspflicht des Staates für unschuldige Hartz IV haben, nämlich denjenigen, die den Kinderzu- Opfer von vorsätzlichen Gewalttaten, die der Staat mit schlag bekommen. Wir werden das mit diesem Gesetz seinen Polizeiorganen vor einer solchen Tat nicht schüt- umsetzen. Auch damit werden wir wieder diejenigen zen konnte. Juristen sprechen hier vom sogenannten fördern, die keine Steuern oder nur ganz geringe Steuern Aufopferungstatbestand. zahlen. Da ich vermute, dass nicht jedem hier im Hause die In diesem Gleichgewicht von Sozialleistungen – sol- Materie dieses Gesetzes in gleicher Weise vertraut ist, che haben wir in dieser Legislaturperiode schon in hin- will ich hier in aller Kürze die wesentlichen Punkte der reichendem Maße auf den Weg gebracht – und Entlas- bisherigen Rechtslage konkretisieren: tung derjenigen, die unseren Sozialstaat finanzieren, Ziel des Opferentschädigungsgesetzes – kurz „OEG“ steht der Gesetzentwurf. Wir werden ihn in den kom- genannt – ist seit seinem Inkrafttreten im Jahre 1976 eine menden Wochen beraten und natürlich darüber sprechen eigenständige staatliche Entschädigung der Betroffenen, – Herr Kollege Flosbach hat es gesagt –, ob wir nicht an das heißt eine Entschädigung über die allgemeinen sozia- der einen oder anderen Stelle auch bei anderen Versiche- len Sicherungssysteme und die Sozialhilfe hinaus. An- rungsbeiträgen, die jetzt nicht begünstigt werden, nach- spruch auf Entschädigung haben Opfer eines Überfalls bessern müssen. oder einer Vergewaltigung genauso wie die Betroffenen Dem Grunde nach stehen wir zu diesem Gesetzent- eines Terroranschlags im Inland, bei dem unschuldige Passanten getötet oder schwer verletzt worden sind. Die (B) wurf. Wir finden, dass hier Gerechtigkeit hergestellt (D) wird. Bisher – so sagt das Verfassungsgericht – besteht Voraussetzungen für einen solchen Anspruch liegen au- sie ganz offensichtlich nicht. ßerdem vor, wenn es sich um einen tätlichen Angriff auf Leib und Leben der Betroffenen handelt und der Ich danke Ihnen. Täter – unabhängig von seiner Motivation – zumindest mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat. Umfang und Höhe (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) der zu erbringenden Entschädigungsleistungen richten sich nach dem Bundesversorgungsgesetz. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: An den Prinzipien und der Intention des OEG hat sich Ich schließe die Aussprache. seit seinem Inkrafttreten nichts geändert. Gewandelt ha- ben sich aber die Anforderungen, die im Zuge gesell- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- schaftlicher Veränderungen an eine möglichst umfas- wurfs auf Drucksache 16/12254 an die in der Tagesord- sende Opferentschädigung gestellt werden. Bereits nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es mehrfach ist deshalb das OEG in der Vergangenheit er- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. weitert und den Verhältnissen angepasst worden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. So ist zum Beispiel der Schutz ausländischer Mitbür- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf: gerinnen und Mitbürger in Deutschland vor allem durch die Gesetzesnovelle im Jahre 1993 erheblich verbessert Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ worden. Nach den furchtbaren Anschlägen von Solingen CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines und Mölln wurde bereits damals auch darüber diskutiert, Dritten Gesetzes zur Änderung des Opferent- den Kreis der im Inland geschützten Personen weiter zu schädigungsgesetzes fassen, als es schließlich geschehen ist. – Drucksache 16/12273 – Fraktionsübergreifend erörtert wird seit der letzten Überweisungsvorschlag: Legislaturperiode darüber hinaus die Überlegung, den Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Anwendungsbereich des OEG auf Auslandstaten auszu- Auswärtiger Ausschuss dehnen. Trauriger Anlass dieser Überlegung sind die lei- Innenausschuss der vermehrt aufgetretenen Fälle, dass deutsche Touris- Rechtsausschuss ten und Geschäftsreisende im Ausland Opfer einer Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit Gewalttat geworden sind. Ich erinnere hier nur an den Ausschuss für Tourismus entsetzlichen Anschlag in Djerba 2002. Bislang konnten 22790 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Parl. Staatssekretär Klaus Brandner (A) in solchen Fällen Entschädigungen häufig nur über einen sorge, nicht aber in einem Aufopferungstatbestand lie- (C) Härtefonds, gewissermaßen als Notlösung, geregelt wer- gen kann. den. Es ist deshalb gut, dass sich die Koalitionsfraktio- nen nach intensiven Beratungen und zahlreichen inter- Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Fazit fraktionellen Gesprächen nun auf einen Gesetzentwurf ziehen. Ziel des Opferentschädigungsgesetzes ist und verständigt haben, der den erwähnten und anderen Er- bleibt es, den Opfern tätlicher Gewalt einen möglichst weiterungsvorschlägen in angemessener Weise Rech- umfassenden Schutz in Form staatlicher Entschädigung nung trägt: quasi von einer Notlösung zu einer transpa- zu gewähren. Ob und wie dieses Ziel erreicht werden renten gesetzlichen Lösung. kann, muss sich, geeicht an einer sich verändernden Wirklichkeit, immer wieder neu erweisen. Ich bin über- Besonders herausstellen möchte ich dabei, dass be- zeugt, dass mit dem vorliegenden Gesetzentwurf genau sonders dann, wenn Opfer zu beklagen sind – das wissen das getan und in angemessener Weise nachgesteuert wir ja alle –, schnelle Hilfe nottut. Schnelle Hilfe hilft wurde. Deshalb würde ich mich freuen, wenn dieser Ge- doppelt, heißt es ja. Insofern wollen wir mit diesem Ge- setzentwurf nicht nur bei den Regierungsfraktionen, son- setzentwurf Rechtsklarheit in einer Situation schaffen, in dern fraktionsübergreifend verdientermaßen eine breite der schnelle Hilfe angesagt ist. Mehrheit finden könnte. Die Kernpunkte des Dritten OEG-Änderungsgeset- Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. zes, bei dem das Bundesministerium für Arbeit und So- ziales Formulierungshilfe geleistet hat, möchte ich hier (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) deshalb kurz vorstellen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Der Gesetzentwurf sieht erstens vor, bei Inlandstaten Für die FDP-Fraktion gebe ich das Wort Jörg van den Kreis der Anspruchsberechtigten auf ausländische Essen. Verwandte dritten Grades zu erweitern, die eine Person ohne deutsche Staatsangehörigkeit besuchen, die sich in Deutschland rechtmäßig und nicht nur vorübergehend Jörg van Essen (FDP): aufhält. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! begrüßt diese Neuregelung, zumal weiterhin eine Ab- Ich will am Anfang das aufgreifen, was Sie, Herr Staats- grenzung zu Touristen und Geschäftsreisenden ohne sekretär, soeben gesagt haben. Ich war eigentlich davon deutsche Staatsangehörigkeit getroffen wird, die auch ausgegangen, dass wir diesen Gesetzentwurf quer durch zukünftig nur von einer Härteregelung erfasst werden alle Fraktionen voranbringen. Ich erinnere mich an ein können. Berichterstattergespräch – ich glaube, es war Ende (B) 2007 –, in dem wir eigentlich so verblieben waren, dass (D) Weiterhin sieht der Gesetzentwurf die Einbeziehung dieses Vorhaben in den Koalitionsfraktionen wie auch in geschädigter ausländischer Lebenspartner vor. Diese er- den Oppositionsfraktionen vorangetrieben werden sollte. folgt mittelbar über eine Gesetzesverweisung auf das Deswegen war ich überrascht, dass dieser Kontakt nicht Bundesversorgungsgesetz. Diese Ergänzung ist nicht nur gesucht worden ist. Wir von der FDP – das will ich ganz direkt aus dem OEG heraus erforderlich, sondern auch deutlich sagen – wären gerne bei den einbringenden aus europa- und verfassungsrechtlichen Gründen zwin- Fraktionen dabei gewesen, weil wir die Zielsetzungen, gend. die Sie, Herr Staatssekretär, vorgetragen haben, aus- Der zweite Schwerpunkt des Änderungsgesetzes ist drücklich teilen. die Ausdehnung des Geltungsbereichs des OEG auf Ge- (Beifall bei der FDP) walttaten im Ausland. Über diesen Punkt ist in den frak- tionsübergreifenden Gesprächen lange diskutiert wor- Ich will am Anfang jedoch ein paar kritische Bemer- den, aber nicht über das Ob, sondern über das Wie. Der kungen machen. Im Jahre 2002 hat die FDP-Bundestags- vorliegende Gesetzentwurf sieht nun vor, auch bei Ge- fraktion zum ersten Mal auf die Problematik mit Blick walttaten im Ausland sogenannte Regelleistungen zu er- auf die Opfer von Terroranschlägen im Ausland hinge- möglichen. Sie werden wissen: Die Bundesregierung hat wiesen. Es hat sieben Jahre gedauert, bis ein entspre- in den Beratungen hierzu anfänglich durchaus Bedenken chender Gesetzentwurf vorgelegt wurde. Wie dringlich geäußert. er ist, hat der Anschlag in Bombay gezeigt, bei dem auch deutsche Staatsangehörige zu Schaden gekommen sind. Da es bei Gewalttaten im Ausland an dem eingangs Dass wir hier dringend eine Regelung schaffen müssen, erwähnten Aufopferungstatbestand fehlt, können diese ist für jedermann offenkundig. Ich spreche die Hoffnung Taten aus rechtssystematischen Gründen nicht ohne aus, dass wir bis zur Bundestagswahl zu einem Ergebnis Weiteres mit Inlandstaten gleichgesetzt werden; denn kommen. Für die FDP-Bundestagsfraktion signalisiere grundsätzlich kann der Staat wirksamen Opferschutz nur ich, dass wir dazu beitragen werden, dass es dazu für sein Hoheitsgebiet garantieren. Die jetzt vorliegen- kommt. den Regelungen sind aus Sicht der Bundesregierung je- doch durchaus vertretbar und zustimmungsfähig. Durch Die zweite Bemerkung, die ich gerne vorweg machen die im Gesetzentwurf vorgesehenen Einmalzahlungen möchte: Es fällt mir auf, wie viele Anstrengungen unter- sowie die Anrechnungs- und Ausschlusstatbestände wird nommen werden, den Begriff der Lebenspartnerschaft hinreichend deutlich, dass die Rechtsgrundlage für die im Gesetzestext nicht zu erwähnen. Ich ahne, wer dafür Entschädigung bei Auslandstaten nur in staatlicher Für- verantwortlich ist. Meine Gefühl ist, dass Sie, meine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22791

Jörg van Essen (A) Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es nicht sind. (Abg. Siegfried Kauder [Villingen-Schwen- (C) Liege ich da richtig? ningen] [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwi- schenfrage) (Elke Ferner [SPD]: Das bestätigen wir gerne!) – Bitte sehr, Herr Kollege, wenn die Frau Präsidentin es gestattet. Wir sollten auch da der gesellschaftlichen Wirklichkeit Rechnung tragen und eine klare Gesetzessprache ver- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: wenden. All diejenigen, die gemeint sind, sollten auch Ich gestatte es, Herr van Essen. tatsächlich benannt werden und nicht etwa durch einen Verweis auf das Bundesversorgungsgesetz erfasst wer- Jörg van Essen (FDP): den. Das müsste in den Beratungen, die vor uns liegen, Herr Kollege Kauder, ich weiß, Sie müssen immer eigentlich möglich sein. eine Zwischenfrage stellen. Deshalb sage ich sofort im- mer Ja. Was den Inhalt anbelangt, teile ich beide Zielrichtun- gen, die von Staatssekretär Brandner hier vorgestellt Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: worden sind. Es hat sich spätestens in Mölln gezeigt, Herr Kollege Kauder, Sie reden ja danach und könn- dass es sinnvoll ist, dass Personen, die in Deutschland zu ten in Ihrer Rede auf Herrn van Essen eingehen. Besuch sind und hier Opfer eines Terroranschlags wer- den, wie es beispielsweise bei einer türkischen Familie der Fall war, von den Bestimmungen erfasst werden. Jörg van Essen (FDP): Dieses Ziel wird von uns ausdrücklich unterstützt. Zumal er frei redet.

(Beifall bei der FDP) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Ich lasse die Zwischenfrage trotzdem zu. Anschläge werden in einigen Urlaubsregionen verübt, weil sie dort aufgrund der geringeren Sicherheitsvorkeh- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ rungen leichter durchgeführt werden können. Das war in CSU): Djerba, auf Bali und zuletzt in Bombay der Fall. Wenn Das wäre dann aus dem Zusammenhang gerissen. deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Opfer eines solchen Anschlages werden, dann handelt es sich um Herr Kollege van Essen, können wir uns darauf eini- eine Art Aufopferung, auch wenn es rechtlich gesehen gen, dass auch bei Inlandstaten Ausschlusstatbestände für denjenigen gegeben sind, der sich in Gefahr bringt? (B) nicht der Fall ist. Deshalb haben wir die Pflicht – schon (D) in unserem Antrag aus dem Jahr 2002 haben wir dieses Bei der Auslandstat, die wir jetzt in das OEG einbezie- Anliegen geäußert –, uns um diese Menschen zu küm- hen, gilt also nichts anderes. mern. Jörg van Essen (FDP): Ich habe immer ein schlechtes Gewissen gehabt, dass So ist es. Sie haben es richtig dargestellt. Aber, wie nach einer Härtefallregelung vorgegangen wurde und gesagt, Sie hätten dies auch in Ihrer Rede tun können. dass es keinen tatsächlichen Rechtsanspruch gab. Viele Ich weiß ja, wie gerne Sie Zwischenfragen stellen, wenn Opfer hatten das Gefühl, dass sie ein zweites Mal zum ich rede. Deshalb wollen wir es bei dieser Tradition Opfer wurden, weil sie auf staatliche Nachsicht ange- gerne belassen. wiesen waren und keinen wirklich begründeten Rechts- Es ist gut, dass wir jetzt einen Rechtsanspruch in das anspruch hatten. Opferentschädigungsgesetz aufnehmen. Das findet un- sere Unterstützung. Wir sollten uns – das ist mein Herr Staatssekretär, Sie haben natürlich zu Recht da- Wunsch – in den Beratungen insbesondere darüber Ge- rauf hingewiesen, dass es komplizierte Fragestellungen danken machen, wie wir das Ganze lesbarer ausgestal- durchaus auch an Stellen gibt, wo, wie ich finde, der ten. Aber, wie gesagt, die Zielrichtung des Gesetzent- Staat nicht eintreten muss. Wir alle erinnern uns – die wurfes ist richtig. Das ist ein erneutes Beispiel dafür, meisten sind ja in einem Alter, dass man sich daran noch dass im Bundestag nicht nur gestritten wird, sondern erinnern kann –, dass ein sehr bekannter bayerischer Po- dass man auch an einem Strang ziehen kann, wenn dies litiker bei einem Besuch im New Yorker Nachtleben zu für die Menschen gut ist. Gerade wer Opfer einer Straftat Schaden gekommen ist. oder Opfer eines Terroranschlages geworden ist, hat An- spruch darauf, dass wir uns gemeinsam Gedanken ma- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen, zu guten Lösungen zu kommen. NEN]: Der hat das immer bestritten!) Vielen Dank. Es ist ganz selbstverständlich, dass die Bundesrepublik (Beifall bei der FDP) Deutschland nicht einzustehen hat, wenn man sich in eine solche gefahrengeneigte Situation begibt, wie das Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: damals der Fall war. Wie dem auch sei, es ist vollkom- Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder, CDU/ men klar: Der deutsche Steuerzahler kann nicht in An- CSU-Fraktion. spruch genommen werden, wenn sich jemand selbst in Gefahr begibt und dann dabei Schaden erleidet. (Beifall bei der CDU/CSU) 22792 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ schen Bundestages sind eingeladen, sich in den Aus- (C) CSU): schussberatungen einzubringen. Ich freue mich, wenn Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- dieser Gesetzentwurf einen breiten Konsens im Deut- gen! Meine Damen und Herren! Jahr für Jahr werden in schen Bundestag herbeiführen wird; denn – das sage ich der Bundesrepublik Deutschland etwa 700 000 Men- gerne – das Thema Opferschutz gehört keiner Fraktion schen Opfer schwerer Straftaten, Opfer von Attentaten, und keinem Abgeordneten, Opferschutz ist vielmehr Opfer von Vergewaltigungen, Opfer von Körperverlet- eine Aufgabe, die das gesamte Parlament verantwor- zungen, Opfer von Freiheitsberaubungen und, wie wir es tungsvoll wahrnehmen sollte. Es nimmt diese Aufgabe am 11. März 2009 in Winnenden erlebt haben, Opfer von erkennbar wahr. Amokläufen. Diese Menschen sind schwer traumatisiert. Das gilt auch für die Hinterbliebenen der Opfer von (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Straftaten. Sie brauchen Hilfe, sie brauchen Unterstüt- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie zung, die sie – darüber sind wir sehr dankbar – teilweise bei Abgeordneten der LINKEN) von ehrenamtlichen Helfern, von Institutionen wie der Für uns war es außerordentlich wichtig, im Bereich des Weißen Ringes bekommen. der Entschädigung bei Auslandstaten etwas Beispielhaf- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP tes einzuführen, über das wir genauer nachdenken müs- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sen: Ein Opfer, das traumatisiert ist, braucht sofort Hilfe. Es braucht eine psychotherapeutische Begleitung. Das Das allein reicht aber nicht aus. Auch der Staat ist in Opfer muss wissen, wer diese psychotherapeutische Be- der Pflicht. So wie bei der heute anstehenden Änderung gleitung bezahlt. Es gibt Fälle, in denen ein traumatisier- war es schon in den 70er-Jahren. Die Diskussion, ob der tes Opfer für den Weg durch alle Instanzen sieben Jahre Staat eine staatliche Entschädigung an Opfer zahlen brauchte, ehe über die Entschädigung befunden wurde. sollte, entbrannte im Jahr 1971 und dauerte bis zum Jahr Das ist ein untragbarer Zustand. Deswegen müssen wir 1976. Die Diskussion war durchaus kontrovers. Noch dazu beitragen, dass die Verfahren unbürokratischer immer geistert das Dogma durch die Diskussion, das werden und schneller abgewickelt werden können. Opferentschädigungsgesetz sei geprägt von dem Gedan- ken, dass der Staat dann einzustehen habe, wenn es ihm (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nicht gelinge, innere Sicherheit zu gewährleisten, und wenn deshalb, weil das Gewaltmonopol nicht ziehe, ein Wir haben in diesem Gesetzentwurf daher vorgesehen, Bürger Opfer einer Straftat werde. Dieses Dogma gab es dass es bei Auslandstaten als Entschädigung Pauschalbe- nie. Wenn man in den Gesetzentwürfen der CDU/CSU- träge gibt. Das Opfer kann ins Gesetz schauen und fest- stellen: Dieser Betrag steht mir zu. Auf diesen Betrag (B) Bundestagsfraktion aus dem Jahr 1971 nachliest, kann (D) man schon in den ersten einleitenden Sätzen feststellen, habe ich einen Anspruch. Wir hoffen, dass dies zu einer dass die Intention des Opferentschädigungsgesetzes der deutlich schnelleren Abwicklung führen wird. Umstand war, dass man Menschen, die durch eine Straf- Wenn wir diesen Gesetzentwurf in zweiter und dritter tat in eine Notlage geraten sind, helfen solle. Deswegen Lesung verabschiedet haben, erleben wir eine Stern- ist es auch kein Paradigmenwechsel, wenn wir heute sa- stunde des Opferschutzes. Das finde ich gut. Es kommt gen, wir wollen auch die Auslandstat einbeziehen. nicht von ungefähr, dass wir gerade heute in erster Le- Mit diesem Gesetzentwurf wollen wir die Lücke sung über dieses Gesetz beraten. In wenigen Tagen, am schließen, die man schon 1976 beim Erlass des OEG 22. März 2009, findet, wie jedes Jahr, der Tag des Krimi- hätte schließen können. Es ist eine etwas paradoxe Situa- nalitätsopfers statt. An diesem Tag sind wir aufgerufen, tion, über die wir zu diskutieren haben: Eine deutsche darüber nachzudenken, was wir für die Opfer von Straf- Frau, die in Spanien vergewaltigt wird, bekommt nach taten noch zu tun haben. Mit der Entscheidung über das deutschem Opferentschädigungsrecht keine Opferrente. OEG ist die Debatte über Hilfen, die wir den Opfern an- Wird aber eine spanische Frau zum Beispiel von einem gedeihen lassen müssen, noch lange nicht abgeschlos- Italiener in Deutschland vergewaltigt, bekommt diese sen. Opferschutz ist immer in Bewegung. Wir werden spanische Frau in Deutschland wegen des europaweit uns weiterhin Gedanken darüber machen müssen, wie geltenden Diskriminierungsverbotes eine Opferentschä- man die Privatsphäre eines Opfers in der Gerichtsver- digung. Das heißt, die deutsche Frau, das deutsche Opfer handlung und gegenüber der Presse besser schützen steht im Ausland schlechter da, als das ausländische Op- kann. Wir werden uns auch Gedanken darüber machen fer im Inland. Wir sind aufgerufen, dieses Problem zu lö- müssen, wie man die Videografie verbessern kann. Es sen, diese Lücke zu schließen. Genau dazu ist dieser Ge- gibt also viele Felder des Opferschutzes, auf denen wir setzentwurf vorgesehen. uns betätigen können. Herr Kollege van Essen, ich verhehle nicht, dass ich Ich bin froh, dass die Politik den Blick viel stärker als gerne alle Fraktionen bei diesem Entwurf eingebunden in früheren Jahren auf das Opfer richtet. Wir sind auf ei- hätte. Aber es gab – Sie haben das schon angesprochen – nem guten Weg. gewisse Friktionen, die ich nicht wieder entstehen lassen (Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!) wollte, weil uns die Zeit davonläuft. Bis zum Ende der Legislaturperiode haben wir nur noch wenige Sitzungs- Alle sind eingeladen, mitzumachen. wochen. Deswegen mussten wir handeln. Ich bitte, das nicht als Affront zu verstehen. Alle Fraktionen des Deut- Vielen Dank. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22793

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der zum dritten Grad mit einem Deutschen verwandt sind, (C) FDP) erhalten diese keinen Anspruch oder nur unter den sehr verschraubten Voraussetzungen des bestehenden Geset- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: zes. Das führt dazu, dass vor allen Dingen Opfer rassisti- Nächste Rednerin ist die Kollegin Sevim Dağdelen, scher Gewalt, die ohnehin schon mit einem diskriminie- Fraktion Die Linke. renden und überkommenen Ausländer- und Asylrecht zu kämpfen haben, als Opfer zweiter Klasse behandelt wer- (Beifall bei der LINKEN) den und ohne einen Anspruch dastehen. Die Ungleichbehandlung von Opfern in Ost und Sevim Dağdelen (DIE LINKE): West: Rund 20 Jahre nach dem Fall der Mauer werden Vielen Dank, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Opfer von Gewalttaten aus den fünf ostdeutschen Bun- Damen und Herren! Mit dem Entwurf der Koalitions- desländern bei der Höhe der Entschädigungsleistung im- fraktionen ereilt das Hohe Haus in dieser Legislaturperiode mer noch benachteiligt. Das ist für die Linke eine unge- die dritte Vorlage zur Änderung des Opferentschädi- rechtfertige Ungleichbehandlung. gungsgesetzes. Doch die Linke findet, es hat sich bisher nichts Substanzielles geändert. Die Opferinteressen la- (Beifall bei der LINKEN) gen bislang anscheinend außerhalb des großkoalitionä- Das Opferleid Ost ist nicht geringer zu schätzen als das ren Blickfeldes. Nichts anderes bleibt mir als Schlussfol- Opferleid West. Eine ökonomisch begründete Differen- gerung übrig, vor allen Dingen in Anbetracht der zierung findet auch nicht beim Verhältnis Stadt und Land Tatsache – das hat mein Vorredner deutlich gemacht –, oder im Hinblick auf Einkommensunterschiede zwi- dass man kurz vor Toresschluss einen Rumpfvorschlag schen einzelnen Regionen der alten Bundesländer statt. einbringt, der vor allen Dingen auf der betagten Initia- tive von Bündnis 90/Die Grünen basiert. Gleiches gilt für die Lebenspartnerschaften. Die Situa- tion von Lebenspartnern als Opfer von tätlichen Angrif- Die Linke hat Initiativen zur Fortentwicklung der fen unterscheidet sich doch nicht von der von Eheleuten. Entschädigung von Opfern von Gewaltstraftaten jedes Auch dies ist eine Ungleichbehandlung, die abgeschafft Mal ausdrücklich begrüßt. Jedes Mal haben wir aber werden muss. – das kann man nachlesen – die gleichen Lücken fest- stellen und beklagen müssen. Die Opfer bzw. deren Hin- (Beifall bei der LINKEN) terbliebene warten bis heute vergeblich auf eine substan- Die Linke fordert deshalb eine klarstellende diskrimi- zielle Regelung. nierungsfreie Regelung, die – nebenbei gesagt – auch Was bringt der vorliegende Entwurf? Er enthält de- zur Entbürokratisierung beitragen könnte. (B) (D) taillierte Regelungen zur Entschädigung unschuldiger Opfer vorsätzlicher Angriffe im Ausland sowie etwaiger Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Hinterbliebener. Das mag in der Sache ein Fortschritt Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des sein, allerdings wohl eher motiviert durch die Erkennt- Kollegen Kauder? nis, dass deutsches Engagement im Kampf gegen den sogenannten internationalen Terrorismus auch zu einem Sevim Dağdelen (DIE LINKE): erhöhten Risiko für deutsche Staatsangehörige im Aus- Ja. land führt. Der richtige Grundgedanke dabei ist: Wenn der Staat durch sein Tun die Bevölkerung gefährdet, soll er für das erhöhte Risiko einstehen. Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ CSU): Aber für nichtdeutsche Gewaltopfer, die sich nur vo- Frau Kollegin, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, rübergehend in Deutschland aufhalten, bleibt alles beim dass die Lebenspartnerschaft bei Inlandstaten durch die Alten. Der Vorschlag wächst nicht über den Entwurf der Verweisung auf das BVG ohnehin schon immer einbezo- Grünen hinaus. Zum Beispiel wird die Ungleichbehand- gen war und dass der Gesetzentwurf, über den wir jetzt lung von Opfern in Ost und West aufrechterhalten. diskutieren, auch bei Auslandstaten die Verweisung auf (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) das BVG enthält? Ihr Problem ist gelöst. Sie haben es nur nicht erkannt. Hinsichtlich der Einbeziehung von Lebenspartnern – das wurde auch schon vom Kollegen van Essen beklagt – ( [SPD]: Richtig!) fällt der Entwurf durch beredtes Schweigen hinter den Entwurf der Grünen zurück. Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Das sagen Sie, Herr Kollege Kauder. Das Problem ist (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] noch nicht gelöst, weil es keine richtige Klarstellung für [CDU/CSU]: Aber er löst das Problem!) Opfer von tätlichen Angriffen gibt. Sonst hätte das hier Die Linke lehnt diese beschränkte Sicht auf die Opfer gerade erwähnt werden können. ab. (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] Lassen Sie mich dazu einige Anmerkungen machen. [CDU/CSU]: Sie verstehen es nicht!) Ungleichbehandlung ausländischer Gewaltopfer: Au- Ich komme zum Schluss meiner Rede. Jeder, der in ßerhalb des privilegierten Kreises derjenigen, die bis Deutschland Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat wird, 22794 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Sevim DaDaðdelenğdelen (A) muss den gleichen Anspruch auf Entschädigung haben. Herr Kollege Kauder, in Zukunft müssen wir nicht (C) Die Ungleichbehandlung bei der Opferentschädigung nur über die Aspekte des Opferschutzes, die Sie ange- – nach Staatsangehörigkeit und vor allen Dingen nach sprochen haben, diskutieren, sondern auch über die Wohnsitz – muss beendet werden. Denn der Schutzan- Frage, ob das Opferentschädigungsgesetz nicht für alle spruch gegenüber dem Staat ist meines Erachtens unteil- Menschen, die in Deutschland Opfer einer Straftat wer- bar. Der Anspruch auf Fürsorge bei Staatsversagen muss den, gelten muss. es auch sein; auch er gilt als unteilbar. Vor fast genau 13 Jahren, am 4. September 1996, hat (Beifall bei der LINKEN – Siegfried Kauder ein deutscher Röntgenarzt seine beiden deutschen Kin- [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Man der, seine achtjährige Tochter und seinen sechsjährigen sollte nur zu etwas reden, wenn man es ver- Sohn, auf Mallorca getötet. Die Mutter hat Ansprüche standen hat!) nach dem Opferentschädigungsgesetz geltend gemacht. Das höchste deutsche Gericht hat diese Anträge in letzter Instanz zurückgewiesen. Auch hier besteht seit nunmehr Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: 13 Jahren Nachbesserungsbedarf. Dabei geht es nicht Für Bündnis 90/Die Grünen gebe ich das Wort dem nur um die Opfer terroristischer Gewalttaten, zum Bei- Kollegen Jerzy Montag. spiel um die Opfer der Anschläge in Mumbai oder Djerba, sondern auch um Fälle, die sich quasi im zivilen, Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): privaten Bereich abspielen, die sich aber nur auf deut- Danke sehr, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und sche Staatsangehörige beziehen. Das Opferentschädi- Kollegen! Am 29. Mai 1993 haben feige Mordbrenner in gungsgesetz muss auf Gewalttaten im Ausland ausge- Solingen ein Haus angezündet. Bei diesem Brandan- weitet werden. schlag, der zu einem Mordanschlag wurde, sind Gürsün An dieser Stelle will ich deutlich machen: Frau Kolle- Ince, 27 Jahre alt, Hatice Genç, 18 Jahre alt, Hülya gin Dağdelen, es ist absurd, zu sagen, aufgrund seiner Genç, 9 Jahre alt, Saime Genç, 4 Jahre alt, und Gülüstan Außenpolitik sei es die Schuld des deutschen Staates, Oztürk, 12 Jahre alt, verbrannt. Der damalige Bundes- dass deutsche Staatsangehörige im Ausland gefährdet kanzler Kohl hat sich geweigert, die Überlebenden in werden. Diese Aussage war erkennbar neben der Sache. Solingen zu besuchen, und hat stattdessen den Außenmi- nister hingeschickt. Denn es waren Ausländer; sie hatten (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN mit Deutschland scheinbar nichts zu tun. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Was hat das mit dem Opferentschädigungsgesetz zu (B) tun? Sehr viel. Denn die Hinterbliebenen dieser Frauen, Zum Schluss will ich noch eines erwähnen: Es gibt ei- (D) Mädchen und Kinder haben Anträge nach dem Opferent- nen Gesetzentwurf mit identischem Inhalt: den Gesetz- schädigungsgesetz gestellt. Das oberste deutsche Gericht entwurf der Grünen vom 28. März 2006. Die Koalition hat diese Anträge abgewiesen, mit der Begründung, dass hat viel Gehirnschmalz darauf verwendet, aus der in un- das Opferentschädigungsgesetz für diese Personen nicht serem Gesetzentwurf vorgesehenen Formulierung von einschlägig ist. §10bOEG in ihrem Gesetzentwurf einen §3a zu for- mulieren und den Schutz der Lebenspartner hinter einer Herr Staatssekretär Brandner, ich bin etwas anderer Kaskadenverweisung zu verstecken. Auffassung als mein Kollege Kauder. Ich glaube, dem Aufopferungsanspruch liegt die Überlegung zugrunde, Herr Kollege Kauder, Sie haben recht: Die Lebens- dass der Staat das Gewaltmonopol hat und zumindest im partner sind nach Ihrem Gesetzentwurf so geschützt wie Inland für den Schutz der Menschen einzustehen hat; Verheiratete. Sie sind nur nicht erwähnt. Das ist ein biss- denn er ist die letzte Instanz. Die Tatsache, dass er für den chen beschämend und kleinlich, ebenso wie ihr Vorge- Schutz aller Menschen – ich betone: aller Menschen –, die hen, den Gesetzentwurf alleine und nicht mit uns sich in Deutschland befinden, zuständig ist, würde es ei- gemeinsam einzubringen, obwohl unser grüner Gesetz- gentlich erforderlich machen, dass wir mit dieser Kas- entwurf schon seit drei Jahren auf dem Tisch liegt. kade der Ausschlüsse im OEG endlich Schluss machen. (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] Wir sollten mit einem einfachen Satz erklären: Der Staat [CDU/CSU]: Unserer ist von 2002!) zahlt Opferentschädigungsansprüche unter den Voraus- setzungen des OEG an alle, die Opfer einer Straftat in Wenn es der Wahrheitsfindung dient: Wir werden Ihrem Deutschland geworden sind. Gesetzentwurf zustimmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Dass die Koalitionsfraktionen nur einen ersten Schritt CDU/CSU und der FDP) machen, haben sie in ihrem Gesetzentwurf mit fiskali- schen Argumenten – das steht dort ausdrücklich so drin –, Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: also mit Haushaltsargumenten, begründet. Ich gestehe: Nächster Redner ist der Kollege Gregor Amann, Auch wir Grüne haben mit unserem Gesetzentwurf nur SPD-Fraktion. einen ersten Schritt gemacht und das Gesetz so weit aus- geweitet, dass der Fall von Solingen davon umfasst wird. (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Paul Wir wollen nämlich den Erfolg dieses Gesetzes. Lehrieder [CDU/CSU]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22795

(A) Gregor Amann (SPD): land internationale Gäste, die beispielsweise ihre hier le- (C) Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und benden Verwandten besuchen, zu Opfern von Gewalt- Kollegen! Am vergangenen Wochenende hat die Interna- taten werden. tionale Tourismus-Börse in Berlin geschlossen. Die Deshalb legen die Koalitionsfraktionen heute einen Deutschen reisen gerne und viel, und das ist auch gut so. Gesetzentwurf vor, der eine Regelung für die deutschen Reisen bildet. 99 Prozent aller Deutschen, die privat Opfer von Gewalttaten außerhalb des deutschen Staats- oder beruflich ins Ausland fahren, kehren wohlbehalten gebietes und eine Ausweitung des Kreises der An- nach Deutschland zurück, reicher an Erfahrung und Er- spruchsberechtigten vorsieht. Ich glaube, das ist sinn- kenntnissen, vielleicht auch mit neuen Freundschaften. voll, gut und notwendig; das sagte ich schon am Anfang. Das Fernweh der Deutschen ist einer der Gründe für die Die Debatte zeigt, dass der Entwurf eine große Mehrheit Novellierung des Opferentschädigungsgesetzes. Ich im Haus finden wird. möchte vorweg sagen: Ich halte den vorliegenden Ge- setzentwurf für notwendig, aber auch für gut und sinn- Wir hätten das eigentlich schon vor einem Jahr be- voll. schließen können. Denn — der Kollege von der FDP sagte es — bereits vor 14 Monaten haben sich SPD, Ein beliebtes Ziel deutscher Touristen ist die tunesi- CDU/CSU, FDP und Grüne auf einen entsprechenden sche Insel Djerba. Es gibt dort Sonne, Strand und Meer, Entwurf des BMAS geeinigt. Dass wir diesen Entwurf und man kann die berühmte Al-Ghriba-Synagoge be- erst heute in erster Lesung vorlegen, liegt in der Tat da- sichtigen. Am 11. April 2002 jagte ein Selbstmordatten- ran – liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU, ich täter der Terrororganisation Al-Qaida einen mit Gas be- kann Ihnen das nicht ersparen –, dass wir bei der Anpas- ladenen Tankwagen vor dieser Synagoge in die Luft. sung des Opferentschädigungsgesetzes an heutige Reali- 21 Menschen, darunter 14 Deutsche, wurden getötet. täten neben den Ehepartnern als Anspruchsberechtigte 17 Menschen erlitten schwere Verbrennungen. auch Betroffene, die in einer eingetragenen Lebenspart- In unserer heutigen Medienwelt jagt eine Sensation nerschaft leben, einbeziehen wollten. Das ist heute die andere. Schon wenige Tage nach einem solchen An- selbstverständlich – dachte ich zumindest. schlag gehen die Medien auf die Suche nach neuen Sen- Dennoch hat genau das zu einer über einjährigen Ver- sationen. Ein grausamer Anschlag wie der in Djerba hin- zögerung geführt. Denn unser Koalitionspartner – zu- terlässt aber auch Opfer sowie die Hinterbliebenen und mindest einzelne davon – weigerte sich, die Einbezie- Angehörigen, deren Leben sich durch ein solches Ereig- hung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in die nis für immer verändert. Die Überlebenden sowie die Opferentschädigung aufzunehmen. Ich finde das sehr Hinterbliebenen und Angehörigen sind dann meist für traurig. Herr Montag nannte es beschämend und klein- (B) den Rest ihres Lebens durch physische und psychische lich. Dem kann ich nur zustimmen. Ich bin davon ent- (D) Verletzungen gekennzeichnet. Sie brauchen Fürsorge täuscht. Aber am Ende haben wir einen Kompromiss ge- und Hilfe, auch vonseiten des Staates. funden, und es wurde mir gesagt, dass Sie, Herr Kauder, Die deutschen Opfer von Djerba bzw. ihre Hinterblie- entscheidend dazu beigetragen haben, dass es zu diesem benen und Angehörigen hatten keinen Anspruch auf Ent- Kompromiss kommen konnte. schädigung, der über die normalen Leistungen unserer (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sozialen Sicherungssysteme hinausgeht. Das Opferent- NEN]: So ist es!) schädigungsgesetz – Staatssekretär Brandner hat es be- reits erläutert – regelt die eigenständige staatliche Ent- Die eingetragenen Lebenspartnerschaften sind im Ge- schädigungspflicht für Opfer von Gewaltdelikten, die setz nicht wörtlich erwähnt, aber über den Bezug auf das der Staat nicht vor dieser Tat schützen konnte. Insoweit Bundesversorgungsgesetz sind sie doch einbezogen. Wir ist das Opferentschädigungsgesetz ein wichtiges Sozial- haben bei der Gleichstellung von Schwulen und Lesben staatselement, auf das wir stolz sein können. in den vergangenen Jahren große Fortschritte gemacht, was die Pflichten angeht. Wir sind aber noch nicht sehr Das bisherige Gesetz basiert allerdings auf dem Terri- gut, was die Rechte angeht. torialprinzip. Das heißt, es gilt bisher nur in Fällen, in denen eine Gewalttat auf deutschem Staatsgebiet verübt Wir Sozialdemokraten glauben, dass alle Menschen wurde. Es gewährt auch keinen Schutz für Personen, die unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung die glei- sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten und chen Rechte haben sollten. Das muss auch für die Opfer- nicht mit Deutschen oder hier dauerhaft lebenden Aus- entschädigung gelten. ländern verheiratet oder unmittelbar verwandt sind. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Nach dem Attentat in Djerba, dem 11. September DIE GRÜNEN) 2001 in New York, aber auch den beschämenden auslän- Ich glaube, unser Gesetzentwurf ist auf der Höhe der derfeindlichen Anschlägen in Mölln und Solingen – Herr Zeit. Das Opferentschädigungsgesetz wird zu einem Ge- Montag, Sie haben es schon erwähnt – ist endgültig klar: setz, das Ansprüche von Opfern und Hinterbliebenen Auch bei Gewalt und Verbrechen hat eine Globalisie- vernünftig regelt, und zwar in dem Umfang, der heute rung stattgefunden. Wir müssen hier über nationale erforderlich ist. Hoffen wir, dass wir es möglichst wenig Grenzen hinaus denken. Terrorismus ist international. anwenden müssen. Deutsche können weltweit zu Zielen von Terrorismus und Verbrechen werden. Leider können auch in Deutsch- (Beifall bei der SPD) 22796 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Paul Lehrieder (CDU/CSU): (C) Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Paul Selbstverständlich, Herr Kollege Montag. Erstens bin Lehrieder, CDU/CSU-Fraktion. ich ein netter Kerl. Zweitens habe ich ein geringes Quäntchen Hoffnung, dass es meiner Wissensmehrung (Beifall bei der CDU/CSU) dienen könnte, mit Ihnen noch einmal darüber zu spre- chen. Wir machen das. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem und Kollegen! Sehr geehrte Zuschauer auf der Tribüne BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und an den Fernsehgeräten! Heute Morgen auf dem Weg In den Ausführungen der Vorredner ist bereits sehr in mein Büro bin ich an einem großflächigen Plakat vom deutlich geworden, dass uns allen gemeinsam ist, den Weißen Ring vorbeigekommen, das an einer S-Bahn- Opfern von Gewalttaten auch dann zu helfen, wenn es Station hing und auf dem sinngemäß stand: Wenn alle nach der bisherigen Form des Opferentschädigungsge- den Täter verfolgen, wer kümmert sich dann um das Op- setzes nur unzureichend möglich war. fer? – Genau um dieses Thema geht es heute in der De- batte über das Opferentschädigungsgesetz, das wir refor- Wie bereits gehört, gilt das Opferentschädigungs- mieren wollen. gesetz nicht für Menschen, die im Ausland Opfer von Gewalttaten wurden. Auch für die Personen, die sich nur Zunächst ein paar Richtigstellungen, Herr Kollege vorübergehend in Deutschland aufhalten und weder mit Amann, Herr Kollege Montag. Bei Ihnen kann ich es Deutschen noch mit dauerhaft hier lebenden Personen verstehen, Herr Kollege Amann. Sie gehören ähnlich verheiratet oder in gerader Linie verwandt sind, bietet wie ich in dieser Legislaturperiode zum ersten Mal die- das bisherige Opferentschädigungsgesetz keinen ausrei- sem Hohen Hause an. Herr Montag, Sie aber müssten chenden Schutz. Daraus ergeben sich zwingend folgende doch wissen, dass wir bereits in der bisherigen Form des Fragen: Opferentschädigungsgesetzes den Verweis auf das BVG haben, wo genau diese Frage der Lebenspartnerschaften Erstens. Ist es gerade vor dem Hintergrund der verän- bereits mit Verweis geregelt ist. derten weltpolitischen Rahmenbedingungen noch rich- tig, dass das Opferentschädigungsgesetz im Hinblick auf (Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE sein Territorialprinzip diese Opfer ausklammert? GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischen- frage) Zweitens. Ist es richtig, dass Opfer nur auf die bisher schon möglichen Härtefallleistungen verwiesen werden? – Frau Präsidentin, er hat vorhin selber gesprochen. (B) Wenn Sie Wert auf seine Frage legen, würde ich sie zu- Drittens. Muss die staatliche Opferentschädigung hier (D) lassen. Aus meiner Sicht ist dies aber nicht erforderlich. nicht weiterentwickelt werden? Wir sind eh schon genug im Verzug. Gerade die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat in den (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das stimmt!) vergangenen Jahren im Sinne der Opfer nach Antworten auf diese Fragen gesucht und tragfähige Lösungen ange- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: boten. Umso mehr freut es mich, dass wir nun gemein- Ich frage Sie trotzdem: Lassen Sie die Zwischenfrage sam mit unserem Koalitionspartner – wie ich gehört des Kollegen Montag zu? habe, auch mit der FDP und mit den Grünen – ein Gesetz auf den Weg bringen können, das die bisherige Lücke im Opferentschädigungsgesetz schließen wird. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich bin nett und lasse sie zu, weil er gesagt hat, dass er Ich möchte kurz die Regelungen im Einzelnen be- bei dem Gesetz mitmacht. leuchten. Zunächst zu den Deutschen, die im Ausland Opfer von Straftaten wurden. Bei den zu erbringenden Leistungen steht die schnelle medizinische Hilfe zusam- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): men mit der psychotherapeutischen Betreuung im Vor- Ganz herzlichen Dank, Frau Präsidentin und Herr dergrund. Bei den vorgesehenen Geldzahlungen handelt Kollege Lehrieder. – Ich möchte Sie fragen, ob Sie die es sich um Einmalzahlungen. Zeit finden und die Lust haben, sich mit mir nach dieser Debatte für 15 Minuten zusammenzusetzen, damit ich Die Höhe der Einmalzahlung ist nach dem Grad der Ihnen erklären kann, dass es an einer Stelle im Opferent- Schädigungsfolgen gestaffelt. Bei einem Grad der Schä- schädigungsgesetz einen Verweis auf das Bundesversor- digungsfolgen von 30 Prozent bis 40 Prozent entspricht gungsgesetz gibt, dass aber die Bezugnahme, die wir sie beispielsweise dem Jahresbetrag der bei Inlandstaten zurzeit haben, genau die beiden Fälle bisher nicht abge- bei gleichem Schädigungsgrad gezahlten Grundrente, deckt hat, in denen Lebenspartner nicht wie Verheiratete also 1 428 Euro. Bei einem Grad der Schädigungsfolgen behandelt worden sind, und dass deswegen eine weitere von 50 Prozent bis 60 Prozent beträgt die Einmalzahlung Bezugnahme an zwei Stellen notwendig ist, die in die- 5 256 Euro. Es geht hoch bis zu einem Schädigungsgrad sem Gesetzentwurf zusätzlich hinzugekommen ist, da- von 100 Prozent, bei dem die Einmalzahlung 14 976 Euro mit es eine volle Angleichung gibt? beträgt. Sind Sie damit einverstanden, dass ich Ihnen das noch In § 3 a des Gesetzentwurfs zur Änderung des Opfer- einmal privatissime erkläre? entschädigungsgesetzes werden die Leistungen für Hin- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22797

Paul Lehrieder (A) terbliebene geregelt. Hinterbliebene – einschließlich der Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf: (C) Eltern, deren minderjährige Kinder an den Folgen einer a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel Gewalttat im Ausland verstorben sind – sollen einen An- Bahr (Münster), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad spruch auf notwendige psychotherapeutische Maßnah- Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion men haben. Davon abgesehen haben sie Anspruch auf der FDP eine Einmalzahlung von bis zu 4 488 Euro. Auch das muss gesagt werden: Zu den Beerdigungs- und Überfüh- Moratorium für die elektronische Gesund- rungskosten wird ein Zuschuss von bis zu 1 506 Euro heitskarte gewährt. Leistungsansprüche aus anderen öffentlichen – Drucksache 16/11245 – und privaten Versorgungssystemen sind auf die Leistun- gen nach Abs. 2 und 3 anzurechnen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Innenausschuss Nun zu den Menschen, die sich nur vorübergehend in Rechtsausschuss Deutschland aufhalten. Von meinen Vorrednern wurde Ausschuss für Wirtschaft und Technologie bereits auf den Fall Solingen hingewiesen. Der Schutz- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt bereich in § 1 Abs. 6 des Opferentschädigungsgesetzes Bender, Elisabeth Scharfenberg, Dr. Harald wird vor allem auf Verwandte bis zum dritten Grad aus- Terpe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion gedehnt, die ihre dauerhaft in Deutschland lebenden BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Angehörigen besuchen. Bislang konnten diese Gruppen lediglich einen Härtefallausgleich nach § 10 b des Opfer- Das Recht auf informationelle Selbstbestim- entschädigungsgesetzes erhalten. Es war zwar schon da- mung bei der Einführung der elektronischen mals möglich, eine Entschädigung zu erhalten, aller- Gesundheitskarte gewährleisten dings gab es keinen Rechtsanspruch darauf. Herr Kol- – Drucksache 16/12289 – lege Montag, Sie haben zutreffend darauf hingewiesen. Überweisungsvorschlag: Jetzt ist sichergestellt, dass Geschädigte bei der Ver- Ausschuss für Gesundheit (f) sorgung gegenüber Hinterbliebenen nicht schlechter ge- Innenausschuss stellt werden. Allerdings soll der Schutzbereich des Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Opferentschädigungsgesetzes aus Gründen der Finan- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die zierbarkeit gerade nicht generell für alle Touristen und Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre Geschäftsreisenden gelten. Gerade der letztgenannte keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Personenkreis dürfte oft schon anderweitig, zum Bei- (B) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege (D) spiel durch eine private Versicherung, abgesichert sein. Daniel Bahr, FDP-Fraktion. Ich freue mich, dass die Gesetzesberatungen in den (Beifall bei der FDP) Ausschüssen, die nach dieser heutigen ersten Lesung er- folgen werden, offensichtlich von der großen Mehrheit Daniel Bahr (Münster) (FDP): der Oppositionsfraktionen mitgetragen werden. Von zwei Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Fraktionen habe ich schon Zustimmung signalisiert be- Eingangs dieser Debatte will ich ausdrücklich festhalten, kommen, bei der dritten Oppositionsfraktion habe ich dass die FDP die Chancen, die im Einsatz der Informa- noch meine Zweifel. Man wird sich überraschen lassen, tionstechnologie für das Gesundheitswesen liegen, aus- ob Sie auch zustimmen können, liebe Freunde von den drücklich begrüßt. Linken. Grundsätzlich eröffnet die Telematik im Gesundheits- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Freunde?) wesen gute Perspektiven für eine bessere Versorgung und bessere Abläufe. Jedem hier im Hause ist doch völ- Ich wünsche uns gute Beratungen und hoffe, dass wir lig klar, dass die moderne Informationstechnologie auch noch in dieser Legislaturperiode das Gesetz auf den Weg Eingang ins Gesundheitswesen erhalten muss, wodurch bringen können. der Ablauf und die Zusammenarbeit verbessert werden können, weil nicht mehr nur auf Papier und alten Wegen Danke für die Aufmerksamkeit. gearbeitet wird. Gerade im Gesundheitswesen müssen wir aber beson- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ders die Risiken berücksichtigen, die nun einmal damit neten der SPD) verbunden sind, erst recht wenn es sich um solch sen- sible Daten wie die Gesundheitsdaten handelt. Dabei Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: darf man die Risiken nicht außer Acht lassen. Ich schließe die Aussprache. Im Rahmen der damaligen Gesundheitsreform Seehofer/ Schmidt haben CDU/CSU, SPD und Grüne mit einer Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- ganz großen Koalition und gegen die Bedenken der FDP wurfs auf Drucksache 16/12273 an die in der Tagesord- bereis 2003 im Gesundheitsmodernisierungsgesetz die nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Einführung der elektronischen Gesundheitskarte be- dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. schlossen. Die Realisierung, die mehrfach angekündigt Dann ist die Überweisung so beschlossen. wurde, lässt noch auf sich warten, da ein solch umfas- 22798 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Daniel Bahr (Münster) (A) sendes System der elektronischen Gesundheitskarte al- gespart werden sollen. Genau das ist unsere Sorge. Versi- (C) lein technisch, aber auch aus Datenschutzgründen eben cherten und Behandlern könnten mehr oder weniger nicht so einfach einzuführen ist. zwingende Anreize gesetzt werden, sich entsprechend zu beteiligen. In einem Gesundheitswesen, das immer stär- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Gründlichkeit vor kere zentralistische und dirigistische Züge aufweist, darf Schnelligkeit!) der nächste Schritt jedoch nicht darin bestehen, den Wenn es um die Speicherung von Gesundheitsdaten Schutz sensibelster und intimster Daten gegen vermeint- geht, sollte besondere Vorsicht gelten. Ich will nieman- liche finanzielle Vorteile auszuspielen. Es ist kaum vor- dem im Hause in Abrede stellen, dass damit keine guten stellbar, dass die Versicherten vor die Wahl zwischen Ziele verfolgt werden. Man stelle sich nur einmal vor, finanziellem Vorteil und Wahrung ihrer eigenen Persön- der Arbeitgeber bekäme Kenntnis über die Gesundheit lichkeitsrechte gestellt werden. Dann wäre es in der Tat seiner Mitarbeiter oder wüsste von der Erkrankung eines nicht mehr weit zum gläsernen und vor allem staatlich Bewerbers, die potenziell dessen Leistungsfähigkeit ein- steuerbaren Patienten. schränkt. Es ist wohl klar, dass Bürger nicht wollen, dass Die bisherigen Tests haben mehr Fragen aufgeworfen Unbefugte Zugriff auf ihre Gesundheitsdaten erhalten. als Antworten gegeben. Ich möchte einige Probleme Ich möchte noch ein anderes Beispiel nennen. Als nennen. In Schleswig-Holstein bzw. in Flensburg, wo Union und SPD den Behörden unter bestimmten Bedin- Tests durchgeführt wurden, gab es Probleme mit der Ge- gungen den Zugriff auf die Computer der Bürger ermög- heimnummer, der sechsstelligen PIN. Sobald die Pro- lichten, war der Aufschrei in der Bevölkerung zu Recht bleme zutage traten, kam der Vorschlag vonseiten der groß. Die Möglichkeit des Einblicks in intimste Daten Politik, der Exekutive und vieler anderer Bereiche, auf der Gesundheit eines Menschen ohne dessen Wissen und die Eingabe der Geheimnummer zu verzichten. Das Einwilligung dürfte noch eine Steigerung darstellen. zeigt, wie schnell es dazu kommt und wie gefährlich es ist, dass hohe Datenschutzstandards, die ursprünglich Deshalb muss man bei einem so umfassenden System vorgegeben worden sind, in der praktischen Umsetzung der elektronischen Gesundheitskarte besonders aufmerk- sehr schnell aufgeweicht werden können. sam und skeptisch werden, wenn ich auch weiß, dass der Datenschutzbeauftragte bisher die hohen Kriterien des Die hohen Datenschutzstandards müssen auch weiter- Datenschutzes immer wieder angesprochen hat und auch hin gewährleistet werden. Große Mengen sensibelster in die Umsetzung eingebunden ist. Daten quasi in einer Hand zu bündeln, birgt ohne Zwei- fel Gefahren. Deswegen meinen wir: Nach dem gläser- Für uns als Liberale ist das Ziel: Wir wollen keinen nen Bankkunden und dem gläsernen Internet-User darf gläsernen Patienten. jetzt nicht auch noch der gläserne Patient drohen. (B) (D) (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Für die FDP ist Voraussetzung, dass der Versicherte stets Es wurde angesprochen, dass das Vorhaben nicht zu Herr über seine eigenen Daten ist und bleibt. Er soll da- zusätzlicher Bürokratie führen soll. Das Ausstellen eines rüber entscheiden, wer welche seiner Gesundheitsdaten Rezepts dauert nach Aussage eines am Test teilnehmen- zu welchem Zweck nutzen darf. Die Speicherung der den Internisten nun dreimal und das Einlesen der Karte Notfalldaten sowie in weiteren Ausbauschritten die elek- viermal so lange wie bisher. tronische Arzneimitteldokumentation und die elektroni- sche Patientenakte müssen dabei auf Freiwilligkeit beru- Was wir derzeit als Umsetzung erleben, betrifft bei hen. Der Versicherte kann, muss aber nicht entsprechende weitem noch nicht die elektronische Gesundheitskarte, Daten zu diesen Zwecken speichern lassen. auch wenn das wahrscheinlich gleich wieder so verkauft wird, sondern es ist, wenn überhaupt, nur eine Vorstufe Ich sage Ihnen eines voraus: Ohne die Freiwilligkeit dessen, was noch alles kommen soll. Schon hierbei wer- wird dieses Projekt wohl kaum die zum Gelingen erfor- den Probleme deutlich. Die AOK Rheinland will, wie sie derliche breite Akzeptanz finden. Das sehen wir an dem jetzt in der Öffentlichkeit kundgegeben hat, die Karten Unmut, der bei den Leistungserbringern und Patienten erst dann ausgeben, wenn sichergestellt ist, dass die derzeit bei der Umsetzung der elektronischen Patienten- Ärzte zur Teilnahme am Onlinebetrieb verpflichtet sind. akte in Deutschland festzustellen ist. Die privaten Krankenversicherungen – das war vor- Studien haben aber gezeigt, dass sich das gesamte gestern zu lesen – steigen mittlerweile aus dem Projekt Projekt um die elektronische Gesundheitskarte erst dann aus. Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen lassen rechnet, wenn diese freiwilligen Zusatzanwendungen sich in Zeitungen ohne Namen mit der Feststellung zitie- auch genutzt werden. Ansonsten übersteigen nämlich die ren, die elektronische Gesundheitskarte sei politisch tot. Kosten des Aufbaus einer geeigneten Infrastruktur den aus dem Projekt entstehenden Nutzen, wie die Studien Für uns ist deshalb eines ganz wichtig: Wir wollen das darlegen. Prinzip der Freiwilligkeit für Versicherte, Ärzte und Krankenhäuser bei der Nutzung der Gesundheitskarte Schon häufig konnte man in anderen Bereichen erle- gewährleistet haben. Wir wollen nicht, dass ein Druck ben, wie hohe Datenschutzstandards aufgeweicht wur- zur schnellen Umsetzung dieses umfassenden Konzepts den. Freiwillige Anwendungen können schnell zu Pflicht- der elektronischen Gesundheitskarte entsteht, das immer anwendungen werden, wenn damit in einem finanziell noch viele Fragen und Sorgen aufwirft. Deswegen haben stets auf Kante genähten Gesundheitssystem Kosten ein- wir von der FDP einen Antrag eingebracht, der ein Mora- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22799

Daniel Bahr (Münster) (A) torium für die elektronische Gesundheitskarte vorsieht. funktionieren. Es liegt in der Natur eines so hochkompli- (C) Die Einführung muss so lange zurückgestellt werden, bis zierten und anspruchsvollen technischen Projektes wie wirklich sichergestellt ist, dass die Voraussetzungen der der E-Card, dass sie immer weiterentwickelt, verbessert Datensicherheit erfüllt sind. Das ist aus unserer Sicht und an neue, zusätzliche Anforderungen angepasst wird. noch nicht gegeben. Deswegen darf hier nicht mit Druck Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern, an der Umsetzung gearbeitet werden. Wir sollten uns dass auch bei Toll Collect die Startschwierigkeiten ex- vielmehr so viel Zeit für die Umsetzung lassen, bis alle trem waren. Heute haben wir ein – unstrittig – im inter- offenen Fragen geklärt sind. nationalen Vergleich einmalig gut funktionierendes Sys- tem implementiert. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der FDP) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aber der Wunsch, auf die Daten zuzugreifen, ist gefähr- lich! Schlechtes Beispiel, Herr Kollege! – Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Dr. Karl Addicks [FDP]: Das ist ein Beispiel Nächster Redner ist der Kollege Dr. Rolf Koschorrek, dafür, dass alles anfangs in die Hose ging!) CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der CDU/CSU) – Das ist ein gutes Beispiel, das auch durch Zwischen- rufe nicht schlecht gemacht werden kann. Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): Der Vorwurf einer übereilten und unbedachten Ein- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ein- führung mutet in dieser Situation nahezu absurd an. Es führung der elektronischen Gesundheitskarte, vom ist Ihnen doch bekannt – falls nicht, möchte ich es noch Volksmund kurz als E-Card bezeichnet, gilt sicherlich einmal in Erinnerung rufen –, dass die bundesweiten Or- weltweit als eines der anspruchsvollsten Vorhaben der ganisationen der Selbstverwaltung im Gesundheitswesen Informationstechnik im Gesundheitswesen, jedenfalls bereits seit Ende der 90er-Jahre als Aktionsforum „Tele- was die Größe der betroffenen Population angeht. Es be- matik im Gesundheitswesen“ mit dem Thema der elek- steht nun offenbar bei der FDP-Fraktion die Sorge, dass tronischen Gesundheitskarte und den möglichen Inhalten die E-Card zu schnell – in Ihrem Antrag heißt es: über- telematischer Anwendungen befasst sind. Schon vor eilt – eingeführt wird. fünf Jahren, im Jahre 2004, wurde bereits die rechtliche (Dr. Karl Addicks [FDP]: Die begründete Grundlage für die E-Card mit dem Gesetz zur Moderni- Sorge!) sierung der gesetzlichen Krankenversicherung gelegt. Die Anforderungen an die Datensicherheit und die Funk- (B) Die Fraktion der Grünen nutzt die Gelegenheit, kurzfris- tionen der E-Card sind im SGB V verankert. Die ur- (D) tig einen Antrag zur elektronischen Gesundheitskarte sprünglich für das Jahr 2006 geplante flächendeckende nachzuschieben. Im Wesentlichen wird darin gefordert, Einführung der E-Card wurde verschoben. Die Test- was bereits in dem von Ihnen geforderten Sinne geregelt ergebnisse zeigten damals noch viele Unzulänglichkei- bzw. selbstverständlich ist. Nur ein Beispiel: Sie finden ten, die zwischenzeitlich behoben sind. lobende und anerkennende Worte für die Vorkehrung zur Datensicherheit bei der E-Karte. Sie fügen hinzu: So Die flächendeckende Einführung erfolgt jetzt schritt- muss es bleiben. – Neu ist allerdings die absolut unrea- weise, über einen längeren Zeitraum gestreckt. Im ersten listische Forderung, dass es den Leistungserbringern, Quartal 2009 hat der sogenannte Roll-out der elektroni- den Arztpraxen, freigestellt sein soll, an der Nutzung der schen Gesundheitskarte in der KV-Region Nordrhein E-Card teilzunehmen. Es liegt auf der Hand, dass das so begonnen. Die Einführung der E-Card wird sich in meh- nicht funktionieren kann. reren Etappen vollziehen. Die verschiedenen Karten- funktionen werden in verschiedenen Ausbaustufen erst Die zentrale Forderung der FDP lautet, die Einfüh- nach und nach zum Einsatz kommen. Die letzte Stufe rung der E-Card auf Eis zu legen, weil – so befürchten wird die umfassende elektronische Patientenakte sein. Sie – die Erfüllung zentraler Anforderungen wie die Da- Bei allen Stufen vorher geht es überhaupt nicht darum, tensicherheit, die Freiwilligkeit und die Gewährleistung dass sensible Patientenakten öffentlich verfügbar ge- eines vertrauensvollen Arzt-Patienten-Verhältnisses nicht macht werden. Es ist sichergestellt, dass die Patienten garantiert sei. Ich kann Ihnen versichern, dass die Union selber und in eigener Verantwortung darüber entschei- die in Ihrem Antrag geäußerten Anliegen und Sorgen den, in welchem Umfang Daten gespeichert oder ge- sehr ernst nimmt. Für uns, die CDU/CSU, haben die Da- löscht werden sollen und wem sie diese Daten zugäng- tensicherheit bei der Einführung der elektronischen Ge- lich machen wollen. sundheitskarte und die Selbstbestimmung des Patienten über seine Daten absolut oberste Priorität. (Zuruf von der FDP: Eben nicht!) (Beifall bei der CDU/CSU) Es gilt das Prinzip der Freiwilligkeit. Jeder Versicherte Es ist auch für uns eine Selbstverständlichkeit, dass muss wissen, dass es allein seine persönliche und frei- die Alltagstauglichkeit der E-Card eine unverzichtbare willige Entscheidung ist, welche Daten gespeichert wer- Voraussetzung für die Einführung in die ärztliche Praxis den und wer sie lesen kann. Es besteht kein Anlass, die ist. Wir wissen aber auch und sollten es ehrlich eingeste- Versicherten und Patienten zu verunsichern; denn die hen, dass anspruchsvolle und hochkomplexe technische verpflichtend auf der E-Card hinterlegten Daten stim- Neuerungen nur selten von heute auf morgen perfekt men im Wesentlichen mit den Informationen überein, die 22800 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Rolf Koschorrek (A) auf der bisherigen Krankenversichertenkarte gespeichert dafür, dass der Schutz und die technische Sicherheit der (C) sind: sensiblen Gesundheitsdaten höchsten Anforderungen entsprechen. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist es!) Die E-Card wurde in enger Abstimmung mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz entwickelt; er Name, Geburtsdatum, Geschlecht, Anschrift und Kran- wird auch die weitere Entwicklung und Anwendung der kenversicherungsnummer. Als zusätzliche verpflich- elektronischen Gesundheitskarte beeinflussen, sie unter- tende Funktion kommt das elektronische Rezept hinzu. stützen und kritisch begleiten. Datensicherheit und Da- Darüber hinaus können die Versicherten und Patien- tenschutz sind im Rahmen unserer gesetzlichen Mög- ten freiwillig persönliche Gesundheitsdaten speichern lichkeiten voll gewährleistet. lassen. Es ist sichergestellt, dass für diesen freiwilligen Die Nutzung der E-Card ist nicht zuletzt auch eine Bereich strenge Datenschutzregeln gelten. Der Zugriff Basis dafür, dass die Nutzung der Telematik im Gesund- auf die Daten ist nur mit der Kombination aus persönli- heitswesen in breitere Bevölkerungskreise Einzug hält. cher Geheimnummer des Patienten und elektronischem Ich bin sicher, dass es bald eine Selbstverständlichkeit Heilberufeausweis möglich, der zentraler Bestandteil sein wird, die Vorteile der Telematik zu nutzen. des Sicherheitskonzepts der E-Card ist. Nur mit dieser Legitimation ist es möglich, Daten von der Gesundheits- Gestatten Sie mir zum Schluss einige ganz persönli- karte zu lesen oder elektronische Rezepte und medizini- che Gedanken zur Telematik, nicht aus Sicht des Politi- sche Daten zu speichern bzw. zu lesen. kers, sondern des Versicherten und Patienten. In einem Land wie der Bundesrepublik Deutschland, einem High- Wer trotz aller Vorkehrungen und Maßnahmen zum techland, erwarte ich im Jahr 2009 vom Gesundheitswe- Schutz der Daten gleichwohl Bedenken hat, wird in eine sen eine Plattform, bei der ich, egal wo ich in Deutsch- Speicherung seiner Gesundheitsdaten sicherlich nicht land einen Arzt oder eine Klinik aufsuche, mit meiner einwilligen. Für diejenigen bleibt hinsichtlich der Kom- Einwilligung, meinem Schlüssel, zusammen mit meinem munikation, Dokumentation, Bereitstellung und Nut- Behandler Zugang zu meinen vollständigen medizini- zung ihrer Gesundheitsdaten alles wie bisher. Das Prin- schen Daten, zu Dokumenten, Bildern, Untersuchungs- zip der Freiwilligkeit ist in diesem System elementar; es ergebnissen und Befunden habe, egal von wem, wann wird auch künftig nicht infrage gestellt. und wo sie erhoben worden sind. (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. (Beifall bei der CDU/CSU) Dr. Carola Reimann [SPD]) Ich weiß – verschiedene neue Umfragen belegen dies (B) Für die Weiterentwicklung unseres Gesundheitswe- eindeutig –, dass diese Erwartung von einer überwiegen- (D) sens, für die Patienten und Leistungserbringer bringt die den Mehrheit unserer Bürger und vor allem der Patienten Vernetzung von Gesundheitsdaten, wie sie mit der Ein- geteilt wird. Dieses Thema ist zu wichtig für die Men- führung der elektronischen Gesundheitskarte möglich schen, als dass man es um den Preis einer Schlagzeile ist, eine ganze Reihe von Vorteilen. Belastende und teure mit populistischen Phrasen wie „Angst vor dem gläser- Mehrfachuntersuchungen wie doppeltes Röntgen oder nen Patienten“ belegen sollte. Lassen Sie uns die Einfüh- doppelte Laboruntersuchungen können vermieden wer- rung neuer Technologien zum Wohle der Patienten kon- den. Ärzte und Patienten haben einen schnelleren und struktiv gestalten! besseren, vollständigen Überblick über den Gesund- heitsstatus, zum Beispiel hinsichtlich Grunderkrankun- Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. gen, Impfungen, Allergien, Vorsorgeuntersuchungen, (Beifall bei der CDU/CSU) des Verlaufs chronischer Erkrankungen und individuel- ler Risiken des Patienten. Das mühsame und zeitaufwen- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: dige Dokumentieren bzw. Suchen von Vorbefunden ent- Nächster Redner ist der Kollege Frank Spieth, Frak- fällt. Die Behandlungsqualität kann verbessert werden, tion die Linke. wenn die Behandlungen besser aufeinander abgestimmt werden und sich sinnvoll ergänzen. Mit der Arzneimit- (Beifall bei der LINKEN) teldokumentation werden Kontraindikationen und Dop- pelverordnungen vermieden. Im Notfall sind wichtige Frank Spieth (DIE LINKE): Daten deutlich schneller verfügbar. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So Meine Damen und Herren! Die Ziele, die Herr muss es sein!) Koschorrek eben erneut formuliert hat, kann man in der Tat zum großen Teil unterstreichen. Die gemeinsame Wir sind als Politiker dafür verantwortlich, dass die Selbstverwaltung hat es nach Einbringung des Gesetzes neuen technischen Möglichkeiten mit all ihren Vorteilen nicht geschafft hat, die datenschutzrechtlichen Voraus- für die Bürger genutzt werden. Zugleich setzen wir uns setzungen für die Einführung der Gesundheitskarte zu für größtmögliche Datensicherheit ein und verfolgen erfüllen. Daher musste das Bundesgesundheitsministe- konstruktiv und kritisch die Aktivitäten der gemeinsa- rium im Oktober 2006 eine Verordnung erlassen, in der men Selbstverwaltung, die in der Gesellschaft Gematik festgelegt wurde, dass die Gesundheitskarte vor ihrer gebündelt sind. Weil wir die Kritik und die Sorgen hin- Einführung einem vierstufigen Testverfahren unterzogen sichtlich der Datensicherheit ernst nehmen, tun wir alles werden muss. Dieses Verfahren ist jetzt geltendes Recht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22801

Frank Spieth (A) und unbedingt einzuhalten. Offenkundig wird sich aber Die Linke fordert deshalb: Die geltenden Daten- (C) die Betreibergesellschaft Gematik nicht daran halten. schutzregelungen müssen ohne Wenn und Aber einge- Der 100 000er-Test soll offenbar nicht durchgeführt wer- halten werden. den. Dennoch wird schon jetzt mit der flächendeckenden Ausgabe der Karten in Nordrhein begonnen. Das ist (Beifall bei der LINKEN) rechtswidrig. Wenn die Bundesregierung ihre eigene Die informationelle Selbstbestimmung der Patienten Verordnung ernst nimmt, müsste sie eingreifen. Tut Sie muss gewahrt werden. Die Gesundheitskarte, die von es nicht, macht sie einen schweren Fehler. den Beitragszahlern mit Milliarden vorfinanziert wird, Nicht nur rechtlich, sondern auch fachlich kritisieren darf nicht zur privaten Profiterzielung nutzbar gemacht wir dieses Vorgehen. Die einzige Technik, die überhaupt werden. Der staatliche Zugriff auf Gesundheitsdaten getestet wurde, waren zentrale Onlinespeicherserver, die muss kategorisch ausgeschlossen werden. Die über Internet erreichbar sind. 100 000er-Tests müssen durchgeführt werden. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Keine Alterna- (Zuruf von der CDU/CSU: Wer fordert denn tive!) etwas anderes?) Überall, wo auf zentralen Servern viele sensible Daten Außerdem muss die dezentrale Offlinelösung tatsächlich gespeichert sind, wachsen natürlich Begehrlichkeiten. getestet werden. Erst danach darf über eine flächende- Durch die Onlinevariante wird es bei allem Datenschutz ckende Ausgabe der Gesundheitskarte verhandelt wer- möglich, darauf zuzugreifen. Der Schlüssel dazu wird den. bei der Ausgabe der Karte von der Krankenkasse erzeugt (Beifall bei der LINKEN – Dr. Karl Addicks und an den Kartenhersteller ausgeliefert. Er wird zudem [FDP]: Gar nicht so schlecht! – Daniel Bahr für den Fall des Verlustes der Karte bei einem soge- [Münster] [FDP]: Das heißt, Sie stimmen un- nannten Treuhänderdienst hinterlegt. An diesen drei serem Antrag zu?) Stellen – Kassen, Kartenhersteller und Treuhänder- dienst – finden sich Angriffspunkte für Interessenten an Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: den Daten. Aber zumindest Krankenkassen, Arbeitge- bern und Versicherungen darf man durchaus ein gewis- Nächste Rednerin ist die Parlamentarische Staats- ses wirtschaftliches Interesse an diesen Daten unterstel- sekretärin Marion Caspers-Merk. len. Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der Am Horizont sehe ich auch schon Herrn Schäuble Bundesministerin für Gesundheit: auftauchen, der diese Daten möglicherweise zur Terror- (B) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (D) bekämpfung haben möchte. Ich muss schon ein bisschen über die Einlassungen stau- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das ist nen, die vonseiten der FDP und vonseiten Herrn Spieths billigster Populismus!) für die Linke vorgetragen wurden. Wir haben doch über Jahre hinweg darüber diskutiert, dass die Missbrauchs- Mit dem jetzt vorhandenen Gesetz ist nach meiner Auf- möglichkeiten der jetzigen Karte enorm sind. Gerade im fassung nicht gewährleistet, dies zu verhindern. Die Vor- Fachausschuss wurde immer wieder kritisiert, dass die ratsdatenspeicherung der Telefon- und E-Mail-Verbin- Datenunsicherheit der jetzigen Krankenversicherten- dungsdaten zeigt schon jetzt, wie einfach es ist, Daten, karte, die nicht spezifisch gesichert ist, groß ist die zunächst für Rechnungszwecke gespeichert wurden, nun zur Bekämpfung von Kriminalität heranzuziehen. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Kein Wider- spruch!) Wenn man an der Onlinevariante der Gesundheits- karte festhält, dann muss nach meiner Auffassung we- und dass wir aus diesem Grunde eine neue elektronische nigstens der Schutz der Daten Verfassungsrang haben. Gesundheitskarte brauchen, die einen deutlichen Mehr- Dieses Problem könnte mit einer dezentralen Offlineva- wert hat. Darin waren wir uns einig. riante der Karte, zum Beispiel einem USB-Stick, gelöst Interessant ist doch, dass selbst die Dinge, die im werden. Die Firma Gematik hat im Oktober 2008 der Fachausschuss klar waren – der Datenschutzbeauftragte Ärzteschaft zugesagt, diese dezentrale Speichermöglich- war doch bei uns –, von Ihnen überhaupt nicht mehr dar- keit zu erproben. Das ist bislang nicht geschehen. Ich gestellt werden. Ich zitiere Ihnen gerne aus dem jüngsten vermute, dass eine ernsthafte Prüfung auch nicht mehr Brief des Datenschutzbeauftragten an Frau Pfeiffer vom stattfinden wird; andernfalls schaffte man in Nordrhein Spitzenverband Bund der Krankenkassen, in dem er keine vollendeten Tatsachen. schreibt: (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ablenkung!) Im Zusammenhang mit der Roll-out-Planung sind Für die gesetzlich vorgesehenen Funktionen der Karte in den letzten Wochen einige Fragen mit erhebli- benötigt man keine zentralen Onlineserver. Aber man cher datenschutzrechtlicher Brisanz diskutiert wor- will sie durchsetzen, weil man sie für die sogenannten den. Vor allem die Frage der Verbesserung des Mehrwertdienste nutzen will. Dahinter verbergen sich Schutzniveaus der Versichertendaten durch die viele Anwendungen, mit denen private Firmen Gewinn elektronische Gesundheitskarte war Gegenstand erzielen können. Ob diese Anwendungen der Gesundheit zahlreicher Schreiben. Dabei habe ich deutlich ge- nutzen, ist nach meiner Auffassung sehr fraglich. macht, dass mein Anliegen die schnellstmögliche 22802 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk (A) Beseitigung des technologisch begrenzten Schutz- Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der (C) niveaus der derzeitigen Krankenversichertenkarte Bundesministerin für Gesundheit: ist. Ich sehe durch die Einführung der elektroni- Herr Kollege Bahr, das, was Sie sagen, ist falsch. Ers- schen Gesundheitskarte sowohl in diesem konkre- tens. Die AOK Rheinland ist nicht gegen die Ausgabe ten Fall als auch in anderen Fällen eine große der Versichertenkarte; sie möchte vielmehr weitere Prü- Chance, eine generelle Verbesserung des Daten- fungen, was die Fragen der Onlinenutzung und des Roll- schutzniveaus zu erreichen. outs angeht. Aber die Karten werden planmäßig ausge- teilt. Das rückt die Dinge doch wieder zurecht. Zweitens. Die privaten Krankenversicherungen möch- Die neue Karte hat ein höheres Schutzniveau, und sie ten gerne mitmachen, sie möchten aber eine klare Basis, löst die alte Karte mit einem niedrigeren Schutzniveau um auf dieser Grundlage ihre Entscheidung weiterhin ab. Was will die FDP? Sie will ein innovations- und fort- vertreten zu können. schrittsfeindliches Moratorium. Sie springen von einem fahrenden Zug ab, nur um sich Überschriften zu sichern. Drittens. Wenn Sie sich die Geschichte der elektroni- schen Gesundheitskarte anschauen, dann stellen Sie fest, (Dr. Karl Addicks [FDP]: Nein!) dass wir immer dafür sorgen mussten, dass diese Innova- tion überhaupt voranging, und dass immer wieder ein- Das kann von uns auf keinen Fall gutgeheißen werden. mal Sperrfeuer von Einzelnen kam, die sich vor der Transparenz fürchten, die die neue Karte bietet. Das ist (Beifall bei der SPD – Daniel Bahr [Münster] der eigentliche Grund. Die Kreise, die das verhindern [FDP]: Die PKV steigt aus, die AOK Rhein- wollen, bedienen Sie noch mit Ihrem Antrag. land gibt die Karte nicht aus!) (Frank Spieth [DIE LINKE]: Aber die AOK Wenn man sich Ihren Antrag anschaut, dann muss man Rheinland ist derzeit nicht bereit, die Karte Folgendes feststellen: Sie haben auf der einen Seite – – auszugeben!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wenn man begrün- Überhaupt nicht begreifen kann ich, dass Sie das dete Zweifel hat, sollte man sie äußern!) Thema PIN noch einmal problematisieren. Gerade die PIN und der doppelte Schutz durch die beiden Zugangs- – Herr Bahr, Sie können gerne eine Zwischenfrage stel- schlüssel war der Grund, warum der Datenschutzbeauf- len. Das verlängert meine Redezeit. Ich bin dazu bereit. tragte von einem hohen Schutzniveau sprach. Jetzt pro- blematisieren Sie die PIN, die sich eigentlich überall (B) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: bewährt hat. Ich kann Sie da nicht ganz verstehen. Was (D) Herr Kollege Bahr, überwiegend hat in einer Debatte wollen Sie denn nun: ein höheres oder ein niedrigeres die Rednerin das Wort. Wenn Sie etwas sagen wollen, Schutzniveau? dann stellen Sie eine Zwischenfrage. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: In den Test- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das mache ich regionen wird das problematisiert!) jetzt!) Frau Kollegin Bender, Sie haben nach mir die Gele- genheit, uns den Gesinnungswandel der Grünen ausführ- Gestatten Sie eine Zwischenfrage? lich zu erläutern.

Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundesministerin für Gesundheit: NEN]: Gerne!) Gerne. Ich muss mich schon sehr wundern: Die einen sagen, wir brauchen ein Moratorium, weil noch gar nicht klar ist, zu wie vielen Anwendungen es wirklich kommt und ob es Daniel Bahr (Münster) (FDP): sich rechnet, und Sie sagen jetzt, die Anwendungen sind Frau Staatssekretärin, Sie erwecken den Eindruck, als bei den Leistungserbringern freiwillig. Bei Freiwilligkeit ob alles fantastisch läuft. Ich möchte nur einmal an die der Nutzung der Versichertendaten sind die Kosten des Nachrichten der letzten Tage erinnern. Der Verband der technologischen Projektes überhaupt nicht effizient zu privaten Krankenversicherung hat öffentlich gesagt, dass berechnen. Was ist das für eine Haltung? er aussteigt. Vertreter der gesetzlichen Krankenkassen lassen sich mit der Aussage in den Zeitungen zitieren, (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das Projekt der elektronischen Gesundheitskarte sei poli- NEN]: Das erkläre ich Ihnen gleich!) tisch tot. Die AOK Rheinland weigert sich, in Nord- Schließlich haben Sie an der Einführung mitgewirkt. rhein, wo die erste Umsetzung dieses Projektes stattfin- Man staunt schon über die verschiedenen Roll-backs, die den soll, die Karten weiter auszugeben, weil wesentliche wir bei der elektronischen Gesundheitskarte zu verzeich- Fragen aus Sicht der AOK Rheinland noch nicht geklärt nen haben. sind. Sie tun so, als ob alles funktioniert und die FDP nur einen Schauantrag stellt. Das entspricht doch überhaupt (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die Grünen nicht der Nachrichtenlage der letzten Tage. sind halt schlauer geworden!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22803

Parl. Staatssekretärin Marion Caspers-Merk (A) Ich bleibe dabei: Das ist ein wichtiges Projekt, das mit (Dr. Karl Addicks [FDP]: Sagen Sie es hier ru- (C) Innovationen für Patientinnen und Patienten verbunden hig noch einmal!) ist. Wir können nicht zurück in die technologische Stein- zeit, sondern wir müssen dahin kommen, dass der Pa- Ich beantworte diese Fragen aber gern noch einmal im tient und die Patientin letztlich darüber entscheiden, wie Plenum. ihre Daten verwendet werden. Sie müssen in die Lage (Frank Spieth [DIE LINKE]: Genau, öffent- versetzt werden, zum Beispiel ihre elektronische Patien- lich!) tenakte einzusehen oder dafür zu sorgen, dass die Infor- mationen zwischen den einzelnen Arztgruppen fließen. Zur ersten Frage. Wir haben Ihnen schon damals er- Dieser Mehrwert für die Patientinnen und Patienten kann läutert, dass die 100 000er Testphase durchgeführt und einfach nicht hoch genug angesetzt werden. in die Roll-out-Phase integriert wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!) Deswegen liegt unseres Erachtens kein Rechtsverstoß Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: vor. Ich muss Sie jetzt fragen, ob der Kollege Spieth noch eine Zwischenfrage stellen darf? Zur zweiten Frage. Das Thema USB-Stick wird be- wertet werden. Es gibt grundsätzliche Bedenken hin- sichtlich der Datensicherheit. Deshalb ist die Frage der Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der Anwendung anders als die Frage der Bewertung von Bundesministerin für Gesundheit: Chancen und Risiken. Eine solche Bewertung wird Ich habe meine Redezeit schon überschritten. selbstverständlich vorgenommen. Auch das habe ich Ih- nen bereits vor 14 Tagen erläutert. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Schönen Dank. Nein, Sie sind noch in Ihrer Redezeit; sonst würde ich die Zwischenfrage nicht zulassen. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Frau Kollegin, mir liegt ein weiterer Wunsch nach ei- Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der ner Zwischenfrage vor, und zwar des Kollegen Ströbele. Bundesministerin für Gesundheit: Dann gerne. Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der (B) Bundesministerin für Gesundheit: (D) Frank Spieth (DIE LINKE): Gerne. Herzlichen Dank für die Zulassung meiner Zwischen- frage. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE Frau Staatssekretärin, zwei konkrete Fragen. Erstens. GRÜNEN): Das BMG hat 2006 ein vierstufiges Testverfahren fest- Vielen Dank, Frau Staatssekretärin, dass ich noch die gelegt, das vor der flächendeckenden Einführung der Gelegenheit zu dieser Frage bekomme. Gesundheitskarte zu realisieren ist. Der letzte Test, ge- nauer: drei Tests mit 100 000 Versicherten, die in drei Ich bestreite nicht, dass es Überlegungen gibt, die da- Regionen in Deutschland durchgeführt werden sollten, für sprechen, eine solche Gesundheitskarte einzuführen. werden offenkundig nicht mehr durchgeführt. Ist das (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie haben ja richtig oder falsch? seinerzeit zugestimmt, Herr Ströbele!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das haben wir Was sagen Sie zu dem sogenannten Mautdateien-Argu- auch schon mehrfach gefragt!) ment – es spielt in der öffentlichen Diskussion eine ganz Zweitens. Ist die Zusage der Selbstverwaltung gegen- erhebliche Rolle, gerade bei den Datenschützern, bei be- über der deutschen Ärzteschaft, dass eine USB-Stick- sorgten Initiativen –, dass dann, wenn Daten in einer Da- Lösung, also eine Lösung, die eine dezentrale Speiche- tei gespeichert und verfügbar sind, immer wieder Be- rung vorsieht, gefunden werden soll, eine Zusage, die gehrlichkeiten geäußert werden, diese Daten für alle vor einer flächendeckenden Ausrollung der Gesund- möglichen anderen Zwecke zu nutzen, heitskarte eingehalten werden muss und wird, ja oder (Frank Spieth [DIE LINKE]: Die Maut!) nein? und dass das Vertrauen der Bevölkerung darauf, dass ein solcher Missbrauch, also eine Nutzung dieser Daten für Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der anderweitige Zwecke, durch ein Gesetz ausdrücklich Bundesministerin für Gesundheit: ausgeschlossen ist, zutiefst erschüttert ist, seitdem der Herr Kollege Spieth, gerne beantworte ich Ihnen Umgang der Bundesregierung mit der Mautdatei be- diese Fragen. Sie hatten bereits Gelegenheit, mit der kannt geworden ist? Fachabteilung unseres Hauses genau diese beiden Fra- gen zu erörtern. Vor 14 Tagen fand dazu ein Treffen mit (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE dem zuständigen Referatsleiter statt. LINKE]: Zum Beispiel!) 22804 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Hans-Christian Ströbele (A) Nachdem der entsprechende Gesetzentwurf verabschie- Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: (C) det und diese Datei angelegt worden war, hat die Bun- Nächste Rednerin ist die Kollegin Birgitt Bender, desregierung das Gesetz geändert, um die zu einem ganz Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. anderen Zweck – zum Erheben von Gebühren – erhobe- nen Daten anderen Zwecken zuführen. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Wer hat denn Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie die elektronische Karte beschlossen, Herr man die elektronische Gesundheitskarte gegen die Wand Ströbele? Das waren doch die Grünen! Sie ha- fahren kann, hat vor wenigen Wochen der Vorstandsvor- ben überall mitgemacht!) sitzende einer großen westdeutschen Krankenkasse vor- Seitdem ist nicht mehr das nötige Vertrauen in die Poli- geführt; davon war schon die Rede. Wenn man sagt, wir tik und in den Gesetzgeber vorhanden, dass einmal ange- machen das mit der Karte nur, wenn Ärztinnen und legte Dateien sicher sind. Was sagen Sie dazu? Ärzte verpflichtet werden, am späteren Onlinebetrieb der Karte teilzunehmen, dann wird man die Karte gegen die Wand fahren. Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Gesundheit: (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr richtig!) Sehr geehrter Herr Kollege Ströbele, das gibt mir Ge- Es scheint noch nicht bei allen Beteiligten angekom- legenheit, Ihnen noch einmal zu erläutern, dass seit 2004 men zu sein – Frau Staatssekretärin, das ist auch eine ein Zugriffsverbot gesetzlich geregelt ist. Mahnung an Sie –, dass es sich nicht um ein herkömmli- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE ches Großprojekt handelt, bei dem man vielleicht hoffen GRÜNEN]: Das steht im Mautgesetz auch!) kann, es einfach so durchdrücken zu können. Bei der elektronischen Gesundheitskarte ist klar: Sie ist auf die Dieses Verbot kann nicht umgangen werden. Wer illega- Akzeptanz ihrer potenziellen Anwenderinnen und An- lerweise auf Daten zugreift, macht sich strafbar. Weil es wender angewiesen; denn die Funktionen, die über die sich um sensible Patientendaten handelt, haben wir das Speicherung der Verwaltungsdaten und das elektroni- im Gesetzgebungsverfahren mit einem hohen Sicher- sche Rezept hinausgehen, lassen sich – richtigerweise – heitsniveau verankert. Ich bin Ihnen für die Frage wirk- nur mit Zustimmung der Patienten und Patientinnen akti- lich sehr dankbar. Mit dieser Patientendatenstruktur ha- vieren. Wenn Sie sie dafür nicht gewinnen, dann wird ben wir ein hohes Schutzniveau sichergestellt. Man die E-Card nichts anderes bleiben als eine Krankenver- braucht zwei Schlüssel, um an die Daten heranzukom- sicherungskarte mit Foto. Eine solche hätte man deutlich men, nämlich vom Patienten und vom Leistungserbrin- (B) schneller und billiger haben können. (D) ger, der den elektronischen Heilberufsausweis hat. Mit der PIN gibt es einen zusätzlichen Schutz. Wir haben im Ob sich Patienten und Patientinnen für oder gegen die Gesetzgebungsverfahren geregelt, dass die Daten nicht Gesundheitskarte entscheiden, wird auch davon abhän- für andere Zwecke an Dritte, weder an Arbeitgeber noch gen, wie sich die sie behandelnden Ärzte und Ärztinnen an staatliche Stellen, weitergegeben werden dürfen. Da- sowie Angehörige anderer Gesundheitsberufe dazu ver- mit haben wir sehr frühzeitig und in enger Kooperation halten. Wie sie sich aufstellen werden, wenn sie zur mit dem Bundesdatenschutzbeauftragten für ein hohes Onlineanwendung der Karte gezwungen werden, kann Datensicherheitsniveau gesorgt. man sich vorstellen, wenn man daran denkt, was Ärztin- nen und Ärzte sonst so tun, wenn sie Kritik vorzubringen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE haben. Das Freiwilligkeitsprinzip muss also auch für sie GRÜNEN]: Damit haben wir keinen Schutz gelten. gegenüber dem Gesetzgeber!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Es gibt für die E-Card viele gute Argumente. Sie Herr Kollege Ströbele, das geht jetzt nicht mehr. schafft die informationstechnische Grundlage für mehr Zusammenarbeit im Gesundheitswesen. Sie kann für (Dr. Karl Addicks [FDP]: Wir sind hier nicht mehr informationelle Selbstbestimmung der Patientin- in der Fragestunde, Herr Kollege!) nen und Patienten sorgen. Sie kann insbesondere zum Das Wort hat die Staatssekretärin Caspers-Merk. Oder Patientenschutz beitragen, indem sie einen Damm gegen sind Sie mit Ihrer Rede am Ende? die drohende Kommerzialisierung elektronischer Patien- tenakten errichten hilft. Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei der (Frank Spieth [DIE LINKE]: So ist es! Genau Bundesministerin für Gesundheit: das ist der Punkt!) Ja. Das war eigentlich keine Zwischenfrage, sondern eine Frage am Ende meiner Rede. Ich habe natürlich Angebote privater Firmen, die durch ihre Anbindung an sehr gern die Gelegenheit genutzt, die Redezeit zu ver- das Internet höchst unsicher sind und keine Gewähr da- längern. Vielen Dank, Herr Kollege Ströbele. für bieten, dass die Patientendaten nicht kommerziell weiterverwendet werden, wollen wir nicht. Im Vergleich (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der dazu sind die Regelungen für die E-Card unter daten- SPD) schutzrechtlichen Aspekten nahezu vorbildlich. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22805

Birgitt Bender (A) (Beifall der Abg. Silke Stokar von Neuforn Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) – vorletzter Satz –, von Ihrer. Sie vertrauen offenbar darauf, dass es dann, wenn man den Prozess jetzt einfach Das ändert aber nichts daran – daran kann man politisch stoppt und Experten beauftragt, sich damit zu beschäfti- nicht vorbeigehen –, dass es in Teilen der Ärzteschaft gen, besser wird. und auch unter Bürgerrechtlern Befürchtungen im Hin- blick auf den Datenschutz gibt. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie lassen es weiterlaufen!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Berechtigte!) Gerade so sehen wir das nicht. Wir wollen, dass es unter Die notwendige Akzeptanz für die Karte wird deshalb Einbeziehung der betroffenen Gruppen weitergeht, da- nur zu erreichen sein, wenn die Bundesregierung wirk- mit aus der E-Card etwas Gutes wird, was den Patienten lich glaubhaft machen kann, dass die gesetzlichen Ga- nützt. rantien für den Datenschutz strikt eingehalten werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie lassen es des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE]) weiterlaufen!)

In diesem Zusammenhang, lieber Herr Kollege Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Koschorrek, war Ihr Vergleich mit dem Mautgesetz nicht Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Eike passend. Da war es doch genau so, dass der liebe Herr Hovermann, SPD-Fraktion. Schäuble, kaum dass die Datei existierte, schon Zugriff auf die Daten nehmen wollte. Eike Hovermann (SPD): (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Genau, richtig! Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Das geht nach hinten los!) Herren! Ich möchte mich zuerst an die wenden, die die Datensicherheit beklagen. Als einer der größten Kenner Für die Gesundheitsdaten muss daher gelten: Sie müssen in puncto Datensicherheit weiß ich, wie viele Millionen für alle Zeiten vor der Datenkrake Schäuble sicher sein. und Milliarden Daten ungeschützt vagabundieren oder Dafür werden wir kämpfen. auf Datenfriedhöfen liegen. Das gilt insbesondere auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für das alte System. Wenn nun ein Kollege beklagt, dass sowie bei Abgeordneten der FDP und der LIN- es Interesse daran gibt, auf die Daten des neuen Systems KEN) zuzugreifen, hat er offensichtlich in seiner jahrelangen (B) parlamentarischen Arbeit nicht begriffen, dass das bishe- (D) Datenschutz ist eben keine unzulässige Zumutung ge- rige System – ich wiederhole es – so löchrig war wie ein genüber dem reibungslosen Betrieb der Informa- Schweizer Käse und bisher im Grunde genommen allen tionstechnik, sondern ein Grundrecht der Bürgerinnen möglichen Interessen offengestanden hat. und Bürger. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Da hat er recht! – In der Diskussion um diese Karte dominieren bisher Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Was ist das für technische, gesundheitspolitische, auch industriepoliti- ein Argument?) sche Aspekte. Wenn die Gesundheitskarte aber tatsäch- Zweite Bemerkung zu diesem Thema: Wir sollten lich das halten soll, was sich viele von ihr versprechen, eine möglichst produktive Diskussion führen. Ich habe muss für ihre weitere Ausgestaltung die Patientenper- aber das Gefühl – es wäre schön, wenn mich an dieser spektive zu einem entscheidenden Kriterium werden. Stelle mein Gefühl trügen würde –, dass sie mittlerweile Dann müssen sich auch verschiedene Gruppen von Pa- schon in den Strudel des Wahlkampfes der Wahl im Sep- tientinnen und Patienten darin wiederfinden können, tember 2009 gerät. nicht nur der junge IT-Freak, der mit einer solchen Karte sicherlich gut zurechtkommt, sondern auch ältere oder Dritte Anmerkung: Die Datensicherheit im neuen behinderte Menschen. Vor diesem Hintergrund muss System wird dank der Chipkarte und der anderen Instru- auch der Grundsatz der Barrierefreiheit beachtet werden. mente, die hier schon geschildert worden sind, um ein Vielfaches höher liegen als früher; aber man kann natür- Probleme mit der praktischen Handhabbarkeit der lich nicht sagen, dass es überhaupt nicht anfällig ist. Karte, die wir bereits erlebt haben, müssen vor der Onli- neschaltung der Karte ausgeräumt werden. Die Patien- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Noch viel tinnen und Patienten müssen Beratungsangebote erhal- mehr Daten!) ten. Die Patientenverbände müssen einbezogen werden. Es wird immer entsprechende Interessen geben. In An- Kurzum, hier wird ein dialogischer Prozess mit den be- hörungen wurde uns ja von Verbänden mitgeteilt, dass troffenen Gruppen stattfinden müssen. Diese meine Auf- Hackerklubs, zum Beispiel in , bisher fast je- fassung unterscheidet sich allerdings deutlich, Herr Kol- des System geknackt haben. Es besteht natürlich auch lege Bahr – jetzt ein hohes Interesse, dieses System mit seinen vielen Daten zu knacken. Vizepräsidentin Dr. h. c. Susanne Kastner: Im Rahmen der Diskussion ist etwas Wertvolles ge- Frau Kollegin Bender. schehen: Wir haben mit den Patientenbeauftragten, den 22806 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Eike Hovermann (A) Datenschützern – ein Vertreter eines Hackerklubs war über andere Quellen – Stichwort: duale Finanzierung – (C) übrigens auch dabei – und Vertretern von verschiedenen finanziert. Spitzenorganisationen die Frage diskutiert, wie wir die Daten in einem sich immer weiter verbessernden Prozess Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: so schützen können, dass der Zugriff auf diese nicht so Herr Kollege! fürchterlich leicht möglich ist, wie es bisher der Fall war; ich könnte dafür mehrere Beispiele bringen. Eike Hovermann (SPD): Herr Bahr, Sie lesen die Welt sicherlich mehr als ich. Dadurch entsteht an dieser Stelle die Angst, dass es (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Woher wollen eine ungleiche Belastung für die freien Berufe gibt, für Sie das wissen?) die Sie ständig auf allen möglichen Podiumsdiskussio- nen eintreten. – Diese Zeitung ist Ihnen geneigter als vielleicht die taz. – Ich will auf die Anzeige eingehen, die dort in der Aus- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: gabe vom Montag dieser Woche abgedruckt war. Lesen Sie sie einmal nach. Der Spitzenverband Bund vergrö- Herr Kollege! ßert die Abteilung, die sich mit diesem Thema befasst, extensiv, und zwar in dem Wissen, dass in Richtung Mo- Eike Hovermann (SPD): dellverträge und Strukturverträge – beides wollen Sie – Bin ich schon fertig? und im Hinblick auf § 140 a SGB V, Integrierte Versor- gung, diese Chipkarte ein unverzichtbares Instrument ist, (Heiterkeit) um das Ziel, die Segmentierung in ambulant und statio- när zu überwinden – auch das wollen Sie –, auch nur an- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nähernd zu erreichen. Ziemlich. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Chipkarte nicht!) Eike Hovermann (SPD): Ich halte es daher für wünschenswert, weiter nach Lö- – Da haben Herr Hess, die Vertreter des Spitzenverban- sungen zu suchen, auch im Hinblick auf die Entwicklung des Bund und der Deutschen Krankenhausgesellschaft einer europäischen Chipkarte. Mit Blick auf die Sicher- wohl unrecht. Herr Bahr, wir nehmen Ihre Meinung zur heit der Patienten nicht nur in unserem Land wäre ich Ih- Kenntnis. nen sehr verbunden, wenn Sie ab Oktober – dann hat (B) Frau Kollegin Bender, Sie haben vorhin die Finanzie- sich die Koalition wieder gebildet – mit uns an einem (D) rung angesprochen und das Schlagwort vom „gläsernen Strang ziehen würden. Patienten“ benutzt. Zur PKV nur noch dies: (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie mich wohl verwechselt!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Herr Kollege, ich bin jetzt auch fertig. – Dann war es Herr Bahr.

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das war Herr Eike Hovermann (SPD): Koschorrek!) Die PKV ist nicht ausgestiegen. Der Verband hat ge- – Irgendeiner hat es mit „gläsernem Arzt“ verwechselt. sagt, dass Einzelne so weitermachen. Ich sage Ihnen: Aber lassen Sie mich diesen Gedanken zu Ende führen, Diese werden alle in die elektronische Gesundheitskarte weil ich nicht mehr so viel Redezeit habe. investieren. Die Diskussion außerhalb der Verbände zeigt sehr Vielen Dank für die Geduld. deutlich, dass im Zuge einer E-Card Behandlungspfade (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) verfolgt werden können und nachgewiesen werden kann, was im Rahmen einer Behandlung vielleicht falsch ge- laufen ist. Das haben manche Ärzte nicht so gerne und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wollen dies verhindern, indem sie – aus Angst vor dem Damit schließe ich die Aussprache. „gläsernen Arzt“ – vor dem „gläsernen Patienten“ war- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf nen, also die Argumentation verdrehen. den Drucksachen 16/11245 und 16/12289 an die in der Die anderen Argumente gegen die E-Card haben ei- Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – nen etwas tieferen Hintergrund. Sie betreffen nämlich Offenbar sind Sie damit einverstanden. Dann ist das so die Frage der Finanzierung. Es ist wohl richtig, dass im beschlossen. ambulanten Bereich ein übergroßer Anteil der Finanzie- Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 9 auf: rung von den Ärzten in den einzelnen Praxen aufge- bracht werden muss. Dagegen wird im stationären Be- – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio- reich – wir sollten offen darüber reden; es sei denn, Sie nen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten legen darauf keinen Wert – ein Großteil des Equipments Entwurfs eines Gesetzes zur Fortführung der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22807

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Gesetzeslage 2006 bei der Entfernungspau- (Jan Mücke [FDP]: Die SPD hatte im Wahl- (C) schale programm, dass sie die Mehrwertsteuer nicht erhöhen will!) – Drucksache 16/12099 – Als Sozialdemokraten haben wir in dieser Frage eine Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- klare Position gehabt. Wir waren für die Beibehaltung schusses (7. Ausschuss) der Pendlerpauschale in der bisherigen Form. – Drucksache 16/12299 – (Jan Mücke [FDP]: Bei der Beibehaltung von Berichterstattung: 16 Prozent!) Abgeordnete Leo Dautzenberg Die Grünen haben zur Pendlerpauschale die Vorstel- Florian Pronold lung entwickelt, sie um die Hälfte zu reduzieren. Auch – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss) dies war verfassungswidrig, weil diese die tatsächlichen gemäß § 96 der Geschäftsordnung Kosten nicht mehr abgedeckt hätte. Dieser Grundsatz ist jedoch bei der Gewährung einer Pauschale einzuhalten. – Drucksache 16/12302 – Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzung sind Berichterstattung: dann die letzten Bundestagswahlen bestritten worden. Abgeordnete Steffen Kampeter (Erfurt) In der Koalitionsverhandlung zwischen CDU/CSU und SPD haben sich die Sozialdemokraten an verschie- Roland Claus denen Punkten durchgesetzt. Bei der Pendlerpauschale Alexander Bonde hat sich überwiegend die CDU/CSU durchgesetzt. Hierbei ist vorgesehen, eine halbe Stunde zu debattie- (Lachen des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach ren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist auch [CDU/CSU] – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE das so beschlossen. LINKE]: Na, na, na!) Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort dem – Das kann jeder nachlesen. Kollegen Florian Pronold für die SPD-Fraktion. (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Keine Geschichtsklitterung!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) – Sie kennen offenbar die Geschichte nicht. Man braucht Florian Pronold (SPD): sie nicht zu klittern, sondern muss sie einfach so erzäh- (B) Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau len, wie sie ist. (D) Präsidentin! Nicht zum ersten Mal, sondern zum wieder- Dann hatten wir im Finanzausschuss des Deutschen holten Mal – vielleicht aber abschließend für diese Bundestages eine Anhörung, Wahlperiode – steht uns eine spannende Debatte zur Pendlerpauschale ins Haus. Wir haben sie schon des Öf- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- teren geführt. Es gibt zwar nicht mehr viel Neues, was NEN]: Die war spannend!) man dazu sagen kann. Aber man kann bestimmte Dinge in der kein Einziger der dort anwesenden Fachleute sich durchaus noch einmal herausstreichen. für die Lösung ausgesprochen hat, die die CDU/CSU in Wenn man sich mit der Geschichte der Pendlerpau- der Koalition durchgesetzt hat. Dann haben wir von der schale beschäftigt und antizipiert, welche Positionen SPD den Versuch unternommen, die geplante Regelung meine nachfolgenden Rednerinnen und Redner vertreten zu ändern. Dies ist vehement abgelehnt worden, insbe- werden, muss man sich vergegenwärtigen: Was war sondere von der CSU. Dann haben wir die Lösung der 2005? Was war die Ausgangslage? CDU/CSU in Treue zur Koalitionsverabredung in das Gesetz übernommen. Die CDU und die CSU haben ein gemeinsames Wahl- programm vorgelegt. Darin stand die deutliche Kürzung (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- der Pendlerpauschale. Ein gewisser Erwin Huber hat an NEN]: Wer stellt denn eigentlich den Minis- diesem Wahlprogramm wesentlich mitgewirkt. ter?) Die FDP redet immer von „Steuersenkungen“ und hat – Sie wissen schon, wer der Gesetzgeber ist, Frau Kolle- „tolle steuerpolitische Konzepte“; die Anführungszei- gin Scheel. chen und die Ironie bitte ich zur Kenntnis zu nehmen. (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das weiß ich schon! Ich weiß aber (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sind aber auch, wer die Vorlage gemacht!) unangebracht!) Die Verantwortung müssen natürlich wir als Gesetzgeber – Überhaupt nicht. – Mit dem Stichwort der Steuerver- auf uns nehmen. Das haben wir in diesem Fall gemacht. einfachung ist die Absicht verbunden, den kleinen Leu- Trotz großer Bedenken haben wir diese Lösung dann in ten, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern – sei es das Gesetz geschrieben. bei der Steuerfreiheit der Zuschläge für Nachtschichten und für Sonntagsarbeit, sei es bei der Pendlerpauschale – Dann gab es die ersten Urteile der Finanzgerichte. Sie an den Geldbeutel zu gehen. waren unterschiedlich. Seitens der sozialdemokratischen 22808 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Florian Pronold (A) Fraktion haben wir dann noch einmal einen Anlauf un- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wir (C) ternommen und gesagt: Lasst uns nicht das Bundesver- haben heute doch keine Märchenstunde! Das fassungsgerichtsurteil dazu abwarten, sondern lasst uns ist ja unglaublich!) die Regelung gleich ändern. Das alles ist dokumentiert; Obwohl die Kollegen es in der Finanz-AG abgelehnt ha- das kann man nachlesen. ben, das so zu regeln, wie wir das wollten, hat Herr (Dr. Volker Wissing [FDP]: Der sozialdemo- Seehofer einen gleichlautenden Antrag eingebracht. kratische Minister war dagegen!) Die entscheidende Frage ist eigentlich nicht: Pendler- Dann ist es leider wieder an unserem Koalitionspartner pauschale – ja oder nein?, sondern: Wer hat den Schwar- gescheitert. zen Peter? In diesem Fall gibt der Name einen Hinweis darauf, wo er hingehört. Wer sich die Entwicklung an- (Dr. Volker Wissing [FDP]: An Ihrem Minister schaut – angefangen beim Wahlprogramm –, stellt fest, ist es gescheitert!) dass der Schwarze Peter bei den Schwarzen ist. – Nein, an ihm ist es nicht gescheitert. Das steht alles in (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]: der Zeitung. An anderer Stelle können Sie die Fakten, Nur, wer ist Peter bei denen?) die Sie brauchen, immer sehr gut herausfinden. Viel- Heute beenden wir diese Debatte und schaffen leicht lesen Sie auch einmal das, was Ihnen nicht in den Rechtssicherheit. Kram passt und was die Wahrheit ist. In diesem Fall ist das alles sehr gut dokumentiert. In den Veröffentlichun- (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) gen vom November 2007 kann man das alles nachlesen. Wir sorgen dafür, dass die Menschen, die lange Wege auf sich nehmen, um zum Arbeitsplatz zu kommen, wie- Nach der bayerischen Kommunalwahl wurde es auf der die Pendlerpauschale erhalten. Debatte hin, Debatte einmal spannend. Derselbe Erwin Huber, der vorher der her, das ist ein gutes Ende, über das sich alle freuen kön- Totengräber der Pendlerpauschale war, nen. (Lachen des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach Herzlichen Dank. [CDU/CSU]) (Beifall bei der SPD – Dr. Martina Krogmann hat sich als Voodoo-Priester geriert und wollte sie wieder [CDU/CSU]: Ganz schwache Rede! – zum Leben erwecken. Das war ein durchaus spannender Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: und erhellender Moment. Aber Applaus verlangst du jetzt keinen von (B) uns, oder?) (D) (Jan Mücke [FDP]: Wie sprechen Sie denn über Ihren Koalitionspartner? Voodoo in der Großen Koalition!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Volker Wissing hat jetzt das Wort für die FDP-Frak- Aber es war wiederum die Führung der CDU/CSU-Frak- tion. tion, die das Ansinnen der Sozialdemokraten, die Rege- (Beifall bei der FDP) lung sofort zu ändern und das Bundesverfassungs- gerichtsurteil nicht mehr abzuwarten, abgelehnt hat. Dr. Volker Wissing (FDP): (Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ihr Frau Präsidentin, ich danke Ihnen. – Liebe Kollegin- habt unseren Antrag abgelehnt!) nen und Kollegen! Es ist schon erstaunlich, was wir uns von der Großen Koalition bieten lassen müssen. Als das Bundesverfassungsgerichtsurteil vorlag, war die spannende Frage: Was machen wir jetzt? Greifen wir (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE das Thema auf und regeln es sozusagen für die Vergan- GRÜNEN]: Wohl wahr!) genheit, um absolute Rechtssicherheit zu schaffen, oder Die einen behaupten, die CDU/CSU hätte die Pendler- schaffen wir diese Rechtssicherheit im Zuge der Neu- pauschale abgeschafft; gleich werden wir von den ande- regelung einer Pendlerpauschale, die angesichts der un- ren hören, dass die SPD die Pendlerpauschale abge- terschiedlichen Ansichten in diesem Haus und innerhalb schafft hat. der Koalition im Hinblick auf die Zukunft nicht hinzube- kommen ist? Wir Sozialdemokraten haben dazu gesagt: (Iris Gleicke [SPD]: Das wäre dann aber Lasst nicht zu, dass die Steuerbescheide vorläufig erge- geschwindelt!) hen. Dazu hieß es wiederum: Das ist alles ganz klar; die Sie waren das beide! Sie haben beide zugestimmt. Sie Rückwirkung brauchen wir nicht zu regeln; lasst uns ein waren beide anwesend, als alle Sachverständigen im Eilgesetz machen; wenn wir das für die Zukunft regeln, Finanzausschuss unisono – auch die, die Sie benannt ha- dann lasst uns das auch für die Vergangenheit regeln; die ben – erklärt haben, dass Ihre Regelung mit dem Grund- Leute bekommen ihr Geld. – Dieselben Kollegen von gesetz der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar der CSU, die es in der Finanz-AG abgelehnt haben, diese ist, dass sie keinen Bestand haben kann. Sache zu regeln, haben über Herrn Seehofer eine Bun- desratsinitiative eingebracht, um Rechtssicherheit zu (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE schaffen. GRÜNEN]: So war es!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22809

Dr. Volker Wissing (A) Wenn man die Sachverständigen der Koalition gefragt – Nein. Ihr Zwischenruf, Herr Kollege Pronold, ist auch (C) hat, ob das verfassungskonform ist – ich erinnere mich peinlich. noch genau daran –, dann lautete die Antwort: Natürlich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nicht! Es gab nur einen in Deutschland, der wieder ein- mal alles besser wusste, und das war der sozialdemokra- Ich finde diese Wortwahl des Bundesfinanzministers für tische Finanzminister, der darauf bestanden hat, dass die die Bundesrepublik peinlich, und ich finde auch Ihren Regelung verfassungskonform sei, und sie durchgesetzt Zwischenruf peinlich. hat, und zwar auch mit den Stimmen der SPD, Herr Pronold. Sich jetzt hier hinzustellen und so zu tun, als (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten habe man das gar nicht gewollt, das finde ich schon sehr der CDU/CSU – Ina Lenke [FDP], an den scheinheilig. Abg. Florian Pronold [SPD] gewandt: Genau! Das war eine Unverschämtheit von Ihnen!) (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Übrigens mit Roland Koch im Bundes- Denn man kann auch gegen Steuerhinterziehung sein rat!) und sich auf internationalem Parkett wie ein normaler Mitteleuropäer benehmen und nicht wie ein Nashorn, – Dieser Einwand ist richtig. Roland Koch hat mitge- das anderen Ländern Vorwürfe unter Niveau macht. macht. Auch die CSU hat mitgemacht. Es ist doch so: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ohne die CSU hätte es die Kürzung der Pendlerpau- schale nie gegeben. Die Wiedereinführung der vollen der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Steinbrück hat übrigens nicht von der Schweiz Pendlerpauschale erfolgt jetzt allerdings ohne die CSU, gesprochen!) nämlich auf dem Umweg über das Bundesverfassungs- gericht. Das finde ich äußerst bedauerlich, meine lieben Ich glaube, dass die Menschen in Deutschland diese Bra- Kolleginnen und Kollegen. chialrhetorik des Finanzministers langsam leid sind. Diese Regierung ist eine Regierung der Superlative. (Iris Gleicke [SPD]: Ich habe da einen anderen Nach der größten Steuererhöhung in der Geschichte un- Eindruck! Sie sind es leid, dass Steuern hinter- seres Landes kommt jetzt der größte Schuldenberg. Wir zogen werden!) beraten heute den größten anzunehmenden Unfug, einen Super-GAU dieser Großen Koalition. Man kann sie auch nicht gutheißen. Das Hickhack um die Entfernungspauschale war ge- In der Öffentlichkeit ist bekannt, dass unser Bundes- nauso peinlich wie unnötig, aber auch lehrreich. Die finanzminister eine Vorliebe für Nashörner hat. So be- Bürgerinnen und Bürger konnten erfahren, wie schnell treibt er auch Finanzpolitik: Kopf runter und losstürmen (B) aus einer Regierungspartei in Berlin eine Oppositions- (D) statt innehalten und nachdenken. Wir haben umfangrei- partei in München werden kann. Die CSU hat sich hier che Sachverständigenanhörungen durchgeführt und ge- nicht mit Ruhm bekleckert. Ich erinnere mich noch, dass hört, dass das nicht verfassungskonform ist. Ich meine, Sie im Wahlkampf in Bayern Unterschriften gesammelt das war relativ leicht nachzuvollziehen. Aber nein, Sie haben mit dem Hinweis: Unterschreiben Sie gegen die wollten das unbedingt. Diese Nashornfinanzpolitik mag Kürzung der Pendlerpauschale, sie ist verfassungswid- ja unterhaltsam sein; im Interesse der Bürgerinnen und rig! Kurze Zeit davor hatten Sie im Deutschen Bundes- Bürger unseres Landes ist sie aber nicht. Während der tag die Hand für die Kürzung gehoben. Das ist eine pein- Bundesfinanzminister seinen Egotrip locker fortgesetzt liche Veranstaltung, die heute beendet wird. hat, haben die Finanzgerichte – eines nach dem anderen – die Regelung nicht angewandt. Sie haben Vorlage- (Zuruf von der SPD) beschlüsse gefasst und erklärt, dass das auf dem Boden des Grundgesetzes so nicht machbar sei. Auch wir haben – Ja, es ist für Sie vielleicht unangenehm, das zu hören. Ihnen das vorher gesagt. Sie stehen da wie begossen. Das muss man einmal se- Diese Politik ist äußerst bedauerlich. Wenn wir heute hen. schon darüber reden, will ich dieses schöne Beispiel nut- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Hier scheint zen, um zu zeigen, wo wir am Ende dieser Legislatur- die Sonne, Herr Kollege!) periode der Großen Koalition stehen: Diese Koalition, diese Regierung hat unser Land nicht einen Millimeter Sie führen jetzt das wieder ein, vor dessen Abschaffung vorangebracht. Wir führen jetzt genau das wieder ein, wir immer gewarnt haben. Erst schaffen Sie etwas ab, was wir hatten, bevor wir Sie hatten. dann führen Sie es wieder ein. Am Ende dieser Legisla- turperiode kommen wir zurück auf den Anfang. Schade, (Beifall bei der FDP) denn es ist vertane Zeit für dieses Land. Wir haben hier im Deutschen Bundestag unnötige Debatten geführt. Wir erleben in diesen Tagen auch auf internationaler Ebene Steinbrück’sche Nashornpolitik. Die Schweiz be- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Heute auch!) kommt es diesmal ab. Dort werden die siebte Kavallerie von Yuma oder die Peitsche angedroht. Ich finde das, Sie haben ohne Grund die Finanzverwaltung belastet. ehrlich gesagt, peinlich. Sie hatten unrecht. Genauso haben Sie auch in den ande- ren finanzpolitischen Positionen, die der Bundesfinanz- (Florian Pronold [SPD]: Also, Sie sind für minister mit Vehemenz und der ihm eigenen Selbstgefäl- Steuerhinterziehung?) ligkeit vertritt, schlicht und einfach unrecht. 22810 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Volker Wissing (A) (Florian Pronold [SPD]: Selbstgefälligkeit ist schale niemandem aus meiner Fraktion leichtgefallen ist. (C) eine sehr schöne Überschrift für Ihren Auf- Das will ich auch der SPD unterstellen. Aber aus damali- tritt!) ger Sicht waren diese Änderungen dringend notwendig; Wir werden noch vieles abwickeln müssen, was Sie als (Ina Lenke [FDP]: Wieso?) Große Koalition auf den Weg gebracht haben. Schön, dass wir heute einen Schritt weiter sind. Wir sind da, wo denn wir mussten den Bundeshaushalt, den wir von Rot- wir ohne Sie schon einmal waren. Grün geerbt hatten, sanieren. Vielen Dank. (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU] – Ina Lenke [FDP]: Aha! Sehr interes- (Beifall bei der FDP – Zuruf von der SPD: sant! Daran sieht man: Rot-Grün rächt sich!) Und tschüss!) Das strukturelle Defizit betrug damals fast 60 Mil- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: liarden Euro. Das Wort hat als Nächster der Kollege Olav Gutting Manch einer wirft uns jetzt eine gewisse Einfallslo- für die CDU/CSU-Fraktion. sigkeit vor: Wie langweilig und unspektakulär, dass wir (Beifall bei der CDU/CSU) einfach die alte Rechtslage wiederherstellen; wir drü- cken sozusagen auf den Reset-Knopf. Das ist aber genau Olav Gutting (CDU/CSU): das, was die Menschen wollen. Genau das halten wir in Frau Präsidentin! Meine werten Kolleginnen und dieser Situation für richtig. Denn die Wahrheit ist: Wir, Kollegen! Seit das Bundesverfassungsgericht über die die Union, haben bereits kurz nach der Urteilsverkün- Verfassungswidrigkeit der gekürzten Pendlerpauschale dung die Wiederherstellung der alten gesetzlichen Rege- entschieden hat, ist ungefähr ein gutes Vierteljahr ver- lung verlangt. gangen. In dieser Zeit hat es bei den über 15 Millionen (Beifall bei der CDU/CSU) Pendlerinnen und Pendlern immer wieder viel unnötige Verwirrung und Aufregung gegeben. Es geht darum, die vorläufige Regelungslage zur Ent- fernungspauschale in Anbetracht des Urteils des Bun- (Dr. Volker Wissing [FDP]: Ja!) desverfassungsgerichts durch eine gesetzlich klar festge- Dies lag vor allem an dem Vorläufigkeitsvermerk, der legte Regelung zu ersetzen. Das erwarten die Menschen in den geänderten Steuerbescheiden gedruckt war. in diesem Land. Sie erwarten von der Politik zu Recht, dass sie für Rechtssicherheit und Planbarkeit sorgt. Jede (B) (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist das! – andersgeartete Neugestaltung der Pendlerpauschale hätte (D) Ina Lenke [FDP]: Es war gut, dass der da drin vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfas- war! – Gegenruf des Abg. Leo Dautzenberg sungsgerichts nur für noch mehr Verwirrung und Unsi- [CDU/CSU]: Eben nicht!) cherheit gesorgt. Rein formal ist dieser Vermerk nicht zu beanstanden. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es!) Man muss dazu sagen, dass in den Bescheiden versucht wurde, die Vorläufigkeit zu erklären. Die Ursachen der Von einer isolierten Überarbeitung der Pendlerpau- Vorläufigkeit waren abgedruckt. Trotzdem hat dieser schale halte ich sowieso nichts. Was wir brauchen, ist Vermerk bei vielen Menschen die Angst geweckt, dass kein weiteres Herumbasteln und Herumdoktern am be- die Finanzämter die mit den neuen Steuerbescheiden stehenden System, sondern ein einfaches, transparentes ausgezahlten Steuererstattungen später wieder eintreiben und damit gerechteres Einkommensteuerrecht. könnten. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht, dass der Bundestag nun ein Gesetz verabschiedet, (Beifall bei der CDU/CSU) welches die vor dem 1. Januar 2007 bestehende Rege- Das ist auch die Vorgabe des Bundesverfassungsge- lung aufgreift und formal Rechtssicherheit schafft. richts: (Beifall bei der CDU/CSU) Einen zulässigen Systemwechsel kann es ohne ein Die punktgenaue und unbefristete Wiederherstellung Mindestmaß an neuer Systemorientierung nicht ge- der alten Entfernungspauschale ist nach dem Urteil des ben. Bundesverfassungsgerichts der richtige und konsequente Schritt. Es war die Große Koalition – es waren die SPD So äußerte sich das Bundesverfassungsgericht wörtlich. und die Union; es war der SPD-Finanzminister –, die vor Außerdem stellte das Gericht fest, dass eine Änderung dem Bundesverfassungsgericht verloren hat. Ich meine, der Einbettung in ein Grundkonzept bedarf. das sollten wir akzeptieren. Ich bedaure wirklich, dass Die Union will in der nächsten Legislaturperiode eine die SPD jetzt versucht, sich davonzuschleichen. Reform der Einkommensteuer durchführen. Sie soll ein- (Florian Pronold [SPD]: Wenn jemand ver- facher, transparenter, gerechter und damit unter dem sucht, sich davonzuschleichen, ist es die Strich auch niedriger werden. CSU!) (Dr. Volker Wissing [FDP]: Das hört sich ja an Erlauben Sie mir den Hinweis, dass die im Jahr 2006 wie ein echter FDP-Antrag! – Ina Lenke beschlossene unpopuläre Änderung der Pendlerpau- [FDP]: Das ist gut!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22811

Olav Gutting (A) Es ist gut, dass wir bis zur Wiederherstellung der alten (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!) (C) Regelung zumindest diejenigen entlasten bzw. denjeni- gen etwas zurückgeben, die jeden Morgen früh aufste- Immerhin haben Sie die alte Pendlerpauschale jetzt hen, um teilweise weite Strecken zu ihrer Arbeitsstätte auf öffentlichen Druck hin wieder eingeführt. Damit er- auf sich zu nehmen, und die mit der Lohnsteuer, die sie füllen Sie eine alte Forderung der Fraktion Die Linke. zahlen, einen entscheidenden Beitrag zur Finanzierung (Beifall bei der LINKEN) unseres Gemeinwesens leisten. Herr Pronold, Sie haben vorhin die Position der ande- (Beifall bei der CDU/CSU) ren Fraktionen aufgezählt. Uns haben Sie beschämen- derweise weggelassen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Florian Pronold [SPD]: Das war nicht persön- Das Wort hat jetzt die Kollegin Dr. Barbara Höll für lich gemeint! Ich entschuldige mich, dass ich die Fraktion Die Linke. die Linke nicht genannt habe!) (Beifall bei der LINKEN) Seit Juni 2006 haben wir Ihnen in diesem Hause dreimal die Möglichkeit gegeben, gegen die verfassungswidrige Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): und ungerechte Abschaffung zu stimmen. Wir haben das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dreimal gefordert, auch in namentlicher Abstimmung. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundesfinanz- Obwohl die CSU vorher so laut getönt hat, hat sie im minister, SPD, im Dezember letzten Jahres die Leviten vergangenen Jahr gegen ihre eigene Unterschriften- gelesen: Die 2006 beschlossene Abschaffung der alten sammlung gestimmt. Auch Sie von der SPD sind dem Pendlerpauschale ist verfassungswidrig. Das war eine Koalitionsduktus gefolgt. schallende Ohrfeige für den Mann, der versucht hat, ein Jetzt bestünde die Chance für eine gerechte und ver- bestätigtes Steuerprinzip, wonach alle beruflich beding- fassungsmäßige Neuregelung. Von der alten Pendlerpau- ten Kosten vom Einkommen der Steuerpflichtigen abzu- schale profitieren besonders Steuerpflichtige mit hohem ziehen sind, zu untergraben. Nicht zu vergessen ist auch Einkommen. Das ist bei der Progression nun einmal so. das Hickhack in der Großen Koalition im Hinblick auf Ich stelle dies anhand eines Beispieles dar: Ein alleinste- die Pendlerpauschale: Keiner wollte und will für ihre hender Maurer hatte 2008 einen Weg von 40 Kilometern Abschaffung verantwortlich sein, die SPD nicht, die zur Arbeit zurückzulegen. Er arbeitete an 220 Tagen im CDU nicht und die CSU erst recht nicht. Alles in allem Jahr. Bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von ist das ein Armutszeugnis für die Große Koalition. 20 000 Euro erhält er eine Erstattung von 736 Euro. (B) (D) (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE (Florian Pronold [SPD]: Weil der Arbeitneh- LINKE]: So ist es!) merfreibetrag noch drin ist!) Auch nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Wäre er Journalist mit einem Jahreseinkommen von halten sich die Koalitionsparteien offen, die Pendlerpau- 60 000 Euro, würde er 1 108 Euro sparen. schale nach der nächsten Bundestagswahl abzuschaffen oder zu kürzen. Noch am Tag der Urteilsverkündung An diesem Beispiel sehen wir, dass die Entlastung stellte der Bundesfinanzminister sofort klar: nicht gleichmäßig ist. Wer so wenig verdient, dass er gar keine Steuern zahlt, hat sowieso nichts von der Pendler- Wir werden uns das Geld nicht an anderer Stelle zu- pauschale. Die Besserverdienenden wären hiermit bevor- rückholen. Das verträgt die derzeitige Konjunktur- zugt. Deshalb schlagen wir Ihnen eine andere Regelung lage nicht. vor, und zwar den direkten Abzug von der Steuerschuld. Was heißt das für die Zukunft? Dass zu Beginn des (Florian Pronold [SPD]: Sollen wir dann einen Jahres nur vorläufige Bescheide erlassen wurden, spricht degressiven Steuerverlauf machen, damit die eine deutliche Sprache. Reichen weniger profitieren?) (Florian Pronold [SPD]: Ach! Das ist jetzt Damit bekäme jeder Steuerpflichtige, unabhängig von kompletter Blödsinn!) seinem Einkommen, den gleichen Betrag pro Kilometer Am 6. Februar dieses Jahres verlautbarte das Bundes- erstattet. finanzministerium: (Florian Pronold [SPD]: Wie hoch wäre der … eine gesetzliche Neuregelung … ist auch für dann?) diese Legislaturperiode nicht vorgesehen … Wie Für eine wirklich gerechte Lösung wäre das ein erster eine künftige endgültige Regelung der Pendlerpau- Schritt. schale aussieht, hängt von den Entscheidungen des nächsten Bundestages ab. Aber eines ist klar: Ohne eine Neuregelung, die dafür sorgt, dass die Menschen für die Arbeit, die sie leisten, Damit wären die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler ordentlich bezahlt werden, ohne einen Mindestlohn rechtlich weiterhin im Unklaren gelassen worden – als – wir fordern einen Mindestlohn von 8,71 Euro –, ob die Menschen aufgrund der dramatischen Wirt- schafts- und Finanzkrise nicht ohnehin verunsichert ge- (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nug wären. NEN]: Heute stand im Ticker, es wären 22812 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Barbara Höll (A) 10 Euro! – Florian Pronold [SPD]: Es waren nächsten Generationen, die Sie mit zu verantworten ha- (C) 10 Euro!) ben. vernünftige Löhne und ordentliche Lohnsteigerungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wird es an den notwendigen Stellen keine Entlastung ge- Wir haben immer wieder darüber diskutiert, welche ben. Die Pendlerpauschale ist kein Ruhmesblatt der Gro- verfassungskonforme Lösung es geben könnte. Es gibt ßen Koalition, besonders nicht des Bundesfinanzminis- viele Vorschläge. Der Spielraum, den das Bundesverfas- ters. Wir sind aber froh, dass heute wenigstens in diesem sungsgericht uns als politisch Verantwortliche einge- Punkt eine gewisse Klarheit erzielt wird. räumt hat, ist relativ groß. Wir hätten es als Fraktion Ich danke Ihnen. richtig gefunden, wenn Sie nicht erst im Wahlkampf Vorschläge unterbreitet hätten. Herr Kollege Gutting hat (Beifall bei der LINKEN) gesagt, eine Reform der Einkommensteuer stehe an. Es solle alles sozialer, gerechter und einfacher werden. Die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Union hatte einmal vorgeschlagen, die Pendlerpauschale Jetzt spricht die Kollegin Christine Scheel für Bünd- ganz abzuschaffen. Das war Herr Professor Kirchhof mit nis 90/Die Grünen. seinem einfachen Steuerrecht. Die FDP hat vorgeschla- gen, die Pendlerpauschale ganz abzuschaffen. Die SPD Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): hat aktuell vorgeschlagen, die Pendlerbelastungen von Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! der Steuerschuld abzuziehen. Die Linken haben sich Es ist schon bedauerlich, dass es innerhalb der Großen jetzt auch dazu geäußert. Bei uns wird über ein Mobili- Koalition ein monatelanges Schauspiel gegeben hat, tätsgeld diskutiert. dass es Schuldzuweisungen bei der Frage gab, wer denn Ich hätte es für richtig gehalten, dass die Große Koali- das eine oder das andere fordert – Herr Pronold hat ge- tion nicht nur dafür sorgt, dass der alte Rechtszustand rade wieder ein Beispiel dafür gegeben –, und dass diese wiederhergestellt wird, was unausweichlich ist, sondern ganze Auseinandersetzung dazu geführt hat, dass das dass Sie jetzt auch sagen, was denn danach passiert. Das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in eine ernsthafte sollte nicht wieder auf die lange Bank geschoben wer- Politik ziemlich erschüttert wurde. Die Leute haben die den. Wir fordern mehr Ehrlichkeit in der Sache ein. Die permanenten Schuldzuweisungen einfach satt. Sie wol- Koalitionsfraktionen sollten sich klar dazu bekennen, len eine Politik, die verfassungskonform ist, die keine welche Regelungen sie anstreben, und zwar jede Frak- verfassungswidrigen Entscheidungen trifft, und sie wol- tion für sich. len auch nicht, dass man sich gegenseitig den Schwarzen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) Peter zuschiebt. Die Bürger sehen das Ganze eher als (D) peinlich an. Wir lehnen den vorliegenden Gesetzentwurf ab, weil er den Bürgerinnen und Bürgern eine zukunftsfähige Re- Dieses Schauspiel ist am Ende so ausgegangen – das gelung vorenthält und wir dieses politische Spiel nach haben wir gerade gehört –, dass das Bundesverfassungs- dem Motto „Im Wahlkampf wird alles Mögliche ver- gericht einschreiten musste, obwohl viele der Beteiligten sprochen“ nicht unterstützen wollen. sehr wohl wussten, dass diese Regelung verfassungswid- rig ist. Es ist schlimm, wenn man immer wieder abwar- Danke schön. ten muss, bis das Verfassungsgericht die Anweisung gibt, wie denn zu handeln ist, nur weil in der Großen Ko- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) alition keine Einigung herrscht. Katrin Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) NEN): Dies ist heute schon der zweite Tagesordnungspunkt, auf Als nächstes hat der Kollege Dr. Hans Michelbach für den das zutrifft. Ich finde, das ist nicht gerade ein gutes die CDU/CSU-Fraktion das Wort. Zeugnis für die politische Arbeit dieser Großen Koali- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tion. Die Bürgerinnen und Bürger haben jetzt Rechtssi- Dr.h.c. Hans Michelbach (CDU/CSU): cherheit; das begrüßen wir. Wir sehen auch, dass das Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Heute Chaos, das Sie an den Finanzämtern angerichtet haben, ist ein guter Tag für unsere Pendler und für unsere leis- endlich beendet ist. Auch die Verunsicherung von Milli- tungsbewussten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. onen von Berufspendlern ist jetzt beendet. Sie haben Ich freue mich, dass die Gesetzeslage von 2006 hinsicht- aber in der Konsequenz im Hinblick auf die Haushalts- lich der Entfernungspauschale wieder gilt. Das ist ein lage etwas ausgelöst, was sich für die gesamte Politik als richtiger Weg. Ich betone, dass die CSU für die Wieder- sehr schwierig gestaltet. Wir haben nämlich im Jahr einführung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilome- 2009 ungeplante Steuerausfälle für Bund, Länder und ter geworben hat. Gemeinden in einer Größenordnung von bis zu (Heiterkeit des Abg. Florian Pronold [SPD] – 6 Milliarden Euro. Dies war in der gesamten Finanzpla- Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr wahr!) nung so nicht vorgesehen. Das heißt, dass aufgrund Ihrer chaotischen Politik die Neuverschuldung in diesem Jahr Wir haben auch dafür gekämpft. Nach Inkrafttreten des noch einmal ansteigt. Das ist eine Belastung für die Gesetzes wurden anhand vieler Beispiele die Benachtei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22813

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) ligung und der Verlust der Leistungsgerechtigkeit für ist eine Tatsache. Deswegen sollten wir jetzt gemeinsam (C) Pendler deutlich. Es war in der Tat ein Fehler, die Pend- erkennen, dass es einen besseren Weg gibt, nämlich den, lerpauschale derart zu gestalten. über den wir heute entscheiden. (Florian Pronold [SPD]: Habt ihr im Wahlpro- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gramm die Kürzung stehen gehabt, ja oder nein?) Als Gebot der Stunde muss natürlich noch ein weite- res Grundprinzip realisiert werden: mehr Netto vom – Herr Pronold, es gehört zur politischen Kultur, zuge- Brutto. ben zu können, dass man einen Fehler begangen hat. Es nützt Ihnen deshalb nichts, Ablenkungsmanöver, Ge- (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Sehr richtig! schichtsklitterung und Märchenstunden zu veranstalten. Danach sehnen sich die Menschen!) (Iris Gleicke [SPD]: Haben Sie Ihr eigenes Wir müssen hinsichtlich der Einkommen- und der Lohn- Parteiprogramm nicht gelesen?) steuer eine weitere Reform auf den Weg bringen, weil es nicht sein kann, dass man nach einer Lohnerhöhung um Tatsache ist, dass jetzt eine Lösung gefunden wurde. 1 Prozent 2 Prozent mehr Steuern zahlen muss. Ich Bundesfinanzminister Steinbrück, der dafür zuständig glaube, dass wir mit der Pendlerpauschale auf einem gu- ist, hat damals gesagt: Ich halte das Werkstorprinzip für ten Weg hin zu mehr Leistungsgerechtigkeit sind. die einzig richtige Bewertung. – Die Betrachtung des Haustürprinzips ist richtig. (Florian Pronold [SPD]: Warum haben Sie das im Wahlprogramm 2005 anders geschrieben?) (Daniel Bahr [FDP]: Aha!) Wir alle müssen jetzt dafür arbeiten, dass zwingend Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom mehr Netto vom Brutto übrig bleibt, damit die Leis- 9. Dezember vergangenen Jahres, das die Neuregelung tungsträger in unserem Land motiviert anpacken und der Pendlerpauschale ab 2007 für verfassungswidrig er- Vertrauen in unser Gemeinwesen zurückgewinnen. Das klärt hat, war gesetzgeberisches Handeln noch in dieser ist die entscheidende Frage. Legislaturperiode geboten. Die Menschen wollen jetzt keinen Wahlkampf. Sie (Florian Pronold [SPD]: Haben Sie Ihr Wahl- haben einen Anspruch auf Sacharbeit und erfolgreiches programm von 2005 nicht dabei?) Krisenmanagement. Das ist der entscheidende Punkt. Ich muss ganz deutlich sagen: Wir hatten der Argu- Krisenmanagement jetzt erfolgreich gestalten: Dazu ge- hört die Entlastung bei Steuern und Abgaben. Das ist der (B) mentation des Bundesfinanzministers Glauben ge- (D) schenkt, dass die Veränderung der Pendlerpauschale ver- richtige Weg. Deswegen sollten wir stolz auf die heutige fassungsgemäß sei. Alle Bedenken wurden im Entwicklung sein. Finanzausschuss immer wieder vom Tisch gewischt. Meinen herzlichen Dank. (Florian Pronold [SPD]: Von euch!) (Beifall bei der CDU/CSU – Iris Gleicke Diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht. [SPD]: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten! – Christine Scheel (Florian Pronold [SPD]: Märchenstunde hoch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr seid auch drei!) noch stolz darauf! Also Hans, weißt du: Das ist doch das Letzte! – Eduard Oswald [CDU/ Mit der gesetzlichen Wiederherstellung der alten CSU]: Alle machen Wahlkampf, nur wir Pendlerpauschale wird heute ein unnötig lange andau- nicht!) ernder Unsicherheitsfaktor beseitigt. Wir schaffen heute Rechtssicherheit für die vielen Berufspendler in unserem Land. Der wesentliche Punkt ist, dass wir hier wieder an Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: einem Grundprinzip festhalten. Ich schließe die Aussprache. (Florian Pronold [SPD]: Die Steigerung: Pinocchio, Wir kommen zur Abstimmung über den von den Münchhausen, Michelbach!) Fraktionen der CDU/CSU und der SPD eingebrachten Dieses Grundprinzip ist für uns gerade in der Steuer- und Gesetzentwurf zur Fortführung der Gesetzeslage 2006 Finanzpolitik unabdingbar und muss immer lauten: Leis- bei der Entfernungspauschale. tung muss sich lohnen. Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – empfehlung auf Drucksache 16/12299, den Gesetzent- Simone Violka [SPD]: Deshalb wollen wir den wurf der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD auf Mindestlohn! – Dr. Barbara Höll [DIE Drucksache 16/12099 anzunehmen. Wer stimmt für die- LINKE]: Weshalb sind Sie dann gegen den sen Gesetzentwurf? – Die Gegenstimmen? – Die Enthal- Mindestlohn?) tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera- tung bei Zustimmung der Großen Koalition, der FDP Wir haben hier leistungswillige Arbeitnehmerinnen und der Fraktion Die Linke und Gegenstimmen der und Arbeitnehmer nicht leistungsgerecht behandelt. Das Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen. 22814 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Dritte Beratung Grünen in trauter Übereinstimmung mit Wirtschaftsver- (C) tretern immer wieder sagen: Wenn die Frauen nur halb- und Schlussabstimmung. Wer für den Gesetzentwurf ist, tags arbeiten, dann sind sie selbst daran schuld. Sollen der möge sich bitte erheben. – Die Gegenstimmen? – sie doch Vollzeit arbeiten! Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung bei gleichem Stimmenverhältnis wie vorher (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- angenommen. NEN]: So ein Quatsch! Als ob wir so etwas sa- gen würden!) Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf: Das ist unredlich. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Familie, Senioren, (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frauen und Jugend (13. Ausschuss) NEN]: So ein Unsinn! Glauben Sie, wir sind blöd? – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- – zu dem Antrag der Abgeordneten Irmingard NIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie uns Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), Britta schon richtig zitieren!) Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hören Sie zu! Das scheint ja zu sitzen. Durchsetzung der Entgeltgleichheit von (Iris Gleicke [SPD]: Die Steigerung von Frauen und Männern – Gleicher Lohn für Michelbach ist Möllring!) gleichwertige Arbeit Der Einkommensunterschied zwischen Frauen und Män- – zu dem Antrag der Abgeordneten Ina Lenke, nern von 23 Prozent bezieht sich auf den Vergleich von Sibylle Laurischk, Miriam Gruß, weiterer Ab- Vollzeitstellen und steigt beim Stundenlohn noch an. geordneter und der Fraktion der FDP Deswegen ist es eine Unverschämtheit, was Sie erklären. Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit – Neulich bin ich bei einem Interview mit einer Kollegin Für eine tatsächliche Chancengleichheit von von Ihnen zusammengetroffen, Frau Scheel, die genau Frauen und Männern das gesagt hat. Ich nenne jetzt ihren Namen nicht, aber später kann ich das gerne tun. – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Dr. Kirsten Tackmann, Klaus Ernst, wei- Es ist eine Unverschämtheit, den Frauen zu sagen: terer Abgeordneter und der Fraktion DIE „Jetzt arbeitet mal ordentlich! Dann verdient ihr auch or- LINKE dentlich Geld.“ Die Gründe liegen woanders. Ich nenne drei entscheidende Punkte. (B) Entgeltgleichheit zwischen den Geschlech- (D) tern wirksam durchsetzen Erstens die Berufswahl von Frauen einerseits und Männern andererseits. – Drucksachen 16/8784, 16/11175, 16/11192, 16/12265 – (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie fan- gen am besten noch einmal richtig an!) Berichterstattung: Abgeordnete – Hören Sie einfach einen Moment zu! Das kann Ihnen nicht schaden. Sibylle Laurischk (Zuruf von der SPD: Das fällt uns schwer!) Jörn Wunderlich Irmingard Schewe-Gerigk Gerade im Bereich der Berufswahl von Frauen und Män- nern ist in letzter Zeit Erhebliches erreicht worden. Es ist vorgesehen, hierüber eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ ist das so beschlossen. DIE GRÜNEN]: Märchenstunde!) Ich eröffne die Aussprache. Die erste Rednerin ist die Denn wer sich damit befasst, was in den Kommunen in Kollegin Dr. Eva Möllring für die CDU/CSU-Fraktion. den Kindertagesstätten, in der frühkindliche Erziehung, in den Schulen, bei der Expo und der CeBIT dafür getan (Beifall bei der CDU/CSU) wird, um Frauen für technische Berufe zu begeistern, der sieht, dass wir erhebliche Fortschritte gemacht haben. Dr. Eva Möllring (CDU/CSU): (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe DIE GRÜNEN]: Die CDU muss erst einmal Kolleginnen und Kollegen! Woran liegt es, dass Frauen Vorbildarbeit leisten!) in Deutschland so viel weniger verdienen als Männer? Ich sage Ihnen erst einmal, woran es nicht liegt, nämlich Ich danke an dieser Stelle ausdrücklich der CDU-Bun- nicht daran, dass Frauen weniger arbeiten als Männer. desbildungsministerin, Frau Schavan, die diese Maßnah- men finanziell und ideell sehr stark unterstützt. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die arbeiten sogar mehr!) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich finde es nicht in Ordnung, dass manche Damen Zweitens die Arbeitsbewertung. Dabei sind die Ge- und Herren von den Sozialdemokraten und auch von den werkschaften gefragt. Es ist eine erhebliche Herausfor- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22815

Dr. Eva Möllring (A) derung, zu einem gerechten Bewertungssystem zu kom- recht lösen, weil auch bei einem Verbandsklageverfah- (C) men, weil auch in den Gewerkschaften sehr wenige ren immer der Einzelfall deutlich gemacht werden muss. Frauen an der Spitze sind. Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, aber Sie Drittens Frauen in Führungspositionen. Rollenkli- mussten es sich jetzt anhören. schees sind durch das Elterngeld und die Partnermonate Ich danke für Ihre große Aufmerksamkeit. Vielen gebrochen worden. Das ist ein hervorragender Ansatz Dank für Ihr Zuhören. von unserer Ministerin von der Leyen, der in der nächs- ten Wahlperiode noch verstärkt werden muss. (Beifall bei der CDU/CSU) ( [SPD]: Das Elterngeld war ur- sprünglich eine sozialdemokratische Idee!) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Kollegin Ina Lenke ist die nächste Rednerin für – Genau. Sie haben mitgestimmt. die FDP-Fraktion. Auch das Vergaberecht richtet sich an der Förderung (Beifall bei der FDP) von Frauen aus. Die entscheidende Baustelle ist noch die Förderung von Führungspositionen in Teilzeit. Dafür Ina Lenke (FDP): muss einiges getan werden. Der Arbeitgeber muss in die Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ein Kol- Pflicht genommen werden, mit den Teilzeit arbeitenden lege hat zu mir gesagt: Wenn die Damen doch weniger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Gespräche zu streiten und mehr regieren würden! – Ein bisschen führen, um zu testen, wie man Frauen noch besser in Wahrheit steckt darin. Verantwortung bringen und vor allem nach Auszeiten wieder in den Beruf und in verantwortliche Positionen (Beifall bei der FDP) hineinbringen kann. Ich will nun zu unserem Thema kommen. Sehr geehr- Ihre Lösungen scheinen dagegen nicht weiterzufüh- ter Herr Rix, gleiche Leistung, weniger Lohn: Wie wir ren. Dazu zählt erstens die Quote. Über die Quote von alle wissen, verdienen Frauen im Durchschnitt circa Aufsichtsräten können wir gerne diskutieren. 25 Prozent weniger als Männer. Studien der OECD, der EU und des Statistischen Bundesamtes belegen das sehr (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des deutlich. Es ist traurig – das muss uns alle ärgern –, dass BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutschland im europäischen Vergleich beim Entgelt- Aber was hilft es der Frau am Schreibtisch, die nicht die unterschied zwischen Männern und Frauen auf dem Chance hat, in einem Aufsichtsrat zu landen, sondern die viertletzten Platz liegt. Ein Bankkaufmann erhält durch- (B) selber nur eine Position höher kommen will? schnittlich 4 125 Euro, während eine Bankkauffrau (D) 3 049 Euro verdient. Ähnliche Unterschiede gibt es auch (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ zwischen Verkäuferinnen und Verkäufern, Büroleiterin- DIE GRÜNEN]: Auch viele Männer wollen nen und Büroleitern. Überall werden Frauen schlechter nicht in Aufsichtsräte!) bezahlt als Männer und verdienen durchschnittlich Ihr zweiter Lösungsansatz ist der Mindestlohn. Das 25 Prozent weniger. Land in Europa, in dem die geringsten Einkommensun- Warum ist das so? Ich möchte gerne auf Ihren Vor- terschiede zwischen Frauen und Männern bestehen – er schlag zu sprechen kommen, meine Damen und Herren beträgt 4,4 Prozent –, ist Italien. Italien hat keinen Min- von SPD und Grünen. Sie wollen ein Gleichstellungsge- destlohn. An zweiter Stelle steht Malta, das im setz für die Wirtschaft. Nach Meinung der FDP ist das Januar 2009 einen Mindestlohn von 3,67 Euro festge- nicht die Lösung. Auch das Bundesgleichstellungsgesetz setzt hat. Das dritte Land ist Polen. Polen hat im Januar für die Bundesverwaltung und die Gerichte des Bundes dieses Jahres einen Mindestlohn von 2,10 Euro festge- hat nicht immer, wie wir alle wissen, zu gleicher Bezah- setzt. lung geführt; darüber gibt es Berichte. Hier wurde zum Nun können Sie selber die Frage beantworten, ob der Beispiel die Möglichkeit der Teilzeitarbeit erweitert, um Mindestlohn Frauen in Führungspositionen bringt. auch Vätern Teilzeitarbeit schmackhaft zu machen. Ge- nutzt haben diese Möglichkeit im Ergebnis nur weibli- (Zuruf von der SPD: Das ist ja peinlich!) che Angestellte. Die Teilzeitrate stieg bei ihnen stetig an. – Also wirklich, Sie können überhaupt nicht mehr zuhö- Wenn die Quote von 92 auf 93 Prozent steigt, dann frage ren. ich mich, ob ein solches Gesetz der richtige Weg ist. (Iris Gleicke [SPD]: Es lohnt sich ja nicht, zu- Wir alle wissen, dass die Lohnungleichheit in zuhören!) Deutschland viele Ursachen hat. Frau Möllring hat rich- tigerweise das fehlende Angebot der Kleinkindbetreu- Ihre dritte Lösung betrifft das Verbandsklagerecht. ung in Krippen und das mangelnde Angebot an Ganz- Das Problem bei den Klagen um einen besseren Lohn ist tagsbetreuungsmöglichkeiten für unter Dreijährige nicht die Tatsache, dass die Frauen keine juristischen genannt. Wenn Kinder 70 Arbeitstage Schulferien ha- Möglichkeiten haben, sondern dass ihr persönlicher Fall ben, während die Arbeitnehmer nur 30 Tage Urlaub ha- offenkundig wird und sie dann im Arbeitsverhältnis ben, dann führt das in der Regel dazu, dass die Ehepart- große Schwierigkeiten bekommen werden. Dieses Pro- ner nie zur gleichen Zeit Urlaub machen können. In blem werden Sie auch nicht durch das Verbandsklage- meinem Wahlkreisbüro hat eine Dame 14 Tage unbe- 22816 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Ina Lenke (A) zahlten Urlaub genommen, damit sie einmal drei Wo- Mit diesem Selbsttest können die Unternehmen die (C) chen zusammen mit ihren Kindern Urlaub machen kann. Lohnschere zwischen den Geschlechtern überprüfen. Ich Das muss man sich einmal vorstellen! Besonders für Al- hoffe, dass sich dadurch einiges ändern wird. leinerziehende ist das ein Jobkiller. Karrieren sind dann Frau Präsidentin, ich komme jetzt zum Schluss. Die natürlich ausgeschlossen. FDP fordert die Bundesregierung unter anderem auf, Ich möchte noch etwas anderes wiederholen, was sich mit den Unternehmen und Sozialpartnern sowie im Frau Möllring gesagt hat, weil das für die Öffentlichkeit öffentlichen Dienst für eine Dienststrukturerhebung und wirklich wichtig ist. Junge Frauen sehen für sich nur ein Überprüfung von Stellenbeschreibungen einzusetzen, enges Berufsspektrum: Arzthelferinnen, Friseurinnen, um auf dieser Grundlage Lohnfindungssysteme und ge- Verkäuferinnen, Büroangestellte. Hier lassen junge gebenenfalls unterschiedliche Verfahren bei der Arbeits- Frauen sehr oft außer Acht, dass das Gehalt in diesen bewertung auch im Hinblick auf die Entgeltgleichheit zu Berufen niedrig ist und die Aufstiegsmöglichkeiten überprüfen, das Steuerrecht auf Geschlechtergerechtig- gleich null sind. Information und Aufklärung in Schule keit abzuklopfen, das Elterngeldgesetz zu überarbeiten und Elternhaus sind daher – wir kennen keine andere Lö- usw. Ich kann das leider nicht weiter ausführen; denn ich sung – sehr wichtig. Das müssen wir vonseiten der Poli- habe meine Redezeit um eine Minute überzogen. tik unterstützen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ein weiterer Punkt ist die sogenannte Teilzeitfalle. Je- Genau. mand, der Teilzeit arbeitet, hat wenige Aufstiegschan- cen. In diesem Zusammenhang ist auch das veraltete Lohnsteuerklassensystem zu sehen. Liebe Kolleginnen Ina Lenke (FDP): und Kollegen, egal welcher Couleur, in der nächsten Le- Ich hoffe, wir finden andere Beispiele dafür, wie wir gislaturperiode muss die Steuerklasse V abgeschafft uns im Bundestag dafür einsetzen können, mehr Ge- werden. schlechtergleichheit im Arbeitsleben herzustellen. Danke. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: In- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dividualbesteuerung!) der CDU/CSU)

Wer auch immer von der SPD gleich redet, kann gerne Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: etwas gegen meine Argumente sagen. Aber ich finde, es Nächste Rednerin ist die Kollegin Renate Gradistanac soll jetzt endlich etwas passieren. (B) für die Fraktion der SPD. (D) Ein weiterer Punkt ist die fehlende Familienfreund- (Beifall bei der SPD) lichkeit in den Betrieben. Flexible Arbeitszeiten sind wichtig. Elterngeld und Elternzeit muss es auch für Renate Gradistanac (SPD): junge Väter geben. Die Steuer- und Sozialversicherungs- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und freiheit bei den Kinderbetreuungskosten muss auch für Herren! Werte Kolleginnen! Werte Kollegen! Der den öffentlichen Dienst gelten; das ist bisher nicht der Schauspieler Mario Adorf sagte: Fall. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat in einer Broschüre super Vorschläge gemacht. Ein erfolgreicher Mann ist ein Mann, der mehr ver- dient, als seine Frau ausgeben kann. Eine erfolgrei- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ che Frau ist eine, die so einen Mann findet. DIE GRÜNEN]: Die können tolle Broschüren machen, stellen aber keine Frauen ein!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU) Man sollte meinen, dass solch eine verstaubte Äuße- Diese können umgesetzt werden, Frau Schewe-Gerigk. rung als schlechter Witz belächelt wird, aber von wegen! Oft ohne finanziellen Mehraufwand können die Betriebe Die Vorsitzende der Gruppe der Frauen der CDU/CSU- für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sorgen. Dort Fraktion, Frau Fischbach, meinte kürzlich: werden wirklich gute Beispiele genannt, die einfach sind und die jeder versteht. Die männlichen Kollegen sehen sich eher in der Er- nährerrolle und können nicht alles mittragen. Die Baustellen in Deutschland bei der Schaffung ech- ter Entgeltgleichheit zwischen den Geschlechtern sind (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Das ist jetzt von den Tarifparteien, insbesondere von der Politik und aber sehr verkürzt!) der Wirtschaft sowie manches Mal – das will ich deut- Frau Fischbach, es wird Zeit, dass Sie und Ihre Kolle- lich sagen – von den Frauen selbst zu beseitigen. Heute gen von der CDU/CSU die verstaubten Rollenbilder mo- hat die Familienministerin einen Vorschlag aus der dernisieren. Frauen wollen keine Anhängsel ihrer Män- Schweiz übernommen und zum Einsatz des Selbsttest- ner sein; Frauen wollen ihren Lebensunterhalt selbst instruments Logib in Deutschland aufgefordert. verdienen. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN]: Ein freiwillig nutzbares der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Computerprogramm!) GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22817

Renate Gradistanac (A) Frau Möllring und ich haben ein Dreivierteljahr lang – Wenn Sie die Verhandlungen zwischen Frau Möllring (C) – ich wiederhole: ein Dreivierteljahr – intensiv über ei- und mir verfolgt hätten, wüssten Sie, wo ich stehe. Lei- nen Antrag zum Thema Entgeltgleichheit verhandelt. der sind Gender Mainstreaming und Gender Budgeting Dann wurde nicht einmal ein minimaler Konsens gefun- für viele immer noch Fremdwörter. den. Ihre Rede heute war natürlich auch für die Katz. Zweitens fordern wir einen flächendeckenden gesetz- ( [CDU/CSU]: Das lichen Mindestlohn, drittens ein Gleichstellungsgesetz stimmt nicht!) für die Privatwirtschaft und viertens eine Quote von – Da hätte ich schon mehr erwartet, nachdem wir uns in 40 Prozent für die Besetzung von Aufsichtsräten. Teilen einig waren. (Beifall bei der SPD – Irmingard Schewe- (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Bis jetzt haben Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was Sie nur geschwätzt! Nichts Konkretes!) sagt denn Herr Schröder dazu?) Herr Singhammer, Sie waren als frauenpolitischer Um gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit Sprecher der CDU/CSU nicht bereit, für diesen Antrag durchzusetzen, fordern wir fünftens einen Diskriminie- zu kämpfen, und haben kläglich versagt. Ich bin da auch rungscheck für Lohnverträge persönlich sehr enttäuscht. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und sechstens – dies wird Sie jetzt nicht verwundern – der LINKEN) ein schärferes Antidiskriminierungsgesetz. Ihr Versagen zeigt sich auch in Ihrem Fraktionsbeschluss (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Krista zur Bekämpfung der Entgeltungleichheit. Appelle und Sager [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) freiwillige Vereinbarungen – das haben wir jetzt wirklich gelernt – führen nicht zum Erfolg. Angesichts des morgigen Equal Pay Days, bei dem (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ die Frauenministerin ihren großen Auftritt hat, gebe ich DIE GRÜNEN]: Aber das neue Computerpro- Ihnen ein Zitat von Abraham Lincoln mit auf den Weg gramm wird es richten!) – dies ist besonders an Sie gerichtet, meine Damen und Herren von der CDU/CSU –: Bei der Frauenrechtskommission der Vereinten Natio- nen in New York haben wir über die für Männer und Wenn du nur das tust, was du immer getan hast, Frauen unterschiedlichen Auswirkungen der Finanz- und wirst du auch nur das bekommen, was du schon im- Wirtschaftskrise gesprochen. Die Internationale Arbeits- mer bekommen hast. (B) (D) organisation, ILO, geht davon aus, dass Frauen gegen- (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der über Männern eine schwächere Position haben, wenn es LINKEN) darum geht, sich der Finanz- und Wirtschaftskrise zu wi- dersetzen. Ursachen hierfür sind die geringe Erwerbs- Dass Frauen im Jahr 2009 in unserem Land im quote von Frauen, ihre schwächere Kontrolle über Ei- Durchschnitt fast ein Viertel weniger verdienen als Män- gentum und Ressourcen und die Konzentration von ner, ist eine Schande. Frauen in informeller und gefährdeter Beschäftigung mit Danke schön. geringeren Verdiensten und geringerem sozialem Schutz. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Für den sozialdemokratischen EU-Kommissar Spidla GRÜNEN und der Abg. Ina Lenke [FDP]) ist die Angleichung der Löhne von Frauen und Männern nicht nur in der Krise ein moralisches und ökonomisches Gebot. Deshalb brauchen wir verbindliche Regelungen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und Gesetze. Zu dieser Ansicht kommt übrigens auch Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat nun das Wort für der CEDAW-Ausschuss. die Fraktion Die Linke. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der LINKEN) Nur durch eine aktive Gleichstellungspolitik können wir die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern end- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): lich schließen. Es gibt genügend Berichte und Analysen Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und zu den Ursachen des Unterschiedes von circa 23 Pro- Herren! Bis zum Jahr 1957, in dem ich geboren wurde, zent. Deswegen bekommen Frauen übrigens auch deut- mussten sich Frauen in der Bundesrepublik Deutschland lich weniger Rente als Männer und haben im Alter ein ihren Arbeitsvertrag von ihrem Ehemann genehmigen höheres Armutsrisiko. lassen. Bis zum Jahr 1977 waren Frauen verpflichtet, sich um das Hauswesen zu kümmern. Heim und Herd Wir von der SPD-Fraktion fordern deshalb erstens die waren eine Domäne der Frau, Arbeit war eine Domäne Veränderung von Strukturen mit den Instrumenten Gen- des Mannes. So war das Familien- und Ehebild in der der Mainstreaming und Gender Budgeting. Bundesrepublik: eine heterosexuelle Idylle unter dem (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Jetzt kommt es Regime des Mannes. Schön, nicht, Herr Singhammer? endlich! Sie haben bisher nur geschwatzt!) Sie nicken so. 22818 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Barbara Höll (A) (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wie war Wir brauchen endlich einen gesetzlichen Mindestlohn (C) es denn im real existierenden Sozialismus? von mindestens 8,71 Euro, Wie viele weibliche Mitglieder des Politbüros (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE gab es denn?) GRÜNEN]: Oskar wollte doch 10 Euro!) 1957 besann man sich zum Glück auf den Gleichstel- der bald auf 10 Euro angehoben werden muss. Wir brau- lungsauftrag des Grundgesetzes. Die Bundesrepublik chen ein sogenanntes proaktives Gesetz, das die Tarif- verpflichtete sich in jenem Jahr zur Entgeltgleichheit parteien zu einer diskriminierungsfreien Entgeltbewer- von Mann und Frau. Man kann es kaum glauben: tung verpflichtet. Die Tätigkeiten müssen tatsächlich 52 Jahre später sind wir von diesem Ziel weit entfernt. diskriminierungsfrei bewertet werden. Konkret heißt dies beispielsweise, dass in die Bewertung der Arbeit einer Altenpflegerin ihre körperliche Belas- (Beifall bei der LINKEN) tung nicht mit einfließt, in die Bewertung der Arbeit ei- Wir brauchen ein Verbandsklagerecht im Allgemeinen nes Hausmeisters sehr wohl; er erhält mehr Entgelt. Tä- Gleichbehandlungsgesetz, damit das AGG nicht weiter tigkeiten, die zumeist selbstverständlich von Frauen ein zahnloser Tiger bleibt. Wir benötigen eine Antidis- ausgeübt werden, werden nicht in gleicher Weise bewer- kriminierungsstelle, die vom Familienministerium abge- tet und damit auch nicht in gleicher Weise entlohnt wie koppelt wird und ihrer Aufgabe tatsächlich gewachsen die Tätigkeiten ihrer männlichen Kollegen. Im Jahr 2009 ist. ist dies immer noch die bittere Wahrheit. (Beifall bei der LINKEN) Fakt ist, die Lohnschere zwischen Frauen und Män- nern ist in den letzten Jahren sogar noch weiter auseinan- Heute liegen drei Anträge der Opposition vor. Die dergegangen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: SPD hat verkündet, was sie will. Ich frage Sie: Mit wem Viele Frauen arbeiten in ungesicherten Beschäftigungs- wollen Sie das umsetzen? Dieser Frage müssen Sie sich verhältnissen, viele Frauen arbeiten in Teilzeitjobs, viele stellen. In den letzten Jahren sind Sie hier Antworten Frauen werden in ihrer Karriere benachteiligt, und viele schuldig geblieben. Sie haben es in Ihrer Koalition nicht Frauen arbeiten im Niedriglohnsektor. geschafft, etwas durchzusetzen, im Gegenteil. Heute hät- ten Sie die Möglichkeit, unserem Antrag zuzustimmen. Meine Damen und Herren von der Großen Koalition Das wäre ein wesentlicher Schritt in die richtige Rich- – dies gilt auch für die Vorgängerregierung, die rot-grüne tung. Koalition –, Sie sind an dieser Entwicklung mitschuldig: Danke. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) (B) (D) Ihre Arbeits- und Sozialpolitik führte zum Ausbau des Niedriglohnsektors. Ihre Einführung von Hartz IV hat Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: das Lohnniveau in den unteren Beschäftigungsverhält- Jetzt spricht Irmingard Schewe-Gerigk für die Frak- nissen nach unten gedrückt. tion Bündnis 90/Die Grünen. (Ina Lenke [FDP]: In der ehemaligen DDR hatten alle Niedriglöhne!) Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Ihre Politik hat zu einer Umgehung des Kündigungs- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schutzes und zu einem Ausbau ungesicherter Arbeitsver- Die Frau Ministerin ist nicht da, sie will dieser wichtigen hältnisse geführt. Ihre Sozialpolitik ging und geht zulas- Debatte fernbleiben. ten von Frauen. Sie haben die Lohnschere weiter geöffnet. (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Der Staatssekretär ist da!) (Beifall bei der LINKEN) Anlässlich des Equal-Pay-Day demonstrieren morgen Frau Möllring, Sie haben sich heute nicht einmal Frauen mit roten Taschen gegen rote Zahlen und dage- mehr die Mühe gemacht, irgendwelche Ansätze zu for- gen, dass Frauen im 21. Jahrhundert immer noch 23 Pro- mulieren. Ich habe darauf gewartet, dass Sie Appelle an zent weniger Geld bekommen als Männer. Mit dem die Wirtschaft richten, freiwillige Vereinbarungen abzu- Motto „Wer etwas ändern will, muss auch handeln“ sind schließen, oder Ähnliches. Nichts. wir angesprochen, liebe Kolleginnen und Kollegen, aber ganz besonders die Regierung. Das Regierungshandeln (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Stimmt beschränkt sich auf das Schreiben von Pressemitteilun- doch gar nicht!) gen und auf das Erstellen von Computerprogrammen. Es Ihre Bundesregierung hat sich im Vorjahr zur nationalen ist gut, dass die Grünen nicht mehr die Einzigen sind, die Nachhaltigkeitsstrategie und dazu verpflichtet, den Ent- das Thema Entgeltgleichheit immer wieder auf die Ta- geltabstand bis zum Jahr 2010 auf 15 Prozent zu verrin- gesordnung bringen. gern. Bis zum Jahr 2015 soll er nur noch 10 Prozent be- (Zurufe von der LINKEN) tragen. Wie denn, bitte schön? Antworten gehören auf den Tisch. Auch EU-Arbeitskommissar Spidla wiederholt es gera- dezu gebetsmühlenartig: Die Lohnunterschiede zwi- (Beifall bei der LINKEN) schen Frauen und Männern liegen in der EU bei Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22819

Irmingard Schewe-Gerigk (A) 17 Prozent. Deutschland schafft es auf einen der hinters- Es wäre schön, wenn so etwas auch bei uns zustande (C) ten Plätze mit 23 Prozent. Jetzt endlich will die EU ge- käme. setzliche Regelungen prüfen. Überfällig, kann ich da nur (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sagen. sowie bei Abgeordneten der SPD – Johannes (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Singhammer [CDU/CSU]: Sie waren doch sie- ben Jahre an der Regierung!) Auf Initiative der Grünen hatten wir im Januar eine Ausschussanhörung zu unserem Antrag zur Entgelt- In unserem Land scheint das Thema Geschlechterge- gleichheit. Dabei wurde deutlich, dass die extremen rechtigkeit nur in Zeiten des Wahlkampfs auf der Lohnunterschiede in Deutschland nicht nur eine Ursache Agenda zu stehen. Ich muss jetzt die Kollegin von der haben. Darum brauchen wir eine Vielzahl von Maßnah- SPD ansehen: Dass Franz Müntefering im Wahlkampf- men. Aber klar ist: Ohne gesetzliche Regelungen, wie getöse fordert, dass die Entgeltgleichheit sogar ins wir sie fordern, wird es nicht gehen. Darum muss die Grundgesetz geschrieben wird, ist bestenfalls scheinhei- Bundesregierung endlich aktiv werden. Wir Grünen for- lig. Dass morgen der SPD-Generalsekretär vor dem dern, die Eingruppierungskriterien in den Tarifverträgen Brandenburger Tor gegen ungleiche Löhne demonstrie- auf Diskriminierung zu prüfen. ren wird, das halte ich nun wirklich für eine Dreistigkeit. Demonstriert er eigentlich gegen sich selbst? Sie sind in (Ina Lenke [FDP]: Ist doch in Ordnung!) der Regierung, Sie hätten etwas machen können, und jetzt demonstrieren Sie da. Hier muss der öffentliche Dienst eine Vorbildfunktion übernehmen. Die Ministerin hat heute ein Computerprogramm vor- gestellt, das die Firmen freiwillig anwenden können. Ich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN glaube, mit diesem Computerprogramm werden wir sowie der Abg. Ina Lenke [FDP]) nicht für Lohngerechtigkeit sorgen können. Wir sehen kein konkretes Handeln. So kann es nicht weitergehen. Wir stehen zur Tarifautonomie, aber so kann es nicht Regieren via Pressemitteilung ist zu wenig. Tun Sie end- weitergehen. Arbeitgeber wie Gewerkschaften müssen lich Ihre Arbeit! diese Aufgabe endlich ernst nehmen. Gleichstellung auf dem Arbeitsmarkt kann nur durch die Zusammenarbeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aller Verantwortlichen erreicht werden. Da muss ich eine sowie bei Abgeordneten der SPD) traurige Bilanz in diesem Hause ziehen: Die letzten vier Jahren waren frauenpolitisch eine verlorene Zeit. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ingrid Fischbach hat jetzt das Wort für die Fraktion (D) der CDU/CSU. Es gab nicht ein Gesetz zum Thema Frauenrechte, Sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) haben nicht einen Gesetzentwurf vorgelegt. Unsere An- träge haben Sie ständig abgelehnt. Ein gesetzlicher Min- destlohn wäre ein sinnvoller Schritt zur Verringerung des Ingrid Fischbach (CDU/CSU): Lohngefälles. Immerhin würde davon jede vierte Frau Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! profitieren. Das heißt, jede vierte Frau verdient weniger Wenn ich jetzt am Fernseher oder hier oben auf der Be- als 7,50 Euro. Wir brauchen aber auch ein Verbandskla- suchertribüne sitzen würde, würde ich mich fragen: Was gerecht, damit Arbeitnehmerinnen gegen kollektive ist das eigentlich für eine Debatte? Lohndiskriminierungen nicht immer nur individuell kla- (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Sehr richtig!) gen müssen. All diese Forderungen haben Sie am Mitt- woch im Ausschuss abgelehnt. Von Ihnen kam nicht ein Es geht um Frauen, es geht um berechtigte Anliegen einziger Vorschlag. der Frauen, und bis jetzt habe ich nur Gezank und Geze- ter gehört. Es gibt noch einen anderen Ursprung der Schieflage: Bei uns hapert es schlicht und einfach an der Verände- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – rung der Geschlechterrollen. Auch im Jahr 2009 ist die Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- Forderung nach einer gerechten Aufteilung von Haus- NISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf der Abg. und Familienarbeit zwischen Frauen und Männern so ak- Ina Lenke [FDP]) tuell wie eh und je. Der europäische Mann arbeitet im – Ich werde es jetzt präzisieren, Frau Lenke. Frau Schnitt sechs Stunden im Haushalt, die Frau 25 Stunden. Gradistanac, Ihre Rede bestand aus nichts anderem als Deutschland hat einen extrem hohen Anteil von Frauen, Gezeter und einer 50-sekündigen Aufzählung. Da Sie die Teilzeit arbeiten. Warum? Weil unsere Kinderbetreu- sich erlaubt haben, sich zur Rede der Kollegin zu äußern, ung, unser Schulsystem und selbst unsere Versorgung darf ich das ebenfalls, obwohl ich das eigentlich nicht der alten Menschen darauf basieren, dass Frauen ein- gut finde, und deswegen beende ich das jetzt auch. springen. Mich hat gewundert, dass Sie so genau wissen – Frau In diesem Zusammenhang werde ich bei einem Blick Schewe-Gerigk hat gerade in das gleiche Horn gesto- in die USA ganz neidisch. Das erste Gesetz, das Präsi- ßen –, was alles richtig und was falsch war. Als Sie zu- dent Obama nach seinem Amtsantritt unterzeichnete, der sammen in der Regierung waren, hätten Sie etwas tun Fair Pay Act, soll dort eine faire Bezahlung sicherstellen. können. Ich muss mich fragen: Haben Sie es damals 22820 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Ingrid Fischbach (A) nicht ernst gemeint, oder haben Sie heute neue Erkennt- durchs Land – sie sind sehr vielfältig –, dass die jungen (C) nisse? Das würde bedeuten, dass man erst einmal Frauen sehr wohl arbeiten wollen, aber in den ersten Jah- schauen muss, was woanders passiert, und dass man da- ren nach der Geburt in Teilzeit. Warum fangen wir nicht raus Lehren für das eigene Handeln ziehen muss. an, einmal die Diskrepanzen aufzulisten? Warum wird Teilzeit unterbewertet? Warum ist Teilzeit in unserem (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Land für die Frauen auch heute noch ein Schritt zurück DIE GRÜNEN]: Sie sind an der Regierung! auf der Karriereleiter? Warum können wir Unternehmen Sie sind unbelehrbar!) nicht dazu bringen, dass Teilzeitarbeit höher bewertet – Wir sind an der Regierung, und deshalb werden wir, wird, sodass sie keinen Karriereknick bedeutet? Frau Schewe-Gerigk, uns dazu äußern; wir haben es be- (Beifall bei der CDU/CSU) reits getan. Der zweite Aspekt, der hier eine Rolle spielt, ist das (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Potenzial der Frauen, die um die 30 oder 40 sind und die NEN]: „Äußern“!) bisher ein anderes Lebensmodell hatten. Wie schaffen Die heutige Debatte findet auch aufgrund des Equal Pay wir es, dieses Potenzial zu aktivieren, das heißt, ihnen Days, den wir eingeführt haben, statt. den Wiedereinstieg in den Beruf zu ermöglichen? Frauen in dem Alter haben noch 20 bis 25 Jahre vor sich, (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ in denen sie aktiv arbeiten können. Deshalb ist das Mi- DIE GRÜNEN]: Wo ist Ihr Antrag?) nisterium sehr gut aufgestellt gewesen, als es das Pro- gramm für Frauen zum Wiedereinstieg in den Beruf auf – Wenn Sie eine Frage haben, dann melden Sie sich zu den Weg gebracht hat. einer Zwischenfrage. Ich kann dann ein bisschen länger reden. Bis jetzt muss ich meine Redezeit auf vier Minu- Das sind zwei Punkte, bei denen wir ansetzen müs- ten beschränken. sen. Ihre Antwort, „Ein Gleichstellungsgesetz wird es (Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Richtig!) bringen“, bringt es nicht auf den Punkt; denn die Ursa- Ich möchte einen Satz zur Quote sagen. Wir von der chen sind vielfältig. Das haben Sie alle gesagt. Wir wis- CDU/CSU-Fraktion sind sehr dafür – das wird auch un- sen, dass es in der finanziellen Bewertung der Arbeit sere Forderung sein, die wir in der nächsten Zeit noch ganz unterschiedliche Ansätze gibt. Angesichts dessen thematisieren werden –, dass in den Corporate-Gover- muss das uns und vor allen Dingen den Tarifparteien ein nance-Kodex eine Bestimmung aufgenommen wird, die Anliegen sein. Hier spreche ich die Gewerkschaften an, diese „Aufsichtsratsquote“ beinhaltet. die sich immer für Arbeitnehmerinteressen einsetzen; (B) wahrscheinlich tun sie es nur für Arbeitnehmerinteressen (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (D) und nicht für Arbeitnehmerinneninteressen. Es ist an der DIE GRÜNEN]: Dann hätten Sie in der letzten Zeit, dass auch in ihrer Spitze mehr Frauen sind, die sich Sitzungswoche doch unserem Antrag zustim- dafür einsetzen, dass das Gefälle bei den Löhnen der men können!) Frauen beseitigt wird. Das wäre wichtig. – Anders als Sie, Frau Schewe-Gerigk – Sie bölken im- (Beifall bei der CDU/CSU) mer dazwischen –, werden wir uns die Anwendung die- ses Kodexes anschauen, wenn dieser Punkt aufgenom- Warum wird die Pflege schlechter bezahlt als eine men ist. körperliche Tätigkeit auf dem Bau? Das kann ich über- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE haupt nicht nachvollziehen. Wenn dieser Unterschied be- GRÜNEN]: Den Antrag hatten wir doch!) seitigt wird, dann hätten wir schon einmal eine zentrale Baustelle weniger. Wir werden zur gegebenen Zeit reagieren; wir werden nicht Jahre warten wie Sie, um etwas zu verändern. Sie haben gerade das Computersystem Logib lächer- Wenn die Zahl der Frauen nicht entsprechend erhöht lich gemacht. Wenn Sie sich in anderen Ländern ein we- wird, werden wir sicherlich ganz schnell andere Rege- nig umhören – das haben Sie auch bei der Quote getan; lungen treffen. Sie nehmen Norwegen als Beispiel –, dann erfahren Sie, dass die Schweiz freiwillige Lohntests eingeführt hat. Herzlichen Dank. Diese Tests haben sehr gut eingeschlagen. (Beifall bei der CDU/CSU) Das heißt, die Unternehmen haben sich beteiligt. Die- jenigen, die sich da noch nicht beteiligt haben, kamen so Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: unter Druck, dass sie es tun mussten. Das ist ein Weg, Liebe Frau Fischbach, ich bin mir nicht ganz sicher, den auch wir einschlagen müssen. Das ist richtig und dass das Wort „dazwischenbölken“ ein parlamentari- wichtig. scher Ausdruck ist. Ich nehme einmal an, Sie wollten so etwas wie „rufen“ oder „brüllen“ zum Ausdruck brin- (Beifall bei der CDU/CSU) gen. Wir müssen an zwei weiteren Punkten ansetzen. Ers- (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Im Ruhrgebiet tens geht es um den Fall, dass junge Frauen ihre Er- sagen wir „bölken“! Aber ich nehme es zu- werbstätigkeit unterbrechen, weil sie Kinder bekommen. rück!) Ich war erstaunt, dass Sie, Frau Gradistanac, wissen, was die Frauen alles wollen. Ich erfahre bei meinen Reisen – Gut. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22821

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Ich erteile das Wort dem Kollegen Sönke Rix für die einmal bezeichnen. Tatsächlich wurden sechs Punkte (C) SPD-Fraktion. aufgezählt. (Beifall bei der SPD) (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Ich habe ge- sagt, dass sie die aufgezählt hat!) Sönke Rix (SPD): Die habe ich in Ihrer Rede vermisst. Sie haben zwar die Verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Her- Vorredner kritisiert und zwei Punkte angeführt. Bei die- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau sen setzen Sie jedoch auch wieder auf Freiwilligkeit. Ich Lenke, weil Sie mich vorhin so nett gleich als Erstes an- frage mich da, was das soll. Wir sind hier das Parlament gesprochen haben, mache ich das jetzt umgekehrt auch. und dazu da, Gesetze zu verabschieden. Frau Lenke, Sie haben betont, Ihre Redezeit sei zu kurz; sonst wären die Antworten auf die Frage, die auch ich (Ina Lenke [FDP]: Aber Gesetze helfen nicht Ihnen jetzt stellen muss, gekommen. immer!) Deshalb wäre es ganz sinnvoll, nicht nur Appelle zu ver- (Ina Lenke [FDP]: Wir haben einen Antrag breiten, weil morgen ein besonderer Tag ist, und für die dazu!) entsprechenden Aktionen zu werben, sondern auch die – Ich weiß. Ich habe ihn auch gelesen. Darin sind sehr Verantwortung als Gesetzgeber deutlich wahrzunehmen viele Appelle und sehr viele Maßnahmen, die auf Frei- und entsprechende Maßnahmen umzusetzen. willigkeit der Arbeitgeber und der Tarifparteien setzen. (Beifall bei der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/ Das haben wir seit Jahren gefordert. Das haben wir seit CSU]: Dazu hatten Sie doch schon lange ge- Jahren praktiziert. Trotzdem sind wir im EU-Vergleich nug Zeit!) immer noch auf einem der letzten Plätze. Wir sollten bei all dem, was wir schon gemeinsam auf (Ina Lenke [FDP]: Aber das hat doch andere den Weg gebracht haben, liebe Kolleginnen und Kolle- Ursachen!) gen aus der Koalition, unser Licht nicht unter den Schef- Deshalb glaube ich, dass freiwillige Lösungen nicht fel stellen. Frau Möllring hat zwar das Elterngeld er- mehr tragen. wähnt, aber die Initiative hierzu Frau von der Leyen zugeschrieben. Ich will jetzt nicht noch einmal dieses (Beifall bei der SPD) Fass aufmachen, sondern halte nur fest: Die Idee dazu kam eigentlich von der Sozialdemokratin Renate Sehr geehrte Frau Höll, Sie haben gesagt, dass die Schmidt. Ich bin ja ganz dankbar, dass die Union diesen SPD keine Lösungen vorgeschlagen hat, bzw. gefragt, Ansatz trotz Widerstandes aus den eigenen Reihen mit- (B) warum wir das, was wir vorgeschlagen haben, nicht ma- (D) getragen hat. Auch der gemeinsam auf den Weg ge- chen. Ich muss dazu sagen: Es gibt Zeiten, da sind Ge- brachte Ausbau der Kinderbetreuung ist ein wichtiger meinsamkeiten in einer Koalition aufgebraucht. Das ha- Punkt. Von daher sollten wir angesichts der Maßnahmen, ben wir bei der Debatte heute deutlich gemerkt. Die SPD die wir gemeinsam ergriffen haben, unser Licht nicht un- hat klar Position bezogen. Sie haben gefragt, wann wir ter den Scheffel stellen. Ich würde mir wünschen, wir das machen wollen. Wir machen das nach der nächsten würden noch mehr Dinge gemeinsam umsetzen, aber ich Bundestagswahl, wenn wir mit den Grünen – da haben glaube, das ist in dieser Legislaturperiode nicht mehr wir nämlich viele Gemeinsamkeiten – die Mehrheit ha- möglich. ben. (Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Doch! Wir ha- (Beifall bei der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/ ben bis September noch Zeit! – Weitere Zurufe CSU]: Sie wissen, dass das nicht reicht! Mit von der CDU/CSU) wem denn noch? Sagen Sie das einmal!) So bleibt aber wenigstens ein bisschen Vorfreude auf die Wir haben schon in der vergangenen Legislatur- nächste Legislaturperiode. periode ein Gleichstellungsgesetz für den öffentlichen Dienst auf den Weg gebracht. Schönen Dank. (Ina Lenke [FDP]: Das hat doch nichts ge- (Beifall bei der SPD) bracht, Herr Rix!) Ich glaube, dass es tatsächlich nicht an allen Stellen et- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: was gebracht hat, aber für die freie Wirtschaft wäre ein Hiermit schließe ich die Aussprache. solches Gesetz ein kleiner, aber wichtiger Schritt, um Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus- auch hier Lohngleichheit und mehr Gleichberechtigung schusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend auf zu erreichen. Drucksache 16/12265. Der Ausschuss empfiehlt unter (Beifall bei der SPD) Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- Frau Fischbach, Sie haben gesagt, dass meine Kolle- sache 16/8784 mit dem Titel: „Durchsetzung der Ent- gin Gradistanac keine Punkte genannt hat. Sie hat angeb- geltgleichheit von Frauen und Männern – Gleicher Lohn lich nur – ich will diesen Begriff jetzt nicht noch einmal für gleichwertige Arbeit“. Wer stimmt für diese Be- gebrauchen – irgendwie negativ gerufen; so will ich es schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – 22822 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (A) Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der Nach einer interfraktionellen Verabredung ist vorge- (C) Koalitionsfraktionen und der FDP, Gegenstimmen in der sehen, hierzu eine halbe Stunde zu debattieren. – Dazu Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und bei Enthaltung der sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- Fraktion Die Linke angenommen. sen. Unter Nr. 2 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/11175 Kollegin Dr. Carola Reimann für die SPD-Fraktion. mit dem Titel: „Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit – Für eine tatsächliche Chancengleichheit von Frauen und Dr. Carola Reimann (SPD): Männern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- Herren! Mit der heutigen ersten Lesung des Gesetzent- fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, wurfes zur diamorphingestützten Substitutionsbehand- der Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die lung machen wir einen wichtigen Schritt hin zu einer Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion der FDP ange- dauerhaften und auch langfristig tragfähigen Regelung nommen. für Schwerstopiatabhängige. Hinter diesem Entwurf, der Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 3 sei- sich inhaltlich eng an die Bundesratsinitiative anlehnt, ner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags stehen zahlreiche Abgeordnete von SPD, FDP, den Lin- der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/11192 mit ken und Bündnis 90/Die Grünen. Das freut mich, weil dem Titel: „Entgeltgleichheit zwischen den Geschlech- durch die breite Unterstützung aus fast allen Fraktionen tern wirksam durchsetzen“. Wer stimmt für diese Be- hoffentlich zügig eine ausreichende gesetzliche Grund- schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – lage für die diamorphingestützte Substitutionsbehand- Damit ist die Beschlussempfehlung bei Zustimmung der lung geschaffen werden kann. Koalitionsfraktionen, der FDP und Bündnis 90/Die Grü- nen und Ablehnung der Fraktion Die Linke angenom- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem men. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- geordneten der FDP) Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 11 a bis 11 c auf: Darauf warten die betroffenen Schwerstabhängigen und diejenigen, die sich in den Projekten engagieren und a) Erste Beratung des von den Abgeordneten gute Arbeit leisten. Es wird deshalb höchste Zeit, dass Dr. Carola Reimann, Detlef Parr, Frank Spieth ein solches Gesetz kommt. und weiteren Abgeordneten eingebrachten Ent- (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN (B) wurfs eines Gesetzes zur diamorphingestützten (D) Substitutionsbehandlung und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Drucksache 16/11515 – Die Modellprojekte und die damit verbundene klini- sche Studie haben klar nachgewiesen, dass die Diamor- Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) phinbehandlung den Gesundheitszustand und die Le- Innenausschuss bensumstände von Schwerstopiatabhängigen verbessert, Rechtsausschuss und zwar mit signifikant besseren Ergebnissen als bei Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend der Methadonbehandlung. Bei den Betroffenen – das b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten will ich an dieser Stelle sagen – handelt es sich um lang- Entwurfs eines Gesetzes über die diamorphin- jährig schwerstabhängige Menschen in äußerst kriti- gestützte Substitutionsbehandlung schem Gesundheitszustand. Durch die jahrelange Heroin- abhängigkeit ist ihr Körper schwer gezeichnet. Für sie ist – Drucksache 16/7249 – die Behandlung mit Diamorphin die letzte Therapieop- Überweisungsvorschlag: tion, eine allerletzte Chance, in ein geregeltes Leben zu- Ausschuss für Gesundheit (f) rückzukehren. Es besteht kein Zweifel: Durch die Mo- Innenausschuss Rechtsausschuss dellprojekte haben Schwerstabhängige wieder zurück ins Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Leben gefunden. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jens (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN Spahn, Maria Eichhorn, Dr. Hans Georg Faust und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und weiterer Abgeordneter Wir brauchen jetzt eine gesetzliche Grundlage, damit Ausstiegsorientierte Drogenpolitik fortführen – diese Versorgung auch fortgesetzt werden kann. Mit dem Künftige Optionen durch ein neues Modell- Gesetzentwurf wollen wir die rechtlichen Voraussetzun- projekt zur heroingestützten Substitutionsbe- gen dafür schaffen, dass Diamorphin, also künstliches handlung Opiatabhängiger evaluieren Heroin, im Falle seiner Zulassung als Arzneimittel zur Behandlung von Schwerstopiatabhängigen eingesetzt – Drucksache 16/12238 – werden kann. Dazu ist es notwendig, dass erstens Dia- Überweisungsvorschlag: morphin als verschreibungsfähiges Betäubungsmittel Ausschuss für Gesundheit (f) eingestuft wird und zweitens strenge Kriterien für die Innenausschuss Rechtsausschuss Verwendung von Diamorphin zur Substitution einge- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend führt werden. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22823

Dr. Carola Reimann (A) Uns ist völlig klar, dass es sich hier um eine beson- Nach jahrelangen Modellprojekten, mehrjährigen Stu- (C) dere Substanz und Behandlungsmethode handelt. Des- dien, positiven Ergebnissen auch aus anderen Ländern halb befinden sich im Entwurf für die kontrollierte Ab- und guten Erfahrungen mit den Projekten hier vor Ort gabe auch strikte Vorgaben zum Personenkreis: sind alle Fragen, die zu klären waren, geklärt. (Detlef Parr [FDP]: Sehr notwendig!) (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!) Die Diamorphinbehandlung kommt nur für Schwerst- opiatabhängige infrage. Das heißt, eine Abhängigkeit Jetzt ist es Zeit, dass wir endlich eine sichere gesetzliche muss seit mindestens fünf Jahren bestehen, verbunden Grundlage zur Weiterführung der Projekte schaffen. mit schwerwiegenden körperlichen und psychischen (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Störungen. Vor Beginn einer solchen Behandlung müs- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- sen mindestens zwei andere Therapien versucht worden NISSES 90/DIE GRÜNEN) sein, die erfolglos waren. Außerdem muss der Patient mindestens 23 Jahre alt sein. Die an den Projekten Betei- Der Gesetzentwurf wird durch eine breite Unterstüt- ligten sind häufig sehr viel älter. Hinzu kommt, dass die zung interfraktionell getragen. Er wird von zahlreichen Behandlung nur in bestimmten Einrichtungen und Zen- Experten, Verbänden und Politikern vor Ort – im Übri- tren vorgenommen werden darf, die besondere Anforde- gen auch von CDU-Kollegen – unterstützt. Er wird rungen erfüllen müssen, insbesondere im Hinblick auf ebenfalls unterstützt von Praktikern und Fachleuten in die Sicherheit. Weitere Maßnahmen sind ein Sonderver- den Einrichtungen vor Ort, ja mehr noch: seit vielen Wo- triebsweg und eine entsprechende Qualifikation der chen und Monaten gefordert. Deshalb werbe ich dafür, Ärzte. den Gesetzentwurf nun zügig zu beraten, damit wir noch in diesem Frühjahr eine sichere gesetzliche Grundlage Der Gesetzentwurf trägt also den Bedürfnissen der zur Weiterführung dieser Versorgung schaffen. Schwerstabhängigen Rechnung und enthält zugleich die notwendigen strengen Sonderregelungen, die wir beim Danke. Umgang mit dieser besonderen Substanz brauchen. (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (Beifall bei der SPD, der FDP und der LIN- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Stephan KEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU Eisel [CDU/CSU]: Was sagen Sie denn zu den und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Zweifeln der Experten?) Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/ CSU, kann ich nicht nachvollziehen, warum Sie sich so Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) vehement gegen diesen Gesetzentwurf sträuben. Ich erteile das Wort jetzt dem Kollegen Detlef Parr für (D) die FDP-Fraktion. (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Weil es viele offene Fragen gibt!) (Beifall bei der FDP) Ihr Antrag, den Sie nach langem Zögern – besser gesagt: Detlef Parr (FDP): nach langem Verzögern – vorgelegt haben, wiederholt alte und unzutreffende Zweifel an den Studienergebnis- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! sen Jobcenter gestern: Union gegen Union; Hilfe für Schwerstabhängige heute: Union gegen Union. Die (Zuruf von der CDU/CSU: Zu Recht!) CDU/CSU ist dabei, nur noch Eigentore zu schießen. und erweckt in unverantwortlicher Art und Weise den (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Eindruck, dass künftig Zehntausende von Abhängigen Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- für die Substitutionsbehandlung Schlange stehen wer- NEN]) den. Das ist nicht wahr. Er belässt außerdem Betroffene wie auch Mitarbeiter in den Projekten in unsicheren Pro- Lassen Sie mich kurz erklären, warum. Wir beraten visorien. heute unter anderem einen Gesetzentwurf, der auf An- trag der Länder Hamburg, Hessen, Niedersachsen, des (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN Saarlandes und des Landes Nordrhein-Westfalen im und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bundesrat beschlossen wurde. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wer in Hessen, Niedersachsen und Nordrhein- Dieser halbherzige und unzureichende Antrag ver- Westfalen mit der FDP regiert. Die Zusammenarbeit stärkt bei mir den Eindruck, dass Ihre Ablehnung nicht zwischen den Ländern und dem Bund funktioniert offen- aus fachlichen, sondern aus rein ideologischen Gründen bar nicht mehr. erfolgt. Die CDU/CSU setzt noch einen obendrauf, nämlich (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem einen eigenen Antrag, der die guten und richtigen Vor- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Frank Spieth schläge sowohl im Gesetzentwurf des Bundesrates als [DIE LINKE]: Sehr bedauerlich!) auch in unserem interfraktionellen Gesetzentwurf, end- Überzeugende und stichhaltige Argumente, die gegen lich die schon lange fälligen Regelungen für die Auf- unseren Gesetzentwurf sprechen, kann ich in Ihrem An- nahme der diamorphingestützten Substitutionsbehand- trag nicht entdecken. Stattdessen sprechen Sie blumig lungen in die gesundheitliche Regelversorgung zu von offenen Fragen, die noch geklärt werden müssen. schaffen, konterkariert. In einigen Städten und Ländern, 22824 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Detlef Parr (A) zum Beispiel in Karlsruhe, hat die CDU dagegen bewie- Sie wollen den Rückgang des illegalen Drogenkonsums, (C) sen, dass sie aus den dort seit 2002 durchgeführten Mo- die sinkende Quote der Beschaffungskriminalität, die dellprojekten die richtige Schlussfolgerung gezogen hat, Abnahme der Prostitution, die von 11 Prozent auf den therapeutischen Weg für eine Diamorphinbehand- 27 Prozent gestiegene Zahl der regelmäßig Arbeitenden, lung für Schwerstabhängige freizumachen. die Delinquenzrate, die sich innerhalb eines Jahres von 70 Prozent auf 27 Prozent zurückentwickelt hat, nicht (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN zur Kenntnis nehmen. Diese Haltung, die Sie nach wie und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vor gegenüber den Modellprojekten und diesen Ergeb- Es geht nicht darum – wie uns die Union im Bundes- nissen einnehmen, ist nicht nachvollziehbar. tag glauben machen möchte –, großflächig Manna an (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN Drogenabhängige zu verteilen. Vielmehr geht es darum, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) einer kleinen Gruppe von Menschen – sie wird nicht ins Unermessliche wachsen, weil wir eine vernünftige Deshalb bin ich der SPD dankbar, liebe Frau Sucht- und Drogenpolitik machen, die, Frau Drogenbe- Reimann, dass wir einen Gruppengesetzentwurf auf den auftragte, natürlich noch ein bisschen verbessert werden Weg bringen konnten, der interfraktionell großen Zu- könnte; wir haben viele Gemeinsamkeiten in diesem Be- spruch fand und noch immer findet. Wer ihn genau liest, reich –, die heroinabhängig ist und die mit den bisheri- stößt immer wieder auf Brücken, die wir der Union ge- gen Hilfsangeboten nicht erreicht werden konnte, zu hel- baut haben. fen, in den Alltag des Lebens zurückzufinden. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der LIN- Der Bundesrat hat bereits am 21. September 2007 für KEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!) den Gesetzentwurf gestimmt. Weil die CDU/CSU diesen Es sind zahlreiche Sonderregelungen vorgesehen. So blockiert hat, befassen wir uns erst heute, eineinhalb darf Diamorphin ausschließlich zur Substitutionsbe- Jahre später, mit dieser Initiative. Das ist eine lange Zeit, handlung verschrieben werden und nicht zur Schmerzbe- die ungenutzt verstrichen ist und die die Betroffenen in handlung. Der Vorwurf, es gebe Heroin auf Kranken- große Unsicherheit versetzt hat. schein, läuft also ins Leere. (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Leider verweigert sich die CDU/CSU-Bundestags- fraktion nach wie vor der uneingeschränkten Unterstüt- Die Behandlung darf nur in bestimmten Einrichtungen zung von Menschen, bei denen eine herkömmliche Sub- vorgenommen werden, die einer Erlaubnis der Landes- (B) (D) stitutionsbehandlung nicht erfolgreich verläuft oder die behörde bedürfen und die eine besondere personelle und von anderen Maßnahmen der Suchtbehandlung gar nicht sächliche Ausstattung vorweisen müssen. Auch die Si- mehr erreicht werden cherheitsbedingungen sind sehr hoch angesetzt. Das be- nötigte Diamorphin darf nur auf einem Sondervertriebs- (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Bleiben Sie weg geliefert werden; um einige Beispiele zu nennen. doch mal sachlich!) Die Bundesärztekammer, liebe Kolleginnen und Kol- – Entschuldigung, Herr Kollege, das alles sind Fakten –, legen der Union, hat so viel Vertrauen in diese Behand- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) lungsmethode, dass sie sie in ihre Substitutionsrichtli- nien und ihr Fortbildungsprogramm einarbeiten will. von Langzeitabhängigen, deren Alter über zehn Jahre (Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und höher ist als das eines durchschnittlichen Drogenabhän- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gigen in Deutschland, und von Schwerstbetroffenen, für die es oft nur noch ums nackte Überleben geht. Bedenkenträger bleibt allein die CDU/CSU. Sie kann sich nur zu einer müden Fortführung des Modellprojekts (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Was sagen Sie durchringen. Damit spielt sie weiter auf Zeit und lässt zu den unterschiedlichen Meinungen der schwerstabhängige Menschen im Stich. Das Gewissen Ärzte?) wird scheinbar beruhigt, aber die Probleme bleiben un- Sie wollen die gesicherten Ergebnisse nicht zur Kenntnis gelöst. nehmen, wie die deutliche Verbesserung des gesundheit- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten lichen Zustands der Patienten. der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das stimmt SES 90/DIE GRÜNEN) doch gar nicht! Die Ärzte sind unterschiedli- Das wollen wir nicht mitmachen. Wir brauchen die cher Meinung!) Aufnahme in die Regelversorgung jetzt. Das duldet kei- – Je lauter Sie rufen, umso weniger überzeugend sind nen Aufschub mehr. Ihre Argumente, Herr Kollege. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Elke Ferner [SPD]) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜND- 250 Kolleginnen und Kollegen haben den Gesetzentwurf NISSES 90/DIE GRÜNEN) bis heute unterschrieben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22825

Detlef Parr (A) (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Nur ein Drit- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (C) tel der FDP!) Die SPD und das Bundesgesundheitsministerium haben Es fehlen nicht mehr viele bis zur Mehrheit. Machen Sie, unseren Vorschlag aus nicht nachvollziehbaren Gründen liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, die abgelehnt. Überlebenshilfe auch zu Ihrer Sache! Folgen Sie Ihrer inneren sozialen Stimme (Elke Ferner [SPD]: Ich hätte Ihnen mehr Ver- stand zugetraut!) (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Christlich!) Für die Entscheidung der Union waren schwerwie- und lassen Sie endlich einmal Fraktionszwang Frak- gende fachliche Argumente gegen die Heroinsubstitu- tionszwang sein! tion ausschlaggebend. Danke. (Elke Ferner [SPD]: Das wäre ja etwas Neues, (Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie Frau Eichhorn!) bei Abgeordneten der SPD – Frank Spieth [DIE LINKE], an die CDU/CSU gewandt: Diese wurden von Sachverständigen der Wissenschaft, Eine Gewissensentscheidung müssen Sie tref- der Ärzte und der Krankenversicherungen – Sie waren fen!) selbst dabei – im September 2007 in einer Anhörung im Deutschen Bundestag zum Ausdruck gebracht. Für viele Experten lassen die Ergebnisse der Studie keinen siche- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ren Schluss auf eine Überlegenheit von Heroin gegen- Jetzt hat Maria Eichhorn das Wort für die Fraktion der über Methadon bei Schwerstabhängigen zu. Bei der Ver- CDU/CSU. besserung des Gesundheitszustandes der Patienten und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) dem Rückgang des illegalen Drogenkonsums ergaben sich zwar statistisch signifikante Unterschiede zugunsten Maria Eichhorn (CDU/CSU): der Heroinsubstitution; diese sind jedoch so gering, dass sie nach Meinung der Experten Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Rede ist es schwer, sachlich zu bleiben. Ich (Detlef Parr [FDP]: Welcher Experten? – werde mich trotzdem darum bemühen, auch wenn Sie Frank Spieth [DIE LINKE]: Das sieht der diese Sachlichkeit haben vermissen lassen. Bundesrat ja offenkundig ganz anders!) (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. h. c. Jürgen für die Praxis kaum von Bedeutung sind und eine erheb- (B) Koppelin [FDP]: Was?) liche Zunahme der Heroinsubstitution zulasten der Me- (D) In Deutschland leben zurzeit schätzungsweise thadonsubstitution nicht rechtfertigen. 140 000 Opiatabhängige. Das sind 140 000 Menschen, (Zuruf der Abg. Sabine Bätzing [SPD]) die nicht mehr von der Droge loskommen und daher un- serer Hilfe bedürfen. Von den 140 000 Abhängigen be- – Ich komme darauf noch zu sprechen. finden sich 60 000 in Behandlung, 90 Prozent davon in Substitutionsprogrammen. Das ist kein schlechter Wert, Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund einer un- wenn man das mit der Versorgungslage bei anderen Ab- terschiedlichen Erwartungshaltung bei den Patienten. hängigkeiten vergleicht. Studien belegen zum Beispiel, Erfahrene Substitutionsärzte weisen darauf hin, dass Pa- dass nur 5 bis 10 Prozent der Alkoholabhängigen behan- tienten oft bereits in Erwartung der Behandlung von ei- delt werden. nem besseren Gesundheitszustand berichten, wenn Behandlungsmethode und Behandlungsziel ihren Wün- 1998 vereinbarte die rot-grüne Bundesregierung im schen entsprechen. Koalitionsvertrag einen Modellversuch zur heroinge- stützten Behandlung Opiatabhängiger. Dadurch sollte Vergessen werden darf auch nicht, dass die starke überprüft werden, ob sich der Gesundheitszustand der Giftwirkung des Heroins zu einer erheblichen Kompli- Patienten verbessert, wenn ihnen Heroin statt Methadon kationsrate führt, die es bei Methadon nicht gibt. Atem- verabreicht wird. Auch die Auswirkung der Heroinsub- depressionen sind die häufigste Todesursache bei stitution auf den Konsum von Straßenheroin war Unter- Opiatsüchtigen. Sie traten im Modellprojekt bei 23 He- suchungsgegenstand. roinpatienten und nur bei einem Patienten der Metha- dongruppe auf. Krampfanfälle gab es bei 63 Heroin-, Im vorliegenden Gesetzentwurf der Gruppe um die aber nur bei einem Methadonpatienten. Die Liste ließe Kollegen Reimann, Parr und andere sowie im Gesetzent- sich fortsetzen. wurf des Bundesrates wird nun gefordert, im Zuge die- ses Modellprojekts die Diamorphinbehandlung in die Auch der Beikonsum illegaler Drogen wie Kokain hat Regelversorgung zu überführen. Die Bundestagsfraktion sich im Vergleich zur Methadonsubstitution nicht we- der CDU/CSU hat sich mit Beschluss vom 26. Novem- sentlich verändert. So stellt sich die Frage, warum jeder ber 2007 aus guten Gründen dagegen ausgesprochen. dritte Heroinpatient weiterhin illegal Drogen konsu- Stattdessen haben wir vorgeschlagen, die Heroinbehand- mierte, obwohl ihm Heroin legal zur Verfügung gestellt lung im Rahmen eines neuen Modellvorhabens mit dem wurde. Dies geschieht – zugespitzt gesagt – ganz nach Ziel weiterzuführen, die offenen Fragen zu klären. Viele dem Motto: Eine Ration vom Staat und eine Ration vom Fachleute unterstützen uns in dieser Haltung. Dealer. 22826 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Maria Eichhorn (A) (Detlef Parr [FDP]: Wo bleibt denn da die Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) Sachlichkeit? – Weiterer Zuruf von der SPD: Frau Kollegin, wären Sie bereit, mit mir in meinen Unerhört!) Wahlkreis nach Frankfurt zu kommen und ein Gespräch mit der Dezernentin für Gesundheit in der Stadt, Frau – Herr Parr, da Sie ständig unsachlich waren, darf auch Rottmann, ich einmal einen etwas emotionaleren Satz sagen. (Elke Ferner [SPD]: Nein!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Detlef Parr [FDP]: Dann dürfen Sie uns nicht und vor allem mit der Oberbürgermeisterin der Stadt, angreifen! Wenn Sie unsachlich sind, darf ich Frau Petra Roth – meines Wissens mir das auch erlauben!) (Frank Spieth [DIE LINKE]: CDU!) Damit bleibt – entgegen den Behauptungen der Ver- CDU-Mitglied –, zu suchen, um sich darüber zu erkundi- treter des Modellprojektes – trotz Heroinsubstitution ein gen, ob das, was Sie hier berichten, irgendetwas mit der großer Teil der Patienten in der Drogenszene. Realität zu tun hat? Darüber hinaus sind weitere Aspekte ungeklärt. Fach- (Detlef Parr [FDP]: Gute Frage!) leute weisen darauf hin, dass die Kriterien für die Auf- nahme der Diamorphinbehandlung zu ungenau sind. Die Wären Sie, wenn es zwischen Ihrer Rede und der Situa- meisten der heute in Behandlung befindlichen Metha- tion vor Ort tatsächlich eine Differenz geben sollte, be- donpatienten würden die vorgegebenen Kriterien zur reit, sich überzeugen zu lassen, dass wir vor Ort tatsäch- Heroinbehandlung erfüllen. lich andere Argumente gelten lassen müssen? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die Zahlen gehen weit auseinander. Wer sich für die und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Heroinsubstitution ausspricht, redet die Zahl möglichst FDP und der LINKEN) klein. In der Anhörung dagegen haben die Krankenkas- sen – Sie haben es selbst gehört – von einer Zahl von bis zu 80 000 Personen gesprochen. Maria Eichhorn (CDU/CSU): Herr Kollege, Sie können davon ausgehen, dass ich (Lachen der Abg. Sabine Bätzing [SPD]) meine Arbeit so verstehe, dass ich mich vor Ort, dort, wo die Praxis die Tagesordnung bestimmt, immer infor- Damit bestünde nicht nur die Gefahr einer unsachgemä- miere. So habe ich mich zum Beispiel in München, wo ßen Ausweitung der Behandlung mit Heroin, sondern ein Heroinsubstitutionsmodellprojekt betrieben wird, er- auch die Kosten für die Krankenkassen würden in eine (B) kundigt und mit den Abhängigen gesprochen. Ich habe (D) für die Beitragszahler nicht zumutbare Größenordnung aber auch erfolgreiche Einrichtungen zur Methadonsub- steigen. stitution besucht. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Umgekehrt wird (Detlef Parr [FDP]: Sicher gibt es die!) ein Schuh draus!) Ich habe festgestellt – das ist klar –: Derjenige, der He- Eine Heroinbehandlung kostet dreimal so viel wie eine roin bekommt, will es weiterhin haben. Ich habe auch Behandlung mit Methadon. Die Möglichkeiten, die weit- festgestellt, Herr Kollege, dass diejenigen, die vom He- aus günstigere Methadonbehandlung auszubauen, sind roin losgekommen sind und es geschafft haben, wieder längst nicht ausgeschöpft. ein eigenständiges Leben zu führen, darüber todfroh wa- ren. (Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist schwer zu ertragen!) (Frank Spieth [DIE LINKE]: „Todfroh“!) So werden in der Schweiz zwei Drittel der Heroinabhän- Ich gestehe Ihnen zu, dass mich das sehr bewegt hat. gigen mit Methadon behandelt, bei uns nur ein Drittel ( [SPD]: Fahren Sie nun bis zur Hälfte. Das ist Tatsache. nach Frankfurt?) Ich habe die Entscheidung meiner Fraktion nicht auf die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: leichte Schulter genommen. Es geht darum, den Men- Frau Eichhorn. schen zu helfen, ein Leben ohne Heroin führen zu kön- nen; die meisten wollen das auch. Das können wir auch Maria Eichhorn (CDU/CSU): durch eine gute Methadonbehandlung erreichen. Hier Sofort. – Deswegen fordern wir in unserem Antrag sind viele Möglichkeiten noch nicht vollständig ausge- eine klare Definition der Aufnahmekriterien, damit die schöpft. Behandlung mit Diamorphin tatsächlich nur als Ultima (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ratio durchgeführt wird. – Bitte sehr. Dr. Carola Reimann [SPD]: Unglaublich! – Frank Spieth [DIE LINKE]: Dagegen ist doch Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: keiner!) Der Kollege Nouripour würde gerne eine Zwischen- Oberstes Ziel jeder Drogentherapie ist und bleibt frage stellen. – Bitte schön. – das ist nicht nur die Auffassung unserer Fraktion – der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22827

Maria Eichhorn (A) Ausstieg aus dem Drogenkonsum. Jeder Heroinabhän- Das Interessante ist doch, dass es sich um eine klini- (C) gige wird Ihnen, wenn sie ihn fragen, bestätigen, dass er sche Studie handelt, bei der die gleichen Randbedingun- von der Droge loskommen will. Nach § 5 Betäubungs- gen vorherrschten und die so angelegt war, dass wir, falls mittel-Verschreibungsverordnung dient die Substitu- es sich hier um die Zulassung eines Medikaments gehan- tionsbehandlung dem Ziel der schrittweisen Wiederher- delt hätte, ein solches nach unseren Regelungen hätten stellung der Abstinenz einschließlich der Besserung und zulassen müssen. Stabilisierung des Gesundheitszustands. (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Durch die Diamorphinvergabe im Rahmen des Mo- Beatrix Philipp [CDU/CSU]: So ein Quatsch! dellprojekts konnten nur 8 Prozent der teilnehmenden Das stimmt doch gar nicht!) Drogenabhängigen in eine Abstinenztherapie überführt Das war einer der Gründe, warum diese Studie zu diesen werden. Daher fordern wir, dass eine neue Studie durch- Ergebnissen führte. Das können auch Sie nicht kleinre- geführt wird, in der es auch um die Frage geht, inwie- den. weit sich die Gabe von Diamorphin mit dem Ziel des Ausstiegs aus der Sucht vereinbaren lässt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Im vorliegenden Gesetzentwurf der Gruppe um Frau Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das ist doch Reimann wird behauptet, es gebe zur Diamorphinbe- umstritten! Die Experten haben doch unter- handlung keine Alternative. Dies sehen viele Experten schiedliche Meinungen!) und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion anders. Viele Sachverständige vertreten die Meinung, dass mit psy- chosozialer Betreuung bei der Methadonsubstitution Maria Eichhorn (CDU/CSU): ähnlich gute Erfolge erzielt werden können wie mit der Frau Abgeordnete, natürlich weiß ich, dass die Me- Heroinsubstitution; davon habe ich mich vor Ort über- thadon- und die Heroinsubstitution unter gleichen Be- zeugt. Daher fordern wir den Ausbau der Methadonbe- dingungen durchgeführt wurden. Wie ich bereits darge- handlung und der psychosozialen Betreuung, und zwar legt habe, waren die Unterschiede aber nicht so groß, im gleichen Umfang, wie sie im Rahmen der Studie bei dass es gerechtfertigt wäre, die Diamorphinbehandlung der heroingestützten Behandlung erfolgt ist. in die Regelversorgung zu überführen; Meine Damen und Herren, für übereilte Entscheidun- (Sabine Bätzing [SPD]: Wissen Sie auch, warum gen besteht keine Veranlassung. diese Ergebnisse herausgekommen sind?) das ist der erste Aspekt. Hier setzen wir an. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) Der zweite Punkt, den ich betonen will, ist, dass bei (D) Frau Kollegin, es gibt den Wunsch nach einer weite- der Methadonsubstitution in der heutigen Praxis in den ren Zwischenfrage, diesmal von Frau Caspers-Merk. meisten Fällen keine psychosoziale Betreuung stattfin- det. Aus diesem Grunde kommen viele Betroffene in Maria Eichhorn (CDU/CSU): eine schwierige Lage. In diesem Fall verlangen sie eine Bitte. Heroinsubstitution, obwohl ihnen schon vorher mit einer guten Methadonbehandlung hätte geholfen werden kön- Marion Caspers-Merk (SPD): nen. Liebe Frau Kollegin, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nehmen, dass im Rahmen des Modellprojekts, das eine klare Überlegenheit im Hinblick auf die Überlebensrate Für übereilte Entscheidungen besteht keine Veranlas- sung. Auch ohne Mitfinanzierung durch den Bund ist die (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Falsch!) Versorgung der bisherigen Heroinpatienten durch die und im Hinblick auf die gesundheitliche Struktur der Städte gesichert; auch das Bundesgesundheitsministe- Abhängigen zum Ergebnis hatte, rium hat dies bestätigt. (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Auch falsch!) (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das Ministerium ist gar nicht vertreten!) je zur Hälfte klassische Methadonsubstitution und Dia- morphinsubstitution durchgeführt wurde Die Patienten werden seit dem 1. Januar 2007 und auch weiterhin auf der Basis einer Ausnahmeerlaubnis mit (Detlef Parr [FDP]: So ist es!) Diamorphin behandelt. Kein einziger Patient musste auf seine Behandlung verzichten. und dass in beiden Fällen dieselbe psychosoziale Be- handlung stattgefunden hat, Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. LINKEN sowie des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Maria Eichhorn (CDU/CSU): sodass Ihre Forderung, die Methadonbehandlung mit ei- Karlsruhe, Köln und Frankfurt haben sogar Genehmi- ner verbesserten psychosozialen Behandlung zu kombi- gungen für die Aufnahme neuer Patienten erhalten. Des- nieren, unsinnig ist? wegen ist es ungeheuerlich, wenn gesagt wird, dass aus 22828 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Maria Eichhorn (A) christlicher und moralischer Perspektive die Haltung der Für den schwerstabhängigen Herbert S., der ohne die (C) Union nicht vertretbar sei. Hilfe der Studienambulanz wahrscheinlich nicht mehr leben würde, war die Diamorphinbehandlung der einzige Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ausweg. Die Aussicht auf eine Therapie ohne Entzugs- erscheinungen machte ihn neugierig, und er stimmte zu. Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen. Zunächst kümmerten sich die Mitarbeiter der Studienam- bulanz um ein Obdach. Als das gefunden war, begann Maria Eichhorn (CDU/CSU): die psychische Behandlung. Wir wollen in erster Linie den Ausstieg aus der Ein großer Unterschied zwischen Diamorphin und Droge. Das ist die beste Hilfe für die Heroinsüchtigen. Methadon ist die Halbwertszeit im Körper. Sie beträgt (Beifall bei der CDU/CSU) bei Methadon 24 Stunden, während Diamorphin schon nach drei Stunden zur Hälfte abgebaut ist. Daher muss Herbert S. die Studienambulanz auch morgens, mittags Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: und abends aufsuchen. Diese Regelmäßigkeit hilft ihm, Der Kollege Frank Spieth hat jetzt für die Fraktion seinen Tag zu strukturieren. Den Therapeuten gibt dies Die Linke das Wort. die Möglichkeit, regelmäßig mit ihm zu sprechen. Mitt- lerweise wiegt er 64 Kilogramm. Die Wunden haben (Beifall bei der LINKEN) zwar ihre Narben hinterlassen, sind aber geheilt.

Frank Spieth (DIE LINKE): Vor vier Monaten hat dieser ehemals todgeweihte Mann sogar eine Arbeit gefunden. Es ist zwar nur ein Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über 1-Euro-Job, aber er freut sich, wieder gebraucht zu wer- 250 Kolleginnen und Kollegen haben den Gesetzentwurf den. Nun geht er dreimal die Woche für die Stadt Frank- zur diamorphingestützten Substitutionsbehandlung un- furt in die Parks und sammelt Müll auf. Er freut sich terstützt und unterschrieben. Zugegebenermaßen hat er über diese Arbeit; denn durch sie hat er sein Einzelgän- einen sperrigen Titel, der sich nicht ohne Weiteres er- gerdasein überwunden und ein stabilisierendes soziales schließt. Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob die Da- Umfeld gefunden. Herbert S. ist nicht der einzige Ab- men und Herren hier und die Zuschauer neben den takti- hängige, dem die Diamorphintherapie geholfen hat. Wir schen Geschichten, die hier im Plenum deutlich werden, könnten dies durch zahlreiche weitere Beispiele belegen. nachvollziehen können, um was es geht. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Ich möchte anhand eines ganz konkreten Falles versu- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) chen, dem Ganzen ein Gesicht zu geben: Der 48-jährige (D) Herbert S. wurde von den Mitarbeitern der Studienam- Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen von der bulanz in der Grünen Straße in Frankfurt am Main buch- CDU/CSU, meine ich, dass die Erkenntnisse aus den Un- stäblich von der Straße aufgelesen. 20 Jahre lang war er tersuchungen und die konkreten praktischen Erfahrungen heroinsüchtig und die letzten fünf Jahre obdachlos. Er ist eine andere Behandlung für diesen begrenzten Kreis von 1,81 Meter groß, wog aber zu Beginn der Therapie nur Personen – im Sinne einer Ultima Ratio – überhaupt 41 Kilogramm. Sein Gesundheitszustand war miserabel. nicht mehr zulassen. Dem muss endlich gefolgt werden. Bei der Aufnahmeuntersuchung zeigte sich, dass er Ich unterstelle Ihnen überhaupt nichts. Ich weiß, dass seine Schuhe nicht mehr ausziehen konnte. Das hatte ei- sehr viele von Ihnen sehr starke christliche und soziale nen Grund: Er trug mehrere Socken übereinander; die Wurzeln haben. An dieser Stelle habe ich aber erhebli- Füße waren voller Wunden, und das unterste Paar So- che Zweifel; denn die Forderungen, die Sie hier aufstel- cken klebte an diesen Wunden fest. Herbert S. war äu- len, sind in sich nicht schlüssig. Ihr Antrag ist im Kern ßerst kontaktscheu, ein typischer Einzelgänger, von der nichts anderes als ein taktisches Reagieren auf diesen Straße gezeichnet. Bisher hatte er aus Angst vor dem Gesetzentwurf. Das finde ich nicht erträglich. Entzug jede Therapie abgelehnt. (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Eine Methadontherapie, die den Entzug lindern kann, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kam für ihn nie infrage. Denn er hatte sich auf dem Schwarzmarkt bereits illegal Methadon beschafft und Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wusste, wie es wirkt. Unter Methadon fühlte er sich Sie müssten jetzt bitte zum Ende kommen. schlecht, antriebslos und depressiv. Methadon führte bei ihm dazu, dass er immer wieder maßlos Schnaps und Wein trank. Da aber die Kombination Alkohol und Me- Frank Spieth (DIE LINKE): thadon die Atmung lähmen kann – dies wird von den Ich bin sofort fertig. meisten Therapeuten bestätigt –, kommt es beim Betrof- Ich kann mich insofern nur meinen Vorrednerinnen fenen zu problematischen Folgen: Die mit Heroinkon- und Vorrednern anschließen. Heben Sie den Fraktions- sum verbundenen Entzugserscheinungen haben solche zwang auf und machen Sie diese Entscheidung zur Ge- Auswirkungen, dass er letztendlich aus der Entzugsmaß- wissensentscheidung! nahme aussteigt und in der letzten Konsequenz wieder an der Nadel hängt. Es handelt sich also um einen Teu- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem felskreis. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22829

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Übrigen keine der bestehenden Therapieoptionen erset- (C) Das Wort hat nun Dr. Harald Terpe für Bündnis 90/ zen. Die Grünen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): LINKEN und des Abg. Detlef Parr [FDP]) Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- gen! Die Chancen stehen gut, dass wir endlich zu einer Sie führt auch nicht zur Abstinenz, aber sie schafft es, gesetzlichen Regelung die Diamorphinbehandlung für die zwingenden Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass schwerkranke Opiatabhängige betreffend kommen. Be- die Patientinnen und Patienten für eine weiterführende troffene Patientinnen und Patienten werden dankbar da- Substitutions- und Abstinenztherapie erreichbar wer- für sein und aufatmen, genauso wie die Mitarbeiterinnen den, nämlich die gesundheitliche und soziale Stabilisie- und Mitarbeiter in den Drogenambulanzen der betroffe- rung – das hat Herr Kollege Spieth sehr eindrucksvoll nen Kommunen. anhand eines Patientenfalls geschildert – und die Loslö- sung aus der Drogenszene. Mit unserem breit unterstützten Gesetzesvorschlag werden im Gegensatz zum Antrag der Union die richti- Allein in der Stadt Frankfurt wechselten 50 Prozent gen Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen des Mo- der Studienteilnehmer in eine weitergehende Substitu- dellprojektes gezogen. Ich will die Ergebnisse nicht in tions- oder gar Abstinenztherapie. allen Einzelheiten wiederholen. Der Gesundheitsaus- schuss hat sich mit gebotener Gründlichkeit mit den wis- Nun fordern die Unionsabgeordneten in ihrem Antrag senschaftlichen Ergebnissen beschäftigt. ein weiteres Modellprojekt. Dabei gehört die Diamor- phinbehandlung national wie international zu den am Ich will einen kleinen Ausflug in die Wissenschaft besten untersuchten Therapien in der Suchtmedizin. Ne- machen. In der Argumentation von Frau Eichhorn haben ben der deutschen Studie kommen vier große Studien wir immer wieder von den vielen Experten gehört. Ich zur Diamorphinbehandlung in der Schweiz, in den Nie- kenne aus dem Kinderreim: Eins, zwei, viele. Wenn es derlanden, in Spanien und in Großbritannien ebenfalls aber darum geht, signifikante Ergebnisse anzuerkennen, zu durchweg positiven Ergebnissen. Ich wäre froh, wenn ist bei Ihnen offenbar Fehlanzeige. es für alle Teile des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenkassen gelingen würde, eine derart gute Evidenz (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nachzuweisen. bei der SPD und der FDP) „Signifikanz“ ist ein Begriff aus der Wissenschaft. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. (B) Deshalb kann man nicht einfach argumentieren, dies sei (D) kein Ergebnis. Das ist ein signifikantes Ergebnis. Detlef Parr [FDP])

(Zuruf von der CDU/CSU: Das werden Sie bei Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der Anhörung wieder anders hören, Herr Herr Kollege, obwohl die Redezeit fast abgelaufen Terpe!) ist, haben Sie die einmalige Chance, eine Zwischenfrage Die Ergebnisse der Studie sind durchweg positiv und von Herrn Dr. Eisel zuzulassen. sprechen eindeutig dafür, dass die Behandlung in die Re- gelversorgung für den kleinen Kreis schwer Opiatabhän- Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): giger übernommen werden muss. Ja, gern. Wenn man den vorliegenden Antrag der Unionsabge- ordneten liest, bekommt man das Gefühl, als hätten die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Autoren dieses Antrags eine völlig andere Studie gelesen Bitte schön. oder an einer anderen Anhörung teilgenommen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Dr. Stephan Eisel (CDU/CSU): und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Herr Kollege, gerade weil ich aus einer der betroffe- LINKEN) nen Städte komme, nämlich aus Bonn, stelle ich Ihnen Obwohl die Studienergebnisse eindeutig sind, be- die Frage, ob Sie nicht bereit sind, anzuerkennen, dass es zweifeln oder leugnen die Unionsabgeordneten in ihrem sowohl von den Experten bei dem Expertenhearing als Antrag die Vorteile der Diamorphinbehandlung. Sie be- auch von Ärzten – übrigens auch von Ärzten aus mei- haupten auch, dass es einen Ansturm von 80 000 Abhän- nem Wahlkreis in Bonn – unterschiedliche Bewertungen gigen auf die neue Behandlungsform geben werde, ob- der Ergebnisse dieser Studie gab bzw. gibt. wohl in der Anhörung nahezu alle Sachverständigen Akzeptieren Sie nicht, dass es vor diesem Hinter- gerade das ausgeschlossen haben. grund auch eine verantwortliche Haltung sein kann, zu- Es muss noch einmal festgehalten werden: 80 Prozent nächst die unbeantworteten Fragen durch eine weitere der Patientinnen und Patienten haben sich in ihrer ge- Studie beantworten zu lassen, bevor man eine umstrit- sundheitlichen Situation verbessert. Bei 70 Prozent der tene Behandlungsmethode zur Regelbehandlungsme- Patientinnen und Patienten wurde der illegale Drogen- thode macht, und dafür zu sorgen, dass, wenn diese wei- konsum verringert. Die Diamorphinbehandlung soll im tere Studie stattfindet, all diejenigen, die sich jetzt in der 22830 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Stephan Eisel (A) Behandlung befinden, auch künftig in der Behandlung Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. (C) verbleiben können? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD, der FDP und der LINKEN) Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege, ich muss darauf Folgendes antworten: Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Mir ist durchaus bekannt, dass die Ergebnisse wissen- Sabine Bätzing spricht jetzt für die SPD-Fraktion. schaftlicher, evidenzbasierter Studien häufig in Zweifel gezogen werden, und zwar meistens von den Leuten, die (Beifall bei Abgeordneten der SPD) beispielsweise den Begriff „Signifikanz“ nicht anerken- nen. Sabine Bätzing (SPD): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der Kollegen! Lassen Sie mich als letzte Rednerin der De- LINKEN) batte noch einmal zusammenfassen, um was es bei die- sem Gesetzentwurf eigentlich geht. Es geht um das Le- Es ist also kein ausreichendes Argument, dass es Leute ben von schwerstkranken Menschen. gibt, die das nicht so sehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. (Zurufe von der CDU/CSU) Stephan Eisel [CDU/CSU]: Darum geht es uns allen!) – Solche gibt es auch unter den Ärzten. Es geht um langjährig Heroinabhängige, die trotz viel- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Herr Doktor, erklä- fältiger Versuche keinen Ausstieg aus dem Teufelskreis ren Sie bitte einmal die Signifikanz! – Gegen- der Sucht geschafft haben – weder durch drogenfreie ruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/ Therapien noch durch eine Methadonbehandlung. DIE GRÜNEN]: Um Gottes willen!) Was sind das für Menschen? Es handelt sich um Men- – Herr Spahn, wir sind hier jetzt nicht in der Schule und schen, die über 20 Jahre heroinabhängig sind, zahlreiche erklären uns nicht den Begriff „Signifikanz“. Begleiterscheinungen aufweisen und zum Teil mit (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das kann er ja Hepatitis C oder HIV infiziert sind. Viele haben post- anschließend noch einmal fragen!) traumatische Gewalterfahrungen gemacht oder haben mehrfache psychische Erkrankungen. Das ist meine Antwort darauf: Es gibt immer wieder Bei dieser Gruppe von Schwerstabhängigen schlagen (B) Leute, die wider besseres Wissen Studienergebnisse in (D) Zweifel ziehen. die gängigen Substitutionsmedikamente nicht an, oder sie haben das Hilfesystem bislang überhaupt noch nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Anspruch genommen. sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- KEN) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNIS- Ich glaube, der wesentliche Irrtum der Unionsabge- SES 90/DIE GRÜNEN) ordneten besteht darin, dass sie die Opiatabhängigkeit in erster Linie noch immer als moralische Angelegenheit Genau für diese Patienten werden durch die Diamor- und nicht als eine schwere chronische Erkrankung be- phinbehandlung eindeutig wissenschaftlich-signifikant trachten. bessere Ergebnisse erzielt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der FDP, sowie bei Abgeordneten der SPD und der der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE LINKEN – Annette Widmann-Mauz [CDU/ GRÜNEN – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: CSU]: Das ist eine Unterstellung, die wir zu- Sagt einer! Und die anderen?) rückweisen!) Den Menschen werden dadurch wieder Perspektiven ge- Genau genommen verwundert mich die Haltung der geben. Durch die Diamorphinbehandlung wird das Union auch nicht mehr sonderlich; denn seit Mitte der Überleben dieser Menschen gesichert. 90er-Jahre, seitdem der Bundesrat erstmalig ein Modell- An die Kolleginnen und Kollegen von der Union: projekt für die Diamorphinbehandlung gefordert hat, Auch wenn es um die Abstinenz geht, kann die Diamor- laufen Sie Sturm gegen diese Diamorphinbehandlung, phinbehandlung sehr gute Ergebnisse vorweisen. und zwar mit allen Kräften, aber auch, wie man eben von Ihnen gehört hat, mit schlechten Argumenten. (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Hat sie aber nicht!) (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Sie haben doch meine Frage gar nicht beantwortet!) Von allen Patienten, die nach vier Jahren die diamor- phingestützte Behandlung beendet haben, wechselte Ich hoffe jedenfalls, dass sich die Mehrheit des Bun- rund ein Drittel in eine andere Substitutionsbehandlung. destages davon nicht beirren lässt und die Chance zur Weitere 13 Prozent dieser Patienten, die wir früher nicht Einführung der Diamorphinbehandlung nutzt; denn nichts erreicht haben, haben eine abstinenzgestützte Behand- spricht ernsthaft dagegen. lung aufgenommen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22831

Sabine Bätzing (A) (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LIN- ches Präparat aus ärztlicher Sicht das geeignete und (C) KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- beste für die betroffenen Personen ist, und dass wir als NEN – Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Ich habe Politiker und Politikerinnen insbesondere dann, wenn si- von 8 Prozent gelesen! Nicht 13 Prozent!) gnifikante Ergebnisse für ein solches Präparat sprechen, die Pflicht haben, uns um die Zulassung eines Medika- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: ments zu bemühen, wenn es einem bestimmten Perso- Frau Bätzing, möchten Sie eine Zwischenfrage von nenkreis besser helfen kann als ein gängiges Präparat? Frau Widmann-Mauz zulassen? Stimmen Sie mir zu, dass diese Information in der De- batte einen großen aufklärerischen Wert haben könnte? Sabine Bätzing (SPD): Ja, gerne, Frau Widmann-Mauz. Sabine Bätzing (SPD): Liebe Kollegin Knoche, ich stimme Ihnen sehr gerne Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): zu. Es handelt sich in der Tat um eine Arzneimittelstu- Frau Kollegin Bätzing, Sie haben uns gerade erklärt, die, es geht um ein Arzneimittel. Ich bin Ihnen sehr dass die Schwerstabhängigen nicht durch gängige Me- dankbar für diese Information, die noch einmal deutlich thadonbehandlungen und -substitution erreichbar gewe- macht, dass es um Hilfe, Therapie und ein Medikament sen seien. Wie erklären Sie es sich dann, dass in der für schwerstkranke Menschen geht. Herzlichen Dank da- Kontrollgruppe zu den mit Diamorphin Behandelten im für. Modellvorhaben – nämlich der Kontrollgruppe, die mit (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Methadon weiterbehandelt wurde – zu 75 Prozent die- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) selben Erfolge erreicht wurden wie mit Heroin? Kann es nicht daran liegen, dass nicht der Stoff – in dem Fall He- Ich habe viele abhängige Menschen vor Ort kennen- roin – den Erfolg bringt, sondern mehr die psychosoziale gelernt und habe fast alle Ambulanzen besucht. Man Betreuung, die in diesem Modellvorhaben so elementar kann es nicht hoch genug einschätzen, wie positiv sich gut ist, dass es dann auch mit Methadon zu den entspre- das Leben dieser Menschen verändert hat. Eindrucksvol- chenden Erfolgen kommt? Wenn Ihre Grundannahme ler als Kollege Spieth kann man das sicherlich nicht dar- richtig wäre, hätte doch in der Methadonkontrollgruppe stellen. kein Erfolg mehr erzielt werden können. Wir wollen, dass diesen schwerstkranken Menschen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) eine Möglichkeit geboten wird, wieder menschenwürdig zu leben (B) Sabine Bätzing (SPD): (D) (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Das wollen Nein, liebe Kollegin Widmann-Mauz, das kann nicht wir doch auch! Das wollen wir alle!) daran liegen. Frau Caspers-Merk hat das vorhin sehr deutlich gemacht. Die psychosoziale Begleitung war in und, auch wenn es nicht einfach ist, ihre Sucht zu über- beiden Gruppen gleich. Wir können selbstverständlich winden. Die Unionsfraktion, die den alternativen Antrag die Methadonbehandlung verbessern, eingebracht hat, befürchtet dagegen – das hat sie heute (Zurufe von der CDU/CSU: Aha!) mehrfach wiederholt –, dass die Nachfrage nach Dia- morphinbehandlungen sprunghaft zunimmt. Diese Angst – das schließt ja nicht aus, dass wir das tun –, aber es ist völlig unbegründet. sind immer noch 25 Prozent, die überhaupt nicht erreicht werden. Sind Ihnen diese 25 Prozent egal? Uns sind sie (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ nicht egal. Wir wollen auch diesen Menschen das Über- DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Spieth leben sichern. [DIE LINKE]) (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN Die Horrorzahl von bis zu 80 000 Diamorphinpatienten und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) geistert schon seit Monaten durch die Medien. Sie ist aber eine reine Erfindung der Union. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Bei Frau Kollegin, es gibt noch eine Zwischenfrage der der Anhörung, Frau Kollegin!) Kollegin Monika Knoche. Realistisch ist – das bestätigen die Erfahrungen aus der Sabine Bätzing (SPD): Schweiz –, von 2 000 bis 3 000 Schwerstabhängigen Gerne, Frau Knoche. auszugehen, die die Behandlung in Anspruch nehmen könnten und denen nicht anders geholfen werden kann. Monika Knoche (DIE LINKE): Es gibt also für uns keinen Grund, jetzt ein positiv ab- Sehr verehrte Frau Kollegin, glauben Sie nicht auch, geschlossenes Modellprojekt fortzuführen und weiter dass es der Versachlichung der Debatte auch im Sinne abzuwarten. Was soll mit einer Verlängerung eines Mo- Ihrer Argumentation dienlich wäre, dem Plenum und der dellprojektes erreicht werden? Die Forschungsergeb- Öffentlichkeit darzulegen, dass es sich um eine Arznei- nisse sind eindeutig, auch was die angeblich offenen mittelstudie handelt und dass es um die Frage geht, wel- Fragen der Union angeht. 22832 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Sabine Bätzing (A) (Maria Eichhorn [CDU/CSU]: Wir wollen die schen – und nicht, wie Sie gesagt haben, 1 000 – in Be- (C) offenen Fragen klären!) tracht. Die Fortsetzung des Modells ist weder durchdacht noch Was mich am meisten stört, ist der Eindruck, den Sie finanzierbar; denn die Antragsteller haben sich bislang hier erwecken. Wenn es um Ideologie, um Irreales ginge, noch nicht einmal um zusätzliche Finanzmittel geküm- würden wir mit unserem Antrag sicherlich nicht ein mert. Das ist unredlich und unseriös. Kompromissangebot machen. Wenn man das Modell- projekt mit einer anderen Schwerpunktsetzung fortführt (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten – ich verweise noch einmal auf den Beikonsum, die Aus- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) stiegsorientierung und die psychosoziale Betreuung hin; Wir brauchen für die betroffenen Schwerstabhängi- es ist zu untersuchen, inwieweit sie zu den Ergebnissen gen eine langfristige Perspektive, ihr Leben wieder in beiträgt – und wenn es zu entsprechenden Ergebnissen den Griff zu bekommen. Deshalb ist jetzt die Über- kommt, sind wir bereit, über eine Gesetzesänderung nahme der erfolgreichen diamorphingestützten Substitu- nachzudenken. Wenn Sie wirklich ein Interesse daran tionsbehandlung in die Regelversorgung notwendig. Ich haben, dass es zu einer vernünftigen Lösung kommt, wie appelliere abschließend an die Kolleginnen und Kolle- Sie in Ihrer Rede gesagt haben, und dass die betroffenen gen der Union: Geben Sie Ihrem Gewissen Freiheit! Ent- Städte möglichst schnell zusätzlich Menschen aufneh- scheiden Sie sich auch aus christlicher Nächstenliebe für men können, dann können wir am morgigen Tag die we- diese schwerkranken Menschen und unterstützen Sie un- nigen Millionen Euro im Haushalt des Bundesministeri- seren Gesetzentwurf! ums für Gesundheit einstellen, die wir brauchen, um dieses Modellprojekt fortzusetzen. Wir reichen die Hand Danke schön. dazu, dass das schnell geht. Nehmen Sie diese Hand im (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem Interesse der Betroffenen und im Hinblick auf gute Er- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- kenntnisse an! Wir streiten über das Wie, aber nicht über geordneten der FDP – Dr. Stephan Eisel das Ziel. [CDU/CSU]: Ich habe genauso viel Gewissen (Beifall bei der CDU/CSU – Detlef Parr wie Sie!) [FDP]: Ihr hattet jahrelang Zeit, einen Antrag einzubringen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Zu einer Kurzintervention hat der Kollege Jens Spahn Vizepräsidentin Petra Pau: das Wort. Zur Erwiderung hat die Kollegin Bätzing das Wort. (B) (D) Jens Spahn (CDU/CSU): Sabine Bätzing (SPD): Frau Kollegin Bätzing, wir können darüber streiten, Herr Kollege Spahn, ich möchte nur auf einen Punkt wie wir den Menschen helfen. Aber eines lasse ich mir eingehen. Ich glaube, die Debatte hat gezeigt, dass wir persönlich und lassen wir uns als Fraktion nicht abspre- stichhaltige Argumente haben, die wissenschaftlich be- chen, nämlich dass wir genau das gleiche Bemühen an legt sind. Die Ergebnisse kann man auch nicht anders den Tag legen, wenn es darum geht, Schwerstabhängi- auslegen; denn die Fakten sprechen eine klare Sprache. gen eine Perspektive zu geben. Wir haben genau das gleiche Ziel, diesen Menschen eine Chance zu geben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und den Weg zurück in die Unabhängigkeit zu ermögli- der LINKEN) chen, damit sie ihr Leben selber gestalten können. Wir Ich möchte lediglich etwas zu Ihrem Kompromissan- streiten nicht über das Ziel, sondern über das Wie. Etwas gebot sagen. Ich halte es für einen faulen Kompromiss, anderes sollten Sie nicht unterstellen. den Sie uns anbieten. Sie hatten vier Jahre Zeit. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP) Herr Kollege Terpe, ich möchte aufgreifen, was Sie gesagt haben; das hat auch die Kollegin Bätzing ange- So lange liegt das endgültige Ergebnis der Studie vor. sprochen. Wir bestreiten nicht die Ergebnisse der Studie. Wir haben zu zahlreichen Gesprächsrunden und Besu- Wir ziehen aber andere Schlussfolgerungen aus der Stu- chen vor Ort eingeladen. Wir haben mit Ihnen über Ge- die als Sie. Es gibt noch zahlreiche offene Fragen, wie setzentwürfe diskutieren wollen. Aber nie gab es ein die Frage des Beikonsums – warum also weiterhin Ko- Kompromissangebot. Jetzt, wo es nicht mehr anders kain, Alkohol und Cannabis konsumiert werden – und geht, bringen Sie einen Antrag ein. Aber Sie machen die Frage der Ausstiegsorientierung. keine Finanzierungsvorschläge. Das ist nichts anderes als reine Verzögerungstaktik. Für uns ist das ein fauler Frau Kollegin Bätzing, die Zahl 80 000 wurde nicht Kompromiss, dem wir uns nicht anschließen werden. von der Union erfunden, sondern von der KBV und den Krankenkassen, also von den Kostenträgern und der ver- (Beifall bei der SPD, der FDP, dem BÜND- sammelten Ärzteschaft, in der Anhörung genannt. Die NIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Kostenträger und die versammelte Ärzteschaft – man Frank Spieth [DIE LINKE]: Ein Schelm, wer kann sie auch Experten nennen – haben gesagt, gemäß sich dabei anderes denkt! – Jens Spahn [CDU/ der von ihnen definierten Kriterien kämen 80 000 Men- CSU]: Vor Monaten haben wir das Angebot Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22833

Sabine Bätzing (A) gemacht! – Annette Widmann-Mauz [CDU/ Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf: (C) CSU]: Seit anderthalb Jahren diskutieren wir!) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kai Gehring, Ulrike Höfken, Vizepräsidentin Petra Pau: weiterer Abgeordneter und der Fraktion Nun hat noch der Kollege Terpe das Wort. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Kollege Spahn, Sie haben eben gesagt, Sie wür- – Drucksache 16/12303 – den die Ergebnisse der Studie nicht bestreiten, nur an- Überweisungsvorschlag: dere Schlussfolgerungen daraus ziehen. Das deckt sich Finanzausschuss (f) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nicht ganz mit dem, was Frau Kollegin Eichhorn gesagt Haushaltsausschuss hat. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die bei der SPD, der FDP und der LINKEN) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- Von ihr habe ich nur gehört, dass beispielsweise das Sig- schlossen. nifikanzkriterium in Zweifel gezogen wird. Wir können uns natürlich noch einmal darüber unterhalten, was ich Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege unter Signifikanz verstehe. Ich habe als Arzt damit gear- Dr. Gerhard Schick für die Fraktion Bündnis 90/Die beitet und eine Menge an Erfahrungen gesammelt. Ich Grünen. nehme Ihnen Ihr Argument nicht ab, dass Sie die Studien- ergebnisse zwar anerkennen, aber andere Schlussfolge- Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- rungen ziehen. NEN): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sie haben gerade etwas zur Ideologie gesagt. Ich kann Wenn man sich die Agenden der Gipfeltreffen sowohl in mich an die Bemerkung „Kiffen auf Krankenschein“ er- der EU als auch auf internationaler Ebene anschaut, innern. Ich weiß nicht, ob eine solche Formulierung dann erkennt man, dass ein Element, das nach unserer nicht zur Ideologisierung einer Diskussion beiträgt, bei Überzeugung nicht fehlen darf, bisher nicht Gegenstand der es ganz konkret um Patienten geht, die zu behandeln der Verhandlungen ist. sind, und zwar um schwerkranke Patienten. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Eine weitere (B) (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Darum geht Belastung!) (D) es uns doch auch!) Wir wollen dieses Element heute voranbringen und hof- – Ja, das haben wir gehört. fen, dass Sie mitziehen; wir werben um Ihre Unterstüt- zung. (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Ein bisschen mehr Respekt vor den Argumenten zeigen!) Es geht um die Finanzumsatzsteuer, die wir auf euro- päischer Ebene einführen wollen. Das ist ein Projekt, – Die Argumente waren ja scheinheilig. über das auch in anderen Ländern Europas diskutiert (Dr. Stephan Eisel [CDU/CSU]: Ich sage doch worden ist. Wir glauben, es ist notwendig, dass es nicht auch nicht, dass Ihr Argument scheinheilig ist! nur politische Meinungsäußerungen dazu gibt – zum Beispiel des Außenministers und des Finanzministers; Was soll das denn?) die können wir in dem Papier, das die beiden Minister – Wenn man an anderer Stelle ganz andere Äußerungen vorgelegt haben, nachlesen –, sondern dass dieses Pro- hört, dann fragt man sich, ob die Argumente in sich jekt auf europäischer Ebene auch wirklich vertreten schlüssig sind. wird. (Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): Dann müs- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sen Sie auch mal Ross und Reiter nennen!) Wir wollen uns für eine EU-weite Finanzumsatz- – Das liest man in der Zeitung. Jeder weiß es. steuer einsetzen. Natürlich müssen wir uns darüber un- terhalten – wir sollten das im Ausschuss tun –, welche (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die bessere Variante ist: eine Börsenumsatzsteuer oder bei der SPD und der LINKEN) eine allgemeine Finanzumsatzsteuer. Notwendig ist auf jeden Fall, dass wir zu einer sinnvollen Besteuerung von Umsätzen auf den Finanzmärkten kommen. Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Warum? Es ist ein Gebot der Gerechtigkeit und der Fairness. Die Umsetzung unseres Vorschlags würde dazu Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf führen, dass die Gewinner des Finanzbinnenmarktes, den Drucksachen 16/11515, 16/7249 und 16/12238 an also diejenigen, die hohe Umsätze generieren, de facto die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor- einen Teil der Ausgaben tragen, die auf europäischer schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Ebene – über den Sozialfonds und die Regionalmittel – Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. getätigt werden, um die Verlierer der Entwicklung zu 22834 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Gerhard Schick (A) kompensieren. Das sollte in einem sinnvollen Verhältnis die Verlierer entschädigen. Wir wollen zu einer fairen (C) stehen. Häufig wird das Argument vorgetragen, dies Entwicklung an den Finanzmärkten beitragen und vor al- führe zu Belastungen bei der Altersvorsorge und im Ak- lem für mehr Stabilität an den Finanzmärkten sorgen. tienhandel. Im Gegensatz zur Börsenumsatzsteuer be- zieht sich eine allgemeine Finanzumsatzsteuer nur zu Danke schön. 6 Prozent auf Umsätze mit Aktien und zu 94 Prozent auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Derivate, Optionen und Futures verschiedener Arten.

Das heißt, das Gros der Belastung betrifft nicht denje- Vizepräsidentin Petra Pau: nigen, der sich Aktien kauft, um für das Alter vorzusor- Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Nina gen. Es soll vielmehr auf die Teile des Finanzmarkts ab- Hauer das Wort. gezielt werden, wo ein sehr schneller Umschlag herrscht. Alle beklagen, dass das Verhältnis von Realwirtschaft (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Leo und Finanzwirtschaft nicht mehr stimmt. Das muss wie- Dautzenberg [CDU/CSU]) der hergestellt werden. Es handelt sich daher um eine sinnvolle Steuer, die auch stabilisierend wirkt. Klar, die Nina Hauer (SPD): Steuer hätte die jetzige Krise nicht verhindert. Dieser Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Einwand gilt aber für jeden einzelnen Vorschlag. Aber Na ja, wenn Österreich das vorschlägt, dann sind eigent- sie wirkt stabilisierend auf die Finanzmärkte, weil es lich alle großen Finanzmärkte der Welt dabei, oder? sich nicht mehr lohnt, minimale Preisunterschiede aus- zunutzen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Die haben die Erbschaftsteuer abgeschafft, Frau Kollegin!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ich glaube, Ihre Überlegung, dass eine Steuer, wenn Es wird manchmal gesagt, das gehe rechtlich nicht. wir sie in diesem Bereich brauchen, nicht nur die Pro- Das stimmt nicht. Es ist auf europäischer Ebene durch dukte umfassen darf, die an der Börse gehandelt werden, eine Richtlinie festgelegt, dass das machbar ist. ist gar nicht falsch. Darüber kann man reden. Die Frage (Frank Schäffler [FDP]: Steuererhöhung!) ist nur, wie Sie das machen wollen. Woran wollen Sie das festmachen? Was nehmen Sie alles mit hinein? Neh- Wir sollten das tun. Das, was wir vorschlagen, ist auch men Sie Überweisungen dazu, Schuldverschreibungen keine Steuererhöhung. Unser Vorschlag geht dahin, dass und alles, was dazu gehört? Sie haben in Ihrem Antrag, im Gegenzug die Mitgliedsbeiträge in die nationalen der in dieser Beziehung sehr dünn ist, Aktien und Deri- Haushalte zurückgeführt werden. Damit hätten wir eine vate aufgeführt. Es gäbe noch mehr. Diejenigen, die die (B) (D) sinnvolle Finanzierung der europäischen Aufgaben über Börsenumsatzsteuer fordern, tun das meiner Meinung ein europäisches Finanzierungsmodell. nach deshalb, weil sie wissen, dass es schwierig genug sein wird, diese Steuer letztendlich einzuziehen. (Frank Schäffler [FDP]: Ein trojanisches Pferd ist das!) Sie wollen große Finanzmärkte und Akteure kontrol- lieren. Trotzdem enthält Ihr Vorschlag eine Steuer von Andere europäische Staaten haben uns vorgemacht, nur 0,01 Prozent. Man kann dafür oder dagegen sein, dass nationale Parlamente diese Diskussion anstoßen man kann sich für 1 Prozent oder 0,01 Prozent ausspre- können. Frankreich und Belgien haben entsprechende chen, aber, ehrlich gesagt, viel werden Sie damit am Fi- Beschlüsse gefasst. Sie sind bereit, wenn andere Staaten nanzmarkt nicht bewegen. Sie werden diejenigen, die mitziehen, so etwas europaweit zu realisieren. kurzfristige und risikoreiche Spekulationen durchführen, (Frank Schäffler [FDP]: Das glaube ich sogar!) nicht bremsen können. Sie werden auf der anderen Seite auch nicht die Einnahmen, die Sie sich versprechen, er- Es ist an der Zeit, das Deutschland nicht nur allgemeine zielen, wenn Sie es technisch überhaupt hinbekommen, Meinungsäußerungen dazu abgibt, sondern als größte diese Steuer einzuziehen. Die Einnahmen werden nicht Volkswirtschaft mitzieht und diesen Vorschlag weiter- besonders hoch sein. 70 Milliarden Euro verteilt auf verfolgt. Es gibt ein gutes Vorbild, das sich die Große 27 Mitgliedsländer sind nicht viel. Sie wollen das Geld Koalition anschauen sollte. In einer Studie des Wirt- gleich bei der EU belassen. Dazu muss ich sagen: Worin schaftsinstituts in Wien wurde eine Finanzumsatzsteuer besteht denn dann der Anreiz für die Länder, diese auf europäischer Ebene in der Form, die wir aufgegriffen Steuer zu erheben? Jedes Land, das eine höhere Wert- haben, vorgeschlagen. Nehmen Sie sich ein Vorbild an schöpfung als Österreich hat, wird das sein lassen, weil der Großen Koalition in Österreich. Es gibt auch Große es auf die Einnahmen verzichten kann und über die EU Koalitionen, die Sinnvolles in die europäische Diskus- ohnehin Gelder fließen. sion einbringen. Wir hoffen, dass wir in den Ausschuss- beratungen zu einer gemeinsamen Position kommen. Vizepräsidentin Petra Pau: Dann müssen die europäischen Regierungen gemeinsam Kollegin Hauer, gestatten Sie eine Zwischenfrage des so etwas voranbringen; denn eines ist klar: Es darf nicht Kollegen Schick? passieren, dass für die Belastungen der jetzigen Krise wieder alle Menschen über die Erhöhung der Mehrwert- steuer – das haben Sie schon einmal gemacht – bezahlen. Nina Hauer (SPD): Wir wollen, dass die Gewinner an den Finanzmärkten Ja. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22835

(A) Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Frank Schäffler [FDP]: Aber auch bei der (C) NEN): Börsenumsatzsteuer!) Unser Antrag enthält einen Hinweis darauf, dass das österreichische Wirtschaftsforschungsinstitut in Wien in Wie soll das funktionieren, wenn die Finanzprodukte einer Studie von einem Steuersatz von 0,01 Prozent aus- verteuert werden? geht; daraus ergebe sich ein EU-weites Steueraufkom- Sie schreiben, das würde sich auf die Altersvorsorge men von gut 70 Milliarden Euro pro Jahr. Das ist sehr über Kapitalanlagen unwesentlich auswirken. konservativ geschätzt. Wir haben als Benchmark für die Diskussion ganz bewusst die vorsichtigste Schätzung ge- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Aber kumu- nommen. Wir sind gern bereit, darüber zu diskutieren, liert wirkt das auch!) welcher der richtige Satz ist. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich mir das kaum Sie haben auch gesagt, das sei wenig Geld. Wenn Sie vorstellen kann. Wenn jemand eine Kapitalanlage wie ei- diesen Betrag ins Verhältnis setzen zum Haushalt der nen Fonds wählt, dann hat er ein Interesse daran, dass Europäischen Union, sind Sie dann bereit, anzuerken- dieser Fonds wächst; sonst ist sein Geld am Ende nichts nen, dass diese 70 Milliarden Euro mehr als die Hälfte mehr wert. Dieser Fonds wächst aber nur, wenn man des derzeitigen Volumens des europäischen Haushaltes schnell auf den Kapitalmarkt reagieren kann. Wenn man sind und dass dieser Betrag angesichts dessen keine ge- eine zusätzliche Steuer schafft, dann wird das Ergebnis ringe, sondern eine sehr relevante Größe ist? sein, dass es Fonds für diejenigen gibt, die sich nicht viel leisten können. Sie werden diesen Steuersatz zahlen. Ein Nina Hauer (SPD): Kursgewinn von 3 Prozent würde nach Steuern nur eine Herr Dr. Schick, welche Zahl größer ist, kann man Rendite von 2 Prozent bringen; nach Ihrer Rechnung leicht feststellen. Die Frage lautet allerdings: Bekommt wären es 2,9 Prozent, aber das ist nicht viel mehr. Sie man diese Einnahmen überhaupt? Dazu steht in Ihrem wollen diejenigen, von denen wir, die Politik, glauben, Antrag überhaupt nichts. Wie soll die rechtliche Grund- dass sie einen Finanzmarkt brauchen, der gut funktio- lage für das Erheben dieser Steuer aussehen? niert und sicher ist – ich meine die ganz normalen Anle- ger und Anlegerinnen –, die Zeche zahlen lassen. Sie (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Europasteuer, wollen, dass die für sie gedachten Produkte verteuert oder was ist das?) werden. Sie bewirken, dass diese Menschen in Kapital- anlagen investieren, deren Fondsmanager wenig Inte- Auf welche Produkte soll diese Steuer erhoben werden? resse daran haben, möglichst viel zu handeln, weil sie Wer soll das kontrollieren? dafür viel bezahlen müssen. (B) Das, was Sie im Hinblick auf den EU-Haushalt vorha- (D) (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE ben, ist, wie ich finde, politisch schwierig zu erklären. GRÜNEN]: Aber jetzt argumentieren Sie ge- (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wir wollen gen den Vorschlag Ihrer eigenen Partei!) doch keine eigene Steuer für die europäischen Staaten!) Aber diejenigen, die international agieren, die ganz schnell aussteigen und an einer anderen Börse, auf einer Gerade in der jetzigen Situation – wir geben Finanzun- anderen Plattform oder außerhalb von beidem handeln ternehmen Bürgschaften, um deren Existenz zu sichern – können, lassen Sie heraus. Diese Personen werden die ist den Leuten schwer zu erklären, dass sie von diesen Steuer am Ende nicht zahlen; sie werden nicht zu den Steuereinnahmen nichts haben sollen, weil sie in den von Ihnen geplanten Einnahmen beitragen, sondern ihre EU-Haushalt fließen. Da Sie das offensichtlich wissen, Papiere schlicht und ergreifend woanders handeln. haben Sie gleichzeitig den Vorschlag gemacht, diese Einnahmen wieder an die Mitgliedstaaten zu verteilen. Ich sage gar nicht, dass wir das aus grundsätzlichen Wie soll das gehen? Das hat mit der eigentlichen Steuer Überlegungen nicht wollen. Die ganze Debatte über am Ende überhaupt nichts mehr zu tun. diese Art der Besteuerung dreht sich um die Fragen: Wie bekommen wir diese Steuereinnahmen? Welche Effekte (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE löst das aus? Sind das volkswirtschaftliche Effekte, die GRÜNEN]: Gibt es da präzisere Vorstellungen wir erzielen wollen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass von Ihnen? – Frank Schäffler [FDP]: Herr unser Finanzmarkt von beiden Teilen leben muss? Er Steinmeier hat doch auch eine Börsenumsatz- muss davon leben, dass sich Unternehmen Geld besor- steuer verlangt!) gen. Er soll in diesen schwierigen Zeiten und auch in Zu- – Wir reden hier aber über die Finanzumsatzsteuer. So kunft davon leben, dass die Leute einen Teil dessen, was wie dieser Antrag formuliert ist, kann eine solche Steuer sie an Vermögen bilden wollen, am Finanzmarkt zu fairen doch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Preisen sicher anlegen können, und zwar so, dass sie er- warten können, dass ihre Produkte gut gemanagt wer- Das Bemerkenswerte ist, dass auf unserem Finanz- den. Das würden wir mit dem von Ihnen vorgeschlage- markt nicht nur Hedgefonds und kurzfristige Spekulan- nen Vorgehen kaputtmachen. Würden wir Ihrem Antrag ten agieren. Auf unserem Finanzmarkt geht es vor allen folgen, ließen wir diejenigen außen vor, die diese Steuer Dingen darum, den Unternehmen Kapital zur Verfügung eigentlich zahlen könnten, und würden am Ende dafür zu stellen und es Anlegern zu ermöglichen, Altersvor- sorgen, dass der Finanzmarkt für normale Anleger nicht sorge und Vermögensbildung zu betreiben. mehr zu erreichen ist. 22836 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Nina Hauer (A) Vielen Dank. (Beifall bei der FDP – Dr. Gerhard Schick (C) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Obama will (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch eine einführen! – Gegenruf des Abg. Leo der CDU/CSU) Dautzenberg [CDU/CSU]: Sehr gut! Das soll er mal machen!) Vizepräsidentin Petra Pau: Die internationalen Erfahrungen, die wir dazu haben, Das Wort hat der Kollege Frank Schäffler für die sind verheerend. Schweden hat die Börsenumsatzsteuer FDP-Fraktion. 1985 eingeführt. Daraufhin ist der Markt für festverzins- (Beifall bei der FDP) liche Wertpapiere um 85 Prozent eingebrochen. Das Handelsvolumen bei anderen Produkten an der Börse ist um 98 Prozent zurückgegangen. Die Einnahmen, die Frank Schäffler (FDP): Schweden damals unterstellt hat, nämlich etwas über Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und 165 Millionen Euro, sind nicht erzielt worden. Innerhalb Herren! Den Worten von Ihnen, Frau Hauer, kann ich ei- von wenigen Jahren sind sie auf 9 Millionen Euro gesun- gentlich nur zustimmen. ken. Wenn Sie also Arbeitsplätze in diesem Land ver- (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ nichten wollen, auch am Finanzstandort Frankfurt, dann CSU]) müssen Sie die Finanzumsatzsteuer einführen. Alles, was Sie gesagt haben, ist richtig. Nur, Ihr eigener (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Kanzlerkandidat fordert eine Börsenumsatzsteuer und der CDU/CSU) will den Finanzmarkt stärker mit Steuern überziehen. Lassen Sie mich direkt auf Ihren Antrag eingehen. Von daher haben Ihre Worte in Ihrer eigenen Partei si- Wenn man einen Antrag formuliert und wissenschaftli- cherlich nicht so richtig eine Mehrheit gefunden. che Quellen nennt, auf die man sich bezieht, dann sollte Ich möchte auf den Antrag der Grünen zu sprechen man wenigstens ordentlich abschreiben. Sie haben in Ih- kommen. Herr Schick, ich glaube, Sie haben die Lehren rem Antrag auf das österreichische Wirtschaftsfor- schungsinstitut WIFO verwiesen – Sie haben es gerade aus der Finanzkrise noch nicht richtig durchdrungen. Ich wieder getan –, haben einen Steuersatz von 0,01 Prozent glaube, die Weltwirtschaftskrise Anfang der 30er-Jahre erwähnt und Steuereinnahmen in Höhe von 70 Milliar- wurde im Wesentlichen dadurch verschärft, dass die den Euro pro Jahr prognostiziert. Es ist immer ganz Länder dieser Welt damals die Steuern erhöht und schön, wenn man einmal nachschaut, ob alles das, was gleichzeitig die Zölle angehoben haben. Das war letzt- da hineingeschrieben wurde, auch zutrifft. endlich die Ursache dafür, dass die Weltwirtschaftskrise (B) über so lange Zeit eine verheerende Wirkung zeigen Ich habe mir vorhin erlaubt, diese Studie herunterzu- (D) konnte. Wenn Sie jetzt genau das Gleiche fordern, dann laden. Auf Seite 71 können Sie das gern noch einmal haben Sie aus der Geschichte nichts gelernt. nachlesen. Da ist genau beschrieben, welche Annahmen getroffen worden sind. Es ist beispielsweise angenom- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten men worden, dass bei diesem Steuersatz die Aktienum- der CDU/CSU) sätze oder Börsenumsätze um 15 bis 35 Prozent zurück- Sie haben auch aus den internationalen Erfahrungen gehen. Es wird tendenziell das dargestellt, was ich für mit Börsenumsatzsteuern – so sage ich jetzt einmal – Schweden gerade vorgetragen habe. Unterstellt werden nichts gelernt. nicht Steuereinnahmen in Höhe von 70 Milliarden Euro, wie Sie geschrieben haben, sondern von 28,6 Milliarden (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE US-Dollar. Das ist wesentlich weniger als das, was Sie GRÜNEN]: Doch! Deswegen entwickeln wir angenommen haben. Das passt wieder zu dem Bild, das das weiter!) ich für Schweden gezeichnet habe. Zwischen dem, was man ursprünglich annimmt, und dem, was dann tatsäch- Wir haben international im Kern eigentlich eine sehr er- lich eintritt, besteht ein himmelweiter Unterschied. freuliche Entwicklung. Überall wird die Börsenumsatz- steuer oder die Besteuerung von Aktienumsätzen abge- (Beifall bei der FDP) schafft. Dänemark hat die Börsenumsatzsteuer 1999 Deshalb fordere ich Sie auf: Nehmen Sie davon Ab- abgeschafft. Deutschland hat 1991, als wir in der Koali- stand! Ziehen Sie die Lehren aus der Finanzkrise! Diese tion noch Steuern gesenkt haben, die Börsenumsatz- wird eben nicht dadurch bewältigt, dass man Steuern steuer abgeschafft. Italien hat 2008 die Börsenumsatz- und Zölle erhöht sowie Mauern aufbaut, sondern da- steuer abgeschafft, die Niederlande durch, dass man Mauern abbaut und Freihandel zulässt. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: 1990!) Das ist die richtige Antwort auf diese Finanzkrise. 1990, Österreich 2000, Vielen Dank. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Spanien (Beifall bei der FDP) 1988!) Vizepräsidentin Petra Pau: Schweden 1991, Spanien 1988. Überall auf dieser Welt Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg für die wird die Börsenumsatzsteuer abgeschafft, und Sie von Unionsfraktion. den Grünen wollen wieder eine neue Steuer einführen. Das passt nicht ins Bild. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22837

(A) Leo Dautzenberg (CDU/CSU): Wenn Sie, wie Sie schreiben, durch die Belastung mit einer (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe solchen Steuer erreichen wollen, dass gerade die kurz- Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schick, es fristigen Geschäfte am Finanzmarkt erschwert würden, wäre vielleicht sinnvoller gewesen, wenn Sie zu diesem dann sollten Sie bedenken, dass es auch einige Finanzin- Tagesordnungspunkt Ihren ursprünglichen Antrag mit strumente kurzfristiger Natur gibt, die durchaus stabilisie- dem Titel „Finanzmärkte besser regulieren – Krisen rende Wirkungen gegenüber den Grundgeschäften haben. künftig verhindern“ eingebracht hätten. Da hätte es viele Wenn Sie diese zusätzlich belasten, würden Sie den ge- Schnittmengen gegeben; da wären wir in vielen Punkten samten Apparat der Sicherungsgeschäfte auf den Finanz- durchaus gemeinsamer Auffassung gewesen und hätten das märkten erschweren. Hier sollte man immer das Ende auch gemeinsam nach vorne bringen können. Sie haben bedenken. sich – aus nachvollziehbaren Gründen – jetzt rein auf die Weiter sagen Sie in Ihrem Antrag, die Finanzumsatz- Einführung einer Finanzumsatzsteuer konzentriert, weil steuer sorge für mehr Finanzmarktstabilität. Schauen wir Sie mit Ihrem Finanzmarktpapier wahrscheinlich auch uns einmal an, in welchen Ländern es Strukturen gibt, die eine Antwort auf die SPD-Forderung nach Einführung einer Börsenumsatzsteuer oder einer Taxation anderer einer Börsenumsatzsteuer geben wollten. Art entsprechen. Da wären zum Beispiel das Vereinigte Vor Wochen zumindest lehnte Finanzminister Steinbrück Königreich oder die USA zu nennen. Aber von diesen die Einführung einer Börsenumsatzsteuer ab. Die jetzt Ländern gingen doch überwiegend die Krisen, die auch im Finanzmarktpapier der SPD erhobene Forderung ist uns erreicht haben, aus. Wenn eine solche Steuer Finanz- wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass er mehr in märkte stabilisieren würde, dann hätte es in diesen Ländern seiner Eigenschaft als stellvertretender SPD-Vorsitzender gar nicht zu diesen Vorkommnissen kommen dürfen. und weniger als zuständiger Finanzminister agiert. Das Von daher gehen Sie auch mit dieser Annahme in Ihrem sollte Sie, Herr Schick, nicht veranlassen, die durchaus Antrag fehl. guten Vorstellungen, die Sie in Ihrem Finanzmarktpapier Im internationalen Vergleich erkennen wir, dass im entwickelt haben, nicht mehr weiterzuverfolgen und sich Vereinigten Königreich und in den USA nicht alle Ele- einseitig auf eine unnötige Belastung des Finanzmarktes mente des Finanzmarktes in die Besteuerung einbezogen durch Einführung einer solchen Finanzumsatzsteuer zu sind. Wenn Sie sagen, Obama werde das jetzt machen, konzentrieren. dann sage ich: Gut, dann soll er einmal vorangehen. Ob Ich habe mit Respekt und in gewisser Weise auch dann andere Länder nachziehen, ist eine andere Frage. überrascht die Ausführungen der Kollegin Hauer gehört, Herr Kollege Schäffler hat schon dargestellt, wie es im die sich im Grunde genommen nicht nur gegen die Ein- europäischen Vergleich ausschaut. Sie von den Grünen sa- (B) führung einer Finanzumsatzsteuer ausgesprochen hat, gen ebenfalls, dass Sie keinen Alleingang wollen. Ich (D) sondern indirekt auch gegen die im Finanzmarktpapier wünsche Ihnen viel Erfolg dabei, die Länder, die bisher der SPD geforderte Einführung einer Börsenumsatz- diese Finanzinstrumente wohlweislich und aus nachvoll- steuer. Vor diesem Hintergrund gibt es in dieser Debatte ziehbaren Gründen abgelehnt haben, dazu zu bringen, zwischen uns durchaus einige Gemeinsamkeiten. einer europäischen Grundlage für eine solche Steuer Wenn Sie, Herr Schick, sagen, mit Ihrem Vorhaben zuzustimmen. Wir müssen uns fragen, ob wir die Euro- ginge keine Belastung der privaten Altersvorsorge einher, päische Union als eine Einheit ansehen, die selbstständig dann muss ich Ihnen entgegnen – darauf hat sich Frau Steuern erhebt. Das haben wir bisher, Herr Kollege Kollegin Hauer auch schon bezogen –: Wenn eine Belas- Schick, immer abgelehnt. Ich glaube, wir fahren gut da- tung da ist, wird sie sich in kleinen Schritten kumuliert mit, dass dies auch in Zukunft so bleibt. über die Zeit negativ auf die Rendite des Anlegers aus- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) wirken. Wenn eine Anlage auf diese Weise über 20 Jahre belastet wird, dann hat das durchaus nennenswerte Aus- Sie widersprechen sich in Ihrem Antrag selbst, indem wirkungen auf den Anlageprozess zur Folge. Sie fordern, dass die Anteile im jeweiligen Land einen gewissen Stellenwert haben sollen und dass ein be- Die Einführung einer solchen Steuer muss auch im stimmter Teil der Einnahmen in den Ländern verbleiben Hinblick auf Aktienkultur und Aktienanlagen gesehen muss, weil sie sonst kein Interesse daran haben, diese werden: Aktien, die durch die Abgeltungsteuer jetzt Steuer zu erheben. schon stärker als beispielsweise Inhaberschuldverschrei- bungen oder Anleihen belastet sind, würden zusätzlich (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE belastet. Das würde dazu führen, dass vernünftige Unter- GRÜNEN]: Das ist kein Widerspruch!) nehmensfinanzierungen über den Aktienmarkt immer Das ist ein Widerspruch. Wenn Sie eine solche Steuer schwieriger würden. auf europäischer Ebene einheitlich erheben wollen, dann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) können Sie die nationale Zuständigkeit für bestimmte Bereiche nicht beibehalten. Daher der Hinweis: Ihr ur- Weiterhin würde eine solche Steuer eine Störung der sprünglicher Antrag war in diesem Punkt sehr viel besser. Mobilität des Finanzkapitals mit sich bringen. Sie würde in einer Krise darüber hinaus prozyklisch wirken. Heute Morgen gab es – auch von unserer Kanzlerin – hervorragende Debattenbeiträge dazu, welche Erforder- (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE nisse sich für die Finanzmarktstabilisierung auf internatio- GRÜNEN]: Nein, im Gegenteil!) naler und auf europäischer Ebene in den nächsten Monaten 22838 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Leo Dautzenberg (A) ergeben werden. Darauf sollten wir uns konzentrieren. das Wort reden, ist das eine besonders fatale Entwick- (C) Wir sollten – ausgehend von den G-20-Beschlüssen vom lung, die uns nicht aus der Krise herausführt, sondern in 15. November – die fünf Leitprinzipien, die bis zu 47 Ein- das nächste Chaos hinein. zelmaßnahmen im Hinblick auf den internationalen Finanz- (Beifall bei der LINKEN) markt und seine Stabilisierung nach sich ziehen, nicht nur als Ankündigung sehen, sondern auch dafür sorgen, Begonnen hat das alles heute Morgen. Die Frau Bun- dass sie in den nächsten Monaten Schritt für Schritt um- deskanzlerin hat ja nicht in erster Linie als Kanzlerin gesetzt werden. geredet, sondern als CDU-Vorsitzende. Das mag sich die CDU gewünscht haben. Aber für eine konsequente Poli- Wir sollten einen Teilbereich besonders beachten. An- tik, die uns aus der Krise herausführt, ist das natürlich gesichts der europäischen Einigkeit, was Elemente der der falsche Weg. Beschwichtigen, zurückrudern – eine Finanzmarktstabilisierung betrifft, sollten wir gemein- solche Politik können wir nicht hinnehmen. sam mit den USA und dem gesamten angelsächsischen Bereich diese Beschlüsse umsetzen, weil jetzt das Zeit- (Beifall bei der LINKEN) fenster gegeben ist. Wenn diese Krise in einigen Jahren überstanden ist, dann werden wir uns in einem Zustand Natürlich geht der Vorschlag der Grünen in die richtige wiederfinden, den es vor zwei bis zweieinhalb Jahren Richtung. Er ist eine aktuelle Einladung an Finanzminister gegeben hat, als in diesem Bereich wenig Sensus für Steinbrück. Auch der proeuropäische Ansatz ist unterstüt- Regulierung und für Elemente der Finanzmarktstabili- zenswert. Es wäre sogar, wie wir wissen, eine Mehrheit sierung vorhanden war. im Bundestag vorhanden, diesen Antrag zu beschließen. Aber den bei diesem Ausmaß der Krise notwendigen Es geht um Transparenz, um mehr Rechenschafts- Schritten wird auch dieser Antrag nicht gerecht. pflichten und um die Verbesserung der Regulierung. Es muss das Ziel sein, dass es weltweit keine weißen Flecken Sie hatten bereits – daran muss ich Sie erinnern – im mehr gibt, was die Regulierung von Finanzmarktproduk- ersten Halbjahr 2007 die Möglichkeit, einem nicht glei- ten anbelangt. Dazu gehört auch die Austrocknung von chen, aber ähnlichen Antrag der Fraktion Die Linke Steueroasen. Dies muss aber in gegenseitigem Respekt zuzustimmen. Vor zwei Jahren wurden wir für diesen geschehen und nicht mit dem Einsatz von verbalen Vorschlag in der Debatte – ich habe sie mir noch einmal Machtinstrumenten. Dazu gehört auch die Forderung, angeschaut – bestenfalls verlacht. Dabei haben wir da- die Integrität des Finanzmarktes zu wahren, die internatio- mals – da waren wir noch nicht mutig genug – noch nale Zusammenarbeit zu stärken und Institutionen wie IWF nicht einmal Karl Marx, sondern die Ökonomen Keynes, und das Financial Stability Forum mit den Kompetenzen Tobin und Stiglitz zitiert. auszustatten, die es ihnen ermöglichen, die angestrebten Der Antrag der Grünen im Wandel – dies ist schon (B) (D) Ziele zu erreichen. von meinem Vorredner angesprochen worden. Er hieß Deshalb sind für uns – im Gegensatz zu Ihnen – die nämlich bis vorgestern: „Finanzmärkte besser regulieren – Stabilisierung und Weiterentwicklung der internationa- Krisen künftig verhindern“. Ich hielte das für weitaus len Finanzarchitektur eine sinnvolle Zielsetzung. Darauf mutiger. Der jetzige Antrag war in diesem enthalten. sollten wir uns konzentrieren und nicht auf eine zusätz- (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE liche Belastung der Finanzmärkte durch die von Ihnen GRÜNEN]: Der kommt auch noch! Das ist nur vorgeschlagene Steuer. Wenn es Europa auf dem Londo- eine Frage der Zeit! – Christine Scheel ner Gipfel gelingt, mit einer Stimme zu sprechen, dann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es bietet sich damit eine hervorragende Grundlage, interna- nicht gemerkt: Das sind zwei Anträge!) tionale Vereinbarungen zu treffen. Ich hoffe, dass dabei nicht die Analyse Pate stand, Vielen Dank. dass die Partei der Grünen die Wählerinnen und Wähler (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie mit den höchsten Einkommen hat, inzwischen Empfän- bei Abgeordneten der FDP) gerin von Spenden aus der Finanzwirtschaft ist – ebenso wie CDU, CSU, FDP und SPD – Vizepräsidentin Petra Pau: (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Ihr habt ja noch Das Wort hat der Kollege Roland Claus für die Frak- weitere Quellen, die ihr nicht hergebt!) tion Die Linke. und nur 1 Prozent der Bevölkerung sagt, dass sich die (Beifall bei der LINKEN) Grünen in der Krise um sozial Benachteiligte kümmern. Auch ist immer noch das Wort Ihres Übervaters aus dem Jahre 2003 nachzulesen, der seiner Par- Roland Claus (DIE LINKE): tei meinte ins Stammbuch schreiben zu müssen: Wir Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und können nicht Politik gegen die Finanzmärkte machen. Herren! Der uns vorliegende Antrag ist gewissermaßen ein Symbol für eine sehr interessante momentane Ent- In dem vorliegenden Antrag gibt es ein sehr großes wicklung. Ich will sie mit folgenden Worten beschreiben: praktisches Problem. Es wird nichts zur Höhe der vorge- Wir müssen etwas gegen den Finanzkapitalismus tun; schlagenen Steuer gesagt. Kollege Schick hat nun etwas aber das darf ihm nicht wehtun. – Wir halten das aus- dazu dargestellt. Aber wer Steuerforderungen erhebt, drücklich für falsch. Wenn Union und FDP gar einem muss, weil Steuern nun einmal etwas mit den vier Grund- finanzpolitischen Weiter-so, wie es soeben erfolgt ist, rechenarten zu tun haben, auch etwas zur Höhe sagen; Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22839

Roland Claus (A) denn die Höhe hat sehr wohl Einfluss auf die Qualität. Ausschuss für Gesundheit (C) Nur wenn eine bestimmte angemessene Höhe erreicht Ausschuss für Kultur und Medien wird, wird auch das Ziel, Kapital investiv und nicht spe- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- kulativ anzulegen, erreicht werden. Bleibt der Satz aber richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu der so gering – möglicherweise so gering, wie Sie ihn im Unterrichtung durch den Bundesbeauftragten für Zusammenhang mit einem Vergleich angeben, nämlich den Datenschutz und die Informationsfreiheit ein 100stel Prozent –, dann orientiert sich das, was wir mit dieser Steuer erreichen wollen, am Umsatz. Sie zielen da- Tätigkeitsbericht 2005 und 2006 des Bundes- mit gewissermaßen darauf, am Geschäft des Kasinos ein beauftragten für den Datenschutz und die In- bisschen mitzuverdienen. Insofern sage ich: Der Antrag formationsfreiheit spiegelt die Situation wider, mit der wir es jetzt zu tun – 21. Tätigkeitsbericht – haben. Er ist zwar nicht falsch, aber auch nicht konse- quent genug. – Drucksachen 16/4950, 16/12271 – Leider stellen wir auch fest, dass sich Bundesfinanz- Berichterstattung: Abgeordnete Beatrix Philipp minister Steinbrück am Krebsgang orientiert. Er hat Dr. Michael Bürsch noch vor kurzem die lückenlose Kontrolle der Hedge- Gisela Piltz fonds gefordert. Jetzt erfahren wir: Von 9 000 weltweit Petra Pau agierenden Hedgefonds sollen gerade einmal 100 in Silke Stokar von Neuforn diese Kontrolle einbezogen werden. Seine Forderung Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die nach Einführung einer Börsenumsatzsteuer hat er aus- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre drücklich im Zusammenhang mit dem SPD-Wahlpro- dazu keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. gramm bekannt gegeben und nicht in seiner Funktion als Bundesminister. Was das bei der SPD bedeutet, wissen Ich begrüße ganz ausdrücklich den Bundesbeauftrag- wir von Franz Müntefering, der es schlicht und einfach ten für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, der unfair nannte, dass man ihn nach der Wahl daran erin- an dieser Debatte über seinen Tätigkeitsbericht und den nert, was er vor der Wahl gesagt hat. Gesetzentwurf teilnimmt. Zurück zur Fraktion der Grünen. (Beifall) Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- Vizepräsidentin Petra Pau: gin Beatrix Philipp für die Unionsfraktion. Kollege Claus, Sie müssen bitte zum Schluss kom- (B) men. (Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. Klaus (D) Uwe Benneter [SPD] – Gisela Piltz [FDP]: Roland Claus (DIE LINKE): Jetzt bin ich gespannt, ob ich bei dir klatschen kann!) Komme ich auch, Frau Präsidentin. – Mein Fazit ist: Schlecht regieren konnten die Grünen gut. Gute Opposi- tion müsst ihr noch üben. Beatrix Philipp (CDU/CSU): Du kannst immer bei mir klatschen, weil ich vernünf- (Beifall bei der LINKEN – Christine Scheel tige Sachen sage. – Frau Präsidentin! Meine Damen und [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ha, ha, ha!) Herren! Zum 21. Tätigkeitsbericht des Bundesbeauftrag- ten für den Datenschutz liegt Ihnen eine fraktionsüber- Vizepräsidentin Petra Pau: greifende Entschließung vor, die den sogenannten Ich schließe die Aussprache. kleinsten gemeinsamen Nenner aller Beteiligten dar- stellt. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/12303 an die in der Tagesordnung auf- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Klein!) geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei- – Es ist der kleinste, aber immerhin, Herr Bürsch. Wenn sung so beschlossen. viele Arbeitsgruppen und Berichterstatter das schaffen würden, wären wir in der Bevölkerung vielleicht erheb- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b auf: lich besser angesehen, als das im Augenblick der Fall ist. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Zustimmung!) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege- lung des Datenschutzaudits und zur Änderung Herr Bürsch, fraktionsübergreifend sind wir uns da- datenschutzrechtlicher Vorschriften rüber einig, dass angesichts der technologischen Ent- wicklung der vergangenen Jahre immer deutlicher wird, – Drucksache 16/12011 – dass wir unser Datenschutzrecht in seiner Gesamtheit Überweisungsvorschlag: überdenken und überarbeiten müssen. Es wird wesent- Innenausschuss (f) lich darauf ankommen, zu verhindern, dass es am Ende Rechtsausschuss unendlich viele Einzelregelungen und bereichsspezifi- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und sche Sonderregelungen gibt. Wir brauchen ein stringen- Verbraucherschutz tes Datenschutzrecht aus einem Guss. 22840 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Beatrix Philipp (A) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie aber jederzeit die Möglichkeit – schon nach geltendem (C) bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Recht –, einer Weitergabe oder Nutzung zu widerspre- NISSES 90/DIE GRÜNEN – Gisela Piltz chen. Das ist das sogenannte Opt-out. Selbstverständlich [FDP]: Wir warten darauf!) gibt es ein Auskunftsrecht über gespeicherte Daten. Zur Ehrlichkeit gehört natürlich auch, zuzugeben, Der uns nun vorliegende Gesetzentwurf will nicht nur dass es im Bereich des Vollzugs der Datenschutzaufsicht dieses Privileg, von dem ich immer sage, dass es gar kei- und wohl auch im Bereich des Arbeitnehmerdatenschut- nes ist, gänzlich abschaffen, sondern zugleich einen zes erhebliche Defizite gibt. Kurswechsel um 180 Grad vornehmen. Ich bin aber si- cher, dass wir mit der Abschaffung des Listenprivilegs (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Richtig!) und der Einführung eines verpflichtenden Opt-in über Hier sind die Länder besonders gefordert. Intensive Ge- das eigentliche Ziel von Datenschutz hinausschießen. spräche zu diesen Themen wurden dort bereits auf den Damit wird, wenn man ehrlich ist, effektiver Verbrau- Weg gebracht. cherschutz mehr als fraglich. Es ist guter Brauch, an dieser Stelle dem Bundesda- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) tenschutzbeauftragten und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für ihre Arbeit Dank zu sagen. Ich tue das Wenn personifizierte, also auf einen speziellen poten- im Namen meiner Fraktion auch in diesem Jahr aus- ziellen Kunden abzielende Werbung nicht mehr möglich drücklich und freue mich, dass ich das durch Augenkon- ist – das wird dann der Fall sein –, dann sind unter ande- takt unterstreichen kann. Das ist ja einmal etwas Nettes. rem folgende Alternativen zu befürchten – ich zähle sie einmal auf –: Jeder Einzelne wird dann Opfer ungefilter- (Beifall im ganzen Hause) ter flächendeckender Werbung, die im Vergleich zu Bei der heutigen Debatte liegt das Hauptaugenmerk heute erheblich zunehmen wird. zweifellos auf dem Gesetzentwurf zur Regelung des Da- (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE tenschutzaudits und zur Änderung datenschutzrechtli- GRÜNEN]: Sie glauben auch alles, was man cher Vorschriften. Das Ausmaß der öffentlichen Diskus- Ihnen erzählt!) sion über die in diesem Gesetzentwurf enthaltenen Regelungen und die sich bereits jetzt abzeichnenden – Nein, ich glaube nicht alles, Frau Stokar, sondern ich Konsequenzen für ganze Branchen verlangen nach einer kann mir, weil der gesunde Menschenverstand selten intensiven, ernsthaften und ausgewogenen Auseinander- hinderlich ist, ausmalen, wie sich Werbung vollzieht, setzung mit den Betroffenen und den Interessengruppen. wenn nicht mehr personifiziert geworben werden kann, sondern flächendeckend geworben wird. Dann habe ich (B) Ich habe ebenso wie viele von Ihnen in den vergange- mehr Werbung im Briefkasten als jetzt, nur mit dem Un- (D) nen Monaten sehr viele Einzelgespräche mit Unterneh- terschied, dass meine Adresse nicht mehr draufsteht. mern, Verbandsvertretern, mit Vertretern unterschied- lichster Branchen, aber auch mit Datenschützern und Es gibt noch andere Möglichkeiten. Es wird wieder Verbraucherschützern geführt. Ich wiederhole hier des- vermehrt Drückerkolonnen geben, die zu passenden oder halb sehr eindringlich, vor allem nach unserer fraktions- unpassenden Zeiten an der Haustür klingeln und uns be- internen Anhörung in der vorigen Woche: Das Ende der lästigen; ich empfinde das jedenfalls so. Es wird natür- Überlegungen und der Auseinandersetzungen mit die- lich, auch wenn es inzwischen gesetzlich eingeschränkt sem heiklen Thema sehe ich noch lange nicht. ist, zu vermehrter Telefonwerbung kommen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ist verboten!) Die Abschaffung des Listenprivilegs und die gleich- zeitig geplante Einführung eines umfassenden, ver- Also müssen wir uns fragen, ob wir das wollen und ob pflichtenden Opt-in sind die wesentlichen Streitpunkte. sich tatsächlich etwas für den Verbraucher verbessert. Nach derzeitiger Rechtslage ist die Weitergabe und Nut- Das finde ich jedenfalls mehr als fraglich. Schon jetzt ist zung von Name, Adresse, Geburtsdatum und Berufsbe- absehbar, dass ein verpflichtendes Opt-in aus unter- zeichnung verbunden mit jeweils einem zusätzlichen schiedlichsten Gründen das künftig verfügbare Adress- Merkmal gestattet. Nach dem sogenannten Listenprivi- material erheblich reduzieren wird. Da helfen auch keine leg ist dies immer dann rechtlich zulässig, wenn es sich Ausnahmen für etwaige Sondergruppen wie Spendenor- nicht um Daten einzelner Personen handelt, sondern um ganisationen. Denn die Zahl der Adressen, auf die sie zu- listenmäßig zusammengefasste Daten. Ich glaube sogar, greifen können, wird so reduziert sein, dass sie in ihrer daher stammt dieser Begriff. Existenz bedroht sein werden und ihre Arbeit eigentlich auch sein lassen könnten. Man muss sich überlegen, ob (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Gute Erläute- man das in unserer Gesellschaft möchte. rung!) (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!) – Das muss einmal gesagt werden, Herr Bürsch. Der nächste Punkt. Die Auswirkungen werden auch (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Wunderbar!) die deutsche Wirtschaft treffen. Ich meine, dass das in Damit nähern wir uns den Realitäten erheblich. – In die- der derzeitigen Wirtschaftssituation kaum zu verantwor- sem Fall müssen die Betroffenen zwar nicht über die ten ist. Ich will auf Folgendes aufmerksam machen: Weitergabe oder Nutzung informiert werden, sie haben 337 000 Anwender haben sich 2007 des Marketing- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22841

Beatrix Philipp (A) instruments der volladressierten Werbesendung mit ei- Wir stehen am Anfang einer Debatte, die in erhebli- (C) nem Aufwendungsvolumen von 11,5 Milliarden Euro chem Maße geeignet ist, bei der Bevölkerung Problem- bedient. Man kann sagen, dass das unheimlich viel ist; bewusstsein zu schaffen; das ist gut. Es besteht aber aber ich weise darauf hin, dass die Alternativen anders auch die ernst zu nehmende Gefahr, dass man Firmen aussehen. Die Zahlen sprechen im Hinblick auf gesamt- mit allzu hohen Hürden, zu strengen Auflagen und zu wirtschaftliche Konsequenzen und Arbeitsplätze für großen Belastungen ins Ausland treibt, in Länder, in de- sich. Man kann nicht sagen, das erzähle immer die Wirt- nen mit verschiedenen Auflagen maßvoller umgegangen schaft; es liegt eigentlich auf der Hand und muss erhebli- wird als bei uns; das wäre schlecht. che Berücksichtigung finden. Insofern hoffe ich auf eine ernsthafte Debatte, getra- Ohne wesentliche Änderungen zeichnen sich für ei- gen von dem Willen, für einen angemessenen und abge- nen Großteil der Wirtschaft Konsequenzen in einem wogenen Umgang mit Datenschutz und Datensicherheit Ausmaß ab, wie ich es für nicht akzeptabel halte: für die zu sorgen. Der Überweisung des Gesetzentwurfes an die Unternehmen, die auf ständige Neukundengewinnung Ausschüsse stimme ich natürlich zu. angewiesen sind – jeder im Versandhandel und bei Zeit- schriftenverlagen sagt Ihnen, dass sie jedes Jahr Vielen Dank. 10 Prozent Neukunden brauchen, um den Verlust an (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Kunden auszugleichen –, für die Werbung und die Di- Dr. Michael Bürsch [SPD] – Silke Stokar von rektmarketingbranche, für Firmen und für Existenzgrün- Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das der. Im April dieses Jahres findet die 60. Meisterfeier bei war der Totalverriss eines Schäuble-Gesetzes!) der Handwerkskammer in Düsseldorf statt. Der Hand- werksmeister, der mit dem Meisterbrief nach Hause geht und beschließt, all die anzuschreiben, die er gut bedienen Vizepräsidentin Petra Pau: und beraten könnte, hat diese Möglichkeit demnächst Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP- nicht mehr, weil ihm die Adressen fehlen. Man muss Fraktion. sich genau überlegen, ob man das will. (Beifall bei der FDP) Nicht zuletzt gibt es erhebliche Konsequenzen für Sonderbereiche, denen man bereits durch entsprechende Gisela Piltz (FDP): Sonderregelungen entgegenzukommen versucht. Man hat schon gesehen, dass es da Probleme gibt. Aber wie Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gesagt: Die Ausgangslage ist, dass das Adressenmaterial Was lange währt, wird endlich gut. Vor dem Hintergrund des Themas, über das wir heute diskutieren, sollte man (B) erheblich reduziert sein wird. Den Bereich der Markt- (D) und Meinungsforschung wird es in dieser Zuverlässig- hinter diesem Satz eher ein Fragezeichen als ein Ausru- keit nicht mehr geben. Im Bereich der Versicherungen fezeichen setzen. Denn um dieser Aussage zumindest wird ein verpflichtendes Opt-in aufgrund des gesetzlich noch ansatzweise gerecht zu werden, läuft Ihnen, liebe vorgeschriebenen versicherungsspezifischen Sparten- Kolleginnen und Kollegen von der sogenannten Großen prinzips zu einer erheblichen Belastung; und wir sehen Koalition, langsam die Zeit davon. Korrekturbedarf für den Bereich der Fachpresse. Sie haben lange – ich finde: zu lange – gebraucht, um Schließlich – ich will mich jetzt beschränken, weil dafür zu sorgen, dass wir dieses Thema debattieren. Ich wir in der nächsten Woche eine Anhörung durchführen – bin gespannt, wie es weitergeht. Denn aus meiner Sicht glaube ich, dass wir uns auf die Dinge konzentrieren hätte die Debatte über die Vorschriften, um die es heute sollten, für die ich mich von Anfang an eingesetzt habe. geht, schon längst geführt werden können, sogar schon Ich sage: Wir brauchen mehr Datensicherheit und nicht längst geführt werden müssen. nur mehr Datenschutz. Die Abschaffung des Listenprivi- (Beifall bei der FDP) legs muss grundsätzlich überdacht werden inklusive der Problematik, die mit einem juristisch einwandfreien Nicht erst die jüngsten Datenskandale zeigen ein- Opt-in verbunden ist, das vor Gericht Bestand hätte. Das drucksvoll, dass dem gewissenlosen Umgang und dem gibt es nämlich noch nicht; auch darauf sind wir auf- Herumvagabundieren von Daten – heute kann man Da- merksam gemacht worden. Das Kopplungsverbot muss ten ohne Probleme im Internet kaufen – durch gesetzli- uneingeschränkt gelten. Wir brauchen eine große Robin- che Regelungen schon längst ein Riegel hätte vorgescho- sonliste und eine firmeninterne kleine Robinsonliste mit ben werden müssen. einer Hinweispflicht durch die Unternehmen. Wir brau- chen eine Kennzeichnungspflicht bezogen auf die letzte In der kurzen mir zur Verfügung stehenden Redezeit Quelle der Daten. Wie gesagt: Der Vollzug muss verbes- gehe ich auf zwei wichtige Punkte des Gesetzentwurfes sert werden. Dies ersetzen wir nicht mit der bisher vor- ein. Zunächst möchte ich ein paar Worte zum Entwurf gesehenen Auditregelung. eines Datenschutzauditgesetzes verlieren. Das Bundes- datenschutzgesetz sieht diese Möglichkeit schon seit Meine Damen und Herren, wir bewegen uns in einem dem Jahre 2001 vor. So lange haben Sie gebraucht, um sensiblen Bereich, in dem man sehr genau überlegen dies in die Wege zu leiten. Das sage ich auch an die muss, an welchen Stellschrauben man dreht, wenn man Adresse der Grünen, die dafür ebenfalls viel Zeit gehabt unerwünschte Ergebnisse, zum Beispiel die Abwande- hätten. Wenn dieses Parlament für alles neun Jahre rung von Firmen ins Ausland, vermeiden möchte. braucht, mache ich mir wirklich Sorgen. 22842 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Gisela Piltz (A) Obwohl die Bundestagsfraktion der FDP schon lange Eines ist klar: Die Technik ist heute weiter, als das (C) die Etablierung eines Datenschutzsiegels fordert, kann Listenprivileg alt ist. Heutzutage kann man ruck, zuck ich Ihrem Gesetzentwurf, abgesehen von seiner Zielset- Daten vermengen oder gegeneinander austauschen. All zung, nicht furchtbar viel abgewinnen. Er lässt klare das ist heute viel schneller möglich als früher. Dieser Prüfungsmaßstäbe vermissen. Des Weiteren fehlt die Entwicklung muss man sich stellen, und dieser Entwick- Möglichkeit, neben Unternehmen auch Produkte, lung stellen wir uns. Ich denke, es ist nach wie vor rich- Dienstleistungen und Verfahren zu auditieren. Mein tig, zu sagen: Ich bestimme, was mit meinen Daten pas- Hauptkritikpunkt ist der unwahrscheinlich große büro- siert, sei es nur ein einziges persönliches Merkmal, das kratische Aufwand, den der Gesetzentwurf mit sich hinzukommt. Ich entscheide, ob man meine Daten be- bringt. Mit diesem bürokratischen Monstrum wird die nutzt oder nicht. Wenn man das Recht auf informatio- Zielsetzung, einen unbürokratischen Datenschutz zu eta- nelle Selbstbestimmung ernst nimmt, muss man darüber blieren, geradezu konterkariert. nachdenken. Wir halten das nach wie vor für den richti- gen Weg. (Beifall bei der FDP) Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang an Ihren (Beifall bei der FDP) Koalitionsvertrag erinnern – ich weiß, dass Sie sich nicht Leider sind die von uns geforderten Datenmarker daran erinnern wollen; wir erinnern Sie aber gerne –, in noch nicht in den Gesetzentwurf aufgenommen; wir dem steht: würden das für klug halten. Durch sie könnte man seine Das Datenschutzrecht bedarf vor dem Hintergrund Ansprüche wirklich durchsetzen. Von daher bleibt aus der technischen Entwicklungen der Überprüfung unserer Sicht festzustellen, dass man noch viel verbes- und an verschiedenen Stellen der Überarbeitung sern kann. und Fortentwicklung. Bei dieser Aufgabe werden Insbesondere muss man auch für den Datenschutzbe- wir auch prüfen, ob im Hinblick auf den Abbau auftragten mehr Geld zur Verfügung stellen. Ich halte es überflüssiger Bürokratie Änderungen vorgenom- immer für ein bisschen schwierig, wenn die Vertreter der men werden können. Großen Koalition hier darüber sprechen, dass man ihn Ich muss Ihnen ehrlich sagen: Gemessen an diesem Satz besser ausstatten muss. Sie folgen nämlich im Haus- haben Sie das Ziel Ihres Gesetzentwurfes wirklich ver- haltsausschuss nicht den entscheidenden Anträgen, ihm fehlt. mehr Geld zur Verfügung zu stellen, und äußern sich hinterher öffentlich im Fernsehen und sagen, er müsste (Beifall bei Abgeordneten der FDP) mehr Geld bekommen. Das ist Doppelmoral. Das hat der (B) Bundesdatenschutzbeauftragte nicht verdient. (D) Das zweite zentrale Anliegen des Gesetzentwurfes – dazu hat sich Frau Philipp ausführlich geäußert; sie (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Silke hatte auch mehr Zeit als ich – ist die Etablierung des so- Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- genannten Opt-in-Verfahrens und die Abschaffung des NEN]) generellen Listenprivilegs. Wenn man dem, was man im- mer wieder hört, Glauben schenken kann, Noch kurz zum Tätigkeitsbericht des Bundesdaten- schutzbeauftragten, der aus meiner Sicht eine eigene De- (Beatrix Philipp [CDU/CSU]: Alles glaube ich batte verdient hätte: Ich bin froh, dass wir die Tradition nun wirklich nicht!) fortsetzen konnten; das teile ich, Frau Philipp. Ich fände ist dies wohl ein schwieriges Thema. es aber auch schön, wenn die Regierung dem Parlament folgen würde und nicht zum wiederholten Male – wie (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Sie sind doch beim Arbeitnehmerdatenschutz – unsere Forderungen sonst viel wirtschaftsgläubiger als wir!) missachtet. Vielleicht wird einmal alles besser. Die Skandale haben schließlich gezeigt: Es besteht Nachbes- Ich finde es interessant, dass Sie, Frau Philipp, die ge- serungsbedarf. samte Redezeit Ihrer Fraktion für sich beansprucht haben. Ich hätte gerne auch gewusst, was der Bundesin- Zum Schluss gilt mein Dank in diesem Zusammen- nenminister, die Staatssekretärin im Verbraucherschutz- hang den Mitberichterstattern, unseren Mitarbeitern und ministerium und die verbraucherschutzpolitischen Fach- dem Bundesdatenschutzbeauftragten und seinen Mitar- leute Ihrer Fraktion dazu sagen. Dazu haben Sie sich beitern. Ich bin stolz, dass wir das wieder hinbekommen allerdings nicht geäußert. Das bedaure ich außerordent- haben. lich. Vielen Dank. Ich weise Sie darauf hin, dass jeder Haushalt 137 Werbebriefe pro Jahr erhält, die er möglicherweise (Beifall bei der FDP sowie des Abg. gar nicht bekommen möchte. Falls Sie in diesem Zusam- Dr. Michael Bürsch [SPD]) menhang Drückerkolonnen im Blick haben, frage ich mich, ob die CDU/CSU-Fraktion das EU-Recht ändern oder das Widerrufsrecht bei Haustürgeschäften ein- Vizepräsidentin Petra Pau: schränken möchte. Das wäre nämlich das Szenario, das Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die Sie an die Wand gemalt haben. SPD-Fraktion. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22843

(A) Manfred Zöllmer (SPD): cherverbände auf den Datenschutz, verankert im Unter- (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und lassungsklagegesetz, erfolgen. Herren! Datenschutz ist heutzutage Verbraucherschutz. (Beifall bei der SPD) Dies wird nicht zuletzt durch eine Studie des Nürnberger Marktforschers GfK deutlich. Danach haben im vergan- Schließlich brauchen wir ein Datenaudit. Dieses muss genen Jahr 29,5 Millionen Verbraucherinnen und Ver- effizient, wenig bürokratisch und eindeutig sein. braucher im Internet eingekauft. Das sind 12 Prozent mehr als 2007. Der Umsatz der Onlineshops stieg damit (Beifall der Abg. Gisela Piltz [FDP] und Silke 2008 um erstaunliche 19 Prozent und hat sich seit 2003 Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mehr als verdoppelt. NEN]) Bei all diesen virtuellen Einkäufen hinterlassen die Wenn mögliche Gremien etabliert werden, dann sollte Verbraucherinnen und Verbraucher ihre E-Mail-Adresse, darin auch die Verbraucherseite Berücksichtigung fin- tippen ihre Kontoverbindung ein oder geben ihre Kredit- den. kartennummer preis. Wer einen Job sucht, stellt seinen Liebe Kolleginnen und Kollegen, der aktuelle Gesetz- Lebenslauf online. Wer Freunde treffen will, bewegt sich entwurf ist ein guter Schritt in die richtige Richtung. An- in sozialen Onlinenetzwerken. Wer einen Partner sucht, sonsten gilt wie immer für uns das Struck’sche Gesetz. wird in seiner Darstellung zwangsläufig sehr persönlich. Das Datenschutzrecht muss deshalb modernisiert wer- Vielen Dank. den. Es muss auf der Höhe der rasanten technischen Ent- (Beifall bei der SPD) wicklung bleiben. Missbräuche müssen drastisch redu- ziert werden. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Redeliste weist Zum Glück ist unsere Rechtsprechung eindeutig. Es aus, dass die Fraktion Die Linke wollte, dass die Ab- gilt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Da geordnete Petra Pau jetzt spricht. Aus nachvollziehbaren hat sich in der Vergangenheit einiges verschoben. Ich er- Gründen bin ich anderweitig beschäftigt. Deshalb neh- men wir diesen Beitrag für die Fraktion Die Linke zu innere an die vielfältigen Skandale, die es gab. Das muss 1) wieder ins Lot gebracht werden. Deshalb begrüßen wir Protokoll . den vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung Das Wort hat die Kollegin Silke Stokar von Neuforn grundsätzlich. Es ist richtig, wenn das bestehende Lis- für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. tenprivileg modifiziert wird. Dieses Privileg hat leider (B) dazu beigetragen, dass persönliche Daten weitläufig und (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Können Sie sa- (D) für den Einzelnen nicht mehr nachvollziehbar und über- gen, was Sie gesagt hätten? – Dr. Michael prüfbar verstreut werden. Dies entspricht nicht dem er- Bürsch [SPD]: Reden Sie doch einen Meter wähnten Grundrecht. tiefer! Das geht doch! Jetzt können wir auf Ihr Argument nicht eingehen!) Folgendes sage ich auch als Verbraucherpolitiker. Fakt ist: Ein funktionierendes Wirtschaftssystem und ein Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE funktionierender Wettbewerb brauchen nun einmal die GRÜNEN): Werbung. Gerade junge und kleine Unternehmen müs- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gern sen in der Lage sein, Kunden zu akquirieren, um sich am würde ich die Redezeit der Präsidentin übernehmen; Markt zu behaupten. Es ist auch nicht verwerflich, wenn denn ich stehe jetzt vor der Aufgabe, innerhalb von vier Werbung zielgruppengerecht erfolgt. Deshalb sollten wir Minuten vier sehr komplexe Datenschutzthemen zu be- es im weiteren Beratungsverfahren möglich machen, werten. Deswegen das Wichtigste zuerst. beim Listenprivileg zu einer vernünftigen Lösung zu kommen. Durch diese Lösung muss auf der einen Seite Mein Dank geht an Peter Schaar und sein Haus für die Datenmissbrauch zukünftig verhindert und darf auf der Vorlage des 21. Tätigkeitsberichts, aber natürlich nicht anderen Seite der Wettbewerb der Unternehmen nicht nur für diesen Bericht, sondern auch für die engagierte behindert, sondern soll letztendlich gefördert werden. Arbeit für den Datenschutz. Wenn wir nur ein paar Empfehlungen des Bundesdatenschutzbeauftragten mit Es darf nicht sein, dass bei vielen Produktbestellungen Mehrheit im Parlament beschließen würden, dann wären im Internet ein Datenstriptease nötig ist, um die Bestel- wir alle ein Stück weiter. lung zu realisieren. Deshalb brauchen wir ein wirksames Kopplungsverbot. Das Prinzip der Datensparsamkeit (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN muss auch hier gelten. sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD) Meine Geduld an der Gemeinsamkeit, dass wir Jahr für Jahr feststellen, dass beim Thema Datenschutz etwas Für unsere Verbraucherpolitik gilt das Prinzip der geschehen muss, aber diejenigen, die jetzt regieren, sich gleichen Augenhöhe. Deshalb plädiere ich eindeutig und keinen Millimeter bewegen wollen, hat ein Ende gefun- nachdrücklich dafür, dass wir die rechtliche Position der den. Verbraucherinnen und Verbraucher bei Verstößen gegen den Datenschutz deutlich verbessern. Dies muss durch eine Erweiterung des Verbandsklagerechts für Verbrau- 1) Anlage 2 22844 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Silke Stokar von Neuforn (A) (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Was folgt aus die- den müssen. Sie arbeiten hier mit einem Placebo. Wenn (C) ser Drohung?) Sie meinen, man kann die Verbraucherinnen und Ver- braucher heute noch mit einem Datenschutzgütesiegel Ich habe heute hier etwas erlebt, was ich bisher noch light hinters Licht führen, dann haben Sie sich getäuscht. nie erlebt habe, nämlich den Verriss eines Gesetzent- wurfs von Bundesinnenminister Schäuble durch die Gehen Sie diesen Weg, und schaffen Sie ein vernünf- CDU/CSU-Fraktion, wie es schlimmer eigentlich nicht tiges Datenschutzgütesiegel, dann haben Sie uns an Ihrer mehr gehen kann. Der Bundesinnenminister, den ich sel- Seite. Was hier heute zu hören war, zeigte aber: Die ten lobe, hat ein durchaus ambitioniertes Datenschutzge- Große Koalition wird beim Thema Datenschutz trotz der setz für den privaten Bereich vorgelegt, nicht freiwillig, zahlreichen Skandale nichts mehr bewegen. sondern als Antwort auf zahlreiche Datenschutzskandale (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und sicherlich auch – ich kenne ihn schließlich gut –, um NEN]: Unglaublich! – Klaus Uwe Benneter sich gegenüber der Öffentlichkeit zu entlasten und um [SPD]: Die Große Koalition wahrt Augenmaß, im Windschatten der Debatte um Datenschutz in der Pri- wie immer!) vatwirtschaft die staatliche Überwachung weiter auszu- bauen. Dass Sie, meine Damen und Herren von der Den Arbeitnehmerdatenschutz haben Sie ja schon be- CDU, durch Ihre Kollegin Frau Philipp dieses Daten- erdigt. Ich bedaure dies und hoffe, dass wir das Thema in schutzgesetz in der Plenardebatte jedoch öffentlich in der nächsten Legislaturperiode mit anderen Leuten Grund und Boden stampfen, das ist schon ein besonderes erneut angehen. Ereignis. Danke schön. Ich habe es so vernommen, dass Opt-in mit dem heu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tigen Abend gestorben ist. Von der SPD war hierzu we- nig zu hören. Herr Bürsch hat sich gegenüber dem Han- delsblatt ähnlich geäußert. Vizepräsidentin Petra Pau: Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Deswegen möchte ich Ihnen noch einmal erklären, Dr. Michael Bürsch das Wort. worum es eigentlich geht. Es geht nicht um eine Belästi- gung durch Werbeflut. Vielmehr geht es darum, dass Dr. Michael Bürsch (SPD): hinter meinem Rücken mit meinen Daten, die ich für ei- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- nen bestimmten Zweck zur Verfügung gestellt habe, weil gen! Jetzt ist vielleicht die Gelegenheit, mal wieder ich im Internet etwas kaufen wollte, Kundenprofile von etwas Ruhe und Abgeklärtheit in der Debatte zu schaf- mir erstellt werden und dass diese Kundenprofile von ei- fen. (B) nem Unternehmen an ein anderes Unternehmen weiter- (D) verkauft werden und dass ich diesbezüglich keine Trans- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE parenz habe und ich mich auch nicht dagegen wehren GRÜNEN]: Wir sind doch ganz ruhig! – Silke kann. Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht: Das (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Dann müssen kennen wir!) Sie bei Tante Emma kaufen!) Verehrte Kollegin Stokar, wenn es um die Große Ko- Opt-in ist im Internetzeitalter überhaupt kein Pro- alition und ihre Vorhaben geht, dann halte ich mich an blem. Mit einem Mausklick erklärt man sich damit ein- meinen und unseren Innenminister. Innenminister verstanden, dass einem weitere Informationen zuge- Wolfgang Schäuble hat gesagt, er schließe Nachbesse- schickt werden, oder nicht einverstanden. Das ist seit rungen zwar nicht aus, er warne aber vor einem Schei- dem Volkszählungsurteil ein Grundsatz des Datenschut- tern. Ich zitiere: zes. Ich bestimme über meine Daten. Meine persönli- chen Daten sind keine beliebige Ein-Euro-Ware. Sie von Wir müssen den Datenschutz im privaten Bereich der CDU/CSU machen sie erneut dazu und tragen damit noch stärker durchsetzen. Daher müssen wir hier auch die Verantwortung für die weiteren Skandale in der auf jeden Fall noch etwas in dieser Legislaturpe- Privatwirtschaft. riode tun. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Genau so wird es geschehen. Ich kann jetzt nur noch ein paar Worte zum Daten- Frau Philipp hat ein paar kritische Anmerkungen ge- schutzaudit sagen. In der Anhörung im Innenausschuss macht. Das ist wohl erlaubt. werden wir intensiv darüber reden. Seit zehn Jahren wol- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- len wir dieses Datenschutzaudit, das heißt, wir wollen NEN]: Zu viele! Neun Minuten lang! – Silke ein Gütesiegel für diejenigen, die einen vorbildlichen Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Datenschutz betreiben. Auch hier: Auf Ihrem Gesetzent- NEN]: Neun Minuten lang hat sie den Entwurf wurf steht Datenschutzaudit, aber ein Datenschutzgüte- verrissen!) siegel ist noch lange nicht darin enthalten. Nach dem Motto „Wo bleibt das Positive?“ sage ich: Wir sind gerne bereit, an der Verbesserung dieses Ge- Bitte schön, jetzt nenne ich einige Punkte, die wir uns setzentwurfs mitzuwirken. Wir wollen Qualitätsstan- mit dieser Datenschutznovelle und dem ganzen Drum- dards, die staatlich gesetzt werden und eingehalten wer- herum vornehmen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22845

Dr. Michael Bürsch (A) Zunächst einmal zum wichtigsten Punkt. Die SPD, denen gehandelt wird und die hin und her fließen, ver- (C) die Grünen und ich weiß nicht, wer noch alles, haben in schlüsselt sind und wie sie entschlüsselt werden können. der Tat schon vor Jahren bzw. Jahrzehnten gefordert, dass ich nicht mehr, wie das bislang üblich war, widerru- (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Die Daten- fen muss, wenn jemand meine persönlichen Daten ver- sicherheit!) wendet, sondern ich vorher einwilligen muss: vorherige Die Möglichkeiten der Verschlüsselung werden bei Einwilligung statt Widerruf. weitem noch nicht genutzt, im Gegenteil. In § 3 a des Frau Stokar von Neuforn, Frau Piltz und all die ande- Bundesdatenschutzgesetzes ist das wunderbar geregelt. ren, die sich hier kritisch geäußert haben, es ist doch Danach sollen Daten anonymisiert oder mit Pseudonymen auch nach Ihrer Einschätzung ein Paradigmenwechsel, versehen werden, wie die Fachleute es nennen, sodass dass dies in den Vordergrund gerückt wird und dass wir man die personenbezogenen Angaben nicht direkt lesen dies auch aufgrund der Lehren, die wir aus den Daten- kann. schutzskandalen gezogen haben, ernst nehmen. Das ist Die ganzen Skandale der letzten Monate bei der Tele- die Richtschnur, die uns bei allem, was in dem Gesetz- kom und wo auch immer wären nicht passiert, wenn die entwurf enthalten ist und was wir noch umsetzen wollen, Daten ordnungsgemäß verschlüsselt worden wären. Das leiten wird. Es geht um Einwilligung statt Widerruf. ist für mich der Schlüssel zu dem, was Datenschutz in Im zweiten Schritt rede ich gerne über Listenprivileg der Wirtschaft bedeutet. Das werden wir angehen. und all die Begriffe, die kaum jemand hier kennt. Auch Verehrter Herr Schaar, auch von unserer Seite ganz wenn wir jetzt um 20.15 Uhr nur noch unter Eingeweih- herzlichen Dank für die Zusammenarbeit, für viele kriti- ten hier sitzen, rate ich sowie einmal dazu, dass man die sche Anmerkungen, aber auch für die konstruktive Be- ganze Debatte so führt, dass andere sie auch verstehen. gleitung dessen, was wir erreichen wollen. Wir wollen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und müssen den Datenschutzbeauftragten stärken. Wer weiß, was ein Audit ist, wer weiß, was ein Kopp- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lungsverbot ist, und, Kollege Zöllmer, wer weiß, was das NEN]: Auch personell!) Struck’sche Gesetz ist? Wenn wir – wie es im Gesetzentwurf vorgesehen ist – Ich erläutere zumindest das: Das Struck’sche Gesetz eine stärkere Kontrolle durch die Aufsichtsbehörden stammt von Peter Struck und bedeutet: Kein Gesetz wollen, dann müssen wir ihm jetzt endlich – es ist schon kommt so aus diesem Bundestag heraus, wie es als Ent- zu viel Zeit vergangen; damit bin ich ganz bei Ihnen – wurf hineingekommen ist. Genau das ist die Devise, mehr Personal und mehr Eigenständigkeit ermöglichen. (B) nach der ich an dieses Gesetz herangehe. Nach den Das gilt genauso für den betrieblichen Datenschutz- (D) 37 Gesprächen und all den Treffen mit Verbänden und beauftragten. An dieser Stelle müssen wir nachbessern. Vereinen, die ich gehabt habe – wie wahrscheinlich viele Ich bin der Meinung, wir können auf dem Gesetzent- andere hier auch –, bin ich mir ganz sicher, dass wir wurf aufbauen. Wir werden nach der Anhörung in der Wege finden werden. nächsten Woche mit den sich daraus ergebenden Anre- Wir haben im letzten halben Jahr viel dazugelernt, gungen ein Gesetz machen können, das sich sehen lassen und wir werden Lösungen finden. Wir werden unsere kann. Das ist meine feste Überzeugung. Wir werden den Aufgabe erfüllen, die darin besteht, verehrte Frau Stokar, Datenschutz voranbringen. Ich lade alle dazu ein, die gu- als Gesetzgeber einen Interessenausgleich zu finden. Das ten Sinnes sind und das auch erreichen wollen, statt es ist unsere Aufgabe: auf der einen Seite ein Interessenaus- nur kritisch zu begleiten und am Rande zu kläffen. gleich zwischen einem enormen Fortschritt im Daten- (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und Verbraucherschutz – das will ich, und das will auch NEN]: Wen meinen Sie da?) die SPD –, aber auf der anderen Seite mit Augenmaß, was die Risiken, Wirkungen und Nebenwirkungen angeht. Alle, die dabei mitmachen wollen, sind dazu eingeladen. Wir können den Datenschutz vielleicht gemeinsam ver- Das ist keine große Einschränkung der dritten Art, bessern, wie wir auch eine gemeinsame Erklärung zum sondern es bedeutet, dass wir nicht nur den Datenfluss Bericht des Datenschutzbeauftragten abgegeben haben. wollen – wir leben im 21. Jahrhundert –, sondern auch den Datenschutz. Dabei ist für mich maßgeblich, was Danke schön. wir im Gesetzentwurf vorgesehen haben und was für uns (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten alle die Richtschnur sein muss, nämlich Einwilligung der CDU/CSU) statt Widerruf.

Wir werden auch den Datenschutz in der Wirtschaft Vizepräsidentin Petra Pau: verbessern. Das ist die Zielsetzung, die wir im Grunde in Ich schließe die Aussprache und gehe davon aus, dass den vielen Gesprächen mit der Wirtschaft verabredet ha- mit der letzten Bemerkung kein Mitglied des Hauses ge- ben. Damit ist mir allerdings etwas anderes wichtiger als meint war und sich damit auch nicht angesprochen füh- das, was mit einem freiwilligen Zertifizierungsverfahren len muss. gemeint ist. Mir ist viel wichtiger, was schon im Gesetz steht, aber in der Praxis noch nicht stattfindet, nämlich (Dr. Michael Bürsch [SPD]: Die Karawane dass wir viel stärker darauf achten, wie die Daten, mit zieht weiter!) 22846 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Vizepräsidentin Petra Pau: (A) Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- mobile Computer ersetzen kann, wodurch die Arbeits- (C) wurfs auf Drucksache 16/12011 an die in der Tagesord- welt flexibler geworden ist. All das begrüßen wir sehr. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es Es geht aber nicht nur um eine Modernisierung und dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. darum, was das Mobilfunkgerät alles ermöglicht hat. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Vielmehr geht es auch um viele Arbeitsplätze in diesem Bereich. Ich glaube, es sind ungefähr 200 000 Men- Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- schen, die im mittelbaren und unmittelbaren Bereich von schusses zu dem Tätigkeitsbericht 2005 und 2006 des Funktechnologie, Handys und anderen Strahlengeräten Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informa- tätig sind. Die betreffenden Unternehmen stehen für eine tionsfreiheit. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss- sehr innovative Branche, kurze Produktzyklen und große empfehlung auf Drucksache 16/12271, in Kenntnis des Innovationen, also für etwas, wofür der Standort genannten Berichts auf Drucksache 16/4950 eine Ent- Deutschland geradezu ideal sein sollte. schließung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer In der Bevölkerung gibt es trotzdem – das ist der enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig eigentliche Grund unseres Antrags – noch immer viele angenommen. Vorbehalte. Viele von uns kennen aus ihrem Wahlkreis, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b auf: dass sich eine Bürgerinitiative, wenn ein Funkmast errichtet werden soll, zu Wort meldet und dass Angst a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Horst herrscht, weil die Unwissenheit teilweise noch relativ Meierhofer, Michael Kauch, Angelika Brunkhorst, groß ist. Wir wollen dieses Problem dadurch lösen, dass weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP wir die Forschung vorantreiben. Entscheidend ist: Man Mobilfunkforschung verantwortlich begrün- kann die Angst minimieren, indem man mehr Öffent- den lichkeit und Transparenz herstellt sowie die Mobilfunk- forschung optimiert. – Drucksache 16/10325 – (Beifall bei der FDP) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Es gibt erste Erkenntnisse und Ergebnisse. Das Deutsche Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Mobilfunk-Forschungsprogramm weist sehr gute Verbraucherschutz Ansätze auf. Vieles wurde untersucht und erreicht, aber Ausschuss für Bildung, Forschung und logischerweise noch nicht alles; denn das war im Rah- Technikfolgenabschätzung men dieses Programms nicht möglich. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lutz (B) Meine Damen und Herren von der Linken, ich darf (D) Heilmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar zwei, drei Bemerkungen zu Ihrem Antrag machen. Es ist Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion aus meiner Sicht falsch, wie Sie an die Sache herange- DIE LINKE hen. Sie schüren Ängste und werden der Ernsthaftigkeit Mobilfunkstrahlung minimieren – Vorsorge des Themas nicht gerecht. Sie zeichnen sich durch ein stärken sehr populistisches Vorgehen aus. – Drucksache 16/9485 – (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Überweisungsvorschlag: So wollen Sie die Strahlung der Geräte verringern; dafür Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie gibt es im europäischen Ausland Beispiele. Das bedeutet Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und aber, dass man mehr Funkmasten braucht. Genau das Verbraucherschutz wollen Sie vermutlich auch nicht. Wir wollen gleichzeitig Ausschuss für Gesundheit weiterhin telefonieren. Die Mobilfunkanbieter haben den Ausschuss für Bildung, Forschung und Auftrag, eine flächendeckende Nutzung zu ermöglichen. Technikfolgenabschätzung Ich wünsche Ihnen viel Spaß, wenn Sie vor die Bürger- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die initiativen in Ihren Wahlkreisen treten und ihnen erklären, Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die dass nun zusätzliche Handymasten gebaut werden müs- Fraktion der FDP sechs Minuten erhalten soll. – Ich höre sen. Ich glaube, dass Ihr Ansatz nicht richtig ist. keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege der CDU/CSU) Horst Meierhofer für die FDP-Fraktion. Ich halte Ihren Ansatz auch aus einem anderen Grund (Beifall bei der FDP) für nicht richtig. Die Ergebnisse der Reflexstudie, die Sie anführen, können eigentlich nicht auf den Menschen Horst Meierhofer (FDP): übertragen werden. Die Europäische Umweltagentur hat Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zudem selbst eingestanden, dass sie eigentlich über Der Mobilfunk ist aus dem öffentlichen Leben nicht keinerlei Expertise im Bereich der elektromagnetischen mehr wegzudenken. Das merkt man allein daran, dass es Felder verfügt. Trotzdem verweisen Sie auf die Studie mittlerweile in Deutschland mehr Handys als Bürger dieser Umweltagentur. Das halte ich für nicht anständig. gibt. Man merkt es aber auch daran, dass das Handy Damit sorgt man nur für mehr Verunsicherung und weni- zunehmend leistungsfähiger wird und teilweise schon ger Transparenz. Damit erreicht man nicht das, was wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22847

Horst Meierhofer (A) alle wollen, nämlich eine bessere Information aller die aus unserer Sicht ein Interesse daran haben sollten, (C) Bevölkerungsschichten. dass alle Probleme aus der Welt geschafft werden. (Beifall bei der FDP) Schon 2006 haben wir angeregt, die Geräte, die eine niedrige Strahlung aufweisen, zu kennzeichnen, beispiels- Im Gegensatz zu Ihnen wollen wir eine transparente weise mit einem Blauen Engel. Leider ist das von den Forschung und eine paritätische Finanzierung. Das heißt, wir wollen keine reine staatliche, öffentliche Finanzierung, Herstellern nicht in einem sinnvollen Umfang angenom- men worden, obwohl ein Drittel aller Geräte schon jetzt sondern drei Säulen. Dann könnten wir die Probleme über den entsprechenden Standard verfügen würden. Wir einigermaßen lösen. Das Deutsche Mobilfunk-Forschungs- programm hat zu der Erkenntnis geführt, dass akute oder rufen hiermit die Hersteller auf, die Geräte zu kenn- zeichnen. Wenn man keinen Blauen Engel verwenden chronische Wirkungen der nichtionisierenden Strahlung möchte, besteht auch die Möglichkeit, es wie bei den – also der von Handys und anderen strahlenden Geräten – weder unter Laborbedingungen noch in epidemiologi- Kühlschränken zu machen und die Geräte in verschie- dene Strahlungsklassen – A, B, C, D und E – einzuteilen. schen Studien erfasst werden konnten. Wenn uns das gelänge, könnten wir vernünftig über die (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Strahlenbelastung reden und würden die Bedenken der NEN]: Es kann aber nicht ausgeschlossen wer- Bevölkerung ernst nehmen, aber sie nicht für populistische den!) Zwecke ausnutzen. Das ist eine gute Nachricht. Die Ängste waren in diesem Ich bitte Sie darum, unserem Antrag positiv zu begeg- Bereich also unbegründet. Es konnte kein Zusammen- nen und ihm letztendlich zuzustimmen. hang festgestellt werden. Das nimmt Ängste. Herzlichen Dank. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Noch ist aber nicht alles untersucht. Es gibt drei Berei- che, die wir in einem weiteren Schritt untersucht wissen möchten. Das sind die Auswirkungen der Strahlung auf Vizepräsidentin Petra Pau: Schwangere, kleine Kinder und Heranwachsende. Das Das Wort hat der Kollege Jens Koeppen für die Unions- alles konnte bislang nicht erforscht werden, genauso wenig fraktion. wie die langfristigen Folgen der Strahlung. Diese drei (Beifall bei der CDU/CSU) Bereiche sollten aus unserer Sicht noch weiter unter- sucht werden. Deswegen haben wir unseren Antrag ge- stellt. Man sollte auch die Auswirkungen der Addition Jens Koeppen (CDU/CSU): (B) (D) von Strahlungen untersuchen. Mittlerweile sind oft ver- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schiedene Strahlungsgeräte gleichzeitig im Einsatz. Herr Meierhofer hat seine Rede mit dem Hinweis be- Viele haben zu Hause WLAN, ein schnurloses Telefon gonnen, dass die moderne Informations- und Kommuni- und ein Handy. Darüber, wie verschiedene Strahlungs- kationstechnologie in unserer Gesellschaft eine große quellen zusammenwirken, gibt es noch zu wenige Infor- Bedeutung hat. Ich möchte daran anknüpfen. Über die mationen. Diese Bereiche sollte man unserer Meinung Hälfte der Industrieprodukte und weit über 80 Prozent nach endgültig und befriedigend untersuchen. Wenn uns der Exportprodukte Deutschlands hängen heute vom das gelingt, gibt es, glaube ich, weniger Probleme. Einsatz dieser Technologie ab. Sie leistet einen wesent- lichen Beitrag zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit Die Struktur sollte verbessert werden. Die Erkennt- unseres Landes. Sie ist Innovationsträger, erzeugt nisse sind valide. Die Erkenntnisse des Deutschen Wachstum und Arbeitsplätze. Die vom Kollegen Mobilfunk-Forschungsprogramms sind sicherlich aller Meierhofer genannte Zahl war nicht ganz richtig: Die ge- Ehren wert. Trotzdem gab es das eine oder andere Mal samte IKT-Branche beschäftigt rund 750 000 Menschen. Kritik. Man will mehr Objektivität durch einen unabhän- gigen Projektleiter. Das war bei diesem Forschungs- (Horst Meierhofer [FDP]: Ja, wenn man die programm nicht der Fall. Wenn man beim nächsten Mal Telekommunikationsbranche dazuzählt!) dafür sorgen würde, wäre das der letzte kleine Stein, der Dieses Segment ist also sehr wichtig. Die Mobilfunk- noch fehlt, um eine optimale Information der Bevölke- technologie wird von uns allen genutzt. In Deutschland rung zu erreichen. gibt es mehr Handys als Bürger. Im Jahr 2006 kamen auf Wir haben für den Bereich der Erforschung nichtioni- 100 Menschen 104 Handys; es werden praktisch täglich sierender Strahlung 1,6 Millionen Euro in den Bundes- mehr. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, über dieses haushalt für 2009 eingestellt. Was damit aber gemacht Thema zu diskutieren. werden soll, steht leider noch nicht fest; wir konnten das Gleichzeitig nimmt die Strahlenexposition zu. In der bisher nicht erfahren. Wir glauben, dass man das konkre- Bevölkerung gibt es Ängste und Sorgen wegen mögli- ter angehen sollte. Wir sollten deswegen diese Bereiche cher gesundheitlicher Gefährdungen. Vor diesem Hinter- erforschen und das Programm abschließen. grund beraten wir heute über zwei Anträge aus der Neben dem Staat sollten auch die Netzbetreiber in die Opposition: über den Antrag der FDP-Fraktion, der uns Finanzierung einbezogen werden – das war bisher schon gerade vorgestellt wurde, und über den Antrag der der Fall –, aber auch die Handyhersteller, die Hersteller Linksfraktion. Die beiden Anträge könnten gar nicht der Endgeräte – sie wurden bisher noch nicht einbezogen –, unterschiedlicher sein. 22848 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Jens Koeppen (A) Sie von der FDP gehen in Ihrem Antrag von der großen denen die bestehenden Grenzwerte überarbeitet werden (C) Bedeutung der Mobilfunktechnologie aus. Sie sagen, die müssen. Es konnten ausdrücklich keine negativen Ef- bestehenden Vorbehalte müssten erforscht werden, um die fekte auf Hormone, auf die Blut-Hirn-Schranke, auf die Ängste und Risiken auszuräumen; es bestehe weiterer Fortpflanzung oder auf das Krebsrisiko festgestellt wer- Forschungsbedarf. Sie fordern eine Langzeitstudie zu den. Das, was Sie gesagt haben, wurde überhaupt nicht den Auswirkungen auf Kinder usw. Das sind Vorschläge, verifiziert, auch nicht repliziert. Demzufolge ist das un- über die wir beraten sollten. Ich finde, der Antrag geht begründet. absolut in die richtige Richtung: Er ist sachbezogen, ergebnisorientiert und objektiv. Vielleicht haben Sie teil- Es kann davon ausgegangen werden, dass es im Be- weise von uns abgeschrieben. reich der thermischen Wirkung kein zusätzliches Lang- zeitrisiko und kein Krebsrisiko gibt. Allerdings ist Ihr Antrag nicht mehr ganz zeitgemäß; er enthält Forderungen, die wir im Deutschen Mobilfunk- 6 Prozent der Menschen leiden unter Elektrosensibili- Forschungsprogramm bereits erarbeitet und umgesetzt tät. Es wurde aber in Untersuchungen festgestellt, dass haben bzw. umsetzen werden. Die Ergebnisse sprechen die Mobilfunkstrahlung darauf keinen Einfluss hat. So eindeutig dafür, diese Forschung weiterzuführen. wurden Anlagen zufällig abgeschaltet oder eingeschal- tet. Dabei wurde festgestellt, dass die Sensibilität unab- Sie fordern auch, die Kommunikation zu verbessern. hängig davon, ob die Anlagen ein- oder ausgeschaltet Hier erinnere ich nur an das Informationszentrum Mobil- waren, bestand. funk, das eine sehr gute Informationsbasis bietet, und an die Internetseite www.mobilfunk-baukasten.de, wo unter Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Er- anderem die Kommunen sachlich und verbraucherorien- gebnisse keinen Anlass bieten, die Schutzwirkung der tiert informiert werden. bestehenden Grenzwerte in Zweifel zu ziehen. Deswe- gen bleiben die bestehenden Grenzwerte der Im Gegensatz zum Antrag der FDP spielt der Antrag 26. BImSchV erhalten. der Linken mit den Sorgen der Menschen. Das ist abso- lut unredlich. Er basiert auf reinen Behauptungen, die Das Forschungsprogramm hat dazu beigetragen, viele wissenschaftlich überhaupt nicht fundiert sind und von Ängste auszuräumen, und es hat die wissenschaftliche der Forschung nicht gedeckt werden. Aber so sind nun Kenntnis über die Wirkung elektromagnetischer Felder einmal die Anträge, die Sie stellen. Sie basieren auf Un- wesentlich verbessert. Trotz dieser insgesamt beruhigen- wissenheit. Statt in populistischer Weise diffuse Ängste den Ergebnisse muss weitergeforscht werden. Es ist ganz vor Mobilfunk, die es in Teilen der Bevölkerung gibt, zu wichtig, dass die Forschung finanziell ordentlich ausge- schüren, sollten wir durch Forschung und Aufklärung zu stattet wird. Das betrifft insbesondere – da gebe ich Ih- (B) einer Versachlichung der Debatte beitragen. Das wäre nen vollkommen recht – die Forschung über die Lang- (D) der richtige Weg. zeitwirkung. Wir können jetzt noch nicht sagen, was in zehn Jahren passiert; (Beifall bei der CDU/CSU) (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Aha!) Die Koalition nimmt ihre Verantwortung wahr. Sie tut viel, um die Folgen der Mobilfunktechnik zu untersu- denn so lange gibt es die Geräte noch nicht. Weiterer chen und mögliche Gefahren zu erkennen. Das erste Forschungsbedarf besteht über die Auswirkungen auf Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm hat die Auf- Kinder und Schwangere. All das muss weiter untersucht gabe, herauszufinden, ob die geltenden Grenzwerte, die werden, aber ohne Hysterie. Es muss auf fundierter die Bevölkerung vor der Mobilfunkstrahlung ausrei- Grundlage ordentlich aufgeklärt werden. chend schützen sollen, noch in Ordnung sind. Die Bun- desregierung hat in den Jahren 2002 bis 2007 8,5 Mil- Ich begrüße die Tatsache, dass die Mobilfunkbetrei- lionen Euro in dieses Forschungsprogramm gesteckt, ber zugesagt haben, dass sie dieses Programm weiter weitere 8,5 Millionen Euro gaben die Mobilfunknetzbe- mitfinanzieren und dass die 2001 unterschriebene treiber dazu. Es gibt kein Programm, in dessen Rahmen Selbstverpflichtung weiter gilt. Es soll jetzt zu nachprüf- umfangreicher und gründlicher geforscht wurde als die- baren Verbesserungen auch für Verbraucher-, Gesund- ses. Das ist eine sehr gute Sache. Ich bin sehr froh, dass heits- und Umweltschutz kommen. Ein besonderes Au- wir dieses Programm erfolgreich zu Ende führen konn- genmerk legen die Hersteller auf die Verbesserung der ten. Geräte. Es ist wichtig, dass die Handys bei geringerem Stromverbrauch und geringerer Strahlung die gleiche (Beifall bei der CDU/CSU) Leistung erreichen. Das ist eine Win-win-Situation. Weltweit gab es mittlerweile über 20 000 Untersu- Eine erschöpfende Analyse der gesundheitlichen Ri- chungen auf diesem Gebiet. Nach Aussagen der Weltge- siken ist momentan noch nicht möglich. Es steht aller- sundheitsorganisation besteht kein begründeter Zusam- dings jetzt schon jedem frei, selbst Vorsichtsmaßnahmen menhang zwischen Mobilfunkstrahlung und dem zu ergreifen, also auf drahtlose Systeme zu verzichten steigenden Risiko einer Erkrankung – das sollten wir den und auf kabelgebundene Systeme zurückzugreifen, zum Menschen auch so deutlich sagen –, und das müssen wir Beispiel auf Headsets mit Kabeln. anerkennen. Die Ergebnisse des Programms sind zuerst einmal beruhigend. Die Strahlenschutzkommission und (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Warum denn das Bundesamt für Strahlenschutz haben übereinstim- das, wenn alles ungefährlich ist? Das verstehe mend festgestellt, dass es keine Erkenntnisse gibt, nach ich überhaupt nicht!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22849

Jens Koeppen (A) Dann kann jeder, der unter Elektrosensibilität leidet, für (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Die Linke (C) sich entscheiden, ob er einer Vorsichtsmaßnahme folgt will die Telefonvielfalt in der DDR wieder ein- oder nicht. führen!) (Beifall bei der CDU/CSU) Kollege Meierhofer, zu Ihrem Vorhalt: Ich weiß nicht, ob Sie unseren Antrag nicht gelesen haben oder ob Ihr Das Handy ist aus unserer mobilen Informationsge- Mitarbeiter Ihnen das nicht richtig aufgeschrieben hat. sellschaft nicht mehr wegzudenken. Wir müssen diese Das, was Sie mir vorgehalten haben, steht darin nicht. Technologie stetig verbessern und verfeinern. Wir müs- Unser Antrag enthält ganz konkrete Punkte. Diese sen die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen; das ma- Punkte will ich Ihnen gleich näher erläutern. chen wir auch. Wir dürfen die Emotionen nicht verharm- losen; das machen wir auch nicht. Wir müssen gezielt Ihr Antrag enthält kein einziges Wort zu den Risiken forschen, ohne Aktionismus und ohne böse Beschuldi- des Mobilfunks. Diese Risiken gibt es; das ist so sicher gungen. Wir müssen die Wissensbasis verbreitern und wie das Amen in der Kirche. Das hat man auch Ihren Re- durch eine transparente und verständliche Kommunika- debeiträgen entnehmen können. Der Präsident des Bun- tion zu einer Versachlichung der Debatte beitragen. Das desamtes für Strahlenschutz hat das ebenfalls deutlich ist der richtige Weg. gemacht. Er empfiehlt zum Beispiel, dass Kinder nicht oder nur sehr wenig mit dem Handy telefonieren. Danke. (Horst Meierhofer [FDP]: Deswegen wollen (Beifall bei der CDU/CSU) wir ja forschen!) Ich möchte Sie ganz einfach dazu auffordern, ein biss- Vizepräsidentin Petra Pau: chen mehr zu recherchieren. Das Wort hat der Kollege Lutz Heilmann für die Frak- tion Die Linke. Um es klarzustellen: Die Linke steht für einen techno- logischen Fortschritt im Interesse der Menschen. Das (Beifall bei der LINKEN) schließt eine verantwortungsbewusste Nutzung von Mo- bilfunk ausdrücklich ein. Lutz Heilmann (DIE LINKE): (Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Das muss Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! man aber erst mal dazusagen!) Werte Gäste! Mit dem Antrag, den die FDP vorgelegt hat, macht sie wieder eines deutlich: dass sie stramm an Aber die Forderungen, die Ihr Antrag enthält, sind weit (B) der Seite der Mobilfunkbetreiber und Mobilfunkherstel- hinter dem, was möglich ist. Sie schreiben zum Beispiel, (D) ler steht. dass es zu einer Reduzierung der Strahlen kommen soll, wenn man das Handtelefon in die Basisstation steckt. Es (Zurufe von der FDP: Oh!) ist möglich, dass die Strahlenbelastung vollständig redu- ziert wird. Warum schreiben Sie keine entsprechende Irgendwann danach kommen auch einmal die Verbrau- Forderung in Ihren Antrag? cherinnen und Verbraucher an die Reihe. (Horst Meierhofer [FDP]: Weil das von der (Horst Meierhofer [FDP]: Das ist kein Wider- Wirklichkeit überholt ist!) spruch! Es gibt nämlich auch Menschen, die telefonieren!) – Ihr Antrag ist von der Wirklichkeit überholt. Das stimmt allerdings. Kollege Koeppen, Ihre Ausführungen kann ich so nicht stehen lassen. Erst sagten Sie, es sei alles wunder- Fakt ist, dass der Ausbau des Handynetzes, insbeson- bar, es sei alles in Butter, es sei alles rosarot. Trotzdem dere des UMTS-Netzes, voranschreitet, was zweifellos haben Sie am Ende gesagt: Ja, wir müssen weiterfor- höhere Belastungen mit elektromagnetischen Feldern schen, zur Folge hat; das hat auch Kollege Koeppen bestätigt. Da damit insbesondere gesundheitliche Risiken steigen, (Jens Koeppen [CDU/CSU]: Ja, selbstver- da die geltenden Grenzwerte nicht ausreichend sind, da ständlich!) gerade die thermischen Effekte der Handystrahlung um- um Langfristigkeit herzustellen. Dann erwähnen Sie stritten sind, da WLAN-Netze immer mehr Verbreitung doch ganz einfach, dass das Deutsche Mobilfunk-For- finden – schauen Sie in die Schulen, schauen Sie in die schungsprogramm über fünf Jahre lief und dass in diesen Flughäfen, schauen Sie in die Bahnhöfe –, da für Mobil- fünf Jahren überhaupt keine Langzeitforschung erfolgen funkanlagen nur eine Standortgenehmigung nötig ist und konnte. Deswegen ist es ganz einfach notwendig, dieses da Gesichtspunkte des Immissionsschutzes völlig unbe- Programm fortzuführen. Genau das haben wir in unseren rücksichtigt bleiben – wie gesagt, ist das Deutsche Mo- Antrag geschrieben. bilfunk-Forschungsprogramm 2007 ausgelaufen –, ist nach Auffassung der Linken Folgendes notwendig: (Beifall bei der LINKEN) Erstens. Die Grenzwerte müssen so weit gesenkt wer- Aber diese Fortführung lehnen Sie ab. Darüber haben den, dass gesundheitliche Auswirkungen ausgeschlossen wir im Umweltausschuss diskutiert. Schauen Sie sich werden können. Das ist möglich. Kollege Meierhofer, das Protokoll ganz einfach an! Sie haben es erwähnt: Warum lassen sich die Mobilfunk- 22850 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Lutz Heilmann (A) hersteller darauf nicht ein? Die entsprechenden Techni- Absenkung der Grenzwerte – führte 2001 letztendlich (C) ken gibt es schon. zur Implementierung des Deutschen Mobilfunk-For- schungsprogramms. (Horst Meierhofer [FDP]: Mehr Masten!) Von Anfang an galten dabei als oberstes Prinzip Insofern ist das unverständlich. Transparenz und Objektivität. Dies ist vor allem an die Zweitens. Ein allgemein öffentlich zugängliches Adresse der Fraktion Die Linke gerichtet, die die Unab- Strahlenkataster muss geschaffen werden. hängigkeit des Programms infrage gestellt hat. Die Mo- bilfunknetzbetreiber hatten kein Recht zur Auswahl, Drittens. Genehmigungen für Mobilfunkanlagen sind konnten an Projekten nicht mitwirken und sie auch nicht nur befristet zu erteilen, und der Immissionsschutz ist beeinflussen. Das gilt ebenso für die Bewertung der For- darin aufzunehmen. schungsergebnisse. Auch hinsichtlich der Transparenz Viertens. Es ist darauf hinzuwirken, dass schnurlose war das Mobilfunk-Forschungsprogramm vorbildlich. Telefone – hören Sie jetzt einfach zu, Kollege Alle Projektvorschläge wurden im Rahmen eines Fach- Meierhofer! – so zu bauen sind, dass die Funkverbin- gespräches vorgestellt. Es bestand ausreichend Gelegen- dung zwischen Basisstation und Mobilteil unterbrochen heit zur öffentlichen Diskussion. wird, sobald das Gerät in der Basis ist. Was aber waren die Ziele des Mobilfunk-Forschungs- Fünftens. Das Deutsche Mobilfunk-Forschungspro- programms? Was konnte es leisten und was nicht? gramm ist auch unabhängig von einer Beteiligung der Hauptsächlich sollten wissenschaftliche Unsicherheiten Mobilfunkbetreiber fortzusetzen. durch eine gezielte unabhängige Forschung geklärt und die geltenden Grenzwerte überprüft werde. Dabei lagen Sechstens. Die Untersuchungen hinsichtlich der Ge- die fachlichen Schwerpunkte in den Bereichen Biologie, fährlichkeit sind auf Tiere und Pflanzen auszudehnen. Epidemiologie und Dosimetrie, also bei den Messungen Abschließend Folgendes: Künftig müssen alle Han- der Strahlendosis. dys gefahrlos zu nutzen sein. Das ist der Anspruch, den Nach Abschluss der Forschungsprojekte im Jahre wir an die Industrie stellen. Darunter machen wir es 2008 bewerteten sowohl das Bundesamt für Strahlen- nicht. schutz als auch die Strahlenschutzkommission das Pro- Ich wünsche einen schönen Abend und danke für die gramm. Beide sind unabhängig voneinander zu dem Er- Aufmerksamkeit. gebnis gekommen, dass die Forschungen keine Erkenntnisse erbracht haben, die die geltenden Grenz- (Beifall bei der LINKEN – Sylvia Kotting-Uhl werte infrage stellen. Ebenfalls war ein ursächlicher Zu- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist Ihr (B) sammenhang zwischen elektromagnetischer Strahlung (D) Handy?) unterhalb der geltenden Grenzwerte und unspezifischen Gesundheitsbeschwerden, der sogenannten Elektrosensi- Vizepräsidentin Petra Pau: bilität, nicht nachweisbar. Somit decken sich in der Ge- Das Wort hat der Kollege Detlef Müller für die SPD- samtbewertung die Ergebnisse des Programms mit de- Fraktion. nen anderer Projekte, auch aus dem Ausland. Deshalb (Beifall bei der SPD) gab es für die Bundesregierung keinen Grund, von den geltenden Grenzwerten abzurücken. Ich sage es ganz klar: Die vorliegenden Ergebnisse des Mobilfunk-For- Detlef Müller (Chemnitz) (SPD): schungsprogramms geben keinen Anlass, die ange- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten strebte Schutzwirkung der bestehenden Grenzwerte in Damen und Herren! Liebe Nutzerinnen und Nutzer von Zweifel zu ziehen. Mobiltelefonen – das werden wir wohl alle sein –, was kann man heute nicht alles mit modernen Handys, die (Beifall bei der SPD) längst Lifestyle-Symbole sind, machen? Fotografieren, Vor diesem Hintergrund müssen aber die Anträge ge- Bilder senden und empfangen, Videos anschauen, Nach- sehen werden, über die wir heute beraten. Beide Anträge richten schreiben und lesen, E-Mails abrufen, Dateien haben große Schnittmengen, und die Antragsteller for- erstellen und verwalten. Auch als Navigationssystem dern insbesondere die Weiterführung des Mobilfunk- werden sie schon genutzt. Die eigentliche Aufgabe, das Forschungsprogramms. Telefonieren, wird dabei fast zur Nebensache. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE Es gab von Anfang an in Teilen der Bevölkerung auch GRÜNEN]: Von wegen! Völlig gegensätz- kritische Stimmen, die fragten, ob die Nutzung der Mo- lich!) bilfunktechnologie nicht gesundheitliche Schäden durch elektromagnetische Felder hervorrufe. Der Bundesregie- Grundsätzlich steht die Politik beim Thema Mobil- rung, dem Bundesumweltministerium sowie den Netz- funk vor einem Dilemma: Die Ergebnisse des For- betreibern war klar, dass diese Vorbehalte nur dann aus- schungsprogramms beziehen sich auf den aktuellen geräumt werden können, wenn Gesundheitsrisiken durch wissenschaftlichen Kenntnisstand. Die zukünftige Un- unabhängige Forschung ausgeschlossen werden kön- schädlichkeit einer Technologie kann wissenschaftlich nen. Dieser Zwiespalt – eine hohe Zunahme der Nutzer- nie bewiesen werden. Die Bundesregierung hat sich bei zahlen, aber auch eine wachsende Verunsicherung bei ei- der Grenzwertfestlegung auf die aktuellen Ergebnisse nigen Bürgern, verbunden mit Forderungen nach gestützt, während die Mobilfunkgegner oder -kritiker Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22851

Detlef Müller (Chemnitz) (A) vorhandene gesundheitliche Beschwerden auf elektro- Folgende Punkte bedürfen deshalb unserer Meinung (C) magnetische Felder des Mobilfunks zurückführen. Die nach einer Regelung: Politik steckt deshalb in der Klemme zwischen Wissen- Erstens. Es werden derzeit nur die wichtigsten Anla- schaft und teilweiser öffentlicher Wahrnehmung. gen der Infrastruktur, die Netze, geregelt. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Zweitens. Unserer Ansicht nach bleiben noch zu viele Natürlich sind wir uns bewusst, dass auch durch in- Quellen, insbesondere die Endgeräte, unberücksichtigt. tensivste wissenschaftliche Forschung mögliche Risiken Verbraucherschutzmaßnahmen wie der Blaue Engel wer- nicht völlig ausgeschlossen werden können. Vorbeu- den nicht oder nur unzureichend umgesetzt. gende Maßnahmen sind deshalb weiterhin sehr sinnvoll. Drittens. Eine relativ neue Technik, Wireless LAN (Beifall bei Abgeordneten der SPD) bzw. WLAN, muss gründlich überprüft werden. Ihre Reichweite kann unter bestimmten Voraussetzungen Fakt ist, dass das Forschungsprogramm primär auf den mehrere Hundert Meter betragen. Auch durch diese Tech- Mobilfunk ausgerichtet war, andere Funktechnologien nik entstehen hochfrequente elektromagnetische Felder. wie zum Beispiel digitales Fernsehen oder auch die Zwar gibt es trotz mehrerer Studien, unter anderen des WLAN-Technologie nur am Rande betrachtet wurden. Bundesamtes für Strahlenschutz, nach dem aktuellen Insbesondere die Auswirkungen auf Kinder sind noch Stand der Wissenschaft keinen Nachweis, dass innerhalb nicht endgültig erforscht. Kinder sind eben keine kleinen der gesetzlichen Grenzwerte eine gesundheitliche Ge- Erwachsenen. In diesem Bereich sind noch dringend fährdung besteht, Forschungsbedarf besteht aber sehr spezifische Untersuchungen erforderlich. Wir als SPD- wohl. Die in der Umgebung von öffentlich zugänglichen Fraktion unterstützen dieses Anliegen. WLAN-Hotspots erhobenen Expositionswerte lagen alle unterhalb der vom Europäischen Rat empfohlenen Werte. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Trotzdem fordern wir an dieser Stelle die Bundesregie- NEN]: Aber unseren Antrag haben Sie damals rung auf, auch die Forschung in diesem Bereich weiter- abgelehnt!) zubetreiben. Hinzu kommt, dass Kinder möglichen Risiken länger Im Übrigen erachten wir es nicht als negativ, eine fi- ausgesetzt sind, weil sie – leider – schon seit ihrer Kind- nanzielle Beteiligung der Industrie an der Mobilfunkfor- heit Handys benutzen. Auch ist nicht auszuschließen, schung einzufordern. Im Gegenteil, eine Beteiligung dass Kinder möglicherweise auch empfindlicher auf- wird aus unserer Sicht als sachgerecht angesehen, da grund einer vergleichsweise höheren Eindringtiefe der dies nach dem Verursacherprinzip notwendig ist. Strahlung in den Körper reagieren. In diesem Bereich (B) muss die Forschung intensiviert werden. (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE (D) GRÜNEN]: Ganz genau!) Nur unbefriedigend kann die Frage beantwortet wer- den, ob die Gefahr für gesundheitliche Folgen bei der In diesem Zusammenhang nehmen wir auch zum wie- Nutzung über Zeiträume von länger als zehn Jahren zu- derholten Mal die Herstellerfirmen bzw. Netzbetreiber in nimmt. Durch Untersuchungen konnten bisher gesund- die Pflicht, zukünftig verstärkt strahlungsärmere Endge- heitliche Auswirkungen des Mobilfunks nicht belegt räte anzubieten und aktiv zu bewerben. werden, da die Anzahl der Personen, die Mobiltelefone (Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- seit mehr als zehn Jahren nutzten, zu gering war, um sta- NEN]: Pflicht oder Selbstverpflichtung?) tistisch belastbare Daten zu liefern. Zu Fragen möglicher Langzeitwirkungen wurden im Rahmen des Forschungs- Sehr geehrte Damen und Herren, wir nehmen das programms allerdings zahlreiche tierexperimentelle Thema Mobilfunkstrahlung ernst und sind uns beim Langzeitstudien durchgeführt. Insgesamt stützen diese Thema Mobilfunk unserer Verantwortung für den Schutz Ergebnisse nicht die Vermutung, dass chronische Ein- der Bevölkerung sehr bewusst. Wir als SPD-Fraktion be- wirkungen zu einer Risikoerhöhung führen. grüßen die grundsätzlichen Ansätze der Anträge der FDP und der Linken. Auch wir haben weiteren For- Dagegen können wir durch die Vorlage des Gesetzes schungsbedarf zur Beantwortung der noch offenen Fra- zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung, welches gen gesehen. Dem wird mit der Fortsetzung des Mobil- wir morgen hier in den Deutschen Bundestag einbringen funk-Forschungsprogramms Rechnung getragen. Das werden, eine wichtige Rechtslücke schließen. Damit BMU und das Bundesamt für Strahlenschutz werden die wird der gesetzliche Rahmen geschaffen, um auch in Forschung zur weiteren Aufklärung der noch offenen Deutschland die Grenzwerte der EU-Ratsempfehlung für Fragen fortsetzen. Hierzu wurde ein dreijähriges For- elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder schungsprogramm erstellt. Die Finanzierung soll anteilig über den gesamten Frequenzbereich von 0 Hertz bis durch Mittel des BMU und der Netzbetreiber erfolgen. 300 Gigahertz umsetzen zu können. So wird sicherge- (Horst Meierhofer [FDP]: Und die Geräteher- stellt, dass es durch die gleichzeitige Anwendung unter- steller?) schiedlicher Quellen nicht zur Verletzung gesundheits- bezogener Grenzwerte kommt. Insofern ist der FDP-Antrag entbehrlich, weil ein Groß- teil der Forderungen im Antrag bereits umgesetzt wird. Aber wir müssen leider feststellen, dass die geltenden Regelungen noch nicht alle Aspekte des Schutzes der Mit dem alle zwei Jahre erfolgenden Bericht der Bun- Bevölkerung vor Strahlen aus diesem Bereich abdecken. desregierung an den Deutschen Bundestag zur Mobil- 22852 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Detlef Müller (Chemnitz) (A) funkforschung werden wir als Parlamentarier über die Aber das muss eine Verpflichtung werden. Nur mit ga- (C) neuesten Forschungsergebnisse zeitnah informiert. rantierter Bürgerbeteiligung können wir das Gefühl von Ohnmacht bei den Betroffenen verringern. Gestatten Sie mir abschließend noch ein paar Worte zum Antrag der Linken. Wir teilen die dort angeführten Besonders sensible Bereiche wie Kindergärten oder Feststellungen zu diesem Thema nicht. So entstammen Krankenhäuser brauchen besonders sensible Maßnah- die im Antrag zur Begründung angeführten Behauptun- men. Da sind die Vorschläge der Linken nicht verkehrt, gen zu Folgen und Risiken des Mobilfunks wie zum Bei- wie auch noch andere ihrer Vorschläge. Ich habe aber ein spiel gentoxische Effekte, erhöhtes Hirnturmorrisiko Problem zum Beispiel mit Ihrer Haltung zu der Frage, oder auch niedrigere Lebenserwartung in der Nähe von wer die weitere Forschung bezahlen soll. Was nicht geht, Mobilfunkbasisstationen einer selektiven Wiedergabe ist, die Mobilfunkbetreiber außen vor zu lassen. Auch an der wissenschaftlichen Literatur. dieser Stelle gilt für mich das Vorsorgeprinzip. Sie geben aber nicht den heutigen wissenschaftlichen Sie unterstellen, dass Mobilfunkunternehmen über die Kenntnisstand wieder. Eine derartige einseitige Wieder- Kostenbeteiligung Einfluss auf die Gestaltung der Stu- gabe des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes ist aller- dien und Abschlussberichte nehmen können. Bei der In- dings keine fundierte Basis für die Ableitung weiter- terpretation der Ergebnisse des großen Deutschen gehender Anträge. Herr Heilmann, es geht nicht darum, Mobilfunk-Forschungsprogramms haben sie das wohl Technologien wie WLAN abzulehnen oder zu verbieten, probiert. Aber daraus zu schließen, dass das Ganze eine sondern es geht darum, sie zu verbessern. Art Gefälligkeitsforschung war, schüttet das Kind mit dem Bade aus. Wo soll das enden, wenn schon die Linke Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. die Industrie aus der Finanzierung der Beseitigung von (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Folgekosten entlasten will? der CDU/CSU) Ihr Antrag, Kollege Meierhofer, ist erstaunlich tech- nikkritisch. Das ist an dieser Stelle richtig. Vizepräsidentin Petra Pau: (Zuruf des Abg. Lutz Heilmann [DIE LINKE]) Das Wort hat die Kollegin Sylvia Kotting-Uhl für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Stellen Sie eine Zwischenfrage! Dann können wir uns unterhalten. – Es ist überfällig, dass wir Technologien Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): vor ihrer Einführung auf ihre Folgewirkungen hin erfor- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schen und nicht erst dann, wenn sie bereits so stark in Wirtschaft und Gesellschaft verankert sind, dass wir sie Wir haben beim Mobilfunk ein Dilemma. Wir haben das (B) Bedürfnis einer Mehrheit in der Gesellschaft nach mobi- nicht mehr zurücknehmen können. (D) ler Kommunikation – möglichst überall und zu jeder Zeit –, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) und wir haben die Elektrosensibilität einer Minderheit. Was dieses Dilemma angeht, ist es überhaupt nicht wich- Es freut mich, Herr Koeppen, dass auch Sie das so se- tig, ob die Elektrosensibilität nachgewiesen werden hen. kann. Entscheidend ist, ob die Betroffenen sie empfin- Das gilt übrigens nicht nur für Funktechnologien, den. sondern auch für die Nanotechnologie, für CCS und viele andere Technologien, Forschung ist wichtig; auch wir wollen sie. Das Pro- blemfeld Kinder und Jugendliche einerseits und Lang- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE zeitwirkungen andererseits ist von allen benannt worden. GRÜNEN]: Autos!) Aber, Herr Meierhofer, die Forschungen helfen Elektro- sensiblen nicht, solange die Schädlichkeit nicht nachge- bei denen die Begeisterung für die Chancen die Risiken wiesen ist. Dass auch die Unschädlichkeit bisher nicht gern übersehen lässt. Das gilt gerade für Ihre Partei, Kol- beweisbar ist, befreit die Menschen nicht von den Beein- lege Meierhofer. trächtigungen, die sie spüren. Es ist auch überfällig, dass wir aufhören, jeden einzel- nen Emittenten isoliert zu betrachten und die kumulative (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wirkung zu ignorieren. Grundsätzlich ist Kennzeich- Diese Menschen sind aber zu wenige, und sie haben nung, also auch die Kennzeichnung der Strahlungsinten- keine Lobby. Unsere Antwort ist daher vor allem Mit- sität beim Handy, der erste Schritt zum mündigen Bür- sprache. Die freiwillige Selbstverpflichtung der Mobil- ger. Es ist unverständlich, dass die Große Koalition funkbetreiber hat nicht das gebracht, was sie sollte. Vor unseren Antrag vor zwei Jahren abgelehnt hat. Machen allem in kleinen Kommunen funktioniert die Einbindung wir also einen neuen Versuch! der Bürgerinnen und Bürger nur suboptimal. Das Bau- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) recht erlaubt nur in reinen Wohngebieten, Sendemasten zu verhindern. Die öffentliche Standortdatenbank war Auch beim Antrag der FDP stoße ich mich neben dem ein erster guter Schritt. Jetzt braucht es zentrale Anlauf- Duktus so richtig nur an einer Stelle, nämlich an der Le- stellen für Bürger und Bürgerinnen. Solche Stellen müs- bensretterfunktion des Handys beim Kind. Solange wir sen die Anwohner von sich aus über geplante Anlagen nicht wissen, ob die Nutzung von Handys aufgrund ihrer informieren und runde Tische organisieren. Einzelne Strahlung bei Kindern zu gesundheitlichen Beeinträchti- Kommunen gehen da schon mit gutem Beispiel voran. gungen führen kann – da gibt es noch keine Forschungs- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22853

Sylvia Kotting-Uhl (A) ergebnisse –, sind Handys in Kinderhänden für mich am Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf: (C) falschen Platz. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Die beiden Anträge sind in ihren Forderungen nicht Wolfgang Gehrcke, Monika Knoche, Hüseyin- so gegensätzlich, wie Sie, Herr Koeppen, sagen. Beide Kenan Aydin, weiterer Abgeordneter und der wollen Forschung, beide wollen Kennzeichnung. Ob die Fraktion DIE LINKE einen die Forschung wollen, weil sie aufklären wollen oder weil sie davon überzeugt sind, dass diese For- Pakistan und Afghanistan stabilisieren – Für schung die gesundheitliche Schädigung nachweist, oder eine zentralasiatische regionale Sicherheits- ob die anderen die Forschung wollen, weil sie davon konferenz überzeugt sind, dass durch sie die Unschädlichkeit nach- – Drucksachen 16/10845, 16/11249 – gewiesen wird, ist mir relativ egal. Die Hauptsache ist, dass wir alle Forschung fordern und die Bundesregie- Berichterstattung: rung bewegen, sie in die Wege zu leiten. Abgeordnete Johannes Pflug Vielen Dank. Harald Leibrecht Wolfgang Gehrcke (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Marieluise Beck (Bremen) sowie bei Abgeordneten der SPD) Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Vizepräsidentin Petra Pau: Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich Ich schließe die Aussprache. um die Reden folgender Kollegen: Holger Haibach für Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf die Unionsfraktion, Detlef Dzembritzki für die SPD- Fraktion, Hellmut Königshaus für die FDP-Fraktion, den Drucksachen 16/10325 und 16/9485 an die in der Dr. Norman Paech für die Fraktion Die Linke, Omid Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Nouripour für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.2) Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Auswärti- gen Ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: mit dem Titel „Pakistan und Afghanistan stabilisieren – Beratung des Antrags der Abgeordneten Christian Für eine zentralasiatische regionale Sicherheitskonfe- (B) Freiherr von Stetten, Dr. Hans-Peter Friedrich renz“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp- (D) (Hof), Georg Brunnhuber, weiterer Abgeordneter fehlung auf Drucksache 16/11249, den Antrag der Frak- und der Fraktion der CDU/CSU tion Die Linke auf Drucksache 16/10845 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer sowie der Abgeordneten Dr. Michael Bürsch, Ute stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss- Berg, Klaas Hübner, weiterer Abgeordneter und empfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der der Fraktion der SPD SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion Die Faire Wettbewerbsbedingungen für Öffentlich Linke angenommen. Private Partnerschaften schaffen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: – Drucksache 16/12283 – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu gierung eingebrachten Entwurfs eines … Geset- diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – zes zur Änderung des Strafgesetzbuches – An- Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich hebung der Höchstgrenze des Tagessatzes bei um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Dr. Geldstrafen Ole Schröder und Christian Freiherr von Stetten für die Unionsfraktion, Dr. Michael Bürsch für die SPD-Frak- – Drucksache 16/11606 – tion, Ulrike Flach für die FDP-Fraktion, Ulla Lötzer für Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- die Fraktion Die Linke und Alexander Bonde für die schusses (6. Ausschuss) Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.1) – Drucksache 16/12143 – Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Drucksache Berichterstattung: 16/12283. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt Abgeordnete Siegfried Kauder (Villingen- dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist mit den Schwenningen) Stimmen der Unionsfraktion und der SPD-Fraktion ge- Joachim Stünker gen die Stimmen der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Jörg van Essen Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ange- Wolfgang Nešković nommen. Jerzy Montag

1) Anlage 3 2) Anlage 4 22854 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Interfraktionell wird auch hier vorgeschlagen, die Re- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten (C) den zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu ge- soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so be- ben. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt schlossen. sich um die Reden folgender Kollegen: Siegfried Kauder für die Unionsfraktion, Dr. Peter Danckert für die SPD- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege Fraktion, Jörg van Essen für die FDP-Fraktion, Ulrich Josef Winkler für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Maurer für die Fraktion Die Linke, Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Parlamentari- Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sche Staatssekretär Alfred Hartenbach für die Bundesre- NEN): gierung.1) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsaus- und Kollegen! Die deutsche Praxis der Verhängung von schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Abschiebehaft und des Vollzuges ist im Sinne einer an Druck-sache 16/12143 den Gesetzentwurf der Bundes- den Menschenrechten orientierten Flüchtlingspolitik regierung auf Drucksache 16/11606 in der Ausschuss- nicht länger hinnehmbar. fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge- Bei den Betroffenen handelt es sich nicht um Men- setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen schen, die sich eine Straftat haben zuschulden kommen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – lassen, sondern um Personen, die in Deutschland Schutz Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in gesucht haben. Die Inhaftierung von Menschen zum zweiter Beratung mit den Stimmen der Unionsfraktion, Zwecke der Sicherung einer reinen Verwaltungshand- der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion lung widerspricht dem Grundsatz der Verhältnismäßig- Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die keit. Nur zur Erklärung: Abschiebehäftlinge können bis Linke angenommen. zu 18 Monate inhaftiert werden, ohne einer Straftat Dritte Beratung schuldig gesprochen worden zu sein oder überhaupt ei- ner verdächtig zu sein. Ein Abschiebehäftling hat nach und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Anordnung der Haft kaum Möglichkeiten, gegen die Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Haft juristisch vorzugehen. Ein Haftprüfungstermin, wie Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz- er bei Untersuchungshäftlingen Anwendung findet, ist entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, der für Abschiebehäftlinge ebenso wenig vorgesehen wie SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Fraktion ein Pflichtverteidiger. Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen. Demzufolge wäre eigentlich davon auszugehen, dass (B) Abschiebehaft nur im Ausnahmefall angeordnet wird (D) Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf: und bei der Anordnung durch das Amtsgericht eine sehr a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten sorgfältige Prüfung stattfindet, ob die Haft wirklich not- Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Kai wendig ist. Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN NEN]: So sollte es sein!) Situation in deutschen Abschiebehaftanstalten Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Im Zehn-Minuten- – Drucksachen 16/9142, 16/11384 – Takt werden die Abschiebehaftbeschlüsse verfasst, und b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- die gesetzlich vorgesehene Anhörung findet de facto richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu nicht statt. Den Angaben in den Anträgen der Ausländer- dem Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, behörden auf Anordnung der Abschiebehaft wird allzu Wolfgang Nešković, Petra Pau, weiterer Abge- oft ungeprüft Glauben geschenkt. ordneter und der Fraktion DIE LINKE Die belastenden Haftbedingungen sollen auf die Grundsätzliche Überprüfung der Abschie- Flüchtlinge abschreckend wirken und darauf hinwirken, bungshaft, ihrer rechtlichen Grundlagen und dass sie Deutschland vorzeitig und „freiwillig“ verlas- der Inhaftierungspraxis in Deutschland sen. Auch nach Einschätzung vieler Flüchtlingsinitiati- ven, die in den Gefängnissen Besuchsdienste leisten, ha- – Drucksachen 16/3537, 16/12020 – ben Abschiebegefängnisse gleichsam den Charakter Berichterstattung: einer Beugehaft. Das kann nicht länger so bleiben. Abgeordnete (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Rüdiger Veit und bei der LINKEN) Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Sevim Dağdelen All dies wird in der Antwort der Bundesregierung auf Josef Philip Winkler die Große Anfrage meiner Fraktion zur Situation in den deutschen Abschiebehaftanstalten deutlich. Besonders Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die erschütternd war für uns, dass es in den Jahren zwischen Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die 2005 und 2007 mindestens zwei Selbstmorde und 39 Selbstmordversuche gab, wobei nicht alle Bundeslän- 1) Anlage 5 der der Bundesregierung Auskunft über die Zahlen in ih- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22855

Josef Philip Winkler (A) rem Land gegeben haben. Dies ist für einen Rechtsstaat tet, so dass es zu einer nicht unerheblichen Zahl (C) wirklich unerträglich fehlerhafter Entscheidungen kommt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Dies darf nicht länger so bleiben. und zeigt, dass die Situation nicht länger so bleiben Herzlichen Dank. kann, wie sie derzeit ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN) Hinter diesen Zahlen verbergen sich unfassbare menschliche Dramen. Ich habe die Zahlen der Selbst- morde und der Selbstmordversuche in den Mittelpunkt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gestellt. Es gibt aber noch eine Vielzahl anderer Grup- Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Mayer von der pen, die man erwähnen könnte: Schwangere Frauen wa- CDU/CSU-Fraktion. ren zum Teil mehr als 100 Tage in Abschiebehaft, zum (Beifall bei der CDU/CSU) Teil sogar noch am Tag der Entbindung. Auch Minder- jährige befinden sich in den Abschiebehaftanstalten. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Darüber haben wir im Innenausschuss ausführlich debat- Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten tiert. All das kann ich hier jetzt nicht noch einmal aus- Kollegen! Sehr verehrte Kolleginnen! Es mutet an wie in führlich darstellen. dem Spielfilm Und täglich grüßt das Murmeltier. In ste- Diese Zahlen können uns als Bundestag nicht beruhi- ter Regelmäßigkeit müssen wir uns hier im Deutschen gen. Ganz im Gegenteil: Der Bundesinnenminister wäre Bundestag auf Betreiben der Oppositionsfraktionen mit gefordert – Herr Staatssekretär, Sie können es ihm ja den Themen Abschiebung und Abschiebungshaft be- ausrichten –, endlich seiner Verantwortung gerecht zu schäftigen. werden. Das Problem von Suiziden und Suizidversuchen (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Nicht und die Ursachen dieser Misere müssen endlich ernst ge- alle! – Irmingard Schewe-Gerigk [BÜND- nommen werden, statt wie bisher im wahrsten Sinne des NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie wirk- Wortes totgeschwiegen zu werden. Zwar ist der Vollzug lich!) der Abschiebehaft Ländersache; die gesetzliche Grund- lage ist aber in § 62 des Aufenthaltsgesetzes, einem Bun- Meine sehr verehrten Kollegen von der Opposition, desgesetz, geregelt. Zusammen mit den Bundesländern der Mehrwert und der Neuigkeitswert dieser Debatten wäre der Innenminister hier gefordert, zum Beispiel auf sind leider Gottes außerordentlich gering. Grundlage der Daten dieser Großen Anfrage über Refor- (B) Eines bleibt klar festzuhalten: Abschiebungen und (D) men und humanitäre Verbesserungen zu beraten. Ein Abschiebungshaft sind notwendige Mittel zur Durchset- Anlass hierzu könnten die Beratungen über die Verwal- zung rechtmäßiger Ausweisungen. Ich möchte außerdem tungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz sein. zu Beginn klarstellen: Das deutsche Recht wird dem Unserer Auffassung nach sollte § 62 des Aufenthalts- Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in vollem Umfang gesetzes so modifiziert werden, dass dieser schwerwie- gerecht, indem Abschiebungen Ultima Ratio, das aller- gende Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen auf letzte Mittel einer notwendigen Rückführung sind. absolute Ausnahmefälle beschränkt wird. Im Übrigen (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das sind sie bewegen wir uns da auf der Linie des Bundesverfas- eben nicht! Die Zahlen belegen doch was ganz sungsgerichtes, das am 15. Dezember 2000 in einer Ent- anderes!) scheidung klar gesagt hat, dass die bisher übliche Haft- dauer bis zu einem Maximum von 18 Monaten nicht Ich darf auch darauf hinweisen: Es handelt sich bei dem verhältnismäßig ist. Änderungen sind hier also überfäl- Kreis der Betroffenen um Personen, die keinen Aufent- lig. haltstitel in Deutschland haben und Deutschland eigent- lich verlassen müssten, aber aus diversen Gründen – teil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) weise humanitären, teilweise tatsächlichen Gründen – Deutschland bislang nicht verlassen konnten und nicht Wir fordern, dass im Rahmen der jetzt anstehenden verlassen haben. Beratungen zu den Verwaltungsvorschriften zum Auf- enthaltsgesetz Konkretisierungen und verbindliche Re- (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sind gelungen insbesondere für Minderjährige und Traumati- keine kriminellen Täter! Das sind keine Straf- sierte vorgelegt werden. Leider Gottes ist ein Befund des täter!) Vorsitzenden Richters am Verwaltungsgerichtshof Hes- Die §§ 58 ff. des Aufenthaltsgesetzes genügen in vol- sen, Herrn Göbel-Zimmermann, aus dem Jahre 1996 im- lem Umfang den rechtsstaatlichen und meiner Meinung mer noch aktuell – ich zitiere und komme dann zum nach auch den humanitären Anforderungen. Dies ist Ende –: mehrmals, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kolle- gen, insbesondere von der Opposition, durch die Recht- Abschiebungshaft wird teilweise zu schnell und zu sprechung des Bundesverfassungsgerichtes und viele oft beantragt und angeordnet sowie zu lange vollzo- Urteile bestätigt worden. gen. Das Abschiebungshaftverfahren ist häufig mit gerichtsorganisatorischen Mängeln, Verfahrensfeh- Es gibt einen klaren Grundsatz, der besagt, dass die lern und Fehleinschätzungen der Rechtslage belas- Abschiebung das letzte Mittel der notwendigen Rück- 22856 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Stephan Mayer (Altötting) (A) führung ist. Es gibt im Vorfeld mildere Mittel, die weit- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): (C) aus häufiger angewandt werden. Lieben Dank, Herr Kollege. – Ich werde gleich noch (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE eine Rede halten. Wenn ich meine Frage aber nicht jetzt GRÜNEN]: Wir reden von der Haft, nicht von an geeigneter Stelle stellen dürfte, wäre das später völlig der Abschiebung!) aus dem Zusammenhang gerissen. Die freiwillige Ausreise hat den absoluten Vorrang. Der (Iris Gleicke [SPD]: Wieso? Sie können doch überwiegende Teil der Personen, die nun einmal keinen frei sprechen! – Zurufe von der CDU/CSU: Aufenthaltstitel für Deutschland haben und Deutschland Das wäre natürlich äußerst schade! – Wie trau- verlassen müssen, verlässt Deutschland freiwillig. Wenn rig! – Das muss ja sehr wichtig sein!) eine Abschiebung notwendig wird, muss sie im Vorfeld Sie haben gesagt, die Rückführungsrichtlinie sei erst einmal angedroht werden. Für den Fall, dass sie tat- schon in nationales Recht umgesetzt worden. Dazu habe sächlich erforderlich ist, bedarf es einer richterlichen ich eine Frage. Nach Art. 16 der Rückführungsrichtlinie Anordnung der Abschiebung. Eine Abschiebung bedarf ist es nicht zulässig, Menschen, die zur Ausreise ver- also der Anordnung durch ein unabhängiges gerichtli- pflichtet worden sind, in Straf- bzw. Haftanstalten unter- ches Organ. zubringen; in 14 der 16 Bundesländer ist dies aber noch Des Weiteren gibt es diverse Möglichkeiten, die dazu Usus. Außerdem sind nach der beschlossenen Rückfüh- beitragen, dass auf das Mittel der Abschiebung verzich- rungsrichtlinie keine Inhaftierungen allein aufgrund ei- tet wird. Wenn der Betroffene, also die Person, die aus- ner illegalen Einreise mehr erlaubt. Ich frage Sie, ob Sie reisepflichtig ist, glaubhaft macht, dass er Deutschland zur Kenntnis nehmen, dass diese zwei Regelungen der entweder freiwillig verlassen oder sich der Abschiebung Rückführungsrichtlinie noch nicht in nationales Recht beugen wird, dann bedarf es nicht der Anordnung der umgesetzt worden sind, und ob die Bundesregierung ge- Abschiebungshaft. Das europäische Recht ist mit dem denkt, auch diese Regelungen in nationales Recht umzu- deutschen Recht schon in vollem Umfang in Einklang setzen. gebracht worden. Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das stimmt doch gar nicht!) Sehr verehrte Frau Kollegin Dağdelen, ich kann nur für meine Fraktion und für mich, aber nicht für die Bun- Der Rat der Europäischen Union hat die sogenannte desregierung sprechen. Ich gehe natürlich davon aus, Rückführungsrichtlinie am 16. Dezember letzten Jahres dass die Bundesregierung, insbesondere wenn die CDU/ verabschiedet, und am 13. Januar dieses Jahres ist sie in CSU an ihr beteiligt ist, der Vorgabe der EU-Rückfüh- (B) Kraft getreten. rungsrichtlinie in vollem Umfang Genüge tun wird, (D) (Rüdiger Veit [SPD]: Darüber müssen wir (Rüdiger Veit [(SPD]: Vorsicht! Gemach! – noch einmal reden!) Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer es glaubt, wird selig! – Josef Philip Viele andere Länder in der Europäischen Union haben Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das im Hinblick auf die EU-Rückführungsrichtlinie weitaus machen Sie sonst ja auch nicht immer!) größeren Nachbesserungsbedarf als Deutschland. sodass die EU-Rückführungsrichtlinie bis zum 24. De- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE zember 2010 im Wortlaut umgesetzt wird. GRÜNEN]: Wir könnten ja einmal mit gutem Beispiel vorangehen!) Nun zum ersten Teil Ihrer Frage, Frau Kollegin. Ich habe die Antwort der Bundesregierung auf die Große In Art. 15 der Rückführungsrichtlinie sind Abschie- Anfrage der Fraktion der Grünen sehr intensiv gelesen. bung und Abschiebungshaft als letztes Mittel, als Ultima Sie haben sich gerade auf Frage 3 der Großen Anfrage Ratio, vorgesehen. Wie im bisher geltenden deutschen bezogen, die, wenn ich das so sagen darf, sehr perfide Aufenthaltsgesetz wird auch hier der freiwilligen Aus- gestellt ist; darauf möchte ich gerne eingehen. reise Vorrang eingeräumt. Im Rahmen von Art. 7 der EU-Rückführungsrichtlinie gibt es diverse Möglichkei- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ ten, unter bestimmten Auflagen auf die Anordnung einer DIE GRÜNEN]: Hauptsache, Sie haben sie Abschiebung zu verzichten. verstanden! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Nicht perfide, sondern schlau!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Mayer, würden Sie eine Zwischenfrage – Ja, oder schlau. – Leider kenne ich den genauen Wort- der Kollegin Dağdelen zulassen? laut nicht auswendig. Sinngemäß lautet die Frage: In welchen Bundesländern werden Abzuschiebende auch in Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU): Justizvollzugsanstalten untergebracht? – Natürlich wer- den Abzuschiebende in den Bundesländern, in denen Selbstverständlich, sehr gerne. dies der Fall ist, nicht ausschließlich in JVAs unterge- bracht. Das ist also eine Fragestellung, der man sehr ge- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nau auf den Grund gehen muss. Meines Wissens werden Bitte schön. die Abzuschiebenden in fast allen Bundesländern fast Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22857

Stephan Mayer (Altötting) (A) ausschließlich in gesonderten Haftanstalten unterge- um solche Personen im Zweifel abschieben zu können. (C) bracht, sodass dem Art. 16 der EU-Rückführungsrichtli- nie schon Genüge getan wird. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie sind doch in der Regierung!) (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Nein! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber In Einzelfällen besteht aber natürlich die Notwendigkeit, bestimmt nicht in Bayern!) ausländische Straftäter abzuschieben. Diese Fragestellung sollte man erst einmal genau hinter- Des Weiteren ist Ihre Forderung, die Verwaltungsge- fragen. Die Antwort auf diese Frage ist in Anbetracht der richte in vollem Umfang als zuständige Gerichte für die Fragestellung natürlich relativ. Anordnung der Abschiebehaft einzusetzen, ebenso welt- fremd und unrealistisch. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum denn das?) (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Weltfremd sind Sie, Herr Mayer! In welcher Welt leben Frau Kollegin, auch Sie sollten sich diese Fragestellung Sie eigentlich?) noch einmal genau zu Gemüte führen. Dies wäre ein logischer Bruch in unserem Prozessrechts- (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das haben system. Haft wird nun einmal von ordentlichen Gerich- wir ja!) ten angeordnet. So muss es auch bei der Abschiebehaft Ich fasse zusammen: Art. 16 der EU-Rückführungsricht- sein. Das bis dahin stattfindende Verfahren wird von den linie ist umzusetzen. Es ist davon auszugehen, dass dies Verwaltungsgerichten in ordnungsgemäßer Weise durch- geschieht. geführt. Dies gilt für die Rückweisung und auch für die Anordnung der Abschiebung. Die Anordnung der Ab- Ich möchte betonen, dass diejenigen, für die Abschie- schiebehaft muss aber selbstverständlich von den ordent- bungshaft angeordnet wurde, in allen 16 Bundesländern lichen Gerichten angeordnet werden, und daran sollte in den meisten Fällen bereits heute in gesonderten und sich auch nichts ändern. speziellen Hafteinrichtungen untergebracht werden. Das ist auch vollkommen richtig, Frau Kollegin, weil ein Ab- Ebenso vollkommen überzogen ist Ihre Forderung, zuschiebender in den allermeisten Fällen nichts mit ei- für abzuschiebende Personen generell eine Pflichtvertei- nem Straftäter oder einem Straffälligen zu tun hat. Des- digung und eine kostenlose anwaltliche Vertretung wegen ist es auch richtig, dass es zwei verschiedene bereitzustellen. Dies entspricht in keiner Weise dem Haftanstalten gibt, zum einen für Straftäter und zum an- deutschen Prozessrecht. Wenn die entsprechenden per- deren für Abzuschiebende. sönlichen Verhältnisse der Person nicht zulassen, dass (B) sie sich selbst vertreten kann, und sie auch nicht die nöti- (D) Frau Kollegin, lassen Sie mich bei dieser Gelegenheit gen finanziellen Mittel für einen Rechtsbeistand aufbrin- auf Ihren Antrag zu sprechen kommen. Sie haben die gen kann, weitestgehende Forderung gestellt, nämlich dass die Ab- schiebehaft komplett abzuschaffen ist. Dies ist in vollem (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das können Umfang weltfremd und unrealistisch. Sie ja auch nicht!) (Beifall des Abg. Henry Nitzsche [fraktions- sieht es das deutsche Prozessrecht in bestimmten berech- los]) tigten Fällen vor, dass dann die Möglichkeit der Anord- nung eines Pflichtverteidigers unter Prozesskostenhilfe Es gibt Fälle, in denen es einer zwangsweisen Abschie- besteht. Dies gilt aber nur für diese Ausnahmefälle. Eine bung und auch der Anordnung einer Abschiebehaft be- Ausnahme ist meines Erachtens richtigerweise, dass darf. Minderjährigen selbstverständlich ein Pflichtverteidiger beigeordnet wird. (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht immer!) Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, die Große Koalition hat in den vergangenen dreieinhalb Jah- – Herr Kollege Winkler, natürlich handelt es sich bei den ren in Sachen Reduzierung der sich illegal in Deutsch- Abzuschiebenden nicht immer um Straftäter. Es gibt land aufhaltenden Personen durchaus bemerkenswerte aber durchaus Fälle, bei denen es sich um Straftäter han- Fortschritte gemacht. Wir haben eine Bleiberechtsrege- delt. Ich möchte nur an die brutalen und menschenver- lung geschaffen, eine Altfallregelung in § 104 a des Auf- achtenden Schläger in der Münchener U-Bahn erinnern, enthaltsgesetzes, die wirklich wegweisend ist. Auch die die kurz vor Weihnachten 2007 einen über 70-jährigen Innenministerkonferenz hat eine Bleiberechtsregelung Rentner fast totgeschlagen haben. geschaffen, von der durchaus und in nicht zu unterschät- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zender Art und Weise Gebrauch gemacht wird. NEN]: Aber die sitzen doch nicht in Abschie- behaft!) (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 25 000 sind das!) Leider sind die rechtsstaatlichen Grundsätze immer noch zu hoch – das sage ich ganz offen –, Am Ende des Tages müssen wir aber einfach zur Kennt- nis nehmen, dass es in Deutschland Personen gibt, die (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- keinen Aufenthaltstitel haben. Diese Personen müssen NEN]: Nicht „leider“, Herr Kollege!) Deutschland dementsprechend verlassen. Wenn sie das 22858 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Stephan Mayer (Altötting) (A) nicht freiwillig tun, dann muss dies eben mit den Mitteln (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (C) der Abschiebung und der Abschiebehaft geschehen. DIE GRÜNEN]: Meine Güte, so weit ist es mit der FDP schon gekommen!) Wie schon eingangs erwähnt, beschäftigen wir uns in steter Regelmäßigkeit mit solchen Anträgen, die keinen Generell aus dem deutschen Zuwanderungsrecht einen Neuigkeitswert zutage fördern. Deswegen kann ich uns Verstoß gegen die Menschenrechte abzuleiten, ist infam. nur empfehlen, die interessanten Antworten der Bundes- Bei jeder Abschiebung liegt ein Verstoß gegen geltendes regierung auf die Große Anfrage der Grünen-Fraktion demokratisches Aufenthalts- oder Zuwanderungsrecht zur Kenntnis zu nehmen und den vollkommen weltfrem- vor. den, überzogenen und unrealistischen Antrag der Links- Bei aller Kritik, die in manchem Einzelfall angebracht fraktion abzulehnen. sein mag: Die pauschale Herabsetzung rechtsstaatlichen Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. Handelns, die die Linke hier vornimmt, ist unanständig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist ja Henry Nitzsche [fraktionslos]) eine Frechheit! Eine Unverschämtheit!) Mit diesen überzogenen Forderungen der Linken wird Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: dem an sich berechtigten Anliegen, eine verhältnismä- Das Wort hat jetzt der Kollege Hartfrid Wolff von der ßige und humanitäre Abschiebepraxis zu gewährleisten, FDP-Fraktion. ein Bärendienst erwiesen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Es gilt auch aus liberaler Sicht, Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das hat doch Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Um- nichts mit Liberalismus zu tun! Schämen Sie gang mit sich illegal in Deutschland aufhaltenden Men- sich!) schen betrifft durchaus das Selbstverständnis einer frei- dass mit dem Instrument der Abschiebehaft sehr zurück- heitlichen Gesellschaft und die grundsätzlichen Fragen haltend und sehr behutsam umgegangen werden muss. der Durchsetzung unserer rechtsstaatlichen Ordnung. Es gibt eine ganze Reihe von Verbesserungsmöglichkei- Die Abschiebehaft ist ein Instrument des Ausländer- ten, die umgesetzt werden müssen. Auch in diesem Be- rechts, mit dem man sich auf eine seriöse Art und Weise reich sehen wir durchaus Handlungsbedarf. Grundsätz- beschäftigen sollte, gerade dann, wenn man die humani- lich halten wir die Abschiebehaft jedoch für notwendig. (B) tären Themen angehen möchte. (D) Insofern haben wir die detaillierte Antwort der Bun- Der Antrag der Linken kommt mit humanitärer Ab- desregierung auf die Große Anfrage der Grünen positiv sicht daher, verschweigt aber konsequent seine Folgen gesehen. Außerdem ist es grundsätzlich sehr gut, dass für die deutsche Zuwanderungspolitik. In entlarvender die Grünen diese Große Anfrage gestellt haben Weise fordern die Linken die Aufgabe der staatlichen Durchsetzungsmöglichkeiten und quasi die Einstellung (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ jeglicher Abschiebung aus Deutschland. So einfach kann DIE GRÜNEN]: Wir ziehen nur andere Kon- man sich das nicht machen. sequenzen daraus als Sie!) Auch die Forderungen nach weiteren kostenlosen und wir damit eine Grundlage bekommen, um uns sach- Leistungen sind unverhältnismäßig. Die Privilegierung lich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ich muss illegal oder zumindest ohne Rechtsgrundlage Eingewan- allerdings auch sagen: Einige Teilaspekte sind angespro- derter gegenüber legal eingewanderten Menschen und chen worden; der Gesamtzusammenhang fehlt jedoch auch jedem deutschen Staatsbürger gegenüber ist frag- leider. würdig. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu Ende gedacht ruft die Linkspartei unter dem Vor- Herr Kollege Wolff, erlauben Sie eine Zwischenfrage wand der Menschenrechte zu einer weitgehenden Ab- des Kollegen Winkler? schaffung jeglicher Migrationssteuerungsinstrumente auf. Gleichzeitig aber schimpft sie über Integrations- mängel, Schwarzarbeit sowie die Spannungen auf dem Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Arbeitsmarkt und in den sozialen Sicherungssystemen. Nein, jetzt nicht. Das ist unlogisch und unredlich. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – DIE GRÜNEN]: Warum denn nicht?) Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sind un- Dabei hatten die Grünen bereits im Jahr 1998, lieber redlich, Herr Wolff! Drehen Sie das mal nicht Josef, im Koalitionsvertrag unterschrieben, die Praxis um!) der Abschiebehaft – ich zitiere – „im Lichte des Verhält- nismäßigkeitsgrundsatzes“ zu prüfen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass bei den Ver- tretern der Linken eine naive Freude an unkontrollierter (Rüdiger Veit [SPD]: „Und des Flughafenver- und unsteuerbarer Zuwanderung besteht. fahrens“ heißt es vollständig!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22859

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (A) Sie hatten sieben Jahre lang Zeit, liebe Kollegen von den und weil er zum anderen eine Reihe von Behauptungen (C) Grünen, das zu tun, was Sie für besser gehalten haben. und Forderungen enthält, die in der Tat als nicht prakti- Was ist daraus geworden? Der Kollege Veit wird jetzt kabel angesehen werden können. Insoweit stimme ich überlegen, ob er derjenige war, der verhindert hat, dass der Begründung des Kollegen Wolff in einigen Details Ihre großen, hehren Ziele umgesetzt wurden. – aber wirklich nicht in jeder Hinsicht – zu. (Rüdiger Veit [SPD]: Wahrscheinlich eher Lieber Kollege Winkler, ich möchte mich aber auch nicht!) an Sie wenden und sagen: Als jemand, der an diesem Geschehen einmal aktiv und verantwortlich beteiligt Jedenfalls hatten Sie die Möglichkeit, sie umzusetzen. war, verwahre ich mich dagegen, dass Abschiebung und Die FDP stimmt den drei essenziellen Aspekten zu, Abschiebungshaft in Deutschland generell so verhängt, die auch die EU-Kommission beschlossen hat. Demnach vollzogen und praktiziert würden, dass dies mit men- müssen das Primat der freiwilligen Rückkehr gestärkt, schenrechtlichen Grundsätzen nicht vereinbar sei. verfahrensrechtliche Mindestgarantien gesichert – aus (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE meiner Sicht auch ausgebaut – und die Verhältnismäßig- GRÜNEN]: Ich habe nur von der Haft gespro- keit gewahrt werden. Gerade dann, wenn wir auf europäi- chen!) scher Ebene weiterkommen wollen, kann die Rückfüh- rungsrichtlinie, so notwendig sie auch war, nur ein Diese pauschale Schelte für alle daran beteiligten Ver- Anfang sein. waltungsbehörden oder auch Gerichte kann ich so nicht stehen lassen. Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag der Linken zeigt zwar Probleme auf – der eine oder an- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dere Satz zeigt auch das Niveau –; die Antragsteller bie- der CDU/CSU) ten als scheinbare Lösung jedoch nur eine weitgehende Da ich die Pflicht hatte, zwölf Jahre lang politisch Erschwerung von oder einen Verzicht auf Abschiebun- hauptverantwortlich einer Ausländerbehörde und da- gen. Damit ist niemandem gedient, insbesondere den rüber hinaus weitere sechs Jahre lang einer zentralen Ab- Menschen nicht, die legal und unter Beachtung der Ge- schiebebehörde vorzustehen, könnte ich Ihnen durchaus setze der Bundesrepublik Deutschland hierher einge- einiges aus der Praxis erzählen – übrigens auch von den wandert sind und sich rechtmäßig im Lande aufhalten. manchmal extremen emotionalen Belastungen, denen Eine individuelle Bewertung ist notwendig. Institutio- die Mitarbeiter ausgesetzt sind, die unsere Rechtsord- nalisierte, ritualisierte oder automatische Nachsicht mit nung vollziehen müssen. Das betrifft nicht nur die poli- denen, die sich nicht an unsere Rechtsordnung halten, tisch Hauptverantwortlichen, sondern auch einzelne Mit- (B) kann das Ansehen aller Zuwanderer beeinträchtigen und arbeiterinnen und Mitarbeiter und natürlich die davon (D) die Rechtstreue im Alltag aushöhlen. Zuwanderung ist betroffenen Menschen. aber etwas, was wir brauchen. Deshalb sollten wir sehr Um das ganz klar zu sagen: Dass als Ultima Ratio vorsichtig mit den verschiedenen Vorgaben umgehen. Abschiebung als solche und Abschiebehaft von irgendje- Auch deswegen bleibt die Abschiebehaft ein letztes, mandem in unserem Staatswesen – Verwaltungsbeam- aber legitimes Mittel, den Abschiebevollzug sicherzu- ten, Gerichten oder sonstigen Beteiligten – mit großer stellen, wenn es darum geht, eine Rechtsordnung zu ver- Freude und Überzeugung vollzogen würden, kann man teidigen, die demokratisch entstanden ist. nun weiß Gott nicht sagen. Das ist für alle Beteiligten in der Regel eine quälende Belastung. Es ist aber im Aus- (Beifall bei der FDP) nahmefall notwendig, dass die Rechtsordnung durchge- setzt wird. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit von der SPD- GRÜNEN]: Ich habe auch nicht von allen, Fraktion. sondern von „häufig“ gesprochen! Das ist ein kleiner Unterschied!) Rüdiger Veit (SPD): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und – Vielleicht von „zu häufig“. Aber auch das „häufig“ Herren Kollegen! Nicht selten liegen Wahrheit und Rea- lasse ich nicht gelten. lität in der Mitte – auch bei einigen Beiträgen, die hier Der Kollege Wolff hat die Koalitionsvereinbarung und heute schon gehalten worden sind. Ich will mich be- von SPD und Bündnis 90/Die Grünen aus dem Jahr 1998 mühen, möglichst angemessen und nicht emotional auf übrigens nicht ganz vollständig zitiert. Darin hieß es die Problematik einzugehen. nämlich, dass sowohl die Abschiebehaft als auch das Flughafenverfahren im Lichte der Verhältnismäßigkeit Wir können den Antrag der Linksfraktion nicht unter- stützen, weil er zum einen aufgrund der Rückführungs- zu überprüfen seien. Lieber Kollege Winkler und alle, richtlinie, die aktualisiert wurde, völlig veraltet und in die damals schon daran beteiligt waren – wenn ich es richtig sehe, dann war das auf der Seite der Grünen nur keiner Hinsicht mehr aktuell ist der Kollege Hans-Christian Ströbele –, wir hätten gegen- (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ über unserer eigenen Regierung unter Umständen ein DIE GRÜNEN]: Gut, dass Sie das Datum ge- bisschen erfolgreicher sein können. Ich will das einmal sehen haben!) so freundlich umschreiben. 22860 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Rüdiger Veit (A) (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ich wusste suchende und Flüchtlinge. Denn unser Recht geht von (C) es doch! – Hans-Christian Ströbele [BÜND- der Fiktion aus, sie seien schon in jeder Hinsicht mündig NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist zutreffend!) und verantwortlich, könnten selbst Anträge stellen und womöglich auch in Haft genommen werden. Hinsichtlich der Flughafenverfahren gab es ja immer- hin Erfolge. Nachdem die neue Unterkunft fertiggestellt Das entspricht nach Überzeugung der SPD-Fraktion worden war – ich habe das hier schon mehrfach gesagt –, nicht der Kinderrechtskonvention. Wir sehnen uns als waren die Bedingungen sowohl für die Betroffenen als Mehrheit des Parlaments schon langsam danach, endlich auch für die Mitarbeiter wesentlich besser und die Zahl einer Regierung gegenüberzusitzen, die bereit ist, die der Beschwerden über diesen ganzen Komplex und die Parlamentsbeschlüsse auch umzusetzen. erheblichen Belastungen wesentlich geringer. Trotzdem sollten wir nicht aufhören, auch darauf zu achten. Ich (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ komme noch einmal darauf zurück. DIE GRÜNEN) Wir haben damals erreicht – jedenfalls in den Jahren Dabei bin ich mir darüber im Klaren, Herr Staatssekretär 1999, 2000 und 2001 –, dass zumindest die unbegleite- Altmaier, dass das Problem bei den Bundesländern liegt. ten Minderjährigen – und hierbei vor allem die Kinder – Mit dieser Frage werden wir uns vielleicht noch einmal entweder nur ganz kurz oder überhaupt nicht in der Flug- im Ausschuss fachlich auseinandersetzen. hafenunterkunft untergebracht worden sind. Mir sind Aber nicht nur im Lichte der Kinderrechtskonvention von meinen Mitarbeitern Zahlen vorgelegt worden, aus – es wird wirklich langsam Zeit, dass wir den Vorbehalt denen hervorgeht, dass sich diese Tendenz leider wieder endlich ausräumen –, sondern auch im Lichte anderen umgedreht hat, sodass sich heute wieder mehr Jugendli- übergeordneten Rechtes haben wir Veranlassung, lieber che und sogar Kinder in der Flughafenunterkunft aufhal- Kollege Mayer, unser eigenes Rechtssystem zu überprüfen. ten. Meine Mitarbeiter haben mir zum Beispiel von ei- Insoweit ist unser Anliegen doch aktuell. Ich denke dabei nem Fall berichtet, bei dem ein Minderjähriger über an die Aufnahmerichtlinie und – wie versprochen komme 32 Tage dort war. Das geht nicht in Ordnung. ich jetzt darauf zurück – an die Rückführungsrichtlinie Hier ist die Bundesregierung in ihrer Eigenschaft als aus dem Januar dieses Jahres. Dienstherr sowohl der Bundespolizei als auch des Bun- Um es klipp und klar zu sagen: Die Rückführungsricht- desamtes für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg auf- linie ist weder für die Sozialdemokraten im Europäischen gefordert und gebeten, darauf hinzuwirken, dass Kinder Parlament noch für die sozialdemokratische Fraktion im und Jugendliche allenfalls nur wenige Stunden auf dem Deutschen Bundestag ein besonders fortschrittliches In- Flughafen in Frankfurt verbleiben und dann kind- bzw. (B) strument der Migrationspolitik. Aber sie bildet sozusagen (D) jugendlichengerecht untergebracht werden. den Mindeststandard – nur den Mindeststandard – für Gerade für die Kinder gilt – es ist vielleicht eines der alle Mitgliedstaaten der EU. Darunter waren auch einige, Verdienste von Bündnis 90/Die Grünen, dass sie diese die noch sehr viel problematischere Bedingungen im Daten mit ihrer Anfrage noch einmal zutage gefördert Bereich von Abschiebung, Rückführung und Abschie- haben –: Sie kommen in ein Land, von dem sie sich Si- bungshaft hatten. Insoweit muss man feststellen: Wenn cherheit und Schutz vor Verfolgung im Herkunftsland das Mindeststandards für alle EU-Staaten sind, dann ist erhofft haben, und erleben dann möglicherweise schwie- das insoweit ein Erfolg. Das darf uns als deutschen rigste und nicht kindgerechte Haftbedingungen oder Gesetzgeber nicht daran hindern, an günstigeren Rege- Aufenthaltsbedingungen, zum Teil und gerade in der un- lungen festzuhalten oder sie zu schaffen. mittelbaren Nachbarschaft von Erwachsenen. Sie erlei- Wir müssen aber – damit sind wir wieder bei der den allein schon durch dieses Schicksal möglicherweise Asylmündigkeit und den Richtlinien für Kinder unter zusätzliche Traumata, die wir als humanitärer Rechts- 18 Jahren – alles daransetzen, sowohl was die Frage der staat eigentlich vermeiden sollten. Nicht ohne Grund Unterbringung der Kinder und Jugendlichen – Stichwort geht aus Art. 37 der Kinderrechtskonvention klar hervor, Aufnahmerichtlinie – als auch ihre angebliche Asylmün- dass Freiheitsentziehungen bei einem Kind nur als aller- digkeit ab 16 Jahre angeht, unser deutsches Recht diesen letztes Mittel und für die denkbar allerkürzeste Zeit Mindeststandards anzupassen, um nicht dahinter zurück- angeordnet werden können. Der Hohe Flüchtlings- zubleiben. Das wäre ein gemeinsames Anliegen, an dem kommissar der Vereinten Nationen interpretiert die wir weiter arbeiten sollten. UN-Kinderrechtskonvention so, dass Abschiebehaft bei Kindern unter 16 Jahren überhaupt nicht und bei Jugend- Wenn dazu die Antwort der Bundesregierung mit zum lichen unter 18 Jahren nur als letztes Mittel verhängt Teil nicht so erfreulichen Zahlen über den Vollzug von werden darf. Abschiebungshaft und vor allen Dingen von ganz bestimmten besonders schutzwürdigen Gruppen einen Damit sind wir bei einem anderen Thema, das uns Beitrag geleistet hat, dann wäre das immerhin ein kleiner schon häufiger beschäftigt hat, nämlich die von der Bun- Erfolg. Ansonsten sind wir alle gefordert, in der geschil- desregierung immer noch erklärten Vorbehalte gegenüber derten Weise auch gesetzgeberisch tätig zu werden. der Akzeptanz der Kinderrechtskonvention. Es ist nur noch ein einziger Punkt offen. Alle anderen sind erledigt. Danke für Ihre Aufmerksamkeit. Dabei geht es um die Frage der Asylmündigkeit und der Behandlung von Jugendlichen unter 18 Jahren als Asyl- (Beifall bei der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22861

(A) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Besagter Äthiopier erhängte sich nämlich in Wahrheit, (C) Das Wort hat jetzt der fraktionslose Kollege Henry während er in Untersuchungshaft wegen des Verdachts Nitzsche. auf Totschlag saß. Das ist schon ein Unterschied, auch wenn das nicht in Ihr Weltbild passt. Es sind nicht alle Opfer. Es gibt auch viele Täter unter ihnen. Henry Nitzsche (fraktionslos): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/DIE schon erstaunlich, mit was man sich als deutscher Volks- GRÜNEN]: Woher wissen Sie das denn?) vertreter so herumschlagen muss. Das meiste Kopfschüt- Schauen wir uns einmal an, woher die Asylbewerber teln rufen bei mir regelmäßig die Anfragen und Anträge stammen, die in Abschiebehaft sitzen. Wir finden darun- der Grünen hervor. ter Nationalitäten, die durchaus verwundern. Darunter (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE sind Menschen aus Litauen, Portugal, Israel oder Polen. GRÜNEN]: Das ehrt uns!) Da frage ich mich schon: Warum haben die bitte Asyl beantragt? Noch etwas fällt auf: Ein Großteil der Asyl- Ich will einige Beispiele nennen: die Große Anfrage bewerber stammt aus der Türkei. Demnach müssen die „Zur Lage der Menschenrechte von Lesben, Schwulen, Verhältnisse in diesem Land – gerade in Bezug auf die Bisexuellen und Transgender“ vom Juni 2006, die Einhaltung der Menschenrechte – deutlich zu wünschen Kleine Anfrage zur „Lage der Homosexuellen auf Ja- übrig lassen. Wie können Sie da die Aufnahme der Tür- maika“ vom Juni 2008 oder der Antrag zur Rechtssituation kei in die EU verantworten, meine Damen und Herren von Homosexuellen in Nigeria Anfang dieses Monats. von den Grünen? Erklären Sie das hier bitte einmal! (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE In Wahrheit geht es Ihnen doch gar nicht um die Ver- GRÜNEN]: Sehr gut!) besserung der Situation in deutschen Abschiebegefäng- nissen. Sie wollen das Instrument der Abschiebehaft Das sind die Nöte und Sorgen, die die Menschen in ganz abschaffen. Um das zu erkennen, genügt ein Blick unserem Land bewegen. in Ihr Wahlprogramm. Ich zitiere: (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Menschen, die nichts weiter getan haben, als in NEN]: Jetzt haben Sie uns aber in Schwulitä- Deutschland Zuflucht zu suchen, sitzen in Abschie- ten gebracht!) behaft. Wir setzen uns für die Beendigung dieser in- humanen Situation ein. Jetzt sorgen Sie sich also um die Situation in deut- schen Abschiebehaftanstalten, wo es wahrscheinlich Ich muss Sie fragen: Sind Sie noch ganz bei Trost? Sie (B) zugehen muss wie in Guantánamo. Gehen Sie doch bitte wissen doch ganz genau, was los wäre, wenn man die (D) einmal zum Hauptportal herein, und schauen Sie nach Abschiebehaft abschaffen würde. Die abgelehnten Asyl- oben. Dort steht „Dem deutschen Volke“ geschrieben. bewerber würden schnurstracks in die westdeutschen Zeigen Sie dafür doch endlich einmal Verantwortung! Großstädte, in die Gettos, abtauchen. Kommen wir zu Ihrer Großen Anfrage. Es ist Liebe Kollegen von den Grünen, ich weiß, Sie sind bezeichnend, dass Sie sich auf die zweifelhafte Antiras- immer große Freunde präventiver Ansätze. Ich will Ih- sistische Initiative Berlin beziehen. nen einen solchen Ansatz einmal vorstellen. Die Frage ist nicht, wie die Situation in der Abschiebehaft verbes- (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sert werden kann, sondern wie verhindert werden kann, NEN]: Was ist denn daran zweifelhaft?) dass überhaupt Personen in Abschiebehaft gelangen. Die Bei dieser handelt es sich nämlich um eine Gruppierung Asylanerkennungsquote in Deutschland liegt etwa bei mit besten Kontakten zum Linksextremismus. 1 Prozent. (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ (Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- DIE GRÜNEN]: Schlimm genug!) NEN]: Sie wissen bei Extremismus, wovon Sie reden!) Das heißt, 99 Prozent der Asylanträge werden abgelehnt, und die Asylbewerber müssen das Land wieder verlas- Da haben Sie wahrlich den Bock zum Gärtner gemacht! sen. Daher wäre es doch sinnvoll, sich einmal Gedanken Diese Gruppierung behauptet auf ihrer Internetseite, die darüber zu machen, wie wir das ändern könnten. Wie Polizei veranstalte in Deutschland Menschenjagden, und wäre es zum Beispiel mit einem Sicherungssystem der fordert wörtlich offene Grenzen, Bleiberecht für alle und EU-Außengrenzen und einer verstärkten Kontrolle an gleiche Rechte für alle. Darauf wollen Sie sich beziehen? den Grenzen zu Deutschland? (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Auch wir wollen gleiche Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Rechte für alle!) Herr Kollege Nitzsche, denken Sie an die Zeit, bitte. Da brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass der von Ihnen angeführte Selbstmord eines sich in Abschiebehaft befind- Henry Nitzsche (fraktionslos): lichen Asylbewerbers nicht den Tatsachen entspricht. Herr Präsident, ich komme zum letzten Satz. – Dann lösen sich die Probleme in den Abschiebehaftanstalten (Widerspruch bei der LINKEN) von ganz alleine. 22862 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Henry Nitzsche (A) Im Übrigen, Herr Präsident, ist das Plenum nicht be- dem Versuch, vor der Abschiebung zu fliehen, davon (C) schlussfähig. allein 56 Menschen in Abschiebungshaft. Dieser Verant- wortung können sich die letzten Bundesregierungen ( [SPD]: Sie tun mir leid mit Ih- nicht entziehen. rem Hass! Irgendwann muss doch mal etwas passiert sein!) Abschiebungshaft wird häufig rechtswidrig und rechtsfehlerhaft verordnet. In zwei Dritteln aller Fälle, die Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: vom Rechtshilfefonds des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt unterstützt wurden, konnte eine Entlassung aus der Haft hat das Wort die Kollegin Sevim Dağdelen von der Frak- erreicht werden; die betroffenen Personen waren also tion Die Linke. rechtswidrig oder rechtsfehlerhaft inhaftiert worden. Herr Mayer, das belegt nochmals deutlich, dass Abschie- (Beifall bei der LINKEN) bungshaft eben nicht die Ultima Ratio zur Durchsetzung der Ausreisepflicht ist, sondern häufig ohne Prüfung er- Sevim Dağdelen (DIE LINKE): folgt. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und (Beifall des Abg. Josef Philip Winkler [BÜND- Herren! Dieser rassistische, menschenverachtende und NIS 90/DIE GRÜNEN]) auch menschenfeindliche Unsinn meines Vorredners spricht für sich selbst. Ich möchte das nicht weiter kom- Aus der Antwort der Bundesregierung auf die Große mentieren. Anfrage der Grünen geht auch hervor, wie leichtfertig die Abschiebungshaft verhängt wird. Etwa der Hälfte (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem der Abschiebungen ging eine Abschiebungshaft voraus. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Etwa 15 Prozent aller Inhaftierten mussten wieder ent- In der ersten Beratung über unseren Antrag am lassen werden. Ich finde, diese Menschen hätten erst gar 29. März 2007 haben die Regierungsfraktionen und die nicht ihrer Freiheit beraubt werden dürfen, da bereits im FDP eines deutlich gemacht: Abschiebungshaft ist ein Vorfeld klar war, dass eine Abschiebung unmöglich ist. Instrument der Abschreckungspolitik. Denn der Verzicht (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef auf Abschiebungshaft würde – ich zitiere Herrn Wolff Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) von der FDP – einen massiven Anreiz zur illegalen Zuwanderung darstellen. Der Kollege Veit von der SPD Zwischen 2005 und 2007 wurden unbegleitete Minder- malte in der ersten Beratung das Gespenst eines nicht zu jährige für bis zu 142 Tage in Haft gehalten, Schwangere bewältigenden Zustroms an die Wand, würde sich – ich für bis zu 132 Tage. Das zeigt noch einmal deutlich, dass (B) zitiere erneut – unter den vielen Millionen Menschen in es Ihnen um die Abwehr von Flüchtlingen geht und nicht (D) der Welt, die in Armut und Elend leben, oder den zig um den Schutz bedrohter Menschen in diesem Lande. Millionen bereits auf der Flucht befindlichen Menschen Ich erinnere Sie gern noch einmal daran, dass Heiko herumsprechen, dass, wer immer deutschen Boden Kauffmann von Pro Asyl die Abschiebungshaft als eine erreicht, auch hier leben kann. „demokratisch abgesicherte Barbarei“ bezeichnet hat. Ich finde, das hat mit Humanismus nichts mehr zu Günter Wallraff bezeichnet Abschiebegefängnisse als tun, auch nichts mit einem Bewusstsein für die Flucht- „Institutionen der Unmenschlichkeit“. ursachen und -gründe der Flüchtlinge, für die wir wegen Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich besonders der Zerstörung der Lebensgrundlagen von Millionen von im Umgang mit den Schwächsten einer Gesellschaft, mit Menschen mitverantwortlich sind. Außerdem ist nicht zu Flüchtlingen, Migrantinnen und Migranten. Folgen Sie ersehen, woher eigentlich diese Sorge kommt. Die letz- also unserem Antrag und schaffen Sie die immer rigoro- ten Bundesregierungen haben maßgeblich dafür gesorgt, ser und unmenschlicher werdende Abschiebungshaft ab! dass die Chance, die EU lebend zu erreichen, minimiert Schaffen Sie, um dieses Ziel zu erreichen, eine gesetzliche wird. So sinken auch die Zahlen derjenigen, die es über- Grundlage für die Wahrung von Mindeststandards bei haupt noch bis nach Deutschland schaffen. Wir alle ken- der Inhaftierungspraxis! nen die Bilder vom Mittelmeer oder aus dem Westen Afrikas. Für die Linke darf ich feststellen: Für uns ist Vielen Dank. kein Mensch illegal. Deshalb plädieren wir für mehr (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Josef Humanität. Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der LINKEN) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Es ist einer der zynischen Höhepunkte der Abschiebe- Ich schließe die Aussprache. praxis in Deutschland, dass Abschiebungshäftlinge für die Kosten der Haft und der Abschiebung auch noch Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Innenaus- zahlen müssen. Zynisch ist auch, dass Menschen für eine schusses zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem solche Abschreckungspolitik persönlich herhalten müssen. Titel „Grundsätzliche Überprüfung der Abschiebungs- Einige zahlen dafür nicht nur sprichwörtlich Blutzoll; haft, ihrer rechtlichen Grundlagen und der Inhaftierungs- Herr Winkler hat es noch einmal deutlich gemacht. Ich praxis in Deutschland“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- wiederhole: Seit 1993 töteten sich 150 Flüchtlinge an- ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12020, den gesichts ihrer drohenden Abschiebung oder starben bei Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 16/3537 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22863

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (A) abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12184, den (C) Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions- sache 16/11205 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be- fraktionen und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko- alitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Gegenstim- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 19 a bis 19 c auf: men der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Enthal- a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- tung der Fraktion Die Linke angenommen. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Einlagensicherungs- und Anlegerent- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf: schädigungsgesetzes und anderer Gesetze Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael – Drucksache 16/12255 – Kauch, Joachim Günther (Plauen), Horst Meierhofer, weiterer Abgeordneter und der Frak- Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) tion der FDP Rechtsausschuss Nachtstromspeicherheizungen nicht verbieten, b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank sondern modernisieren – Chancen für erneu- Schäffler, Hans-Michael Goldmann, Dr. Hermann erbare Energien und für den Klimaschutz nut- Otto Solms, weiterer Abgeordneter und der Frak- zen tion der FDP – Drucksache 16/11193 – Reform der Anlegerentschädigung in Deutsch- Überweisungsvorschlag: land Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/11458 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Finanzausschuss (f) Technikfolgenabschätzung Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Auch diese Reden sollen zu Protokoll genommen Verbraucherschutz werden. Es handelt sich um die Reden von Volkmar Uwe Vogel, CDU/CSU, Rainer Fornahl, SPD, Michael c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Kauch, FDP, Eva Bulling-Schröter, Die Linke, und Peter richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu Hettlich, Bündnis 90/Die Grünen. dem Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, (B) Dr. Gerhard Schick, Cornelia Behm, weiterer Ab- (D) geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): GRÜNEN Die Außerbetriebnahme von elektrischen Speicher- heizungen ist ein Baustein der gestern von der Bundes- Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten regierung beschlossenen Novellierung der Energie- stärken einsparungsverordnung. Darin werden erstens die – Drucksachen 16/11205, 16/12184 – Anforderungen bei Errichtung neuer Wohn- und Nicht- wohngebäude um durchschnittlich 30 Prozent verschärft Berichterstattung: ebenso wie zweitens für Altbauten für den Fall größerer Abgeordnete Leo Dautzenberg Umbauarbeiten sowie drittens Regelungen zur Verbesse- Ortwin Runde rung des Vollzugs der Verordnung festgeschrieben. Bau- Dr. Gerhard Schick stein Nummer vier ist die Außerbetriebnahme elektri- Es ist interfraktionell vorgesehen, dass die Redebei- scher Speicherheizungen, wobei es sich zu 99 Prozent um träge zu Protokoll genommen werden. Es handelt sich sogenannte Nachtspeicherheizungen handelt. Das eben- um die Beiträge der Kollegen Klaus-Peter Flosbach, falls verabschiedete Energieeinsparungsgesetz schafft in CDU/CSU, Jörg-Otto Spiller, SPD, Frank Schäffler, diesem Zusammenhang die Verordnungsermächtigung FDP, Dr. Axel Troost, Die Linke, und Dr. Gerhard für das Inkrafttreten der Energieeinsparungsverordnung Schick, Bündnis 90/Die Grünen.1) in nunmehr sechs Monaten. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Dabei – und das möchte ich insbesondere angesichts Drucksachen 16/12255 und 16/11458 an die in der Tages- dieses Tagesordnungspunktes noch einmal betonen – dür- ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind fen die einzelnen Maßnahmen zum Klimaschutz und de- Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind ren Bausteine nicht isoliert betrachtet werden. Nur kumu- die Überweisungen so beschlossen. liert entfalten sie ihre erwünschte Wirkung: Viele Pinselstriche ergeben hier das Bild. Das heißt aber nicht, Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz- dass wir uns in kleinteilige Diskussionen verstricken dür- ausschusses zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die fen. Davor warne ich. Es ist von entscheidender Bedeu- Grünen mit dem Titel „Verbraucherschutz auf den Fi- tung, alle Einsparpotenziale zu erschließen, die zu ver- nanzmärkten stärken“. Der Ausschuss empfiehlt in sei- tretbaren Kosten zu erreichen sind. Dabei dürfen wir den Bürgern nicht zuviel zumuten – das war und ist die Posi- 1) Anlage 6 tion und Entscheidungsgrundlage der Union. 22864 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Volkmar Uwe Vogel (A) Bei elektrischen Speicherheizungen sehen wir jedoch auch wenn sie keinen kurz- oder mittelfristigen, sondern (C) einen Handlungsbedarf. Rund 1,4 Millionen Wohnungen einen langfristigen Charakter hat. Schließlich erfolgt die werden elektrisch beheizt (2004), sei es durch elektrische Außerbetriebnahme erst ab dem Jahr 2020 stufenweise Speicherheizungen – von denen hier die Rede ist – oder und für dann mindestens 30 Jahre alte Anlagen in Wohn- durch Direktheizungen, wie etwa Fußbodenheizungen. gebäuden mit mindestens sechs Wohneinheiten. Das ist in etwa jede 25. Wohnung. Zugleich verursachen Jenseits von Aspekten des Umwelt- und Klimaschutzes diese rund 3 Prozent der deutschen CO2-Emissionen. Elektrische Speicherheizungen sind die größten Strom- sehen wir einen Markt für Umweltinnovationen im Wär- verbraucher in deutschen Haushalten. Sie sind schlecht mebereich. Hier ruht ein großes Investitionsvolumen: zu regeln und teuer im Unterhalt. Aus Umweltsicht höchst Aufträge für Heizungsbauer und Installationsgewerbe, problematisch bei Nachtspeicherheizungen ist insbeson- Mittelstand und Handwerk. dere deren schlechter Wirkungsgrad. Energetisch Ganz entscheidend ist, und dafür steht die Union, dass betrachtet, sind Nachtspeicherheizungen eine Ver- die Außerbetriebnahme sozialverträglich und mit Augen- schwendung hochwertiger Energie für die Bereitstellung maß geschieht. Genau das erreichen wir durch Förderan- niederwertiger Raumwärme. reize einerseits sowie umfangreiche Härtefallregelungen Den Begründungskontext für das Aufkommen und und eine langfristige, stufenweise Verpflichtung zur Au- Wachstum von Nachtspeicherheizungen in den 50er-, ßerbetriebnahme andererseits: Das fördert die Akzeptanz 60er- und 70er-Jahren bildeten große Überkapazitäten für die Maßnahme bei den Betroffen und die Bereitschaft, an Strom in der Nacht und das Interesse der Energiever- den Weg mit zu gehen. sorger, die Kraftwerke möglichst gleichmäßig zu fahren. Ganz konkret wird die Außerbetriebnahme von Nacht- Insofern wurde durch diese Stromspeicherheizungen und speicherheizungen bereits seit Mai 2003 als Einzelmaß- günstige Nachtstromtarife nachts eine künstliche Nach- nahme im Rahmen des CO2-Gebäudesanierungspro- frage geschaffen. gramms von der KfW gefördert. Daneben bietet auch das Heute sehen wir die Dinge differenzierter: Der wert- Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle im Rah- volle Strom sollte im Allgemeinen dort eingesetzt werden men des Marktanreizprogramms des BMU Förderungen von Maßnahmen zur Nutzung erneuerbarer Energien im wo er wirklich gebraucht wird, das heißt, in elektrischen oder elektronischen Geräten, in elektrischen Antrieben. Wärmemarkt an. Hiermit werden auch kurzfristig Anreize Eine elektrisch betriebene Raumheizung ist weder wirt- gesetzt, die mit steigenden Stromkosten immer teurer wer- schaftlich noch umweltschonend und daher nicht mehr denden Nachstromspeicherheizungen zu ersetzen. Zudem zeitgemäß. Dies hat in aller Deutlichkeit eine Studie des haben wir in der Novellierung die bestehende Härtefall- reglung noch umfangreicher und zugleich konkreter ge- (B) Bremer Energieinstituts aus dem Jahr 2007 gezeigt. Die (D) Studie stellt aber auch fest, dass der Trend zu elektrischen staltet: Heizungen im Allgemeinen ungebrochen ist: Der Heiz- Weiterhin gilt das Gebot der Wirtschaftlichkeit der stromverbrauch stieg von 1995 bis 2004 um 6 Prozent – Maßnahme – für die Union ist das ein entscheidender und damit stärker als der Gesamtenergieverbrauch für Gradmesser: Stellt die Umsetzung der Vorgaben einen Raumwärme! Insbesondere für Nachtspeicherheizungen unangemessenen Aufwand dar oder kann die erforder- gibt es eine Vielzahl an alternativen Erzeugungsformen, liche Aufwendung – auch bei Inanspruchnahme der För- wobei im Vergleich bis zu 80 Prozent Primärenergie ge- derung – nicht innerhalb einer angemessenen Frist – spart werden können, zum Beispiel durch Holzpellet-Hei- erwirtschaftet werden, so entfällt die Pflicht zur Außerbe- zungen – mit oder ohne Solarkollektor – oder etwa hoch- triebnahme. Wir von der Union sind überzeugt, dass wir effiziente Gas-Brennwert-Heizungen. mit der langfristigen Außerbetriebnahme von Nachtspei- cherheizungen eine für alle tragbare und sinnvolle Rege- Eine Außerbetriebnahme alter und heutzutage nicht lung gefunden haben. mehr im Neubau verwendeter Nachtspeicherheizungen nützt erstens dem Klima und zweitens der Konjunktur. Die im Antrag der FDP-Fraktion geforderten Maß- Nach Berechnungen des Bremer Energieinstituts liegen nahmen stehen aus Sicht der Union bezüglich Aufwand die spezifischen CO2-Emissionen von Nachstromspei- und Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis. Die Nut- cherheizungen gegenüber einer Gas-Brennwert-Heizung zung elektrischer Speicherheizungen zur Raumbeheizung um den Faktor 3,6 und gegenüber einer Pellet-Heizung ist aufgrund der technischen Systemeigenschaften defini- sogar um den Faktor 13 höher. Daher werden wir sie tiv nicht mehr zeitgemäß. An diesen grundlegenden Defi- nach Maßgabe der Energieeinsparungsverordnung lang- ziten ändert auch etwa die Nutzung von Strom aus erneu- fristig außer Betrieb nehmen. Das hilft dem Klima. Kli- erbaren Energien nicht das Geringste. Daher lehnen wir maschutzmaßnahmen verlieren, richtig gemacht, auch den Antrag der FDP-Fraktion ab. angesichts wirtschaftlich schwierigerer Zeiten nicht an Legitimation. Klimaschutz war richtig und bleibt es vor Rainer Fornahl (SPD): dem Hintergrund der Nachhaltigkeit auch unter den jet- zigen, schwierigeren wirtschaftlichen Rahmenbedingun- Am 19. Dezember 2008 hat der Bundestag das Ener- gen. gieeinsparungsgesetz beschlossen und damit die rechtli- che Grundlage zum Verbot von Nachtstromspeicherhei- Wir haben in den letzten Monaten zwei Konjunkturpa- zungen geschaffen. Ein Entschließunsantrag der FDP mit kete verabschiedet, um die Wirtschaft anzukurbeln. Vor gleichlautendem Inhalt wie der hier vorliegende Antrag diesem Hintergrund fügt sich diese Maßnahme gut ein – wurde damals von allen anderen Fraktionen abgelehnt,

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22865

Rainer Fornahl (A) sodass sich die heutige Debatte eigentlich erledigt hat. Landesgrenzen hinaus gehandelt. Eine bessere Regelbar- (C) Da die Fraktion der FDP ihren Antrag nicht zurückgezo- keit der Kraftwerke, die Verstärkung der europäischen gen hat und mir ausreichend Redezeit zur Verfügung und nationalen Verbundnetze, der Ausbau der Windener- steht, werde ich auf einige Irrungen und Wirrungen bei gie und vieles andere mehr haben die technischen Gege- der FDP eingehen. benheiten erheblich verändert. Deshalb und aufgrund der ökologischen Nachteile der Nachtstromheizungen ist zum Es ist falsch zu behaupten, dass Nachtstromspeicher- 31. Dezember 2006 auch die Steuerermäßigung für Strom heizungen nicht klimaschädlich sind. Nach einer Studie zum Betrieb von Nachtspeicherheizungen, die vor dem von IZES/Bremer Energieinstitut sind die spezifischen 1. April 1999 installiert wurden, ausgelaufen. Zum Aus- CO2-Emissionen gegenüber einer Gas-Brennwerthei- gleich wird seit Mai 2003 der Ersatz von elektrischen zung um den Faktor 3,6 und gegenüber einer Pellet-Hei- Nachtspeicherheizungen im Rahmen des mit Bundesmit- zung sogar um den Faktor 13 höher. 1,4 Millionen Woh- teln ausgestatteten KfW-CO2-Gebäudesanierungspro- nungen (jede 25.) werden derzeit in Deutschland gramms als Einzelmaßnahme gefördert. elektrisch beheizt. Die moderne und umweltverträgliche Wärmeversorgung mit erneuerbaren Energien und hoch- Bei allen im vorliegenden Antrag zur Rettung der effizienten Nah- oder Fernwärmesystemen könnte durch Nachtstromspeicherheizungen beschworenen zukünfti- Substituierung von elektrischer Raumheizung bis zu gen technologischen Entwicklungen und einem modernen 80 Prozent der Primärenergie sparen und die Emissionen Lastenmanagement bleibt, dass elektrische Widerstands- des klimaschädlichen CO2 um über 80 Prozent reduzie- heizungen eine Verschwendung hochwertiger Energie für ren. Mindestens 23 Millionen Tonnen CO2/a können die Bereitstellung niederwertiger Raumwärme darstel- durch den Ersatz von Nachtstromspeicherheizungen ein- len. Um Panik zu vermeiden, sollten die Kollegen von der gespart werden. FDP vielleicht einfach nur sorgfältig den vom Bundeska- binett beschlossenen Entwurf zur Energieeinsparverord- Die im Antrag erwähnte parlamentarische Anhörung nung 2009 lesen, die hoffentlich bald ihre klimapolitisch des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung segensreiche Wirkung entfalten kann. am 10. November 2008 hat hier auch nichts anderes er- geben. Die FDP greift in ihrem Antrag im ersten Spiegel- Nachtstromspeicherheizungen sollen langfristig und strich ein von einem Experten entwickeltes Argument zum stufenweise außer Betrieb genommen werden. Nach Ab- Emissionshandel auf. Demnach werden die durch wegfal- lauf des Jahres 2019 dürfen die ersten Anlagen mit einem lende Nachtspeicher nicht mehr benötigten Emissions- Alter von mindestens 30 Jahren nicht mehr betrieben rechte im Emissionshandel einfach für andere Stromver- werden. Den Eigentümern und indirekt auch den Herstel- braucher frei und führen damit nicht zu einer Minderung lern wird damit eine langfristige zeitliche Perspektive ge- der Emissionen. Diese Argumentation ist formal nicht geben. Die Kosten für den Austausch zum Beispiel gegen (B) (D) falsch, berücksichtigt aber nicht, dass die jetzt geltenden einen Brennwertkessel sind zwar hoch (Einfamilienhaus: Emissionshandel-Richtlinien („Kioto“) für die Jahre etwa 18 500 Euro, Mehrfamilienhaus mit sechs Wohnein- 2007 bis 2012 gelten, während die Außerbetriebnahme- heiten: etwa 36 000 Euro). Die Regelung gilt aber nur für regelung erst ab dem 1. Januar 2020 wirksam wird. Für ältere Wohngebäude mit mehr als fünf Wohneinheiten und Emissionshandel der dritten Periode ab 2013 werden ähnlich große Nichtwohngebäude. Ein größerer Anwen- zwar erste Verhandlungen geführt. Rechtsrelevante Emis- dungsbereich ist den Betroffenen gegenwärtig wirtschaft- sionsregelungen für diese sogenannte Post-Kioto-Peri- lich unzumutbar. Härtefallklauseln sollen sicherstellen, ode existieren aber noch nicht. Selbstverständlich würden dass niemand persönlich, wirtschaftlich oder finanziell bei der Festlegung künftiger Emissionshandelsobergren- überfordert wird. Bundesregierung und Koalition beab- zen die in diesen Zeitabschnitt fallenden Einsparungen sichtigen jedoch, in den nächsten Jahren den Austausch aufgrund ordnungsrechtlicher Einzelpflichten berück- im Rahmen des CO2-Gebäudesanierungsprogramms sichtigt. Je mehr Einsparungen im Strombereich durch nach Maßgabe der durch den Haushalt zur Verfügung ge- Außerbetriebnahme von Nachtstromspeicherheizungen, stellten Mittel zu fördern. den Einsatz effizienter Geräte und andere Maßnahmen erreicht werden können, umso niedriger kann das Cap für Ich glaube, dies macht deutlich, dass es nicht um den die dritte Handelsperiode sein. Die Außerbetriebnahme- Untergang des Abendlandes geht. Ich kann der FDP aber pflicht führt daher insgesamt nicht zum Anstieg, sondern wenigstens eine kleine Hoffnung machen, dass es 2020 zur dauerhaften Minderung der deutschen Treibhausgas- doch nicht zu dem sanktionsbewehrten Verbot kommen emissionen. muss. Die Preiskalkulation für Strom für elektrische Wi- derstandsheizungen beruht insbesondere auf einem ex- Der Hinweis in dem Antrag, dass die Nachtstromspei- trem niedrigen Wert für Netznutzungsentgelte – im Bun- cherheizungen von den Energieversorgungsunternehmen desschnitt 2 Cent/kWh, weit weniger als ein Drittel der in der Vergangenheit insbesondere in der Nähe von Koh- regulären Netznutzungsentgelte im Niederspannungsbe- lekraftwerken gezielt gefördert wurden, um diese nachts reich. Dies dürfte sich aus rechtlichen, betriebswirt- aufgrund der Lasttäler nicht zu sehr drosseln zu müssen schaftlichen und betriebstechnischen (zum Beispiel Ver- bzw. das Netz vor Überspannung zu schützen, ist richtig. änderung des Kraftwerksparks, bessere Regelbarkeit der Seit der Liberalisierung der Energiewirtschaft Ende der Kraftwerke) Gründen zunehmend ändern. Einige Strom- 90er-Jahre haben sich die Rahmenbedingungen für die anbieter haben bereits ihre Tarife nach oben korrigiert Versorgung mit Elektrizität aber grundlegend geändert. bzw. preisgünstige Sondertarife nicht verlängert. Ein Physikalisch gleicher Strom wird nunmehr ökonomisch, realistisch kalkulierter Preis für Elektroheizungen müsste ökologisch und im Zeitgang differenziert weit über die bei 15 bis 16 Cent/kWh liegen. Das liegt jenseits der

Zu Protokoll gegebene Reden 22866 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Rainer Fornahl (A) Energiepreise, die für die sonst üblichen Heizsysteme an- Die FDP-Bundestagsfraktion fordert daher die Bun- (C) zusetzen sind (zum Beispiel Erdgas circa 7 Cent/kWh). desregierung auf, ungeachtet einer zwischenzeitlich ge- Würden die Strompreise für Elektroheizungen auf dieses schaffenen Ermächtigungsgrundlage die bestehenden Niveau angehoben, würde sich der Druck stark erhöhen, Pläne zur erzwungenen Außerbetriebnahme von Nacht- diese Heizungen schnellstmöglich zu ersetzen. Ganz im stromspeicherheizungen in der bisherigen pauschalen Sinne der FDP würde der Markt die Frage des Verbots Form nicht weiter zu verfolgen. beantworten. Stattdessen sind sinnvollere Maßnahmen zu ergreifen: Ich befürchte allerdings, dass dann der Mieter das Eigentümern von Nachtstromspeicherheizungen müssen Nachsehen hätte. Deshalb ist die gefundene Regelung, die Vorteile des liberalisierten Strommarktes zugänglich mit der über einen langen Zeitraum geplant werden kann, gemacht werden, da der Wechsel zu anderen und billige- sinnvoll und vernünftig und im Sinne von Energieeffizienz ren Anbietern für diese Stromkunden immer noch nicht und Klima-Verantwortung ohne ernsthafte Alternative. möglich ist. Deshalb lehnt die SPD-Bundestagsfraktion den vorlie- Die aufseiten der Netzregulierung erforderlichen Re- genden FDP-Antrag ab. gelungen für die Einführung intelligenter Zähler müssen unverzüglich erarbeitet werden, um das Angebot lastab- Michael Kauch (FDP): hängiger Tarife zu ermöglichen und Wettbewerbern – mit Die Bundesregierung will den Ersatz der von ihr als Zustimmung des Stromkunden – einen Zugang zu den Ver- brauchs- und Lastdaten zu geben, die für die Erstellung „extrem klimaschädlich“ empfundenen Nachtstromspei- solcher neuartiger Wettbewerbsangebote erforderlich cherheizungen in Wohnhäusern rechtlich erzwingen. Es sind. Dazu gehören aus Sicht der FDP-Bundestagsfrak- reicht ihr dabei nicht, einfach nur den weiteren Zubau tion Standards für die technischen Anforderungen an von Nachtstromspeicherheizungen zu verbieten, vielmehr Zähler, insbesondere hinsichtlich der Fernauslesbarkeit, sollen auch die im Gebäudebestand bereits in Betrieb be- der Fernsteuerbarkeit und der Datenformate. findlichen Nachtstromspeicherheizungen entfernt werden müssen. Überdies sind im Dialog mit den Netzbetreibern die regulatorischen Voraussetzungen zu prüfen, wie Nacht- Mit dem verabschiedeten Energieeinspargesetz hat die stromspeicherheizungen in Smart-Grid-Konzepte ein- Koalition die rechtliche Grundlage für ihr geplantes Ver- gebunden werden können, die ihre Nutzung als Wärme- bot geschaffen. Dabei ließ sie die Ergebnisse einer zu die- energiespeicher insbesondere auch für Strom aus sem Thema durchgeführten parlamentarischen Experten- erneuerbaren Energien erlauben bzw. optimieren. anhörung außer Betracht. Dies ist auch nachvollziehbar; (B) denn die Anhörung ergab gravierende Zweifel am klima- Schlussendlich muss die Bundesregierung dem Deut- (D) und energiepolitischen Sinn der Maßnahme. schen Bundestag ein widerspruchsfreies und hinsichtlich seiner Bestandteile aufeinander abgestimmtes, konsis- Eine erzwungene Außerbetriebnahme von Nacht- tentes Konzept für einen wirksamen und zugleich wirt- stromspeicherheizungen ist aus mehreren Gründen abzu- schaftlichen Klimaschutz im Rahmen des europäischen lehnen; denn sie ist sowohl aus der Perspektive der Res- Emissionshandels vorlegen, statt sinnlose und kontrapro- sourcenschonung als auch des Klimaschutzes sinnlos und duktive Maßnahmen zu verfolgen, die einem langfristigen kontraproduktiv. Eine Außerbetriebnahme von Nacht- Klimaschutz entgegenstehen. stromspeicherheizungen führt in der Gesamtbetrachtung nicht zu einer Emissionssenkung. Nein, im Gegenteil! Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Diejenigen Haushalte, in denen Nachtstromspeicherhei- zungen außer Betrieb genommen werden, würden sich ge- Mit ihrem Festhalten an den ineffizienten und klima- zwungen sehen, neue Heizungsanlagen einzubauen. In schädlichen Nachtstromspeicherheizungen macht sich den Fällen, in denen diese mit fossilen Brennstoffen be- die FDP zum Handlanger der Kohle- und Atomkonzerne. Das rasante Wachstum der erneuerbaren Energien er- trieben würden, entstünden dann zusätzliche CO -Emis- 2 möglicht einen Ausstieg aus Kohle und Atom. Mit den fos- sionen. Denn Emissionen von Gasheizungen sind nicht silen Energieträgern werden auch die Nachtstromspei- durch den Emissionshandel mit seinen festen CO -Ober- 2 cherheizungen überflüssig. Wenn das die FDP nun grenzen erfasst – der Strom für die Nachtspeicherheizun- blockiert, kann sie es nicht ernst meinen mit der Ener- gen schon. Im Ergebnis werden deshalb die CO -Emis- 2 giewende. sionen kurzfristig ansteigen, wenn die Bundesregierung die Verordnungsermächtigung in die Tat umsetzt. Das Nachtstromspeicherheizungen wurden erfunden für Verbot steht damit in unmittelbarem Widerspruch zu dem die Kohle- und Atomkraftwerke. Weil die nachts ihre Leis- Ziel, das es vorgibt, erreichen zu wollen. Eine effiziente tung nicht herunterfahren konnten, musste der Strom Nutzung von modernisierten Nachtstromspeicherheizun- irgendwie verbraucht werden. Nachtstromspeicherhei- gen in einem schlüssigen Konzept aus Energiespeiche- zungen und fossile Kraftwerke ergänzen sich dabei ge- rung und modernem Lastmanagement würde dagegen zur genseitig: Die Heizungen kriegen günstigen Nachtstrom, Optimierung der Energieausbeute beitragen. Schließlich die Kraftwerke können mehr Strom verkaufen. Von einem erscheint eine Modernisierung bestehender Nachtstrom- Weiterbetrieb der Nachtstromspeicherheizungen würden speicherheizungen deutlich kostengünstiger und auch also vor allem unflexible Kohle- und Atomkraftwerke pro- energiepolitisch sinnvoller als deren aufwendige Entfer- fitieren. Energieeffizienz und erneuerbare Energien blei- nung. ben auf der Strecke.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22867

Eva Bulling-Schröter (A) Nachtspeicheröfen verursachen im Vergleich zu ande- giekosten sparen. Die explodierenden Strompreise sind (C) ren Heizungssystemen die höchsten CO2-Emissionen und doch nicht zu übersehen. Deswegen ist es richtig, wenn darüber hinaus die mit Abstand höchsten Kosten bei der jetzt Geld in die Hand genommen wird, um langfristig Raumheizung. Die in 1,4 Millionen Wohnungen instal- Kosten einzusparen. lierten Geräte verbrauchen den Strom von fünf großen Braunkohlekraftwerken. Da sie zudem überproportional Fassen wir zusammen: Die ineffizienten Nachtstrom- häufig in alten Mietwohnungen installiert sind, müssen speicherheizungen machen nur Sinn in Kombination mit häufig ärmere Familien draufzahlen, oder der Steuerzah- Kohle- und Atomkraftwerken. Wir sind aber auf dem Weg ler kommt über das Arbeitslosengeld II für die exorbitan- ins Zeitalter der erneuerbaren Energien. Deswegen brau- ten Heizkosten auf. chen wir neue, umweltfreundliche Heizsysteme. Die gibt es bereits. Nur die Atomfreunde der FDP wollen weiter- Vom BMU war ursprünglich vorgesehen, einen Ersatz hin Energie verschwenden. Dazu sagen wir von der Lin- der Nachtspeicheröfen mit festgelegten und überschau- ken ganz klar: Nein! Die Nachtstromspeicherheizungen baren Fristen vorzuschreiben. Das BMWi hat hier zahl- müssen sozialverträglich durch klimafreundliche Heizun- reiche Befreiungs- und Härtefallregeln hineinverhandelt gen ersetzt werden. und zudem die Fristen zum Austausch auf spätestens 2020 bzw. 30 Jahre nach der Installation festgelegt. Der ökolo- gische und ökonomische Unfug wird also frühestens 2038 Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): endgültig beendet, wobei noch unklar ist, ob es finanzielle Zunächst einmal ist bemerkenswert, wie hartnäckig Anreize zum Austausch geben wird. In Wohngebäuden mit die FDP dieses Thema verfolgt. Allerdings sollten hier weniger als sechs Wohneinheiten oder weniger als die Fakten nicht verdreht werden. In der im Antrag er- 500 Quadratmetern Nutzfläche braucht gleich überhaupt wähnten parlamentarischen Expertenanhörung war es nichts zu passieren. Vielleicht wurde hier so halbherzig durchaus nicht so, dass sich eine breite Mehrheit gegen vorgegangen, weil Nachtspeicheröfen den Energiever- das Verbot von Nachtstromspeicherheizungen aussprach. sorgern ihr geliebtes Geschäft mit dem Nachtstrom si- Im Gegenteil, nur der von der Fraktion der FDP eingela- chern. dene Professor Weimann war ein glühender Verfechter Nicht nur im Stromsektor, auch im Wärmebereich müs- dieser Heizungsart. Allerdings – und das musste auch sen wir umsteuern. Dazu ist ein Abschied von den Nacht- Professor Weimann anerkennen – funktioniere seine Theo- stromspeicherheizungen ein notwendiger erster Schritt. rie auch nur auf der Basis eines weltweit funktionieren- Denn Heizen mit Strom ist höchst ineffizient. Wertvolle den Emissionszertifikatehandels. Dass es diesen – noch – Energie wird verschwendet, wenn die Wärme im Kraft- nicht gibt, dürfte auch der FDP nicht verborgen geblie- werk zunächst in Strom umgewandelt wird, nur um an- ben sein. (B) (D) schließend wieder in Wärme verwandelt zu werden. Solch eine Energieverschwendung können wir uns in Zeiten Die Änderung der Energieeinsparungs-Verordnung, steigender Energiepreise einfach nicht leisten! EnEV, bezüglich der elektrisch betriebenen Nachtstrom- speicherheizungen ist unter dem Strich sinnvoll, vor allem, Die Alternativen zur klassische Öl- und Gasheizung wenn man sich den Gesamtwirkungsgrad ansieht, das müssen endlich durchgesetzt werden: Vor allem der An- heißt die thermische Erzeugung von Strom, um dann aus schluss an Nah- oder Fernwärme kann enorme Mengen Strom wieder Wärme zu machen. Es ist mit Sicherheit ein des Klimakillers CO2 einsparen. Sinnvoll ist auch ein Fehler gewesen, in manchen Kommunen den Einsatz von deutlich höherer Anteil von erneuerbaren Energien im Nachtstromspeicherheizungen vorzuschreiben. Dagegen Wärmebereich, wie Solaranlagen zur Warmwasserberei- gewehrt haben sich die EVU aber nicht. Denn es ist tung. Nach einer Studie des Instituts für Zukunfts-Ener- durchaus von ihnen auch eine unmerkliche Abhängigkeit gie-Systeme und des Bremer Energie-Instituts kann der Kunden befördert worden. Viele dieser Kunden merken dadurch bis zu 80 Prozent des CO2-Ausstoßes eingespart heute, nachdem auch Sondertarife für Nachtstromspeicher- werden. heizungen angehoben wurden, die neue Unfreiheit schmerz- Das Hauptfeld und die kostengünstigste Option zu haft an den monatlichen hohen Abschlagszahlungen. Denn so preiswert, wie einmal versprochen wurde, ist Strom CO2-Einsparungen ist und bleibt im Übrigen die Wärme- dämmung, vor allem im Gebäudebestand. Doch die hat ja schon lange nicht mehr. Deshalb liegt der Verdacht nahe, die Bundesregierung in ihrer Verordnung gerade von dass die FDP hier zwar als Retter der Verbraucher auf- Pflichten zur energetischen Gebäudesanierung befreit. tritt, in Wirklichkeit aber die Interessen der großen Ener- gieversorgungsunternehmen vertritt. Kommen wir noch einmal zu den konkreten Plänen der Bundesregierung, Natürlich ist die Umstellung von Interessant wäre die Antwort auf die Frage, ob ein Ersatz Nachtspeicherheizungen auf Alternativen mit Kosten ver- von Nachtstromspeicherheizungen auch dann sinnvoll bunden, die sich nicht alle leisten können. Daher ist es wäre, wenn sie ausschließlich mit Strom betrieben würden, richtig, dass die Regierung ein Förderprogramm aufle- der aus regenerativen ungeregelten Energieumwandlungs- gen möchte. Auch Ausnahmen und Härtefälle kann es ge- systemen stammt. Die Bundesregierung hat sich diesbe- ben. Sie müssen jedoch viel enger begrenzt werden als ge- züglich nicht äußern können oder wollen. Die Antwort genwärtig geplant. Sie dürfen schlicht nicht dazu führen, könnte in den kommenden Jahren stärker ins Zentrum der dass praktisch nichts passiert! Vom Aus der Nachtspei- Diskussion rücken, nämlich dann, wenn es zu temporären cherheizungen wird nicht nur das Klima profitieren. Vor Stromüberangeboten aus regenerativen Quellen kommt. allem die Mieterinnen und Mieter können bei den Ener- Fraglich ist allerdings auch dann noch, ob ein „Edel“-

Zu Protokoll gegebene Reden 22868 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Peter Hettlich (A) Energieträger wie Strom im Wärmemarkt überhaupt ein- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) gesetzt werden sollte – zumindest im größeren Maßstab. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/11193 an die in der Tagesordnung aufge- Der Gebrauch von Elektroheizungen und Nachtstrom- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- speicherheizungen zementiert zudem den bestehenden verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Kraftwerkspark, basierend auf thermischen Großkraft- so beschlossen. werken, und verhindert eine dezentrale Struktur. Konden- sationskraftwerke auf Dampfturbinenbasis haben einen Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf: Wirkungsgrad von mehr als 30 Prozent bis weniger als Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- 50 Prozent, wobei Atomkraftwerke besonders ineffizient gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär- sind. Diese Kraftwerkstypen und damit die Struktur des kung der Sicherheit in der Informationstech- Energiemarktes würden damit gestützt. Die Folge ist, nik des Bundes dass die Hälfte bis zwei Drittel des eingesetzten Brenn- stoffes nicht genutzt und als „Wärmemüll“ in die Umwelt – Drucksachen 16/11967, 16/12225 – abgegeben werden. Ziel muss es sein, diese Verluste zu Überweisungsvorschlag: minimieren. Dazu ist aber der Ausbau einer dezentralen Innenausschuss (f) Energieversorgungsstruktur auf Basis der Kraft-Wärme- Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Kopplung, KWK, notwendig. Diese wird jedoch durch das Verteidigungsausschuss Festhalten an alten Strukturen verhindert. Die FDP ist Ausschuss für Kultur und Medien Bremserin einer zukunftsfähigen Energiepolitik. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Insofern wirft sie auch mit dem Titel ihres Antrages Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es dage- Nebelkerzen. Wenn das, was im Antrag gefordert wird, gen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Die Kollegin Realität würde, wird ziemlich genau das Gegenteil von Gisela Piltz hat sich als Einzige in dieser Aussprache zu dem erreicht, was erreichen zu wollen die FDP vorgibt: Wort gemeldet. Die anderen Reden nehmen wir zu Pro- Die Chancen für erneuerbare Energien und für den Klima- tokoll. Jetzt wollen wir unsere Aufmerksamkeit der Kol- schutz würden eher verschlechtert denn verbessert. Des- legin Piltz widmen. halb lehnen wir Ihren Antrag ab. (Beifall bei der FDP) Statt sich auf eine kleinteilige Lobbyarbeit zu reduzie- ren, sollte die FDP endlich unseren vielfältigen Vorschlä- Gisela Piltz (FDP): gen folgen. Denn wenn wir so weitermachen, wird es Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei (B) mehr als 150 Jahre dauern, bis der Gebäudebestand auf dem Titel dieses Gesetzentwurfs, der sehr spät auf der (D) einen vernünftigen energetischen Standard gebracht ist. Tagesordnung steht – aus meiner Sicht leider zu spät für Das ist unverantwortlich gegenüber unseren nachfolgen- ein Gesetz, dessen Konsequenzen sich die meisten von Ih- den Generationen. Daher lohnt es sich, nochmals unsere nen, wie ich glaube, noch gar nicht klargemacht haben –, wesentlichen Forderungen aufzuführen. Wir müssen der denkt man zunächst an nichts Schlimmes. Gegen Sicher- Aufklärung und der qualifizierten Beratung der Gebäu- heit von Computern und der Informationstechnik kann denutzer eine stärkere Aufmerksamkeit schenken. 20 bis man erst einmal nichts haben. Das ist völlig richtig. Die 30 Prozent der Einsparungen lassen sich alleine durch Pannen mit Meldedaten oder auch andere Vorfälle zei- ein verändertes Heizverhalten und mit einem vergleichs- gen uns ganz deutlich: Diese Sicherheit muss Priorität weise geringen Mitteleinsatz durch Beratung erreichen. haben. Wir müssen endlich verbindliche und realistische Ge- bäude-Effizienzstandards für Bestands- und Neubauten Nur, da hat man die Rechnung ohne den Wirt gemacht; setzen, deren Wirkungen auf die kurzfristigen – bis 2020 – denn wo Sicherheit draufsteht, ist bei dieser Bundesregie- und langfristigen – bis 2050 – Klimaschutzziele ausge- rung meist auch Überwachung drin. Auch die martiali- richtet sind. Wir müssen ein Recht der Mieter bzw. Nutzer sche Wortwahl des Bundesinnenministers, Herr Staatsse- auf Einhaltung dieser Effizienzstandards einräumen. Wir kretär, im Zusammenhang mit dem geplanten BSI-Gesetz müssen die stärkere Berücksichtigung von Lösungsansät- lässt einiges ahnen. In der Pressekonferenz zum Arbeit- nehmerdatenschutz am 16. Februar 2009 sprach er dies- zen in der Förderpolitik beachten, mit denen die größten bezüglich vom Cyber-War, also vom Krieg. Ich finde, das Klimaschutz- und Einsparpotenziale bei geringstem Mit- ist nicht ganz angemessen. Natürlich gehört die Informa- teleinsatz gehoben werden können. Wir müssen bauliche tionstechnik zu den kritischen Infrastrukturen eines Staa- und modulare Lösungen in der energetischen Gebäude- tes. Natürlich ist es notwendig, diese zu schützen. Darin sanierung von heute fördern, die uns bei der Erreichung sind wir uns alle einig. Natürlich würde im Falle einer der langfristigen Ziele morgen nicht im Wege stehen. Wir kriegerischen Auseinandersetzung jeder versuchen, die müssen zusätzliche Sanierungshilfen und Lösungen für IT-Strukturen anzugreifen und zu sprengen. Aber bei Ha- ökonomisch schwache Vermieter oder Hauseigentümer ckerangriffen, Viren und Würmern von Cyber-War zu einführen, insbesondere in den peripheren Regionen sprechen, ist wohl doch etwas überzogen und impliziert Deutschlands. Wir müssen schließlich endlich einen Ener- wieder Kategorien des Kriegsrechts. Ich sage es einmal gieausweis vorschreiben, der die energetische Qualität ei- ganz überspitzt: Ein Feindstrafrecht für Hacker darf es nes Gebäudes tatsächlich abbildet und nicht als unseriöse aus unserer Sicht nicht geben. Lachnummer im Internet für Dumpingpreise von 1,99 Euro ersteigert werden kann. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22869

Gisela Piltz (A) Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstech- Ich versuche einmal, mir das im nicht virtuellen Raum (C) nik bekommt neue Aufgaben. Das hat mit Sicherheit lei- vorzustellen: Die Polizei erhebt Daten von allen Auto- der nur begrenzt etwas zu tun. Das BSI bekommt Aufga- fahrern an allen Autobahnauffahrten – also Kennzei- ben, die weit darüber hinausgehen, nämlich durch die chen, Geschwindigkeit, Zahl der Insassen –, weil ein Zertifizierung von Verschlüsselungstechnologien oder Verkehrssünder dort fahren könnte. Das entspräche dem, Ähnlichem die Sicherheit in der IT des Bundes zu ver- was Sie hier vorhaben. Ich finde, das geht nun wirklich bessern. Die neuen Aufgaben zur automatisierten Erhe- viel zu weit. bung und Auswertung von Protokolldaten an den (Beifall bei der FDP) Schnittstellen der Behörden bedeuten im Klartext: Wer die Seiten des Bundesverwaltungsamts, des BKA, des Mehr Sicherheit in der IT setzt übrigens Transparenz BMI oder anderer Behörden des Bundes im Internet auf- voraus. Gerade hier wird aber ein Riegel vorgeschoben. ruft, dessen Eingaben, Klicks und Verweildauer auf den Findet das BSI Schadsoftware oder spürt es Sicherheits- Seiten werden gespeichert und ausgewertet, und zwar lücken auf, braucht es das der Öffentlichkeit nicht mitzu- ohne Anonymisierung und ohne Pseudonymisierung, teilen, obwohl das eigentlich Sinn der Sache wäre. nämlich im Klartext. Damit kann das BSI die gesamte Mit diesem Gesetzentwurf soll auch das Telemedien- Kommunikation der Bürgerinnen und Bürger mit Behör- gesetz geändert werden. Der Dienstanbieter soll nach den abhören und auswerten, den Besuch von Internetsei- dem Willen der Bundesregierung künftig nicht nur Ver- ten, E-Mails, Internettelefonie und Chats. Wir finden, bindungsdaten, sondern auch Nutzungsdaten erheben. das geht zu weit. Das heißt, er soll feststellen, wer wie lange auf welcher (Beifall bei der FDP) Seite im Internet gewesen ist. Auch das ist eine neue Qua- lität Ihres Handelns und öffnet dem „gläsernen Surfer“ Damit aber leider nicht genug. Diese Daten dürfen wirklich Tür und Tor. Der Bundesrat hat zum Glück in dann auch noch an die Sicherheitsbehörden weitergege- seiner Stellungnahme, dem Vorschlag Hessens und Ba- ben werden, an die Polizei, an die Staatsanwaltschaften den-Württembergs folgend, eine Einschränkung vorge- und ebenso an die Nachrichtendienste. Das BSI wird zur schlagen: Nur bei konkretem Verdacht soll die Möglich- allgemeinen Polizei- und Schnüffelbehörde; denn es soll keit zur Aufzeichnung erlaubt sein. Wir hoffen, dass sich nicht nur Hacker und Trojaner verfolgen, sondern allem die Bundesregierung dem anschließt. auf die Spur kommen, was vielleicht illegal im Netz ist. Ich glaube, ich bin die letzte Rednerin des heutigen Weil bei so viel Schnüffelei auch einmal etwas Privates Tages. Ich darf mich an dieser Stelle bei Ihnen bedanken, dabei sein könnte, sollen „Erkenntnisse aus dem Kernbe- dass Sie so viel Geduld aufgebracht haben. Ich bedanke reich privater Lebensgestaltung“ im Zweifel entweder mich aber auch bei denen, die hinter den Kulissen fünf (B) gelöscht werden oder – das, Herr Staatssekretär, ist wirk- Minuten länger arbeiten müssen. (D) lich einmalig – „unverzüglich dem Bundesministerium des Innern“ vorgelegt werden. Herzlichen Dank. (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Der (Beifall bei der FDP) Treuhänder der Daten!) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Zu Risiken und Nebenwirkungen der Telekommunika- Vielen Dank. – Die übrigen Reden werden zu Pro- tion für die Menschen fragen Sie bitte Ihr freundliches tokoll genommen. Es handelt sich um die Reden von BMI! Ich glaube, so hat sich das Bundesverfassungsge- Clemens Binninger, CDU/CSU, Frank Hofmann, SPD, richt das wirklich nicht vorgestellt. Petra Pau, Die Linke, Wolfgang Wieland, Bündnis 90/ (Beifall bei der FDP) Die Grünen1). Da steht nichts von einer unabhängigen richterlichen Damit schließe ich die Aussprache. Kontrolle. Da steht nichts davon, dass Eingriffe in den Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Kernbereich erst einmal zu unterbleiben haben, so wie es wurfs auf den Drucksachen 16/11967 und 16/12225 an uns das Bundesverfassungsgericht auf den Weg gegeben die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- hat. Erst einmal wird automatisch aufgezeichnet. Wie schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist aus der Antwort auf unsere Kleine Anfrage spricht da- nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. raus: Die Bundesregierung hält den Kernbereichsschutz offensichtlich nur für ein Beweisverwertungsverbot. Das war eben zwar die letzte Rede, aber wir haben Auch da haben Sie das Bundesverfassungsgericht falsch noch eine ganze Reihe von Tagesordnungspunkten abzu- verstanden. arbeiten. Ich bitte, mich dabei noch ein wenig zu beglei- ten; denn allein kann ich das nicht machen. Immerhin hat das der Bundesrat in seiner bemerkens- werten Stellungnahme deutlich hervorgehoben. Bei der (Heiterkeit – Iris Gleicke [SPD]: Wir sind ganz Gegenäußerung der Bundesregierung muss aus meiner treu, Herr Präsident! – Ulrich Kelber [SPD]: Sicht hingegen von einem vorgezogenen Aprilscherz Wir lassen Sie nicht im Stich!) ausgegangen werden. Da steht: – Im Übrigen brauche ich Sie auch noch zur Abstim- mung. Die Daten werden auch nicht anlasslos erhoben, sondern nur, um Gefahren für die Informationstech- nik des Bundes abzuwehren. 1) Anlage 7 22870 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: keine ökonomischen Anreize, weshalb sie die Forschung (C) in diesem Bereich kaum vorantreiben. Um sich eine Vor- Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra stellung davon zu machen, über welche Beträge wir bei Sitte, Monika Knoche, Heike Hänsel, weiterer der Entwicklung eines Impfstoffs sprechen: Die Impfstoff- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE entwicklung lässt sich grob in drei Stufen aufteilen: In der Öffentlich finanzierte Pharmainnovationen ersten Stufe wird Grundlagenforschung betrieben. Sie zur wirksamen Bekämpfung von vernachläs- kostet bis zur präklinischen Forschung mehrere Millio- sigten Krankheiten in den Entwicklungslän- nen Euro. In der zweiten Stufe erfolgt die Prüfung der To- dern einsetzen xizität und die Weiterentwicklung bis zum Eintritt in die klinische Phase. Diese verschlingt wiederum einige Mil- – Drucksache 16/12291 – lionen Euro. Dabei muss man wissen, dass bis hier völlig Überweisungsvorschlag: unklar ist, ob es sich überhaupt um einen erfolgverspre- Ausschuss für Bildung, Forschung und chenden Impfstoffkandidaten handelt oder nicht. Die Technikfolgenabschätzung (f) Ausschuss für Gesundheit dritte Stufe umfasst die klinischen Studien. Diese teilen Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und sich in drei Phasen auf. In der ersten Phase erfolgt für ei- Entwicklung nige Millionen Euro die Sicherheitsprüfung. In der zwei- ten Phase erfolgt für um die zehn Millionen Euro die Prü- Wir nehmen die Reden zu Protokoll. Es handelt sich fung von Sicherheit und Effektivität. Und in der dritten um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Michael Phase erfolgt die Prüfung der Schutzwirkung, welche Kretschmer, CDU/CSU, René Röspel, SPD, über viele Jahre hinweg durchgeführt wird und bei der die Dr. Wolfgang Wodarg, SPD, Dr. Karl Addicks, FDP, Kosten schnell bis an den dreistelligen Millionenbereich Dr. Petra Sitte, Die Linke, und Ute Koczy, Bündnis 90/ gelangen. Die dritte Stufe ist also die kosten- und zeitin- Die Grünen. tensivste der ganzen Entwicklung. Das sind alles grobe Schätzwerte, die von Studie zu Studie divergieren. Aber Michael Kretschmer (CDU/CSU): ich glaube, es ist deutlich geworden, weshalb wir ange- Gesundheit ist im wahrsten Sinn des Wortes ein kost- sichts der Kosten und des Risikos Probleme haben, phar- bares und kostspieliges Gut. Die Bundesregierung inves- mazeutische Unternehmen zu bewegen, Grundlagenfor- tiert in den pharmazeutischen und biomedizinischen Be- schung für die Bekämpfung von vernachlässigten reich in beträchtlichem Umfang. Allein für die vom Krankheiten zu betreiben. Bundesministerium für Bildung und Forschung eingelei- tete „Pharma-Initiative“, die die Erforschung und Ent- Pharmazeutische Unternehmen sind zunehmend nur wicklung von neuen Medikamenten zum Ziel hat, werden noch bereit, an bereits vorliegenden, erfolgversprechen- (B) bis zum Jahr 2011 über 800 Millionen Euro investiert. den Impfstoffkandidaten mit hinreichenden Informatio- (D) Und gerade für den Bereich der vernachlässigten Krank- nen aus der präklinischen und frühen klinischen Ent- heiten gibt es seit Jahren viele internationale Initiativen. wicklung weiterzuforschen. Das heißt, sie kaufen die Impfstoffkandidaten zu Beginn der dritten, kostspieligen So stellen wir uns einmal mehr die Frage, wieso wir und zeitaufwendigen Stufe der Impfstoffentwicklung und gerade im Kampf gegen vernachlässigte Krankheiten nur forschen weiter. Die Gefahr, dass der Impfstoffkandidat langsam vorankommen. Dabei geht es immerhin um das ungeeignet ist, ist zu diesem Zeitpunkt geringer. Trotzdem Leiden und Sterben von vielen Millionen Menschen jähr- schafft es nur ein kleiner Teil bis zur Zulassung. Wie be- lich. Nicht nur an den drei großen todbringenden Krank- gegnen wir diesem Problem? Auch wenn wir den Druck heiten – Tuberkulose, Malaria und Aids – sterben jährlich auf die Pharmaunternehmen stetig erhöhen, können wir 6 Millionen Menschen. Auch an scheinbar banalen sie doch nicht zur Forschung zwingen. Die Bundesregie- Durchfall- und Atemwegserkrankungen und an armuts- rung fährt aus diesem Grund seit einigen Jahren einen bedingten Tropenkrankheiten, wie etwa der Schlafkrank- anderen zielführenden Weg. Das Bundesministerium für heit oder Lepra, sterben Millionen Erwachsene und Kin- Bildung und Forschung hat sich bereits mehrfach an der der. Entwicklung erfolgversprechender Impfstoffkandidaten Laut Bericht der WHO sind mehr als eine Milliarde beteiligt, indem es die von Agenturen wie der Vakzine Menschen mit einer oder mehreren vernachlässigten Projekt Management GmbH (VPM) betriebene Impfstoff- Krankheiten infiziert. Der Grund: Neben unsauberem entwicklung von der Grundlagenforschung bis hin zur Trinkwasser und mangelnden sanitären Anlagen fehlt es frühen klinischen Forschung fördert, also bis zu der in vielen Teilen der Welt immer noch an einer hinreichen- Phase, an der Pharmaunternehmen zur Übernahme und den gesundheitlichen Versorgung. Immer noch ist ein Fortführung der Forschung bereit sind. Durch diese För- Drittel der Weltbevölkerung von einer essenziellen medi- derung erhalten Impfstoffkandidaten mit einem hohen zinischen Versorgung ausgeschlossen. Eine der Hauptur- Forschungsrisiko und einer wichtigen gesundheitspoliti- sachen ist der enorme finanzielle und zeitliche Aufwand schen Bedeutung überhaupt erst die Chance auf Weiter- für die Entwicklung von Medikamenten wie Impfstoffen. entwicklung in der sehr aufwendigen und kostspieligen Das Risiko, dass sie es nicht bis zur Produktionsreife Phase der klinischen Entwicklung. schaffen, ist dabei so hoch, dass viele Pharmaunterneh- men die Finger davon lassen. Dabei fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung nicht nur die Grundlagenforschung und Wei- Der Markt für Impfstoffe gegen Armutskrankheiten ist terentwicklung von Impfstoffkandidaten, die es ohne hiervon besonders betroffen. Pharmafirmen sehen hier diese Initiative nicht geben würde. Es bemüht sich auch Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22871

Michael Kretschmer (A) aktiv um die Verwertung und weitere Entwicklung der Aber auch Europa ist schon längst nicht mehr ver- (C) Forschungsergebnisse und darum, günstige Lizenzkondi- schont. In Osteuropa ist Tuberkulose verbreitet. Eine tionen für Verkäufe von Medikamenten in Entwicklungs- Herd für Neuinfektionen sind offenbar die russischen Ge- länder zu vereinbaren. Der Verhandlungsspielraum ist fängnisse. So werden laut einer Studie jedes Jahr 30 000 durch die Schwierigkeit, Interessenten für die Weiterent- Gefangene mit Tuberkulose aus russischen Gefängnissen wicklung von Impfstoffen für vernachlässigte Krankhei- entlassen. Aber auch in Deutschland tritt Tuberkulose ten zu finden, eingeschränkt. Aber erst und nur durch auf. 2006 starben daran circa 600 Menschen bei zuneh- diesen Weg kommt der Impfstoff überhaupt seiner An- mend auftretenden Resistenzen des Erregers gegenüber wendung näher. Und die durch den Verkauf der Lizenz ge- Medikamenten. wonnenen Einnahmen werden der Erforschung neuer Impfstoffkandidaten zugeführt. Dabei arbeitet die Bun- Die sogenannten vernachlässigten Krankheiten sind desregierung weiter an Strategien, wie nicht nur die For- für Deutschland somit eine moralische und entwicklungs- schung an Impfstoffen für vernachlässigte Krankheiten, politische, aber auch gesundheits- und forschungspoliti- sondern auch die Vermarktung zu erschwinglichen Prei- sche Herausforderung. Eine Lösung liegt neben präven- sen gesichert werden kann. tiven Maßnahmen, wie zum Beispiel besserer Hygiene und ein gutes Gesundheitssystem, in der Pharmafor- Der von uns als Regierungsfraktionen erarbeitete An- schung und einem bedarfsgerechten Zugang zu Medika- trag „Deutschlands globale Verantwortung für die Be- menten. Das beinhaltet Maßnahmen hier in Deutschland kämpfung vernachlässigter Krankheiten – Innovation sowie Anstrengungen bzw. Unterstützungen in den beson- fördern und Zugang zu Medikamenten für alle sichern“ ders stark betroffenen Ländern. fordert genau solche Strategien. Wir haben es auch trotz Haushaltskonsolidierungsplan geschafft – sowohl über Bereits die rot-grüne Bundesregierung hat sich dieser den Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfol- Verantwortung gestellt, und die Große Koalition setzt genabschätzung als auch über den Ausschuss für wirt- dies fort. Allein für Tuberkulose hat das Bundesministe- schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung –, Mittel rium für Bildung und Forschung im Zeitraum 2004 bis für zusätzliche Forschungsvorhaben zu vernachlässigten 2010 für Forschungsvorhaben 6 Millionen Euro bereitge- Krankheiten in den Haushalt 2009 einzubringen. Der stellt. Hinzu kommen noch einmal fast 28 Millionen Euro für übergreifende Programme, in denen auch an Tuber- Kampf gegen vernachlässigte Krankheiten ist lang und kulose geforscht wird. schwer. Aber wir haben den Kampf entschlossen angetre- ten. Aber nicht nur in der Politik wird das Problem er- kannt. Auch die deutsche Forschung verstärkt ihre An- (B) René Röspel (SPD): strengung in diesem Bereich. So hat die Deutsche For- (D) schungsgesellschaft ein Afrika-Programm mit dem Die Situation ist erschreckend. Laut WHO starben al- Schwerpunkt „Tropische Infektionskrankheiten“ ausge- lein im Jahr 2006 1,7 Millionen Menschen an Tuberku- schrieben, das bereits jetzt überzeichnet ist und eine Viel- lose. Neben dieser „weißen Pest“ raffen aber auch HIV/ zahl erfolgversprechender Projekte erwarten lässt. Aids und Malaria Millionen von Menschen jährlich hin. Das menschliche Leid, welches hinter diesen Zahlen Das Parlament hat sich damit aber nicht zufriedenge- steht, können wir uns gar nicht ausmalen. Hinzu kommen geben. In den letzten Haushaltsverhandlungen haben die weniger bekannte Tropenkrankheiten wie Elefantiasis Koalitionsfraktionen deshalb darauf hingewirkt, dass die oder Flussblindheit, die zwar nicht tödlich sind, aber Gelder zur Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten trotzdem großes Leid verursachen. Alle diese Krankhei- für 2009 noch einmal um 3 Millionen Euro erhöht worden ten wüten wiederum vorwiegend in ärmeren Ländern in sind. Forschungs-, Entwicklungs- und Haushaltspolitiker Afrika und Asien. der Koalition arbeiten auch in dieser Frage eng zusam- men. Das Thema ist bei uns als Querschnittsthema, wie Vor dem Hintergrund dieser erschreckenden Zahlen im Antrag gefordert, bereits erkannt und angegangen will ich ausdrücklich appellieren, sich von der Bezeich- worden. nung „vernachlässigte“ Krankheiten nicht irreführen zu lassen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, es handele Das dokumentiert auch der vor fast einem Jahr von sich etwa um vernachlässigbare Krankheiten, nur weil sie meinem Fraktionskollegen Dr. Wolfgang Wodarg dan- in unseren Breiten oder unserer Gesellschaft keine Rolle kenswerterweise initiierte und in den Bundestag einge- spielen. Dieser Eindruck entsteht nur dort, wo der Blick brachte Antrag „Deutschlands globale Verantwortung nicht über den Tellerrand hinausgeht, man sich in der für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten – In- mitunter trügerischen Sicherheit wiegt, man selbst könne novation fördern und Zugang zu Medikamenten für alle davon nicht betroffen sein, oder wo es an Solidarität mit sichern“, Drucksache 16/8884, der nicht nur auf die Pro- betroffenen Menschen in anderen Ländern mangelt. blematik hinweist, sondern auch eine Reihe von Forde- Meine Erfahrung ist, dass auf Nachfrage in Veranstaltun- rungen abdeckt, die jetzt auch der vorliegende Antrag der gen allenfalls noch die sogenannte Kriegsgeneration Fraktion der Linken aufgreift. Ich halte nicht nur deswe- konkrete Erfahrungen oder Erinnerungen beispielsweise gen viele Punkte aus dem Antrag der Linksfraktion für an Tuberkulose hat. Dennoch zeigen die Zahlen, welche vernünftig und unterstützenswert. Allerdings können wir Bedeutung diese Krankheit nach wie vor hat und auch ihn in anderen Punkten nicht unterstützen, weil er nicht wieder bekommen wird, wenn wir nicht mit gemeinsamer ausgegoren genug ist und eher kontraproduktiv wirken Kraft gegensteuern. würde.

Zu Protokoll gegebene Reden 22872 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

René Röspel (A) Ein Beispiel: Die Forderung „10 Prozent der für die nanzierung. Doch in Ländern, in denen nicht einmal kon- (C) Pharmainitiative verausgabten Mittel“ – das wären über tinuierliche Wasser- und Stromversorgung gewährleistet 80 Millionen Euro – zukünftig direkt für die Forschung sind, wird der Aufbau, geschweige denn der Ausbau von zur Bekämpfung von vernachlässigten Krankheiten aus- Forschungskapazitäten nur sehr langsam vorankommen. zugeben, geht an der Realität vorbei und muss als Aktio- Es braucht somit auch Zeit. nismus bezeichnet werden. Wir haben auf dem parlamen- tarischen Abend des „Stop-TB-Forums“ im Oktober Mit dem Thema öffentliche klinische Studien in armen 2008 erfahren können, dass die deutsche Forschung in Ländern werden wir uns noch einmal intensiver aufgrund diesem Bereich gut aufgestellt und die Kapazitäten aus- der EU-Mitteilung „Partnerschaft Europas und der Ent- genutzt sind. Nun eine „Geldlawine“, die zudem noch aus wicklungsländer im Bereich klinischer Studien“ im Aus- anderen Bereichen der Gesundheitsforschung abgezogen schuss beschäftigen. Ich möchte an dieser Stelle aber werden soll, anzubieten, ohne dass das Geld sinnvoll ge- schon einmal sagen, dass man an dieses Thema sehr dif- nutzt werden könnte, ist schlicht der falsche Weg. Sinnvol- ferenziert herangehen sollte. Der Kapazitätsausbau von ler ist der von uns beschrittene Weg des kalkulierbaren, Forschungsinfrastruktur und Wissen ist richtig. Aber eine kontinuierlichen Aufwuchses in diesem Forschungsbe- Verlagerung von klinischen Studien in Entwicklungslän- reich, auf den sich Forscher und Forscherinnen einstel- der aus rein finanziellen Gründen darf es nicht geben. len können. Es gilt hier die Kapazitäten nachhaltig aus- Denn dies wäre aus verschiedenen Gründen problema- zubauen. tisch. So ist die Vergleichbarkeit nicht immer gegeben. Aber besonders die Einhaltung ethischer Grundsätze bei Verständnis habe ich für die Kritik der Antragsteller der Durchführung klinischer Studien ist in Entwicklungs- am internationalen Patentsystem, die aber auch schon im ländern viel schwerer zu überprüfen. Dabei darf der Koalitionsantrag des letzten Jahres zum Ausdruck Schutz von Menschen im Rahmen von klinischen Studien kommt. Nachvollziehbar finde ich auf den ersten Blick nicht vom Durchführungsort der Untersuchung abhängig auch die kritische Befassung mit der vom BMBF geför- sein. derten Vakzine Projekt Management GmbH, VPM, bei der man sich gerne idealerweise vorstellen kann, dass die Wie Sie sicherlich wissen, habe ich mich bereits in der entwickelten Produkte und Impfstoffe am besten kosten- Vergangenheit sehr kritisch mit dem TRIPS-Abkommen frei an Betroffene in den Entwicklungsländern abgegeben auseinandergesetzt. Dabei musste ich aber auch die werden würden. Grenzen der Handlungsmöglichkeiten eines deutschen Parlamentariers erkennen. Einige Kritikpunkte teile ich Allerdings können wir realistischerweise auch nicht deshalb durchaus. Ich glaube aber nicht, dass uns die He- ignorieren, dass wir uns in einem Spannungsfeld bewe- rausnahme des Abkommens aus dem WTO-System wirk- (B) gen, das so einfach nicht aufzulösen ist. VPM wird durch lich weiterbringt. Ich plädiere vielmehr für eine Refor- (D) das BMBF so gefördert, dass Vakzinekandidaten bis zur mierung bzw. Weiterentwicklung von TRIPS. Insgesamt Phase eins einer klinischen Prüfung entwickelt werden scheinen mir die Vorschläge des Koalitionsantrages aus können. Ohne diese staatliche Förderung wäre der Impf- dem letzten Jahr zielführender zu sein. stoff vermutlich in einem frühen Entwicklungsstadium verblieben und hätte aller Voraussicht nach keine Chance Dr. Wolfgang Wodarg (SPD): auf Weiterentwicklung gehabt, weil er für kommerzielle Partner – leider – noch nicht interessant bzw. ertragreich Lassen sie mich zunächst ein Lob aussprechen: Es ist genug gewesen wäre. Eine allein staatliche Finanzierung erfreulich, dass die Linkspartei jetzt auch auf das Thema der Weiterentwicklung von Impfstoffkandidaten bis zur „vernachlässigte Krankheiten“ aufmerksam geworden Marktzulassung würde sehr wahrscheinlich sowohl die fi- ist – fast ein Jahr, nachdem die Große Koalition einen An- nanziellen wie auch rechtlichen Möglichkeiten des Staa- trag zum Thema eingebracht hat. Es zeugt allerdings von tes sprengen. Eine finanzielle Unabhängigkeit der Wei- wenig Kreativität und Engagement, dass der Antrag fast terentwicklung nach der Anschubfinanzierung durch den eins zu eins abgeschrieben wurde. Staat wird nur erreicht, wenn ein privater bzw. kommer- Grundsätzlich haben Sie aber viele Punkte richtig aus zieller Investor entweder mit humanistischem Anliegen unserem Antrag übernommen: Während wir hier in auftritt oder seine zu erwartenden Investitionen durch Deutschland und Europa über medizinische Innovationen ausreichende Vermarktbarkeit refinanzieren kann. Das ist diskutieren und die Lebenserwartung immer weiter steigt, im Bereich vernachlässigter Krankheiten, für die es ent- sterben in vielen Entwicklungsländern immer noch Millio- weder zu wenig Betroffene oder zu wenig kaufkräftige Be- nen Menschen an Krankheiten, die eigentlich behandel- troffene gibt, leider nicht zu erwarten, wenn die Vermark- bar wären. Insgesamt sind es jährlich knapp 13 Millionen tungsmöglichkeiten auch noch eingeschränkt werden. Menschen. Ich spreche dabei nicht nur von den drei großen Davon unabhängig bleiben wir bei unserer Aufforde- todbringenden Krankheiten Tuberkulose, Malaria und rung an das BMBF, im Rahmen seiner Möglichkeiten HIV/Aids. Vor allem an scheinbar banalen Durchfall- und seine Verhandlungsspielräume zu nutzen, um einen be- Atemwegserkrankungen sterben Tausende Kinder und günstigten Zugang für Entwicklungsländer zu ermögli- Erwachsene jedes Jahr. In vielen Entwicklungsländern chen. liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bis heute um bis zu 30 Jahre unter der in den Industriestaaten. Hinzu Der Ausbau von Forschung und Gesundheitssystemen kommt, dass viele der vernachlässigten Krankheiten zwar in den betroffenen Gebieten muss verstärkt werden. Dies nicht tödlich sind, aber die Lebensqualität und die Pro- passiert bereits durch nationale, auch europäische Fi- duktivität der betroffenen Menschen erheblich mindern.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22873

Dr. Wolfgang Wodarg (A) Wenn wir Entwicklungsländern aus der Armut helfen wol- Krankheiten zu fördern. Dieser Prozess in der WHO (C) len, wenn wir in Zukunft starke Partner wollen, mit denen wurde im vergangenen Jahr durch den Antrag der Koali- wir in absehbarer Zeit auf gleicher Augenhöhe auch wirt- tion auf nationaler Ebene unterstützt und begleitet. schaftlich zusammenarbeiten können, dann müssen wir in die Bekämpfung der vernachlässigten Krankheiten inves- Der zweite relevante Punkt in der Problematik ist die tieren. Versorgung der Kranken mit bereits entwickelten Medika- menten. Etwa ein Drittel der Menschheit ist bis heute von Zwei grundlegende Punkte stehen im Mittelpunkt der essenziellen Medikamenten ausgeschlossen. In einigen Problematik: zum einen die fehlenden Innovationen und Teilen Afrikas, Lateinamerikas oder Indiens liegt der zum anderen die mangelnde Versorgung der Menschen in Anteil der Bevölkerung ohne Zugang zu einer Versorgung Entwicklungsländern mit vorhandenen Medikamenten. mit den wichtigsten Medikamenten bei mehr als 50 Pro- zent. Zuallererst muss hier intensiv mit den Entwicklungs- Zunächst zu den Problemen bei den Innovationen. So, ländern zusammengearbeitet werden. Die Versorgung der wie wir es in den vergangenen Monaten so häufig auf den kranken Menschen darf nicht an mangelnder Kapazität Finanzmärkten sehen konnten, ist es auch bei der medi- oder an Korruption scheitern; dann wäre jegliche Anstren- zinischen Forschung: Es wird nicht gefragt, was den gung, Medikamente zu entwickeln, ad absurdum geführt. Menschen dient, sondern nur, wo es möglichst schnell die Konkret ist es wichtig, Entwicklungsländer bei der höchste Rendite gibt, am besten schon morgen. Langfris- Anwendung der TRIPS-Flexibilitäten zu unterstützen. tiges Denken ist bei den Pharmaunternehmen kaum zu TRIPS muss so ausgelegt werden, dass Länder nicht da- erwarten. Dass eine Stärkung armer Länder auch in von abgehalten werden, Medikamente für die öffentliche Zukunft Abnehmer bringt, wird kaum in Betracht gezo- Gesundheitsversorgung herzustellen und einzusetzen. gen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Nur Der Schutz des geistigen Eigentums, ein Punkt, den die 1,3 Prozent aller seit 1975 auf den Markt gebrachten Bundeskanzlerin immer wieder betont hat, ist wichtig. Im Medikamente wurden für die Bekämpfung von tropischen Bereich der medizinischen Forschung ist der Wettbewerb Krankheiten und Tuberkulose entwickelt. Dabei wurde um Patente jedoch tödlich für alle, die aus finanziellen weltweit noch nie so viel in Forschung und Entwicklung Gründen nicht mithalten können. Es ist unsere Pflicht, von neuen Medikamenten investiert wie in den letzten dafür zu sorgen, dass Arzneimittelentwicklung und die zwei Jahrzehnten. Das Interesse gilt jedoch eher Haar- Forschungsanstrengungen der Pharmabranche nicht nur ausfall, Fettleibigkeit, Impotenz oder anderen „Krank- von Absatzerwägungen und Marktchancen abhängen, heiten“ reicher Länder. Hier lässt sich Profit machen, sondern vor allem vom gesundheitlichen Bedarf gerade und hier hat die Pharmaindustrie ein Interesse, zu in- der bedürftigsten Teile der Weltbevölkerung bestimmt vestieren. Denguefieber, Schlafkrankheit, oder Wurm- werden. (B) erkrankungen wie die Bilharziose werden kaum beachtet. (D) In vielen Punkten kann ich den Forderungen aus dem Eine Lösung des Problems – auch das wurde bereits im Antrag der Linken nur zustimmen. Vieles wurde gut aus Antrag der Koalition vergangenes Jahr beschlossen – ist unserem Antrag aus dem letzten Jahr übernommen. Aller- die Stärkung öffentlicher Investitionen im Bereich dings haben Sie elementar wichtige Dinge übersehen: vernachlässigter Krankheiten. Zum Beispiel auf der EU- Die Prävention muss nach wie vor ein Schwerpunkt der Ebene ist hier eine stärkere Förderung öffentlich finan- weiteren Förderung sein; und das taucht leider in Ihrem zierter medizinischer Forschung vonnöten. Am besten Antrag überhaupt nicht auf. Für jeden Aids-Patienten, und schnellsten entwickelt sich medizinisches Wissen in der eine antiretrovirale Therapie erhält, werden mindes- offenen internationalen Netzwerken, denen die nötigen tens doppelt so viele neue HIV-Infektionen gezählt. Mittel bereitgestellt werden. Deswegen freue ich mich, dass Deshalb ist es richtig, öffentlich geförderte Forschungs- wir nächste Woche im Ausschuss für wirtschaftliche Zu- vorhaben vordringlich auf die Entwicklung von präven- sammenarbeit und Entwicklung das EDTCP-Programm tiven Maßnahmen und Impfstoffen zu konzentrieren. – das europäische Programm „Partnerschaft Europas und der Entwicklungsländer im Bereich klinischer Stu- Ich möchte an dieser Stelle im Hinblick auf die Äuße- dien“ – auf der Tagesordnung haben. Dieses wichtige rungen des Papstes betonen, wie wichtig Prävention ist. Netzwerk fördert die eigenen Forschungsaktivitäten der Die Behauptung des Papstes, die Benutzung von Kondo- Entwicklungsländer und bekämpft zielgerichtet die Krank- men würde das HIV/Aids-Problem in Afrika nur ver- heiten HIV, Malaria und Tuberkulose. Das Programm ist schlimmern, ist nicht nur aus entwicklungspolitischer, jedoch zeitlich und inhaltlich begrenzt. Deswegen werde sondern auch aus menschlicher Sicht völlig inakzeptabel. ich mit meinen Kollegen im Ausschuss die EU auffordern, In vielen Ländern ist die Lage dramatisch. Präventions- dieses Programm zu verlängern und es auf andere ver- maßnahmen, darunter die Verteilung von Kondomen, nachlässigte Krankheiten auszuweiten. Die öffentliche tragen dazu bei, die Menschen vor der Übertragung von Forschungsförderung muss massiv zunehmen und aktiv HIV zu schützen. Durch die Äußerung des Papstes wird auch von Deutschland unterstützt werden. langjährige und aufwendige Aufklärungs- und Präven- tionsarbeit in unverantwortlicher Weise konterkariert. Ein guter Anfang ist auf jeden Fall die Initiative der WHO, die Verantwortung für die Versorgung mit Medika- Aber zurück zum Thema Forschung. Die Mittel für die menten verstärkt in Bereichen zu übernehmen, wo der Förderung der Forschung im Bereich vernachlässigter Markt eine Versorgung nicht leistet. Im Mai 2008 wurde Krankheiten sind im Haushaltsjahr 2009 angewachsen; durch die Weltgesundheitsversammlung beschlossen, die auch hat Deutschland im Jahr 2008 fast 200 Millionen Erforschung von Arzneimitteln für vernachlässigte Euro in den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids,

Zu Protokoll gegebene Reden 22874 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Wolfgang Wodarg (A) Tuberkulose und Malaria eingezahlt. Das ist ein Anfang, Angesichts des nicht ausreichenden Willens der Bun- (C) allerdings noch immer viel zu wenig. Wir werden uns wei- desregierung müssen wir immer wieder diese Debatte in ter für die Bekämpfung vernachlässigter Krankheiten ein- den Blickpunkt der Öffentlichkeit rücken. Die gewaltigen setzen und haben dafür Anfang letzten Jahres mit unserem Herausforderungen im Bereich der Wirkstoffforschung Antrag eine gute Grundlage geschaffen. Ich begrüße es müssen die Privatwirtschaft und die Politik gemeinsam ausdrücklich, dass die Linkspartei unsere Forderungen angehen und nach neuen Möglichkeiten suchen, um diese mitträgt und Teile unseres Antrags gleich übernommen hat. Herausforderungen zu bewältigen. Nur wenn alle Part- Über Weiterentwicklungen, die mehr sind als ein lasches ner – Politik, Wirtschaft und Wissenschaft – international Wiederkäuen unserer Anträge, würde ich mich auch in gemeinsam an dieser Herausforderung arbeiten, wird Zukunft freuen. Für die weitere Arbeit im konkreten Fall nachhaltig eine Verbesserung der Lage zu erreichen sein. gilt jedoch: Wir brauchen keine Kopien der Linken, son- Neue Modelle der Forschungsförderung sowie die Förde- dern bleiben lieber bei unserem Original. rung von Public Private Partnerships, PPP, müssen dabei stärker in den Fokus der Debatte rücken. Bisher ist die Dr. Karl Addicks (FDP): Bundesregierung eher zurückhaltend in ihrem Engage- Die internationale Gemeinschaft hat sich mit den acht ment in diesem Bereich, und das, obwohl es bisher sehr Millennium Development Goals, MDGs, zu verstärkten erfolgreiche PPPs gibt. Allein im Bundesministerium für Anstrengungen im Bereich der Entwicklungszusammen- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wird arbeit bis zum Jahr 2015 verpflichtet. Die Verbesserung das Instrument der PPP zur Erforschung und Entwick- der Gesundheit in Entwicklungsländern haben drei der lung armutsbedingter, tropischer und vernachlässigter acht MDGs zum Ziel: die Verringerung der Kindersterb- Krankheiten in einem Zeitraum von zwölf Jahren mit lichkeit, die Verbesserung der Gesundheit der Mütter, die circa 7 Millionen Euro gefördert. Hier, meine ich, sollte Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und von anderen man sich in der Bundesregierung Gedanken machen, ob übertragbaren Krankheiten. da nicht mehr Engagement nötig und auch möglich ist. Leider sind die Zwischenmeldungen, die uns in Bezug Aber auch eine kohärente Strategie der Bundesregie- auf die Erreichung der Gesundheits-MDGs erreichen, rung bei der Bekämpfung von tropischen Armutskrank- nicht in allen Teilen der Welt positiv. Wir werden in Sub- heiten ist dringend vonnöten. Aus der Wissenschaft und sahara-Afrika vermutlich keines der acht MDGs errei- Wirtschaft wird immer wieder auf die ungeklärten Zu- chen. Neben einigen Fortschritten treffen uns auch immer ständigkeiten bei den beteiligten Ministerien – BMZ, wieder Rückschritte. Uns bleibt noch viel zu tun! BMG und BMBF – verwiesen. Darüber hinaus muss ein Die Zahlen verdeutlichen die enormen Herausforde- Konzept von der Bundesregierung vorgelegt werden, das rungen, vor denen wir stehen: In Subsahara-Afrika liegt gemeinsam mit Wissenschaft, Wirtschaft und Politik erar- (B) die Kindersterblichkeit bei 160 Todesfällen pro 1 000 Le- beitet wird. Denn Wirtschafts- und Wissenschaftsförde- (D) bendgeburten. Jedes sechste Kind stirbt vor dem Errei- rung bringt auch für die Entwicklungszusammenarbeit chen des fünften Lebensjahrs, viele an tropischen Krank- Vorteile. Diese Win-win-Situation für alle Seiten muss un- heiten. Allein durch HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose ser Ziel sein. Wir fordern ganz klar die Bundesregierung und andere tropische Krankheiten gehen jedes Jahr auf, in diesem Bereich ihrer Verantwortung gerecht zu 140 Millionen Lebensjahre in Gesundheit verloren. werden. Hinzu kommen Sterbefälle durch vermeidbare und leicht behandelbare Krankheiten wie Durchfallerkrankungen, Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): hervorgerufen durch schlechte oder nichtvorhandene sa- Mit den Worten „Wir wollen wieder zur Apotheke der nitäre Einrichtungen. Eine bisher wenig beachtete Todes- Welt werden“ verkündete Staatssekretär Meyer-Krahmer ursache stellen armutsbedingte Tropenkrankheiten wie im vergangenen Jahr die Sieger des 100 Millionen Euro Wurmerkrankungen, Flussblindheit, Denguefieber oder schweren Bio-Pharma-Wettbewerbs des Forschungsmi- auch die Schlafkrankheit dar. Wenn auch nicht immer le- nisteriums. Die drei hochdotierten öffentlich-privaten bensbedrohlich, sind diese Krankheiten mit viel Leid, Be- hinderungen und Beeinträchtigungen im Alltag der Be- Projekte befassen sich mit der effizienten Umsetzung von troffenen verbunden. Die Zahl der Menschen, die unter Ergebnissen der Grundlagenforschung in den Pharma- tropischen Krankheiten leidet, ist erschreckend hoch und markt – das Stichwort heißt Wertschöpfung. Apotheke der vielen nicht bewusst: Eine Milliarde Menschen leidet un- Welt sein zu wollen, heißt das aber nicht etwas anderes, ter tropischen Krankheiten. Für die meisten gibt es bisher als „dem Pharmastandort neue Impulse zu geben“, wie noch keine oder nur unzureichende Therapiemöglichkei- es der Staatssekretär ebenfalls in dem Zusammenhang er- ten. klärte? Besonders die Bekämpfung von vernachlässigten Apotheken nehmen Apothekerpreise, so hat es zumin- Krankheiten muss mit verstärkten Anstrengungen ange- dest der Volksmund festgestellt, Preise also, die weit über gangen werden. Wir haben uns bereits im letzten Jahr in denen liegen, die Menschen in ärmeren Regionen bezah- einer Debatte mit diesem Thema befasst. Leider sind die len können. Trotzdem rentieren sich die Preise, denn in Ergebnisse der Bundesregierung in diesem Bereich mehr den wohlhabenden Ländern sind sie bezahlbar. Und da- als ernüchternd. Lediglich eine Etaterhöhung im Bundes- mit die Verwertungskette in diesen Gegenden nicht ins ministerium für Bildung und Forschung um 3 Millionen Stocken gerät, setzen die Pharmafirmen ihre Patente und Euro für den Bereich der vernachlässigten Krankheiten Verwertungsrechte anderswo auch mithilfe von Gerichten ist für das Jahr 2009 zu verzeichnen. Anstrengungen se- durch. Aktuell verklagt der deutsche Bayer-Konzern die hen für mich anders aus. indische Regierung, weil diese die Lizenz zur Herstellung

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22875

Dr. Petra Sitte (A) eines Krebsmedikamentes an einen einheimischen Her- in der Dritten Welt zu machen. Stellen Sie mindestens (C) steller erteilt hatte, obwohl noch Patentschutz besteht. zehn Prozent der verausgabten Mittel direkt in den Dienst Nach der Indienreise des Forschungsausschusses weiß des Kampfes gegen die in armen Ländern vorherrschen- ich, was dort trotz des wirtschaftlichen Wachstums für ein den Krankheiten! Ohnehin steigt aufgrund der Investi- unglaubliches Elend herrscht. Eine Mehrheit der Bevöl- tionszurückhaltung der Industrie der Anteil öffentlicher kerung kämpft um das tägliche Überleben. Es ist ein Mittel in der Pharmaforschung – besonders im Grundla- Skandal, dass eine Firma wie Bayer ihre monopolisti- genbereich. Das gibt der öffentlichen Hand auch Gestal- schen Rechte auf gerichtlichem Wege durchzusetzen ver- tungsspielräume bei dem Umgang mit Patenten und an- sucht, obwohl Indien der wichtigste Generikalieferant deren Rechten am sogenannten geistigen Eigentum. Der nicht nur für die eigene Bevölkerung, sondern für viele Fall des neuen Tuberkulose-Impfstoffes VPM 1002 ging arme Länder Südostasiens ist. Wenn die Aufgabe der Ende letzten Jahres bundesweit durch die Presse. Hier „Apotheke der Welt“ darin besteht, Medikamente nur den wurde am öffentlich finanzierten Max-Planck-Institut für wohlhabenden Regionen zur Verfügung zu stellen, um die Infektionsbiologie ein aussichtsreicher Wirkstoff entwi- schon jetzt exorbitanten Gewinne noch zu steigern, dann ckelt, dessen Exklusivlizenz dann vom federführenden müsste ehrlicherweise von Deutschland als „Apotheke Wissenschaftler zur weiteren klinischen Prüfung an die der Reichen dieser Erde“ gesprochen werden. ebenfalls öffentlich finanzierte Vakzine Projekt Manage- Diese Rolle spiegelt sich auch in der Forschung wider: ment VPM GmbH verkauft wurde – übrigens für 40 000 die Organisationen Ärzte ohne Grenzen und Oxfam ha- Euro und in dem guten Glauben, dass der Wirkstoff auch ben im vergangenen Jahr das Engagement Deutschlands weitestmöglich zur Anwendung kommt. Mittlerweile be- bei der Suche nach neuen Wirkstoffen und Diagnostika trägt der Marktwert dieser Lizenz nach Schätzungen etwa für die sogenannten Armutskrankheiten wie etwa Tuber- fünf Millionen Euro. Dieses Geld könnte die VPM gut ge- kulose, Malaria und Cholera untersucht. Beide Studien brauchen, denn sie soll sich ab 2010 aus ihren eigenen Li- kommen zu einem niederschmetternden Ergebnis: zenzeinnahmen tragen. Den maximalen Preis bekommt Deutschland tut viel zu wenig. Lediglich 0,12 Prozent des sie jedoch nur, wenn ein Pharmakonzern eine globale Ex- Forschungshaushaltes wurden 2007 im Kampf gegen ver- klusivlizenz erwerben kann, ohne den Zwang zur preis- nachlässigte Krankheiten aufgewendet. Auch das Bei- werten Abgabe des Impfstoffs etwa in armen Ländern. spiel Tuberkulose zeigt den mangelnden Einsatz Deutsch- Und hier beginnt die Verantwortung des Forschungsmi- lands: Inklusive der eingeworbenen EU-Mittel wurden nisteriums: Die Aufgabe dieser mit Steuergeld finanzier- 9,5 Millionen Euro im Kampf gegen TBC ausgegeben, ten Wissenstransferagenturen wie VPM darf nicht nur die obwohl sich die Gefahr durch neue resistente Erreger mundgerechte Belieferung der Industrie sein. Nachhal- stark vergrößert hat und mittlerweile auch in Europa wie- tige Innovationspolitik muss den größtmöglichen Ge- (B) der eine große Rolle spielt. Selbst die private Gates-Stif- meinnutzen der Anwendung von Forschungsergebnissen (D) tung hat mehr als das Sechsfache ausgegeben, von den im Blick haben. Unser Antrag fordert, dass der Impfstoff 140 Millionen Euro des US-amerikanischen Staates ganz VPM 1002 nur unter der Auflage eines preisgünstigen zu schweigen. Zugangs für arme Länder an einen Pharmahersteller ver- Wir haben es sehr begrüßt, dass die Koalition im lau- kauft werden darf und dass in Zukunft diese Lizenzen zu- fenden Haushalt drei Millionen Euro zusätzlich zur Be- dem in sogenannte Patentpools für die Generikaherstel- kämpfung vernachlässigter Krankheiten eingestellt hat. lung eingebracht werden. Das ist jedoch nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein, insbesondere im Vergleich mit anderen Pharmaprojekten An guten Ideen zum Wissenstransfer in die Anwendung des Forschungsministeriums wie dem schon genannten mangelt es nicht – wie das eben erwähnte Beispiel des Biopharmawettbewerb. Ist es nicht fraglich, dass das Patentpools zeigt. Dieser bündelt eingebrachte Patente, Millenniumsziel der weltweiten Bekämpfung von Infekt- für die zuvor eine pauschale Gebühr entrichtet wurde, ionskrankheiten an zu wenig Forschungsmitteln und rest- und macht so die Herstellung von preiswerten Kombina- riktiver Patentanwendung scheitert, während die deut- tionspräparaten möglich. Die Bundesregierung sollte zu- sche Pharmaindustrie mit den insgesamt 800 Millionen dem aktiv und auch finanziell die Entwicklung so- Euro der „Pharmainitiative“ ins Biotech-Zeitalter hi- genannter Produktentwicklungspartnerschaften für die neinsubventioniert werden soll? Herstellung preiswerter Medikamente unterstützen. Es ist beschämend, dass dies wegen interministerieller Abstim- Wir haben es mit einem drastischen Marktversagen zu mungsschwierigkeiten bisher nicht gelungen ist. Wir ha- tun, denn es sind die Investitionsentscheidungen der Un- ben in unserem Antrag weitere Vorschläge gemacht, wie ternehmen, die ein stärkeres privates Engagement gegen im Sinne des Millenniumsziels der Bekämpfung von die Armutskrankheiten verhindern. Warum sollte eine Krankheiten in den armen Regionen dieser Welt in der Firma mit Gewinninteresse an Krankheiten forschen, die deutschen Forschungspolitik umgesteuert werden kann. in Gegenden praktisch ohne Kaufkraft vorkommen? An Dass weltweit nur zehn Prozent der Forschungsmittel für dieser Stelle sind massive öffentliche Mittel gefragt, um Krankheiten ausgegeben werden, die neunzig Prozent der ein strukturelles Problem der Arzneimittelversorgung in privater Hand wenigstens abzumildern. Menschen betreffen, ist eine nicht hinnehmbare Unge- rechtigkeit. Der HIV-Experte der WHO, Kevin de Cock, Der hier debattierte Antrag meiner Fraktion fordert hat recht, wenn er sagt: „Der Schutz vor den großen In- die Bundesregierung auf, aus der „Pharmainitiative für fektionskrankheiten AIDS, Tuberkulose und Malaria Deutschland“ auch eine Pharmainitiative für Gesundheit muss endlich ein universelles Recht sein.“

Zu Protokoll gegebene Reden 22876 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Petra Sitte (A) Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wieder in neuer Form zu uns zurück. Folge in diesem Teu- (C) Vernachlässigte Krankheiten gelten deshalb als ver- felskreis: Die heute erhältlichen Medikamente sind mitt- nachlässigt, weil sie schlecht erforscht sind und mit ver- lerweile veraltet, haben starke Nebenwirkungen und ei- alteten Methoden bekämpft werden. Deswegen ist es nen zweifelhaften Therapieerfolg. Wir begrüßen daher, wichtig, dass dieses Thema immer wieder aufgegriffen dass zurzeit ein neuer Tuberkulose-Impfstoffkandidat aus wird. Deswegen haben wir auch kürzlich eine Kleine An- der Grundlagenforschung des Max-Planck-Institutes in frage zur Entwicklung von Tuberkulose- und Malaria- die klinische Phase übergegangen ist. Impfstoffen an die Bundesregierung gestellt. Auch zu den vielfältigen möglichen Anreizen gibt die Es ist richtig, dass das Parlament über den Zusam- Weltgesundheitsorganisation Empfehlungen. Wir bezie- menhang von Pharmainnovationen und vernachlässigten hen uns hierbei nicht nur auf Patente – die auch ein An- Krankheiten in Entwicklungsländern diskutiert. Dazu reiz zur Entwicklung neuer Medikamente sind, die aber bietet der vorliegende Antrag eine gute Gelegenheit. aus unserer Sicht auf keinen Fall armen Menschen den Allzu oft wird vergessen, welch ungeheure Verbesserung Zugang zu lebensnotwendigen Medikamenten verwehren der Lebensumstände in Entwicklungsländern ein Durch- dürfen. Auch andere Anreize sind zu prüfen: Der Antrag bruch in der Pharmaforschung bringen könnte. Unser der Linken erwähnt Forschungspreise, die auch wir un- Grundziel ist es, die Verbesserung der Lebensumstände terstützen. Auch Aufkaufverpflichtungen, die sogenann- der Menschen in Entwicklungsländern zu erreichen. ten Advanced Market Commitments, wären ein möglicher Dazu gehört natürlich – wie in den Millenniumsentwick- Anreiz. Wir fanden es schon 2007 sehr schade, dass die lungszielen beschrieben – auch und entscheidend eine Bundesregierung anders als Großbritannien, die USA, Verbesserung des Gesundheitszustands der Menschen. Kanada und Italien nicht bereit war, die Entwicklung ei- Dringend notwendig sind hierfür eine verbesserte Infra- nes für Entwicklungsländer nutzbaren Impfstoffes gegen struktur und eine bessere Gesundheitsversorgung; insbe- Pneumokokken nicht nur rhetorisch, sondern auch finan- sondere der Fachkräftemangel im Gesundheitssystem ist ziell zu unterstützen. An Pneumokokken, die Lungen- und ein Problem, das dringend angegangen werden muss. Hirnhautentzündung auslösen können, sterben in Ent- Heute allerdings nehmen wir das Problem der soge- wicklungsländern vor allem Kinder unter fünf Jahren. nannten vernachlässigten Krankheiten in den Blick. Die Den größten Erfolg allerdings verspricht die Stärkung Weltgesundheitsorganisation hat bereits in ihrem am der öffentlichen Forschung über vernachlässigte Krank- 24. Mai 2008 verabschiedeten Strategiepapier weitrei- heiten. Die Initiative DNDi, die Drugs for Neglected Di- chende Empfehlungen für die Stärkung von Forschung seases Initiative, ist eine Produktentwicklungspartner- und Entwicklung zu vernachlässigten Krankheiten und schaft, die von Anfang an sicherstellt, dass öffentliche (B) den Zugang zu Medikamenten abgegeben. Bislang ist lei- Mittel, die in die Forschung zum Beispiel an Medikamen- (D) der zu wenig zur Umsetzung geschehen. Die Entwicklung ten gegen Malaria investiert werden, auch definitiv dazu neuer Arzneimittel kostet viel Geld und viel Zeit. Ergeb- dienen, einen breiten öffentlichen Zugang zu eben diesen nis: Pharmaunternehmen in den Industrieländern ver- Medikamenten zu ermöglichen. nachlässigen die Armutskrankheiten in ihrer Forschung, da ihnen die Entwicklung von Medikamenten hierfür ge- Und hier komme ich zum Hauptproblem: der Preisge- ringere Aussichten auf Gewinne verspricht, denn der staltung bei Medikamenten. Häufig verhindert ein zu ho- größte Teil der potenziellen Käuferinnen und Käufer ist her Preis, dass Menschen in Entwicklungsländern sich arm. Aus dem gleichen Grund sind auch vorhandene Me- die notwendigen Medikamente tatsächlich leisten kön- dikamente oft nicht auf die Bedürfnisse der Menschen in nen. Pharmaunternehmen sind hier in der Mitverantwor- Entwicklungsländern zugeschnitten, sind nicht hitzebe- tung. Denn sie greifen auf Grundlagenforschung zurück, ständig, nicht für Kinder geeignet oder schlichtweg zu die fast immer auch durch öffentliche Mittel finanziert ist. teuer. Von den zwischen 1975 und 2004 neu entwickelten 1 556 Medikamenten entfielen gerade mal 18 neue Medi- Die Bundesregierung muss ihren Einfluss dahin ge- kamente auf die tropischen Armutskrankheiten und drei hend geltend machen, dass Institute wie die Vakzine Pro- auf Tuberkulose. jekt Management GmbH (VPM), die derzeit mit öffentli- chen Mitteln die Entwicklung eines Tuberkulose- Angesichts dieser Situation muss es neue Anreize zur Impfstoffes vorantreibt, in der Zukunft auch ihre Lizenz- Forschung an Arzneimitteln für vernachlässigte Krank- verträge so gestalten, dass ein erleichterter Zugang von heiten geben, und ich erinnere hierbei auch an die Schlaf- Entwicklungsländern zu den von der VPM mitentwickel- krankheit, Chagas, Leishmaniose und Flussblindheit. Es ten Impfstoffen gesichert ist. Die Bundesregierung sollte ist nicht hinnehmbar, dass zum Beispiel gegen Tuberku- außerdem einfordern, dass die drei mit dem Themenkom- lose, die zusammen mit HIV/Aids und Malaria eine der plex der Forschung für vernachlässigte Krankheiten be- tödlichsten Krankheiten ist, an denen jährlich 6 Millio- trauten Ministerien (für Gesundheit, für Bildung und nen Menschen sterben, seit Jahrzehnten keine neuen Me- Forschung sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit dikamente entwickelt wurden. Die Krankheit hingegen und Entwicklung) ihre sich zum Teil überschneidenden hat sich sehr wohl weiterentwickelt: Die unsachgemäße Aufgaben besser koordinieren und ihre jeweiligen Zu- Behandlung von Tuberkulose oder der vorzeitige Ab- ständigkeiten auch für Außenstehende klarer definieren. bruch von Therapien wegen mangelhafter Begleitung führen wiederum dazu, dass es mittlerweile multiresis- Armutskrankheiten müssen endlich als eine globale tente Erreger gibt. Zudem kommt die Tuberkulose, die in Aufgabe angesehen werden und auch als solche angegan- unseren Breiten als ausgerottet galt, inzwischen auch gen werden. Das erfordert eine kooperative Zusammen-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22877

Ute Koczy (A) arbeit von staatlichen und multilateralen Institutionen, 30 Prozent würden sich gerne engagieren, wenn es pas- (C) von Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. sende Angebote gäbe. Das BMFSFJ hat daher in den vergangenen Jahren Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: eine Vielzahl von Projekten initiiert, um das Miteinander Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der Generationen zu fördern. Ich nenne exemplarisch die Drucksache 16/12291 an die in der Tagesordnung aufge- Mehrgenerationenhäuser und die neuen Freiwilligen- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- dienste aller Generationen. Zudem wurden zahlreiche verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos- Vorschläge der Enquete-Kommission „Zukunft des Bür- sen. gerschaftlichen Engagements“ bereits in der letzten Le- gislaturperiode umgesetzt. Der Enquete-Bericht sieht Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf: Engagementförderung als Querschnittsaufgabe an, die Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- durch stärkere Kooperation von Verwaltung, Politik und richts des Ausschusses für Familie, Senioren, Fachressorts sowie ressortübergreifende Vernetzung von Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An- staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren und Or- trag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD ganisationen bestmöglich umgesetzt werden könne. Bürgerschaftliches Engagement umfassend Auch wurde der Unterausschuss „Bürgerschaftliches fördern, gestalten und evaluieren Engagement“ eingesetzt. Viele von den Engagementpoli- tikern sind dort Mitglied und haben auch daran mitgear- – Drucksachen 16/11774, 16/12202 – beitet, dass im Rahmen des im Jahr 2007 verabschiedeten Berichterstattung: Gesetzes zur weiteren Stärkung des bürgerschaftlichen Abgeordnete Markus Grübel Engagements die steuer- und gemeinnützigkeitsrechtli- Sönke Rix chen Rahmenbedingungen erheblich verbessert wurden. Sibylle Laurischk Mit der Initiative „ZivilEngagement“ soll durch eine Elke Reinke Vielzahl von Maßnahmen Engagementpolitik wirksam Ekin Deligöz gestaltet werden. Ziel ist eine abgestimmte Strategie zur Weiterentwicklung einer nationalen Engagementpolitik Die Reden der Kolleginnen und Kollegen Markus mit unterschiedlichen Schwerpunkten, wie zum Beispiel Grübel, CDU/CSU, Sönke Rix, SPD, Sibylle Laurischk, weiterer Ausbau der bestehenden generationenübergrei- FDP, Elke Reinke, Die Linke, Britta Haßelmann, Bünd- fenden Angebote für bildungsferne Gruppen, einfach nis 90/Die Grünen, nehmen wir zu Protokoll. zugängliche Engagementangebote insbesondere für Ju- gendliche, Optimierung der Einsatzmöglichkeiten von (B) (D) Markus Grübel (CDU/CSU): Freiwilligen durch Qualifizierungsangebote und Erwei- Es gibt mehr als 23 Millionen freiwillig engagierte terung von Tätigkeitsprofilen für Engagierte. Menschen in Deutschland. Dies entspricht 36 Prozent der Bürgerschaftliches Engagement ist für gesellschaftli- über 14-jährigen Bürgerinnen und Bürger. Ohne sie che Integration, wirtschaftliches Wachstum, Wohlstand würde das Zusammenleben, wie wir es kennen, nicht und stabile demokratische Strukturen unerlässlich. Enga- funktionieren. Das klingt gut; wenn man jedoch genau gementpolitik berührt alle relevanten Politikfelder und hinsieht, muss man feststellen, dass sich das klassische alle staatlichen Ebenen. Bund, Länder und Kommunen Ehrenamt in einer Krise befindet. Immer weniger Men- müssen Rahmenbedingungen wirkungsorientiert fördern, schen sind bereit, sich langfristig und zeitaufwendig in die zivilgesellschaftliche Organisationen als Träger bür- Verbänden, Vereinen, in kirchlichen Institutionen etc. zu gerschaftlichen Engagements, Unternehmen und nicht binden bzw. freiwillig zu engagieren. 53 Prozent der Be- zuletzt die engagierten Bürgerinnen und Bürger für bür- völkerung sind in keiner Organisation Mitglied. gerschaftliches Engagement benötigen. Zur Förderung zählt ausdrücklich auch eine verstärkte öffentliche Wert- Für diese Menschen müssen neue Anreize, Möglich- schätzung bürgerschaftlichen Engagements. keiten geschaffen werden, sich einzubringen. Gerade beim Engagement der Jugend liegen große Potenziale. Die Anerkennung des freiwilligen Einsatzes der Enga- Jedoch engagieren sich von den 16-Jährigen gerade ein- gierten ist von besonderer Bedeutung. Es bedarf einer mal 20 Prozent freiwillig. Bei den 14-Jährigen sind es so- Kultur der Anerkennung, in der bürgerschaftliches Enga- gar nur 18 Prozent. Bei den älteren Jugendlichen zeichnet gement einen Wert an sich darstellt und zu einer Selbst- sich wieder ein höheres Interesse ab, zumindest wenn verpflichtung wird. Dazu ist ein gesamtgesellschaftliches man das Interesse an den Jugendfreiwilligendiensten, die Umdenken vonnöten. Die Leitidee einer Bürgergesell- wir im letzten Jahr gesetzlich neu geregelt haben, zu- schaft und die verschiedenen Facetten des bürgerschaft- grunde legt. 23 000 junge Menschen engagieren sich hier. lichen Engagements – ihr Wert für die Engagierten und für die Gesellschaft – müssen zukünftig deutlich heraus- Darüber hinaus müssen wir die Potenziale der Rent- gestellt werden. ner und Pensionäre verstärkt mit einbeziehen. Statistisch gesehen, verbringt ein Rentner ein Viertel seines Lebens Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir die Voraus- im Ruhestand. Viele Menschen, auch im hohen Alter, wol- setzungen für eine regelmäßige wissenschaftliche Be- len gesellschaftliche Aufgaben übernehmen. Wir benöti- richterstattung zum bürgerschaftlichen Engagement gen also die „aktiven Alten“. Heute sind bereits über durch eine Sachverständigenkommission ab der nächsten 30 Prozent von ihnen freiwillig engagiert. Weitere Legislaturperiode schaffen. Der Forschungsbericht von 22878 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Markus Grübel (A) unabhängigen Wissenschaftlern soll – auf Schwerpunkte Ohne Frage haben wir in den letzten Jahren schon da- (C) konzentriert – die Entwicklung des bürgerschaftlichen mit angefangen. Denn das Thema bürgerschaftliches En- Engagements und den Stand der Engagementpolitik ein- gagement hat die SPD in den letzten zehn Jahren immer schließlich der politischen, rechtlichen und gesellschaft- weiter in den Vordergrund gerückt. Auf Initiative der lichen Rahmenbedingungen einmal pro Legislaturperi- SPD-Fraktion wurde die Enquete-Kommission zur Zu- ode aufzeigen. Ihm soll außerdem eine Stellungnahme der kunft des bürgerschaftlichen Engagements eingesetzt. Bundesregierung angefügt werden. Mit der Berichterstat- Deren Arbeit hat deutlich gezeigt: Das Thema bürger- tung soll erreicht werden, die Diskussion über das bür- schaftliches Engagement ist ein Querschnittsthema. Fast gerschaftliche Engagement noch tiefer im öffentlichen alle und damit auch die unterschiedlichsten Politikberei- Bewusstsein zu verankern und die in der Gesellschaft vor- che haben Einfluss auf die Entfaltungsmöglichkeiten des handenen Potenziale für bürgerschaftliches Engagement bürgerschaftlichen Engagements. Das fängt an bei den fi- zu mobilisieren und zu nutzen. Zudem ist der Bericht für nanziellen Rahmenbedingungen, geht über die Anerken- die Entwicklung einer ressortübergreifenden Engage- nung, die wir den Engagierten entgegenbringen, und mentstrategie wichtig und wird Informationen und Emp- führt bis zu der Frage, wie viel Hauptamtlichkeit und wie fehlungen liefern, um die richtigen Weichen zu stellen und viele Netzwerke wir brauchen, um dafür zu sorgen, dass Bedarfe und Möglichkeiten, aber auch Hindernisse für das Engagement auch gut organisiert ist. Und so ist auch Engagement aufzeigen. die Förderung des Engagements ein Querschnittsthema. Ein Vorläuferbericht für die regelmäßige Berichter- Das berücksichtigt auch der Antrag. Hier heißt es: stattung, der den Beitrag des bürgerschaftlichen Engage- „Der Bericht sieht die Engagementförderung als Quer- ments zur Bewältigung sozialer Aufgaben unter besonderer schnittsaufgabe an, die durch stärkere Kooperation von Beachtung der Familie und bei Familien unterstützenden Verwaltung, Politik und Fachressorts sowie ressortüber- Dienstleistungen untersucht, wird im Mai 2009 erschei- greifende Vernetzung von staatlichen und zivilgesell- nen. schaftlichen Akteuren und Organisationen sowie der Wirtschaft bestmöglich umgesetzt werden könne.“ Diese Bedauerlicherweise ist kein interfraktioneller Antrag beiden Aspekte – Kooperation und Vernetzung – halte ich zustande gekommen, wie ursprünglich angedacht, da die für die wichtigsten. Einen Beitrag dazu leistet bereits seit anderen Fraktionen sich entweder in Enthaltung oder Ab- sechs Jahren der Unterausschuss „Bürgerschaftliches lehnung üben. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass durch Engagement“. Die Kolleginnen und Kollegen, die wie ich die regelmäßige Berichterstattung eine verstärkte Wahr- Mitglied dieses Unterausschusses sind, wissen: Hier tref- nehmung des Themas in der Öffentlichkeit erreicht und fen sich regelmäßig Akteure aus der Zivilgesellschaft, aus bürgerschaftliches Engagement weiter ausgebaut und ge- der Verwaltung und der Regierung und berichten über (B) fördert werden kann. ihre Erfahrungen und Initiativen. Eine stärkere Vernet- (D) zung ist dadurch möglich, wenn sie auch eher durch inof- fizielle Gespräche am Rand dieses Gremiums entstehen Sönke Rix (SPD): mag als durch die öffentliche Sitzung. Heute verabschieden wir den Antrag, der von den Ko- Der Bericht kann helfen, die Arbeit des Unteraus- alitionsfraktionen eingebracht wurde. Der Titel „Bürger- schusses zusammenzutragen und auch neue Denkanstöße schaftliches Engagement umfassend fördern, gestalten zu geben. Aufgrund der demografischen Entwicklung, der und evaluieren“ lässt erst einmal nicht vermuten, dass es gerade zurzeit unsicheren Lebensverhältnisse und der sich im Kern um eine regelmäßige Berichterstattung han- neuen Anforderungen, die sich an die Gesellschaft und je- delt. Beim zweiten Hinsehen erschließt sich das aber den Einzelnen stellen, werden sich auch die Strukturen schon. Denn um überhaupt das bürgerschaftliche Enga- des Engagements verändern. Diese müssen wir beobach- gement umfassend fördern und gestalten zu können, be- ten. Dazu dient zurzeit der Freiwilligensurvey, den es nötigen wir eine regelmäßige Bestandsaufnahme und meiner Meinung nach auch weiterhin als wichtigste Da- Evaluation. So möchte ich das, was ich bereits im Aus- tengrundlage in diesem Bereich geben muss. Der ge- schuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend in der plante Bericht kann aber über die Fakten, wer sich wie letzten Sitzungswoche betont habe, auch hier noch einmal und warum engagiert, hinaus eine ganz andere Schwer- deutlich machen: punktsetzung unter unterschiedlichen Fragestellungen Eine regelmäßige Berichterstattung zum Themenge- betreiben. Hieraus ergeben sich dann ganz konkrete Auf- gaben für die Politik – so wünsche ich es mir jedenfalls. biet bürgerschaftliches Engagement ist nützlich und sinn- voll, zumindest dann, wenn wir unserem Anspruch ge- Eine weitere Aufgabe, die der Bericht leisten kann, ist, recht werden wollen, die Rahmenbedingungen für dem bürgerschaftlichen Engagement noch mehr Auf- Engagierte stetig zu verbessern und einer aktiven Bürger- merksamkeit zu verschaffen. In den letzten zehn Jahren gesellschaft die Steine aus dem Weg zu räumen, die es wurden auch dafür schon die Grundsteine gelegt, nicht mancherorts noch gibt. Dabei war es meiner Fraktion äu- nur im Parlament, sondern auch durch die Organisatio- ßerst wichtig, dass der Bericht von einer unabhängigen nen selbst. Und an dieser Stelle möchte ich mich aus- Expertenkommission erstellt wird und so unvoreingenom- drücklich beim BBE bedanken, denn das leistet mit der men wie möglich erarbeitet werden kann. Der Bericht soll Woche des bürgerschaftlichen Engagements jedes Jahr Problemlagen aufdecken und durch eine immer andere einen unschätzbaren Beitrag für eine breite Öffentlichkeit Schwerpunktsetzung unseren Blick für das bürgerschaft- und mehr Anerkennung für alle Engagierten. Um weiter liche Engagement schärfen. auf diesem guten Weg zu bleiben, um Problemlagen er-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22879

Sönke Rix (A) kennen und lösen zu können, um Engagierten die Rah- Leider beweihräuchert der vorliegende Antrag die Ar- (C) menbedingungen zu schaffen, die sie benötigen, brauchen beit der Bundesregierung. Weiterhin fordern Sie in Ihrem wir diesen unabhängigen Bericht. Antrag einen Bericht. Nun ist die FDP nicht generell gegen einen solchen Bericht, die Vorgehensweise ist jedoch atem- Sibylle Laurischk (FDP): raubend. Der Bericht ist längst in Auftrag gegeben und quasi fertiggestellt und soll bereits im Mai 2009 der Öffent- Gerade für Liberale ist bürgerschaftliches Engage- lichkeit vorgestellt werden! Nun seitens der Regierungs- ment Ausdruck einer lebendigen Bürgerkultur: einer Ge- koalition durch diesen Antrag zu suggerieren, die Initiative sellschaft, in der Probleme nicht wie selbstverständlich zur Erstellung dieses Berichts gehe von den Regierungs- bei öffentlichen Einrichtungen abgegeben werden, einer fraktionen aus, ist einfach peinlich. Fakt ist, den Bericht Gesellschaft, in der Bürger für Bürger da sind. wird es geben, egal, ob dieser Antrag angenommen oder Vor diesem Hintergrund ist es schwer, die Arbeit der abgelehnt wird. Bundesregierung im Bereich des bürgerschaftlichen Der im Antrag geforderte Bericht allein nutzt nach den Engagements zu loben. Hauptsächlicher Aktionspunkt der Erfahrungen der letzten Jahre gar nichts und dient eher Bundesregierung in dieser Legislatur war das Auswechseln der Augenwischerei. Es ist zwar durchaus bemerkens- von Begriffen. Der von der Enquete-Kommission ge- wert, dass die erstellten Berichte der verschiedenen Kom- prägte Begriff des „bürgerschaftlichen Engagements“ missionen in der Regel ein überdurchschnittliches Niveau wurde zugunsten des Begriffs „Zivilengagement“ aufge- haben, sie werden aber in ihren Anregungen lediglich zur geben. Die FDP sieht dies äußerst kritisch, da so eine all- Kenntnis genommen und nicht umgesetzt. Das Parlament gemeine Verwirrung bei Diskussionen entsteht und etwas diskutiert in der Regel erst nach Jahren über die Berichte. Neues suggeriert wird, obwohl alles beim Alten bleibt. Es gilt die Faustregel: Je besser der Bericht, desto länger Neben dieser babylonischen Begriffsverwirrung ist bleibt er in der Schublade. Die sehr aufschlussreichen vor allem die Untätigkeit der Bundesregierung bei der „Altenberichte“ der Bundesregierung werden erst zwei Belastung des bürgerlichen Engagements durch die bis drei Jahre nach ihrem Erscheinen behandelt. Ich for- Mehrwertsteuer fatal. Die Bundesregierung nimmt die dere deshalb von der Bundesregierung, mit Vorlage des durch die Finanzämter neuerdings entdeckte Mehrwert- Berichts zum bürgerschaftlichen Engagement auch Vor- steuerbelastung des bürgerschaftlichen Engagements hin schläge zu dessen Umsetzung zu machen. und tritt dieser Entwicklung nicht entschieden entgegen: Es ist erstaunlich, dass sowohl bei den Jugendfreiwilli- Elke Reinke (DIE LINKE): gendiensten als auch bei den Sponsoringaktivitäten durch Die Wichtigkeit und die Unverzichtbarkeit des bürger- Unternehmen dies seit Jahrzehnten unbeanstandet von schaftlichen Engagements dürften nicht nur uns Abgeord- (B) (D) den Finanzbehörden stattfand. Nach Auffassung des neten, sondern allen Bürgerinnen und Bürgern bekannt BMF bzw. eines Finanzamtes ist dies nun anders. So liegt sein. Viele Vereine oder Verbände wären ohne vorbildli- zum Beispiel in der kostenlosen Überlassung von ches ehrenamtliches Engagement kaum überlebensfähig. Telefondienstleistungen der Deutschen Telekom an die Die Linke wehrt sich aber dagegen, dass ihr unterstellt Telefonseelsorge ein der Umsatzsteuer unterliegendes wird, jede Kritik am bürgerschaftlichen Engagement, Tauschgeschäft vor. Das BMF konstruiert aus dem bürger- speziell an Gesetzen oder Anträgen zu diesem Thema, schaftlichen Engagement von Unternehmen nun tausch- gehe mit einer Geringschätzung oder gar Ablehnung des- ähnliche Umsätze, da zum Beispiel auf der Internetprä- selben einher. Gerade weil sich die Linke für eine bessere senz der Telefonseelsorge darauf verwiesen wird, dass die Ausgestaltung, Anerkennung und Evaluierung des bür- Telekom der Partner der Telefonseelsorge ist. Aus einem gerschaftlichen Engagements einsetzt, ist gegen den im Hinweis auf den Sponsor nun ein steuerliches Tausch- Antrag von Union und SPD geforderten regelmäßigen geschäft zu konstruieren, steht im krassen Gegensatz zu wissenschaftlichen Bericht grundsätzlich nichts einzu- den Bemühungen, mehr Unternehmen für Engagement im wenden. Das Thema „bürgerschaftliches Engagement“ gesellschaftlichen Bereich zu gewinnen. Es ist sogar im muss von der politischen Bühne noch stärker in die öffent- staatlichen Interesse, dass auf den Sponsor hingewiesen liche Diskussion rücken; es muss bei den Menschen noch wird. Nur so können andere Unternehmen über die Stei- mehr Interesse geweckt werden. Ein regelmäßiges, auf gerung von Ansehen und Prestige dazu bewegt werden, breiterer Basis debattiertes Berichtswesen kann dazu bei- sich gesellschaftlich zu engagieren. tragen und beispielsweise Handlungsrahmen abstecken und Empfehlungen geben. Weiterhin ist vollkommen ungeklärt, ab wann der Hin- weis auf den Sponsor einen steuerlich relevanten Tatbe- Ein solches Berichtswesen muss aber meiner Meinung stand schafft. Unterliegt es beispielsweise der Steuerpflicht, nach auch kritische Punkte ansprechen und sozial ge- wenn die dörfliche Gastwirtschaft ihre Mikrofonanlage rechte Lösungen aufzeigen. Ich befürchte, dass dies aus dem Festsaal einem örtlichen Sportverein kostenlos – wenn überhaupt – nur unzureichend geschehen wird. für das Fußballturnier leiht und sich dieser Verein auf Einen Vorgeschmack gibt ja bereits der vorliegende An- dem Fußballfeld deutlich hörbar über die Mikroanlage trag. Hierin wird stolz berichtet, dass das Bundesfamili- dafür bedankt? Ist dies Werbung oder bürgerschaftliches enministerium einen Bericht in Auftrag gegeben hat, der Engagement? Wenn das Gebaren einiger Finanzbehörden – ich zitiere – „den Beitrag des bürgerschaftlichen Enga- Schule macht, ist mit einem deutlichen Rückgang solcher gements zur Bewältigung sozialer Aufgaben“ unter- Sponsoringaktivitäten zu rechnen. Dies wird dem Ehren- suchen soll. Ja, das Ehrenamt leistet dazu einen bedeu- amt erheblichen schaden. tenden Beitrag; es ist gesellschaftlich und unter

Zu Protokoll gegebene Reden 22880 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Elke Reinke (A) demokratischen Gesichtspunkten sinnvoll und notwen- lienausschusses“ unter Drucksache 16/12202. Warum (C) dig. Aber wo genau liegen die Grenzen? Wie weit m u s s denken Sie die Dinge nicht vorher zu Ende, bevor Sie sie und d a r f bürgerschaftliches Engagement überhaupt so- auf den Weg bringen? Bei Ihnen ist keine klare Richtung, ziale Aufgaben bewältigen? Oder gibt es nicht noch an- kein Gesamtkonzept zur Stärkung und Anerkennung bür- dere Institutionen, die sich ebenfalls der sozialen Verwer- gerschaftlichen Engagements erkennbar. Ihr einziges fungen unserer Zeit annehmen sollten? Konzept ist die Konzeptlosigkeit – wie auf vielen anderen Politikfeldern auch. Angesichts der Sozial- und Verteilungspolitik der ver- gangenen Jahre sollte jeder, der Ähnliches wie das oben Insgesamt enthält sich die Fraktion Die Linke zu Ihrem Zitierte hört oder liest, sehr misstrauisch werden. Wir ha- Antrag, weil gegen die zentrale Forderung kaum etwas ben es Ihnen wiederholt gesagt: Bürgerschaftliches En- einzuwenden ist. Es ist für uns aber immer wieder aufs gagement ist für die Linke kein Ersatz für eine gerechte Neue verwunderlich, wie realitätsfern und vor allem Steuer- und Sozialpolitik! Unbezahlte Arbeit kann keine gänzlich unkritisch die Regierungskoalition mit wichti- gerechte Verteilungspolitik ersetzen und die weit ausein- gen gesellschaftspolitischen Themen umgeht. Obwohl wir anderklaffende Schere zwischen Arm und Reich schlie- bürgerschaftliches Engagement unterstützen und för- ßen. Auch eine „Initiative ZivilEngagement“ hält eine dern, werden wir auch weiterhin unbequeme Wahrheiten immer stärker gespaltene Gesellschaft nicht zusammen. ansprechen. Der Staat darf nicht immer mehr der Möglichkeiten be- raubt werden, selbst gestaltend aktiv zu werden. Der Ab- Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bau der öffentlichen Daseinsvorsorge ist dabei ganz be- stimmt der falsche Weg! Unsere Fraktion wird dem Antrag der Großen Koali- tion nicht zustimmen. Der Grund dafür liegt nicht etwa in Es ist bedenklich, wenn bei den Bürgerinnen und Bür- der Forderung nach einem regelmäßigen wissenschaftli- gern das Gefühl aufkommt, die Regierung fördert ehren- chen Bericht zum bürgerschaftlichen Engagement. Im amtliches Engagement nur, um den eigenen Haushalt zu Gegenteil: Wir begrüßen das Einsetzen eines solchen entlasten. Gesamtgesellschaftliche Probleme dürfen aber ausdrücklich. Wie groß der Nachholbedarf in Sachen nicht auf die aufopferungsvoll tätigen Freiwilligen abge- wissenschaftlicher Befassung des Themas Bürgerschaft- wälzt werden. So will die Linke bürgerschaftliches Enga- liches Engagement ist, hat zuletzt noch einmal die Dis- gement nicht verstanden wissen! Auf eine Vermögen- kussion im Unterausschuss Bürgerschaftliches Engage- steuer wird nach wie vor verzichtet, verantwortungslose ment im Januar gezeigt, als wir uns mit dem Thema Finanzjongleure bekommen Milliarden an Euro zuge- Entwicklung von Wissenschaft, Forschung und Lehre im schustert. Die Linke fordert stattdessen einen Schutz- Bereich Zivilgesellschaft befassten. Allerdings hätten wir schirm für alle Beschäftigten sowie für sozial Benachtei- (B) uns konkretere Einzelheiten zur politischen Begleitung ei- (D) ligte. Bei ausreichender sozialer Absicherung würde nes Berichts gewünscht, ähnlich wie es bei der Nationa- auch das Ehrenamt noch stärker aufblühen. len Nachhaltigkeitsstrategie der Fall war. Es sind außerdem klare Forderungen an die Wirtschaft In Ihrem Antrag heißt es dazu, dass Sie hoffen, dass ein zu stellen. Unternehmen sonnen sich gerne im Schein des Bericht den politischen Diskurs anregen kann und das Engagiertseins, sobald es um etwas „handfestere“, Thema so in die öffentliche Wahrnehmung rücken wird. sprich finanzielle Unterstützung geht, wird sich oftmals Das wird ein frommer Wunsch bleiben. Sie müssen doch allzu schnell in den Schatten zurückgezogen. Ziel des bür- sagen, wohin die Reise gehen soll – was wollen sie denn, gerschaftlichen Engagements sollten gesellschaftliche wo sind die politischen Maßgaben, wo ihre Vorhaben? Teilhabe und Verantwortung aller Bürgerinnen und Bür- ger sein. Dies beinhaltet zugleich sozialversicherte Tätig- Sie nennen Ihren Antrag, um den es hier heute geht: keit, von der man leben kann. Ehrenamt braucht keine Bürgerschaftliches Engagement umfassend fördern, ge- Stundenlöhne, sollte aber zugleich keine regulären stalten und evaluieren. Und genau das sollten sie auch Arbeitsplätze verdrängen und ersetzen und dadurch So- tun, statt – und nun zitiere ich ihren Antrag – „das Enga- zialabbau vorantreiben. Die Linke fordert deshalb seit gement der Bundesregierung im Bereich des bürger- langem, stärker in Richtung öffentlich finanzierter Be- schaftlichen Engagements“ ausdrücklich zu begrüßen. schäftigung aktiv zu werden. Sie haben im Moment ganz offensichtlich keine Gesamt- strategie zur Förderung des bürgerschaftlichen Engage- Alles in allem hätte ich mir gewünscht, dass sich der ments. erste Bericht mit den Zugangsbarrieren – besonders für sozial Benachteiligte – zum bürgerschaftlichen Engage- Die Initiative des Bundesfamilienministeriums, die sie ment sowie mit Teilhabechancen befasst. Dies wäre zu- jetzt Zivilengagement nennen, hat es bisher nicht ge- kunftsweisend und würde tatsächliche Probleme ange- schafft, Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft hen. einzubinden. Tatsächlich scheint es ja selbst innerhalb der Koalition zwischen SPD und CDU/CSU so zu sein, In dem Antrag ist ebenfalls zu lesen, dass ein solcher dass Sie sich über wesentliche Inhalte der neuen Initiative wissenschaftlicher Bericht „nur ein erster Ansatz“ sein uneins sind. Schon längst hätte sie im Kabinett beraten kann. Wie viele „erste Ansätze“ brauchen Sie denn noch? werden sollen und wird stattdessen von Mal zu Mal ver- Von SPD-Seite wurde in der Ausschussdebatte zugege- schoben. ben, dass die exakte Ausgestaltung des Berichts im Laufe der Zeit bestimmt noch verbessert werden könne – nach- Auf unsere Kleine Anfrage vom Februar dieses Jahres zulesen in „Beschlussempfehlung und Bericht des Fami- bleiben sie die Antworten schuldig. Wesentliche Punkte,

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Britta Haßelmann (A) vom Leitbild der Zivilgesellschaft bis hin zur nachhalti- forschungsinstitute unerlässliche Informationsquellen (C) gen Finanzierung des bürgerschaftlichen Engagement, für unsere Arbeit sind. Nicht nur untersuchen die Institute sind einfach nicht ausreichend geklärt. Was aber offen- darin unsere gesamtwirtschaftliche Leistung, sie geben sichtlich bereits längst geklärt ist, ist die öffentliche Ver- auch wirtschaftspolitische Empfehlungen ab, die in un- marktung des Ganzen. Denn vergangene Woche startete sere Wirtschaftspolitik einfließen. die erste PR-Kampagne im Rahmen der Initiative Zivil- engagement. Wieder einmal hat es den Anschein, als sei In diesem Zusammenhang verstehe ich Ihre Zweiglei- dem Familienministerium der Schein wichtiger als das sigkeit, mit der Sie hier auftreten, nicht: Einerseits kriti- Sein. So wirken Sie in Sachen Engagementplan zwar en- sieren Sie solche Berichte als in der Öffentlichkeit kaum gagiert, sind aber doch ziemlich planlos. wahrgenommen und zu uneffektiv, auf der anderen Seite fordern Sie jetzt mit Ihrem Antrag, dass die Umwelt- Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen enthält sich zu berichterstattung mit in die Gemeinschaftsdiagnose auf- diesem Antrag. genommen werden soll. Ja, aber was wollen Sie denn jetzt eigentlich? In ihrer letzten Gemeinschaftsdiagnose haben Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: sich die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute dafür Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für ausgesprochen, dass der Staat in der gegenwärtigen Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt in sei- Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise Maßnahmen ergreifen ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/12202, den sollte, die der Stützung der Wachstumskräfte und der Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Belebung der Konjunktur dienen. Diesen Empfehlungen Drucksache 16/11774 anzunehmen. Wer stimmt für sind wir in den letzten Monaten gefolgt. Wir haben mit diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent- den Maßnahmen der beiden Konjunkturpakete eine aus- haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim- gewogene Mischung aus Steuersenkungen und Ausgaben- men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der erhöhungen beschlossen, mit denen wir der Wirtschaft FDP-Fraktion sowie Enthaltung vom Bündnis 90/Die eine Brücke über die schwierige Phase hinweg bauen Grünen und von der Linken angenommen. wollen. Unternehmen und Bürger werden von Abgaben und Steuern entlastet und zugleich wird die Binnenwirtschaft Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf: durch gezielte Investitionen unterstützt. Bund, Länder und Kommunen investieren 20 Milliarden Euro in Straßen und Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Thea Schienenwege, in Bildungsstätten und Bauwirtschaft. Der Dückert, Sylvia Kotting-Uhl, Dr. Wolfgang Bund hat zur Kreditversorgung deutscher Unternehmen Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und einen 100-Milliarden-Euro-Fonds aufgelegt und weitet der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sein Kreditangebot bei der KfW auf 15 Milliarden Euro aus. (B) (D) Umweltberichterstattung in die Gemein- Meine sehr verehrten Damen und Herren von den schaftsdiagnose und Begutachtung der ge- Grünen, gerade für Sie dürfte es von großem Interesse samtwirtschaftlichen Entwicklung aufnehmen sein, dass die Einführung der Umweltprämie – entgegen – Drucksache 16/11649 – Ihren Ankündigungen auch ökologisch gesehen – ein vol- ler Erfolg ist, von dem neben der Automobilwirtschaft Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) auch die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land profi- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit tieren. Denn mit der Abwrackprämie tragen wir dazu bei, dass Altautos fachgerecht entsorgt und durch umwelt- Wir nehmen die Reden der Kolleginnen und Kolle- freundlichere und energiesparendere Fahrzeuge ersetzt gen Dr. Michael Fuchs, CDU/CSU, Dr. Axel Berg, SPD, werden. Darüber hinaus haben wir bereits im Rahmen Gudrun Kopp, FDP, Dr. Herbert Schui, Die Linke, des ersten Maßnahmenpakets die Mittel für die CO2-Ge- Dr. Thea Dückert, Bündnis 90/Die Grünen, zu Proto- bäudesanierung um insgesamt 3 Milliarden Euro aufge- koll. stockt. Auch dies ist ein Beitrag, den wir trotz der schwie- rigen Zeit zum Umweltschutz leisten wollen. Soviel zur Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU): Ineffektivität und fehlenden Aufmerksamkeit, die Sie den Vor nicht einmal einem Jahr diskutierten wir hier in wirtschaftspolitischen Empfehlungen der Gutachten ver- ähnlicher Runde über mehr Transparenz beim Sachver- sucht haben zu unterstellen. Wie Sie sehen, haben wir den ständigenrat. In diesem Zusammenhang waren es auch Empfehlungen Taten folgen lassen. die Kollegen von den Grünen, die unter anderem der Gemeinschaftsdiagnose der führenden deutschen Wirt- Sie fordern jetzt mit Ihrem Antrag die Aufnahme der schaftsforschungsinstitute attestierten, dass kaum je- Umweltberichterstattung in die Gemeinschaftsdiagnose und mand diese – ich zitiere – „dicken Berichte“ zur Kenntnis Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. nehmen, geschweige denn lesen würde. Werte Kollegin- Allerdings kann ich Ihrem Antrag kein schlüssiges Kon- nen und Kollegen von den Grünen, Sie müssen ja nicht zept entnehmen, wie Sie dies umsetzen wollen, geschweige gleich aus Ihren Reihen auf andere schließen. Ich kann denn, was davon der wirtschaftliche Nutzen sein soll. Das Ihnen versichern, dass wir im Gegensatz zu Ihnen die Be- Statistische Bundesamt schreibt in seinen Erläuterungen richte nicht nur einfach zur Kenntnis, sondern vor allem zur Umweltökonomischen Gesamtrechnung, dass – ich ernst nehmen. zitiere – „eine direkte Messung des Inputs von Dienstleis- tungen der Umwelt auf gesamtwirtschaftlicher Ebene Die meisten von Ihnen werden mir beipflichten, dass zurzeit weder in monetären noch in physischen Einheiten die Konjunkturprognosen der deutschen Wirtschafts- möglich ist“. Ich frage mich daher allen Ernstes, warum 22882 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Michael Fuchs (A) Sie mit solchen Forderungen unsere kostbare Zeit ver- Im Antrag der Grünen wird das Jahresgutachten des (C) schwenden. Sachverständigenrates für Wirtschaft von 1996 herange- zogen und deutlich gemacht, dass die herangezogenen Anstatt hier neue Verwaltungs- und Bürokratiemonster Größen wie Bruttosozialprodukt, die volkswirtschaftliche zu schaffen, handeln wir lieber entsprechend. Dabei ist Gesamtrechnung usw. Probleme aufwerfen, weil Eigen- der Nachhaltigkeitsgedanke ein konsequenter Bestand- produktion und Schwarzarbeit nicht zur offiziellen Wert- teil unserer Umwelt- und Klimaschutzpolitik. Denn mehr schöpfung beitragen, Umweltnutzung und -zerstörung denn je muss sich eine nachhaltige Umweltpolitik dem allerdings positiv zum BIP beitragen oder keine Berück- ökonomischen Kalkül stellen. Nachhaltigkeit in unserem sichtigung finden. Sinne versucht die Interessen aus Umweltschutz, wirt- schaftlicher Leistungsfähigkeit und sozialer Verantwor- Aus dem Jahresgutachten selbst geht hervor, dass die tung bestmöglich zusammenzuführen. Was wir heute in umweltökonomischen Gesamtrechnungen Eingang in die den Klimaschutz investieren – das belegen zahlreiche Bewertung des Inlandsproduktes, Konjunkturanalysen wissenschaftliche Studien –, verhindert in der Zukunft und -prognosen finden sollen, so wie es die Grünen for- hohe wirtschaftliche Folgekosten sowie Umwelt- und dern. Im Bericht folgt dann aber ein zusätzlicher Ab- Gesundheitsschäden für die Bevölkerung. Deswegen schnitt: „Die lange Zeit gehegte Vorstellung, durch scheint es dringender denn je, eine nachhaltige markt- entsprechende Ergänzungen das Sozialprodukt in ein wirtschaftliche Umweltpolitik als Chance und als Motor Ökosozialprodukt überführen zu können, das objektiv und für Innovation, Wachstum und Beschäftigung zu begrei- angemessen die Wohlstandsänderung einer Gesellschaft fen. Sie bietet Chancen für Wachstum und Beschäftigung, ausdrückt, hat sich bald als nicht erfüllbar erwiesen“ insbesondere im Mittelstand. Anstatt hier unsinnige und (aus dem Jahresgutachten des Sachverständigenrates wissenschaftlich nicht messbare Forderungen zu stellen, 1996, Seite 70). Dieser Satz findet sich im Antrag der wie dies die Grünen erneut unter Beweis gestellt haben, Grünen nicht wieder. Das ginge auch nicht, weil er näm- ist es unser Ziel, die weltweit führende Rolle Deutsch- lich erklärt, dass die geforderte Einbeziehung von Um- lands bei den Umwelttechnologien weiter auszubauen. weltkosten mit den von den Grünen vorgeschlagenen In- dikatoren nicht möglich ist. Prima wäre jetzt gewesen, Die Politik kann unterschiedliche Wege beschreiten, wenn der Sachverständigenrat selbst eine Lösung vorge- um der zunehmenden Umweltbelastung und -verschmut- schlagen hätte, wenn er das Problem doch wenigstens er- zung Einhalt zu gebieten. Dabei sollten wir aber nicht kennt. dazu übergehen, durch neue Berichterstattungen und Sta- tistiken, deren wissenschaftliche Erkenntnis zudem Das große Problem ist immer noch, dass Umweltver- umstritten ist, den Bürgerinnen und Bürgern in unserem brauch keinen bezifferbaren Wert hat. Das liegt an der (B) Land höhere Abgaben oder Gebühren aufzuzwingen. nicht vollständig vorhandenen Festlegung, welche Werte (D) Eine gerechte Kostenanlastung kann auch erfolgen, in- und Orientierungen im Zusammenhang mit der umwelt- dem man beispielsweise Subventionen für den wirtschaft- ökonomischen Gesamtrechnung als nachhaltig angese- lich nicht konkurrenzfähigen Solarstrom abbaut und die hen werden. Zusätzliche normative Vorgaben, die laut Gelder lieber zugunsten der Entwicklung effizienterer Jahresgutachten notwendig sind, machen den Unter- Techniken umschichtet. schied zum volkswirtschaftlichen Rechnungswesen aus und machen es deshalb schwierig, „bei der Diagnose der gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen die Ergebnisse Dr. Axel Berg (SPD): der umweltökonomischen Gesamtrechnungen zu berück- Die Forderung der Grünen, dass Umweltnutzung und sichtigen“ (aus dem Jahresgutachten des Sachverständi- Umweltbelastungen in wirtschaftliche Analysen und Pro- genrates 1996, Seite 70). gnosen eingearbeitet werden sollen, macht Sinn. Die Es hat den Anschein, als seien die von den Grünen vor- Betrachtung von Umweltverbrauch und dessen wirt- geschlagenen Indikatoren nicht geeignet, eine Umweltbe- schaftlichen Auswirkungen ist eine Voraussetzung für richterstattung außerhalb der umweltökonomischen Ge- nachhaltige Wirtschaftsgestaltung. Und einer nachhalti- samtrechnung zu gewährleisten. Diese zu finden, ist die gen Wirtschaft fühlen wir uns als Sozialdemokraten ver- Herausforderung der nächsten Zeit. pflichtet. Richtig ist aber, dass Umweltverbrauch und Umwelt- Die Diskussion darüber, ob das Bruttoinlandsprodukt verschmutzung einen negativen Wert bekommen müssen, eine vernünftige Kenngröße ist, dauert schon lange an. wenn die Entwicklung eines Landes analysiert wird und Dass die Reparatur von Umweltschäden oder Beseiti- daraus Folgerungen für die Zukunft geschlossen werden gung von Umweltverschmutzung zur Erhöhung des sollen. Bruttoinlandsproduktes führen, mutet schon seltsam an. Das Gleiche gilt übrigens für Unfälle. Wie die Grünen in Dafür sollte aber in den Ausschussberatungen geprüft ihrem Antrag schreiben, gibt es mittlerweile auch andere werden, ob neue und qualitativ angelegte Indikatoren für Kennzahlen, die für wirtschaftliche Gutachten und Pro- eine Umweltberichterstattung herangezogen und dann gnosen herangezogen werden können, die Umweltver- später für Prognosen und Analysen verwendet werden brauch und -verschmutzung nicht mehr als erfolgreiches können oder aber normativ Werte festgesetzt werden müs- Wirtschaftswachstum einstufen. Wenn man in Zukunft sol- sen, mit denen Umweltverbrauch in den Gesamtrechnun- che Indikatoren nutzt, könnte dies ein Wechsel weg von gen zu berücksichtigen ist. Der Sachverständigenrat ist quantitativen hin zu qualitativen Messungen werden. eingeladen, mitzudenken.

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Dr. Axel Berg (A) Gudrun Kopp (FDP): keine umfassenden Revisionen stattfinden, wodurch neue (C) Das Ziel des Sachverständigenrates ist die Beobach- Daten und Statistiken nur in Teilbereichen einbezogen tung des Vierecks aus Stabilität des Preisniveaus, hohem werden könnten. Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleich- Der internationale Vergleich zeigt, dass nur wenige gewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum. Länder bisher ähnlich umfassende Daten zu den UGR Demgegenüber dokumentieren die Umweltökonomischen erstellen. Eine internationale Vergleichbarkeit einer Ge- Gesamtrechnungen (UGR), inwieweit die Natur durch die meinschaftsdiagnose, wie sie in diesem Antrag vorge- Wirtschaft und die privaten Haushalte verbraucht, ent- schlagen wird, würde damit zusätzlich erheblich er- wertet oder gar zerstört wird. Hier wird bereits das schwert. Kernproblem dieses Antrags von Bündnis 90/Die Grünen klar: Die monetäre Bewertung von Umweltvermögen und Wir Liberalen lehnen aus diesen Gründen den vor- -schäden usw. ist sehr schwierig, da keine Marktpreise liegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen ab. Der existieren. Die Grundverschiedenheit in den Ansätzen vorliegende Antrag dient allenfalls umweltaktionisti- macht deutlich, dass eine Erweiterung der Aufgabe des schen Darstellungen in der Öffentlichkeit. Ein wirklicher Sachverständigenrates keinen zusätzlichen Erkenntnis- Nutzen ist weder für die Umwelt noch die Wirtschaft er- gewinn bringen würde. Ist ein Null- oder Minuswachstum kennbar. Die möglichst realitätsnahen, am erwähnten bei hoher Arbeitslosigkeit deswegen erträglicher, weil die Kanon orientierten Konjunktur- und Wirtschaftsanalysen UGR ein positives Ergebnis zeigen? und Prognosen dürfen daher nicht durch ungenaue Erhe- bungen verwässert werden. Dass diese Berechnungen Ich halte die Einbeziehung in die Volkswirtschaftlichen keinen Anspruch als allumfassender Wohlfahrtsindikator Gesamtrechnungen (VGR) bzw. die Gemeinschafts- erheben, versteht sich – zumindest für die FDP-Fraktion – diagnose für nicht sinnvoll. Eine gemeinschaftliche Kon- von selbst. junkturprognose, die führende deutsche Wirtschaftsfor- schungsinstitute jeweils im Frühjahr und im Herbst eines Jahres erstellen, kann in Zukunft schwerlich vorhersehen, Dr. Herbert Schui (DIE LINKE): wie viel Natur durch das prognostizierte Wachstum ver- Die Fraktion der Grünen verlangt in ihrem Antrag, braucht wird. In diesem Fall müsste es einen klaren Zu- dass der Sachverständigenrat zur Begutachtung der ge- sammenhang zwischen größerer Wertschöpfung bzw. samtwirtschaftlichen Entwicklung und die Wirtschafts- Wirtschaftswachstum und Naturverbrauch geben. Die forschungsinstitute zukünftig auch die Umweltbelastung Entwicklung des Energieverbrauchs zeigt, dass es diesen analysieren und prognostizieren. Dieser Forderung Zusammenhang nicht gibt. Der Energieverbrauch ist im stimmt Die Linke zu. Die Wirtschaftspolitik muss grund- Laufe der Zeit weniger stark angestiegen als das BIP. legend geändert werden, weil wir die Umweltzerstörung (B) Diese Entkopplung zeigt, dass aus mehr Wachstum ge- aufhalten müssen. Dafür ist wissenschaftlicher Rat hilf- (D) rade nicht auf mehr Verbrauch an „sauberer Luft“ oder reich. Man darf allerdings nicht überschätzen, was damit an Ressourcen geschlossen werden kann. gewonnen wäre. Zunächst einmal kann nicht alles, was uns am Herzen liegt, in Euro bewertet werden. Das gilt Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als zentraler Schwer- auch für saubere Luft und schöne Landschaften. Man punkt der VGR ist natürlich kein vollkommen befriedigen- kann deshalb nicht einfach vom Bruttoinlandsprodukt die der Wohlfahrtsindikator. Die Gründe dafür liegen aber Umweltzerstörung in Euro abziehen und dadurch ein ob- nicht nur an den von Bündnis 90/Die Grünen formulierten jektives Ökoinlandsprodukt berechnen, das es zu maxi- Schwächen. Für im BIP unberücksichtigte Faktoren wie mieren gilt. Das Statistische Bundesamt verzichtet zu wohlfahrtssteigernde Bildungsmöglichkeiten oder die Recht in seiner Umweltökonomischen Gesamtrechnung Gesundheitsversorgung wurden allerdings extra Sozial- auf die Bewertung von Umweltzustand und Umweltbelas- indikatoren von der OECD entwickelt. tung in Geldeinheiten. Es geht also nicht um eine Korrek- tur der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, sondern Neben den „Wirtschaftsweisen“ gibt es zudem bereits um eine Ergänzung. einen Sachverständigenrat für Umweltfragen. Die Ergeb- nisse der UGR werden überdies ohnehin veröffentlicht Die Vorstellung, Umweltzerstörung in Geld ausdrü- und können zur Bewertung einzelner Sachverhalte bei cken zu können, reduziert die Umwelt auf ein Wirtschafts- Bedarf herangezogen werden. Vor diesem Hintergrund gut. Auch das Statistische Bundesamt ist davon nicht frei. sollten die Gutachten der Wirtschaftsweisen und der Kon- Im Bericht zu den Umweltökonomischen Gesamtrechnun- junkturinstitute nicht überfrachtet werden. gen 2008 ist zu lesen, dass Ökosysteme wie die Atmos- phäre, so wörtlich, Dienstleistungen für wirtschaftliche Die Erfassung von Umweltschäden und deren monetäre Aktivitäten zur Verfügung stellen. Das Verhältnis von Bewertung sind schwierig, da keine realen Marktpreise Mensch und Natur wird also als Beziehung zwischen existieren. Dementsprechend ließen sich wirklichkeits- Dienstleister und Kunden gedacht. Das ist blanker Öko- fremde Berechnungen durch ungenaue Schätzungen und nomismus. Fehler beim Erstellen der UGR nicht vermeiden. Würden, wie es Bündnis 90/Die Grünen hier vorschlägt, diese Be- Wenn man Schäden für Mensch und Natur nicht er- rechnungen dennoch mit einbezogen, führte dies unwei- schöpfend in Geld bewerten kann, dann bleibt die Abwä- gerlich zu unsichereren Ergebnissen statt zu einer präzi- gung eine Frage der Politik. Darüber muss öffentlich dis- seren Gemeinschaftsdiagnose bzw. Begutachtung der kutiert und entschieden werden. Sie kann nicht an ein gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Erschwerend Expertengremium delegiert werden. Sie kann auch nicht kommt hinzu, dass anders als bei den VGR, bei den UGR an den Markt delegiert werden. Anhänger einer grünen

Zu Protokoll gegebene Reden 22884 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Herbert Schui (A) Marktwirtschaft argumentieren, dass der Markt zum rich- Diese Schwächen des BIP sind seit langem bekannt. In (C) tigen Ergebnis führt, wenn alle Kosten in den Preisen be- seinem Jahresgutachten 1996/1997 hat der Sachverstän- rücksichtigt werden. Sie folgen damit der Theorie von digenrat bereits darauf hingewiesen. Er regte an, die Um- Milton Friedman, einem der Begründer des Neoliberalis- weltökonomischen Gesamtrechnungen, UGR, beim BIP mus, demzufolge der Markt eine demokratische Institu- zu berücksichtigen und in die Konjunktur- und Wachs- tion ist. Der Ansatz scheitert jedoch daran, dass nicht alle tumsanalyse einzubeziehen. Das ist aber in den folgenden Schäden auf geldwerte Kosten reduziert werden können, Jahresgutachten nie geschehen. Wir haben mit den UGR ganz abgesehen von der Unsicherheit, was zukünftige bereits ein auf die VGR abgestimmtes System für die Um- Schäden betrifft. Dazu kommt der Verteilungseffekt dieses weltmessung. Diese Daten werden auch veröffentlicht, Ansatzes: In einer grünen Marktwirtschaft kann man sich erfahren aber bei weitem nicht das Interesse, das dem Umweltverschmutzung leisten, wenn man nur genügend BIP zukommt. Geld hat. Darum nehmen wir den Sachverständigenrat beim Die Alternative dazu sind politische Entscheidungen, Wort und fordern genau das, was er vor über zwölf Jahren bestimmte Produktionstechniken vorzuschreiben oder zu vorgeschlagen hat. Die Umweltnutzung und die Umwelt- verbieten oder verpflichtende Grenzwerte zu setzen. Es belastungen sollen ab sofort in die Konjunktur- und kann nicht schaden, wenn sich der Sachverständigenrat Wirtschaftsanalyse und in die Prognosen des Sachver- oder die Wirtschaftsforschungsinstitute mit diesen Fra- ständigenrats einbezogen werden. Dabei wird auf die gen beschäftigen und die Öffentlichkeit beraten. Solange Umweltökonomischen Gesamtrechnungen des Statisti- sie jedoch an ihrer Marktgläubigkeit festhalten, werden schen Bundesamtes zurückgegriffen. Die Ergebnisse wer- ihre umweltpolitischen Empfehlungen kaum besser sein den Bestandteil der Gutachten des Sachverständigenrats. als ihre Wachstumsprognosen in jüngster Vergangenheit. Auch in die Gemeinschaftsdiagnose soll die Umwelt- Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): messung einbezogen werden. Dazu muss in der Aus- schreibung des Bundeswirtschaftsministeriums zur Wir befinden uns mitten in einer schweren Wirtschafts- Gemeinschaftsdiagnose stehen, dass neben den Volks- krise, und wir befinden uns in einer noch schwereren Kli- wirtschaftlichen Gesamtrechnungen auch die Umwelt- makrise. Inzwischen dürfte jedem klar geworden sein, ökonomischen Gesamtrechnungen einbezogen werden dass diese Krisen zusammenhängen. Sie müssen darum auch zusammen gelöst werden. Wirtschaftliche Tätigkeit müssen. Die Umweltnutzung, Umweltbelastungen und darf in Zukunft nicht mehr in derselben Weise auf Kosten ihre Veränderungen werden in die Konjunktur- und Wirt- des Klimas gehen wie heute. schaftsanalysen sowie Prognosen einbezogen. Damit würde das BIP relativiert, wir könnten zwischen ressour- (B) (D) Eine nachhaltige und umwelt- bzw. klimaschonende censchonendem und zerstörerischem Wachstum unter- Wirtschaft muss man gestalten. Zuvor aber muss man er- scheiden. Auch wenn inzwischen theoretisch große Einig- fassen, welche Belastungen für Umwelt und Klima das keit darüber herrscht, dass CO2-armes Wirtschaften der Wirtschaften erzeugt. Wenn es um die Wirtschaft geht, gu- einzig gangbare Weg aus den Krisen ist, so ist die Hörig- cken wir aber immer nur auf das Bruttoinlandsprodukt keit gegenüber dem BIP doch noch groß. Wenn wir das (BIP). Auch jetzt, in der Wirtschaftskrise, starren wir BIP aber ergänzen, werden in Zukunft bei der Bewertung ängstlich auf die Zahlen. Um wie viel wird unsere Wirt- von Wohlstand nicht mehr nur ein möglichst hohes BIP schaft dieses Jahr schrumpfen? Um 4 Prozent? Um 5 Pro- pro Kopf, sondern zum Beispiel auch eine Verringerung zent? des CO2-Ausstoßes oder ein möglichst geringer Flächen- verbrauch eine Rolle spielen. Das BIP misst den Wert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen, abgeleitet aus den Volks- Die große Resonanz auf den Stern-Bericht „The Eco- wirtschaftlichen Gesamtrechnungen, VGR. Es ist eine nomics of Climate Change“ hat klargemacht, dass Zah- standardisierte Größe, die internationale Vergleichsmög- len ein Umdenken unterstützen und befördern können. lichkeiten bietet, und daher unverzichtbar. Das BIP pro Die Menschen wollen wissen, was Sache ist. Darum soll- Kopf wird im internationalen Vergleich als Wohlstands- ten wir auch bei den deutschen Veröffentlichungen zu indikator herangezogen. Je höher das BIP pro Kopf eines Wohlfahrt und Wachstum nicht mehr auf die Umweltdaten Landes, desto reicher ist das Land im Vergleich zu ande- verzichten – zumal wir bereits eine so gute Datenlage ren. dazu haben. Weil das BIP so bequem zu handhaben ist, werden seine Schwächen gern übersehen. Die Höhe des BIP ist Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: unabhängig davon, inwieweit bei der Wertschöpfung Ka- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf pital unwiederbringlich verbraucht wird. Das gilt auch Drucksache 16/11649 an die in der Tagesordnung aufge- für Ressourcen und Fläche. Die Kosten von Umweltzer- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan- störung werden nicht angemessen erfasst, im Gegenteil. den? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen. Werden Umweltschäden behoben, zum Beispiel indem kontaminierter Boden abgetragen und ersetzt wird, stei- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf: gern die dabei anfallenden Kosten das BIP. So entsteht das Paradox, dass – zumindest in der Logik des BIP – die Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Zerstörung der Umwelt als wohlfahrtssteigernd gilt. gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22885

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) rung arzneimittelrechtlicher und anderer Vor- Um unsere Kinder besser mit Arzneimitteln versorgen (C) schriften zu können, werden die Entwicklung neuer Arzneimittel gefördert, ihre Verfügbarkeit verbessert und der Zugang – Drucksache 16/12256 – zu Informationen erleichtert. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Ein weiterer grundsätzlicher Bestandteil der Anpas- Rechtsausschuss sung des Arzneimittelgesetzes an Europarecht ist die Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Neudefinition des Arzneimittelbegriffes. Wenn bisher na- Ausschuss für Kultur und Medien tionaler und europäischer Arzneimittelbegriff auch nicht wortgleich sind, kamen sie in der Anwendung doch in den Auch die Reden hierzu nehmen wir zu Protokoll. Es häufigsten Fällen bei der Einordnung eines Arzneimittels handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kolle- zu den gleichen Ergebnissen. Kam bei der Anwendung gen Dr. Wolf Bauer, CDU/CSU, Dr. Marlies Volkmer, beider Begriffe ein unterschiedliches Ergebnis heraus, SPD, Daniel Bahr, FDP, Dr. Martina Bunge, Die Linke, legten unsere Gerichte den nationalen Arzneimittelbe- Birgitt Bender, Bündnis 90/Die Grünen, und des Parla- griff bereits europarechtskonform aus. Auch hier dient mentarischen Staatssekretärs Rolf Schwanitz für die die Neuregelung der rechtlichen Klarstellung und ist da- Bundesregierung. her zu begrüßen.

Dr. Wolf Bauer (CDU/CSU): In diesem Zusammenhang soll eine „Zweifelsfall“-Re- gelung eingeführt werden. Diese Regelung soll nicht prü- Bereits mit dem 14. Gesetz zur Änderung des Arznei- fen, ob nach der Definition ein Arzneimittel vorliegt, son- mittelgesetzes wurden im Wesentlichen europäische Vor- dern eventuell auftretende Einordnungsproblematiken gaben in nationales Recht umgesetzt. Inzwischen besteht lösen. Denn in der Praxis kann es vorkommen, dass ein allerdings darüber hinaus noch weiterer Handlungsbe- Erzeugnis sowohl unter die Definition Medizinprodukt darf. Diesem soll durch die 15. AMG-Novelle Rechnung als auch unter die Definition Arzneimittel fällt. Solche Er- getragen werden. zeugnisse definiert die „Zweifelsfall“-Regelung als Arz- Abgesehen davon ist die Novellierung durch kein zen- neimittel, die damit den Vorschriften des Arzneimittelge- trales Thema bestimmt. Denn betroffen ist nicht nur das setzes unterliegen. Auch diese Novellierung ist zu Arzneimittelgesetz, sondern eine Vielzahl von Gesetzen begrüßen. Sie schafft Rechtsklarheit, auch wenn sie na- und Verordnungen, darunter – nur um einige zu nennen – tionale Gerichte bereits in diesem Sinne anwenden. das Betäubungsmittelgesetz, die Arzneimittelpreisverord- nung, das Sozialgesetzbuch V, das Krankenhausentgelt- Eine weitere europäische Vorgabe betrifft die Sicher- stellung der Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimit- (B) gesetz und viele andere mehr. (D) teln. Durch die Novellierung wird den pharmazeutischen In den ersten Gesprächsrunden stellte sich heraus, Unternehmen und den Arzneimittelgroßhändlern ein öf- dass viele der angesprochenen Punkte konsensual sind; fentlicher Sicherstellungsauftrag für die Versorgung mit bei einigen noch Diskussionsbedarf besteht. Dieser soll Arzneimitteln zugewiesen. Während bislang nur den Apo- ja nicht zuletzt auch durch eine Anhörung abgedeckt wer- theken ein solcher Auftrag oblag, haben pharmazeutische den. Unternehmen und Arzneimittelgroßhändler nunmehr ge- meinsam sicherzustellen, dass der Bedarf an Arzneimit- Was das Arzneimittelgesetz betrifft, gilt es, europäi- teln für unsere Bevölkerung gedeckt wird. Hintergrund sche Vorgaben umzusetzen, die hauptsächlich die Arznei- ist, dass Apotheken auf eine funktionierende Distribution mittelsicherheit betreffen. Die Novellierung ist daher be- und Lagerung von Arzneimitteln angewiesen sind. Ge- grüßenswert, da sie dem Verbraucher, also dem Patien- rade dies leisten aber pharmazeutische Unternehmen und ten, mehr Schutz und Sicherheit gewährt. die Arzneimittelgroßhändler. Die Novellierung kommt So sind auch neben der erweiterten Anzeigepflicht bei daher dem gestiegenen Bedürfnis der Patienten nach, Standardzulassungen ergänzende Regelungen zur Redu- Arzneimittel schnell verfügbar zu haben, und wirkt sich zierung von Arzneimittelfälschungen vorgesehen: Auch damit vorteilhaft für die Patienten aus. das ist ein Beitrag zur Verbesserung der Arzneimittelsi- cherheit. In diesem Zusammenhang wird über die europäische Vorgabe hinaus dem vollversorgenden Großhandel ein Einigkeit besteht sicherlich auch darüber, dass die An- Belieferungsanspruch gegenüber dem pharmazeutischen passungen sowohl im Bereich der Arzneimittel für neuar- Unternehmen eingeräumt. Das ist erforderlich, denn der tige Therapien als auch bei Kinderarzneimitteln dringend Großhandel ist für die Arzneimitteldistribution im deut- notwendig und geboten sind. Denn die zugrunde liegen- schen Gesundheitssystem unverzichtbar. Er ermöglicht den Verordnungen aus Europa gelten bisher unmittelbar. eine zeitnahe und flächendeckende Belieferung der Apo- Auch wird hier die besondere Stellung der Kinderarznei- theken auch in der entsprechenden Angebotstiefe. Um mittel hervorgehoben. Denn oftmals besteht bei der Me- diese Funktion dauerhaft zum Wohle des Patienten ge- dikation von Kindern das Problem, dass keine speziell ge- währleisten zu können, benötigt der vollversorgende testeten und zugelassenen Arzneimittel existieren. Dieser Großhandel den Belieferungsanspruch. Umstand führt zu inadäquaten Dosierungsangaben, was bei Überdosierung das Risiko von Nebenwirkungen er- Dabei wird jedoch, wie in der Diskussion im Vorfeld höht oder bei Unterdosierung zu einer unwirksamen Be- immer wieder angesprochen, der Vertriebsweg nicht fest- handlung führt. gelegt; der sogenannte Direktvertrieb ist den pharmazeu- 22886 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Wolf Bauer (A) tischen Unternehmen nicht verwehrt. Auch hat nicht und andererseits die GKV um 300 Millionen Euro – wie (C) jeder Großhandel automatisch einen Belieferungsan- im Entwurf dargestellt – entlastet. spruch. Nur der vollversorgende Großhandel, also der Wir haben also noch eine Menge Gesprächsbedarf zur Großhandel, der über eine entsprechende Angebotstiefe 15. AMG-Novelle. Heute ist ihre erste Lesung. Für An- seines Sortimentes verfügt, hat einen Anspruch auf Belie- fang Mai 2009 ist eine Anhörung geplant. Anhand der Er- ferung durch pharmazeutische Unternehmen. Zudem ist gebnisse dieser Anhörung und mit allen dann vorliegen- die Menge der abzugebenden Arzneimittel beschränkt. den Gutachten wird es uns – davon bin ich überzeugt – Der Anspruch richtet sich auf eine „bedarfsgerechte“ Be- gelingen, noch in dieser Legislaturperiode eine gute lieferung. Dieser Bedarf kann anhand entsprechender AMG-Novelle zu verabschieden. Marktdaten des jeweiligen Vormonats zuzüglich eines Si- cherheitszuschlages ermittelt werden. Wichtig dabei ist, dass eine „bedarfsgerechte“ Belieferung nur die Nach- Dr. Marlies Volkmer (SPD): frage auf nationaler Ebene betrifft. Der Export und der Wir beraten heute ein Gesetz, dessen Titel nur wenig Zwischenhandel innerhalb der Europäischen Union sind über den Inhalt aussagt. Tatsächlich sollten ursprünglich davon nicht umfasst. mit der sogenannten 15. AMG-Novelle nur einige Anpas- sungen vorgenommen werden, die durch europäisches In diesen Bereich fällt auch die Änderung der Groß- Recht und den Vollzug des Arzneimittelgesetzes notwen- handelsspanne. Dazu wird ein Arbeitsauftrag an das zu- dig geworden waren. ständige Bundesministerium für Wirtschaft erteilt. Ein weiteres heftig diskutiertes Thema ist – wie könnte es an- Aber das Ende der Legislaturperiode naht: Die ders sein – der Versand von Arzneimitteln und die damit nächste Möglichkeit zu Gesetzesänderungen wird es frü- verbundene Problematik der Pick-up-Stellen. Arznei- hestens im nächsten Jahr geben. Vor diesem Hintergrund mittelsicherheit, flächendeckende Versorgung und Ver- ist der Umfang der Kabinettsvorlage beachtlich ange- braucherschutz sind hier Themen, die so gestaltet sein wachsen. Deshalb werde ich mich auf einige ausgewählte müssen, dass die daraus resultierenden hohen Anforde- Themen beschränken, die in der Öffentlichkeit diskutiert rungen an die Abgabe von Arzneimitteln erfüllt werden. werden. Ob das Pick-up-Stellen leisten können, ist mehr als frag- lich. Das größte Problem hierbei ist, dass aufgrund ver- Mehrere Änderungen betreffen die Vertriebsstrukturen fassungsrechtlicher Bedenken Versandhandel und Pick- von Arzneimitteln. Die wichtigste Änderung an dieser up-Stellen nicht isoliert von einander betrachtet und einer Stelle ist die Übertragung eines öffentlichen Sicherstel- nachhaltigen Lösung zugeführt werden können. lungsauftrages an den pharmazeutischen Großhandel (B) und die Arzneimittelhersteller. (D) Wolfgang Zöller, unser stellvertretender Fraktionsvor- sitzender, sagte dazu am 18. September 2008 hier im Ple- Die öffentlichen Apotheken sind auf eine kontinuierli- num: „Deshalb setzen wir uns auch dafür ein, dass eine che Belieferung mit Arzneimitteln und eine funktionie- flächendeckende Versorgung nicht durch einen den Wett- rende Infrastruktur zur Verteilung und Lagerung ange- bewerb verzerrenden Versandhandel gefährdet wird. wiesen. Nach unserer Auffassung ist nur der Pick-up-Stationen und Arzneimittelautomaten widerspre- herstellerneutrale Großhandel in der Lage, dies flächen- chen den hohen qualitativen Anforderungen, die wir an deckend sicherzustellen. Damit der Großhandel den die Abgabe von Arzneimitteln stellen.“ neuen Gemeinwohlauftrag erfüllen kann, erhält er durch das Gesetz einen Anspruch auf eine angemessene und Diesbezüglich hat Wolfgang Zöller auch schriftlich kontinuierliche Belieferung durch die Hersteller. Tat- signalisiert, dass wir die „Forderung von Bayern und sächlich sind in der Vergangenheit viele Unternehmen Sachsen zur Rückführung des Versandhandels auf das dazu übergegangen, Apotheken direkt mit Arzneimitteln europarechtlich notwendige Maß“ unterstützen. Die wei- zu beliefern und den Großhandel damit zu umgehen. Der tere Entwicklung und Bundesratsinitiativen bleiben abzu- Großhandel konnte dadurch in einigen Teilbereichen die warten. Anfragen der Apotheken nicht mehr bedienen. Dazu Interessant ist, dass in diesem Zusammenhang sowohl kommt, dass die Vergütung des Großhandels bislang vom das BMG als auch die ABDA ein Konzept für die Ausge- Preis des Arzneimittels abhängig ist. Da meist teure Arz- staltung von Pick-up-Stellen vorgestellt haben. Da keine neimittel von den Herstellern direkt in die Apotheken ge- Einigung über eine gemeinsame Formulierung erreicht liefert werden, zum Beispiel biotechnologisch herge- worden ist, bleibt es wohl oder übel beim Status quo. stellte Medikamente, wurden dem Großhandel erhebliche Umsätze entzogen. Die Industrie hat vielfach beklagt, Im Bereich des SGB V sieht die 15. AMG-Novelle eine durch eine solche Regelung würde es ihr unmöglich, Apo- ganze Reihe von wesentlichen Änderungen vor. Hier sind theken auch weiterhin direkt zu beliefern. Dies ist nicht vor allem die Regelungen zum Krankengeld zu nennen der Fall: Hersteller können auch weiter an Apotheken di- und das Generieren eines Einsparpotenzials für die GKV rekt liefern, aber nicht ausschließlich. Es ist an der Apo- bei den parenteralen Zubereitungen in der Onkologie. theke zu entscheiden, ob sie die Arzneimittel direkt beim Auch hier bleibt es spannend, wie ein guter Weg gefunden Hersteller bestellen oder lieber über den Großhändler wird, der einerseits die Qualität der Versorgung in den beziehen möchte. Es ist sachgerecht, dass der Apotheker onkologischen Praxen und in unseren Krankenhäusern über den Vertriebsweg entscheidet und nicht der Herstel- – stationär und ambulant – gewährleistet bzw. verbessert ler.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22887

Dr. Marlies Volkmer (A) Noch einmal zurückkommen möchte ich auf die Vergü- Zuschlag von 90 Prozent auf den Einkaufspreis der Apo- (C) tung des Großhandels, die, wie bereits erwähnt, an die theke. Ein solcher Zuschlag ist gerechtfertigt, wenn zum Arzneimittelpreise gekoppelt ist. Zwei gleichzeitig auftre- Beispiel eine einfache Salbe angefertigt werden muss. Bei tende Effekte haben die Mischkalkulation der Großhänd- teuren Krebsmedikamenten ist das anders: Aufwand und ler in eine Schieflage gebracht: Auf der einen Seite wer- Preis stehen hier in einem krassen Missverhältnis. Hier den, wie erwähnt, den Großhändlern teure Präparate sind in der Vergangenheit Patienten, Beihilfeträger und durch den Direktvertrieb entzogen. Auf der anderen Seite private Krankenversicherungen finanziell massiv belas- sinken durch unsere Reformmaßnahmen – zum Wohl der tet worden. Die gesetzliche Krankenversicherung darf Versicherten und der gesetzlichen Krankenversicherung – Regelungen über Einkaufspreise, Fest- und Rezepturzu- die Preise für Generika. Der Großhandel kann aber seine schläge vereinbaren, die von der Arzneimittelpreisver- Aufgabe auf Dauer nur dann erfüllen, wenn er eine leis- ordnung abweichen. In Zukunft soll unter anderem auch tungsgerechte und auskömmliche Vergütung erhält. Des- die private Krankenversicherung derartige Vereinbarun- halb soll die Großhandelsvergütung in der Arzneimittel- gen treffen dürfen. Wenn eine solche Vereinbarung nicht preisverordnung neu gestaltet werden. Festgelegt wird vorliegt, soll auf die Vereinbarungen der gesetzlichen allerdings nur, dass das Gesundheitsministerium und das Krankenversicherung zurückgegriffen werden können. Wirtschaftsministerium einen Vorschlag vorlegen, der zum 1. Januar 2010 in Kraft treten soll. Der Vorschlag Es gäbe noch viele Themen zu besprechen, was mir aus soll die Großhandelszuschläge auf einen preisunabhängi- Zeitgründen nicht möglich ist. Deshalb möchte ich Sie auf gen Fixbetrag zuzüglich eines prozentualen Zuschlags für die anstehenden Ausschussberatungen und die öffentli- die Logistikleistung umstellen. Derzeit wird noch über die che Anhörung verweisen. Höhe des Fixbetrages diskutiert. Auf keinen Fall darf die Umstellung der Vergütung zu einer Mehrbelastung der Daniel Bahr (Münster) (FDP): gesetzlichen Krankenversicherung und damit der Versi- Die 15. AMG-Novelle beschäftigt sich nur zu einem cherten führen. kleinen Teil mit arzneimittelrechtlichen Fragen. Sie wird In der Öffentlichkeit viel beachtet wurden die Ände- darüber hinaus von der schwarz-roten Regierung ge- rungen, die den Krankengeldanspruch für Selbstständige nutzt, um alle möglichen Reparaturen in diversen Geset- betreffen. Bekanntlich wurden mit der letzten Gesund- zen und Verordnungen vorzunehmen. Erstaunlicherweise heitsreform Wahltarife zur Absicherung des Kranken- betrifft das auch ein Gesetz, das erst zum 1. Januar 2009 geldanspruchs für hauptberuflich Selbstständige, unstän- in Kraft getreten ist, also vor noch nicht einmal drei Mo- dig und kurzzeitig Beschäftigte eingeführt. Seit dem naten, nämlich das Krankenhausfinanzierungsreformge- 1. Januar 2009 müssen die Krankenkassen solche Tarife setz. Aber das ist ja nichts Neues. Es beweist wieder ein- (B) anbieten. Bei der Umsetzung hat sich allerdings gezeigt, mal, mit welch heißer Nadel die Koalition ihre Gesetze (D) dass vor allem ältere Versicherte von der Regelung be- strickt, unbeeindruckt davon, dass sie damit Chaos und nachteiligt werden. Deshalb erhalten die genannten Per- Unruhe schafft und viel zu viele Ressourcen für Repara- sonengruppen künftig wieder die Möglichkeit, wie nor- turarbeiten vergeudet werden. male Arbeitnehmer einen Krankengeldanspruch gegen Was den arzneimittelrechtlichen Bereich anbelangt, Zahlung des allgemeinen Beitragssatzes ab der siebten möchte ich nur zwei Beispiele herausgreifen. Das eine ist Woche der Arbeitsunfähigkeit abzusichern. Aber auch der öffentliche Sicherstellungsauftrag für den Arzneimit- der Abschluss von Wahltarifen bleibt möglich. Differen- telgroßhandel. Ohne hier eine vorschnelle Wertung vor- zierungen nach dem individuellen Risiko der Versicher- nehmen zu wollen, verwundert es doch, dass diejenigen, ten, also Altersabstaffelungen, oder Differenzierungen die kontinuierlich den Sicherstellungsauftrag der Kas- nach dem Geschlecht oder Krankheitsrisiko der Versi- senärztlichen Vereinigungen unterhöhlt haben, nun einen cherten sollen aber künftig nicht mehr zulässig sein. solchen für den Großhandel schaffen wollen. Fraglich ist Viel diskutiert werden auch die Regelungen zur Ab- in dem Zusammenhang auch, ob man dem Großhandel ei- rechnung von onkologischen Rezepturen. Im Sinne einer nen Belieferungsanspruch einräumen muss. Es mag ord- Gleichbehandlung unterschiedlicher Arzneimittel und nungspolitisch sinnvollere Wege geben, wie man sicher- Darreichungsformen ist es, dass auch bei Infusionen, die stellen kann, dass Patienten mit den Arzneimitteln unter anderem bei der Krebs- oder Rheumatherapie an- versorgt werden können, die sie benötigen. Das alles wer- gewandt werden, Rabatte und Einkaufsvorteile von den den wir in der Anhörung im Gesundheitsausschuss noch Apotheken an die Krankenkassen weitergegeben werden. einmal ausführlich diskutieren müssen. Damit können die gesetzlichen Krankenkassen erheblich entlastet werden. Ohne an dieser Stelle ins Detail gehen Beispiel Nummer zwei: die Versorgung mit patienten- zu wollen: Wir werden genau darauf achten, dass die Än- individuellen Rezepturen. Da frage ich mich, warum derungen in der Praxis umsetzbar sind. Die Sicherstel- überhaupt eine Änderung vorgenommen werden soll. Die lung der flächendeckenden und wohnortnahen Versor- aktuelle Regelung, dass solche patientenindividuellen gung der Krebspatienten darf durch die Neuregelungen Rezepturen von der Zulassungspflicht ausgenommen nicht gefährdet werden. sind, hat bisher doch nicht zu irgendwelchen Problemen geführt. Warum dies nunmehr auf Zytostatika und Lösun- Im Interesse privat krankenversicherter Krebskranker gen für die parenterale Ernährung beschränkt werden ist eine andere Maßnahme im Zusammenhang mit onko- soll, vermag von daher nicht einzuleuchten. Es gibt an- logischen Zubereitungen. Bisher verlangen die Apothe- dere Erkrankungsformen, bei denen ebenfalls solche pa- ken für die Abgabe neben einem Rezepturzuschlag einen tientenindividuellen Rezepturen notwendig sind, wie zum

Zu Protokoll gegebene Reden 22888 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Daniel Bahr (Münster) (A) Beispiel die Mukoviszidose oder die zystische Fibrose. wieder einmal Fehler früherer Gesetzesänderungen kor- (C) Ich habe nirgendwo eine Begründung gelesen, warum rigiert werden müssen. man diese Indikationen anders behandeln sollte als onko- logische Erkrankungen. Zu den zahlreichen erst kürzlich beschlossenen und in Kraft getretenen Regelungen, die präzisiert, zurückge- Darüber hinaus gibt es aber weitere Punkte, zum Bei- nommen oder ausgeführt werden, gehört beispielsweise spiel im Krankenhausbereich. Das Krankenhausfinan- die Änderung zum Krankengeld, die gerade zum 1. Ja- zierungsreformgesetz war nicht exakt genug gefasst. Das nuar 2009 in Kraft getreten ist. Hier zeigt sich der man- hat zu Meinungsschwierigkeiten darüber geführt, ob bei gelnde Weit- und Überblick dieser Regierung. Hier fehlt Verhandlungen der Landesbasisfallwerte 2009 die kran- es an einer klaren Linie und an klaren Zielen. Dabei soll kenhausindividuellen Basisfallwerte des Jahres 2008 nicht vergessen werden, dass durch solche Schnell- zugrunde gelegt werden oder ob die vereinbarten Landes- schüsse auch Kosten entstehen. Mir liegen Schreiben von basisfallwerte die Grundlage bilden sollen. Die Klarstel- Krankenkassen vor, die zu Recht die Kosten für die Ent- lung im Gesetz ist deshalb vom Grundsatz her zu begrü- wicklung und Kalkulation von Wahltarifen zum Kranken- ßen. Allerdings muss man sich fragen, ob es sinnvoll ist, geld beklagen, die nun nicht mehr gebraucht werden. Be- dies schon für das Jahr 2009 so vorzugeben und nicht erst trachte ich diese Gesetzesvorlage, bin ich mir ziemlich für die Zeit ab 2010. Bis zum Abschluss des Gesetzge- sicher, dass auch die hier vorgeschlagenen Regelungen bungsverfahrens werden in vielen Ländern die Verhand- zum Teil nur eine geringe Halbwertzeit aufweisen wer- lungen bereits abgeschlossen sein. Eine Rückabwicklung den, wenn sie so beschlossen werden. kann niemand allen Ernstes wollen. Die vorgelegten Regelungen zum Krankengeld sind Es gibt ein weiteres Gesetz, bei dem eine Änderung nur teilweise eine Lösung für die Probleme, die durch die notwendig ist, weil die entsprechenden Regelungen ein- kürzlich in Kraft getretenen Gesetzesänderungen entstan- fach schlecht gemacht waren. Das ist das sogenannte den sind. Es gibt zahlreiche Kritikpunkte. Die Beibehal- GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz, mit dem insbesondere tung eines Wahltarifs als einer freiwilligen Absicherung für selbstständig Versicherte mit Wirkung ab dem wird beispielsweise zweifellos dazu führen, dass gerade 1. Januar 2009 Wahltarife zur Absicherung des Kranken- geringverdienende Selbstständige sich diesen Aufwand geldanspruches eingeführt und gleichermaßen der An- nicht leisten werden oder können. Damit werden im spruch auf Absicherung des Krankengeldes im Rahmen Krankheitsfall Transferleistungen notwendig, also Kos- der „normalen“ Krankenversicherung herausgenommen ten nur verschoben. Vielen selbstständigen Frauen dürfte worden ist. Hier rächt sich, dass man keine klare, saubere es auch nicht bekannt sein, dass am Wahltarif für Kran- Lösung gefunden hat. Entweder belässt man den Kran- kengeld auch das Mutterschaftsgeld hängt. Dies wird (B) kengeldanspruch in der Versicherung oder man löst ihn letztlich auch auf die noch ungeborenen Kinder zurück- (D) heraus mit der Konsequenz, dass jeder, der das absichern fallen. Wir brauchen ein bezahlbares Krankengeld für möchte, dies privat tun kann und dann auch sicher ist, alle. dass er seinen Anspruch behält. Will eine gesetzliche Die geplanten Regelungen in den §§ 129 und 129 a Krankenversicherung ihren Versicherten ein Gesamtan- SGB V sollen dazu beitragen, dass die Preiskalkulation gebot unterbreiten, kann sie entsprechende Kooperatio- von Apotheken und Krankenhausapotheken bei der Zube- nen mit privaten Anbietern eingehen. Darüber hinaus reitung von Fertigarzneimitteln für die Krebsbehandlung hätte man selbstverständlich für eine Übergangsregelung klarer wird und die Krankenkassen auch von niedrigen für diejenigen sorgen müssen, die aufgrund ihres Lebens- Einkaufspreisen profitieren. Wenn man sich in diese Lo- alters oder ihres Krankheitsrisikos mit besonders hohen gik hineinbegibt, ist die Regelung logisch. Allerdings Prämien zu rechnen hatten. All das hat die Regierung ver- sollte dabei berücksichtigt werden, dass weiterhin An- säumt. Stattdessen will die Regierung jetzt einen Wahlta- reize für die Krankenhäuser und Apotheken bestehen rif der gesetzlichen Krankenkassen schaffen, der keine bleiben müssen, Arzneimittel günstig einzukaufen bzw. Alters- und Risikostaffelungen vorsehen darf, und will zu- herzustellen. Ansonsten entstehen den Krankenkassen dem die Möglichkeit einräumen, über einen Zuschlag das eher Mehrkosten und die Versorgungsstruktur mit onko- Krankengeldrisiko im Rahmen der „normalen“ Verträge logischen Arzneimitteln wird gefährdet. abzusichern. So etwas führt zwangsläufig zu Risikoselek- tion. Die Zeche all dieser Reparaturarbeiten, die wie- Die Bundesregierung stärkt auch den Pharmagroß- derum schlecht ausgeführt werden, zahlen die Bürger. handel. Das ist zu begrüßen. Damit ist sichergestellt, dass alle Medikamente flächendeckend und schnellstmöglich an die Apotheken und damit an die Patientinnen und Pa- Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): tienten geliefert werden können. Der Entwurf der Regie- Mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Än- rung beinhaltet die Verpflichtung der Hersteller, den derung arzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften Großhandel zu beliefern, und des Großhandels, die Ver- wird die Umsetzung der EU-Verordnungen 1901/2006 sorgung der Apotheken sicherzustellen. Zudem wurde mit und 1394/2007 zum Anlass genommen, ein komplexes der Einführung eines preisunabhängigen Fixzuschlags Sammelsurium von Gesetzesänderungen vorzulegen. Das die Vergütung für den Großhandel angepasst. Dies soll erscheint nachvollziehbar, ist es doch eine der letzten dafür sorgen, dass sich auch der Vertrieb niedrigpreisiger Möglichkeiten für die Bundesregierung, erforderliche Arzneimittel lohnt. Damit scheint ein Schritt in die rich- Änderungen auf den Weg zu bringen. Allerdings sagt es tige Richtung vollzogen zu werden. Fraglich bleibt, wie viel über die Arbeitsweise der Bundesregierung aus, dass der zunehmenden Monopolbildung im Großhandel entge-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22889

Dr. Martina Bunge (A) gengewirkt werden kann. Diese wird ansonsten auf Dauer geführt werden. Ergänzend soll die Arzneimittelpreisver- (C) zu Versorgungs- und Kostenproblemen führen. ordnung geändert werden. Im Gesetzentwurf sind also Verbesserungen vorgese- Für uns Grüne stellen sich die Fragen: Sind diese hen; einige wünschenswerte und lange überfällige Ver- Maßnahmen notwendig? Sind sie auch in Zukunft tragfä- besserungen fehlen jedoch. Wenn es schon die Arbeits- hig oder werden Strukturen zementiert und der Wettbe- weise dieser Bundesregierung ist, Gesetze mit zahllosen werb verschiedener Vertriebswege verzerrt? Sinnvoll und Regelungen anzureichern und mit nachfolgenden Geset- konsequent erscheint uns die Ersetzung der prozentualen zesänderungen vorherige Gesetze zu korrigieren, dann und damit preisabhängigen Großhandelszuschläge durch sollte sie dies wenigstens konsequent fortführen. So einen Fixbetrag plus ergänzenden prozentualen Zuschlag. konnte sich die Bundesregierung nicht durchringen, end- Systematisch knüpft dies an die Umstellung der Apotheken- lich Regelungen zum Versandhandel mit Arzneimitteln zu zuschläge an und würde die tatsächlichen Distributions- erlassen. Nicht zuletzt aufgrund des sogenannten dm-Ur- leistungen des Großhandels realistischer abdecken als das teils des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2008 bestehende System. Dies darf, wie vorgeschlagen, nicht zu besteht aus unserer Sicht Handlungsbedarf. Die Linke zusätzlichen Belastungen der Krankenkassen und somit will eine patientennahe, sichere und rasche Arzneimittel- der Versicherten führen. Diese Umstellung kann jedoch versorgung auf lange Sicht flächendeckend sicherstellen. auch ohne die Einführung des erweiterten Sicherstel- Die unabhängige und umfassende Beratung in den Apo- lungsauftrags geschehen; die Verknüpfung, die die Bun- theken soll daher weiter ausgebaut werden. Den Versand- desregierung aufstellt, leuchtet nicht ein. handel nur auf rezeptfreie Arzneimittel zu beschränken, kann unseres Erachtens hierzu einen wichtigen Beitrag Die Erweiterung des Sicherstellungsauftrages auf den liefern. Einen entsprechenden Antrag hat meine Fraktion Großhandel sehen wir kritisch. Ist dies ein Schutzschirm Die Linke in den Bundestag eingebracht. Diese Änderung über den Großhandel, der bereits jetzt eher oligopolis- könnte hier ganz leicht eingefügt werden. tisch strukturiert ist? Ver- oder behindert der Vorschlag nicht die Entwicklung neuer veränderter Strukturen in Ebenso verpasst die Bundesregierung die Chance, der Arzneimitteldistribution? eine weitere Korrektur ihrer Politik bei der Hilfsmittel- versorgung vorzunehmen. Es hat sich gezeigt, dass die Bereits die Umstellung der Preisverordnung dürfte Ausschreibungen genau zu den Problemen geführt haben, Auswirkungen auf die Konkurrenz zwischen Direktver- die meine Fraktion bei der Einführung der Ausschreibun- trieb und Großhandel haben; der Anreiz zum Direktver- gen mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz befürch- trieb hochpreisiger Medikamente wird sinken. Warum tet hatte. Die niedrigsten Preise bestimmen die Ausschrei- zum jetzigen Zeitpunkt darüber hinausgehende Regelun- (B) bungen, und die Notleidenden sind die Patientinnen und gen notwendig sein sollten, erschließt sich uns nicht. (D) Patienten, die weder wohnortnah noch qualitativ hoch- wertig versorgt werden. Die Auswirkungen fehlender Es ist begrüßenswert, dass nun auch anthroposophi- Qualität bekommen derzeit beispielsweise zahlreiche sche und nicht nur homöopathische und pflanzliche Arz- Menschen zu spüren, die auf Inkontinenzartikel angewie- neimittel definiert werden. Warum jedoch im Gegensatz sen sind. zu den dortigen Definitionen nicht nur die Entwicklung und Herstellung gemäß der anthroposophischen Men- Als fehlend sind weiterhin zu benennen: der Abbau der schen- und Naturerkenntnis, sondern auch die Anwen- überstarken Belastung geringverdienender Selbstständi- dung nach diesem Ansatz Bestandteil der Definition sein ger durch Krankenkassenbeiträge oder die Sicherung der soll, ist nicht nachvollziehbar. vollständigen Versorgung für Personen, die mit Kranken- kassenbeiträgen im Rückstand sind. So aber bleibt dieser Aus den weiteren 17 Artikeln möchte ich noch zwei Gesetzentwurf trotz einiger guter Ansätze hinter seinen Aspekte aus dem SGB V aufgreifen: Das Krankengeld Möglichkeiten zurück. und die ambulante Versorgung psychisch kranker Kinder. Positiv zu bewerten ist die Einsicht der Bundesregie- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rung, dass die mit der Gesundheitsreform eingeführte Neuregelung des Krankengeldes für Selbstständige sowie Bereits die Überschrift dieses Gesetzespaketes macht unständig oder kurzzeitig Beschäftigte korrigiert werden deutlich, dass wir es nicht mit einer der üblichen Arznei- muss. Die vorgeschlagenen Regelungen – Anspruch auf mittelgesetznovellen zu tun haben. Normalerweise wür- gesetzliches Krankengeld – scheinen jedoch, wie sich aus den wir von der 15. AMG-Novelle sprechen, aber der der massiven Kritik von Betroffenen als auch der Kran- Omnibus ist so vollgeladen, dass dies sogar in der Über- kenkassen schließen lässt, zu kurz gesprungen. Gerade schrift deutlich werden muss. für die Gruppe der unständig Beschäftigten fehlen die Aus dem Kontext des Arzneimittelrechtes will ich zwei notwendigen Verbesserungen. Die Krankenkassen nach Aspekte aufgreifen: den Großhandel und die Definition wenigen Monaten zu einem völlig neu zu kalkulierenden anthroposophischer Arzneimittel. Wahltarif zu verpflichten, von dem nicht abzuschätzen ist, ob er überhaupt angenommen wird, fällt eher in die Ka- Der Sicherstellungsauftrag zur flächendeckenden tegorie „überflüssig“. Der Unterausschuss „Arzneimit- Vollversorgung mit Arzneimitteln soll auf den Großhan- tel“ des Gesundheitsausschusses des Bundesrats fordert del und die pharmazeutischen Unternehmen ausgeweitet zu Recht, die Wahltarife von einer Muss- in eine Kannbe- und eine Lieferverpflichtung von Pharmaherstellern ein- stimmung zu ändern.

Zu Protokoll gegebene Reden 22890 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Birgitt Bender (A) An den massiven Problemen der Fortführung der So- besondere solche Arzneimittel erfasst, die von der Ärztin (C) zialpsychiatrievereinbarung, die wir in den letzten Mona- oder vom Arzt zur Anwendung an den eigenen Patientin- ten erlebten, zeigt sich einmal mehr, welche negativen nen und Patienten selbst hergestellt werden. Folgen die Einführung des Gesundheitsfonds nach sich zieht. Der Vorschlag der Bundesregierung, die SPV für Zur weiteren Erhöhung der Arzneimittelsicherheit alle Krankenkassen einheitlich zu regeln, wird von uns dient die Regelung des Anwendungsverbotes bedenkli- Grünen sehr begrüßt. Im Gesetzgebungsprozess sollten cher Arzneimittel. wir jedoch intensiv erörtern, ob diese Regelung ausreicht. Einen wichtigen Beitrag zu mehr Arzneimittelsicher- Aus Baden-Württemberg wird mir berichtet, dass Kran- heit leisten die Regelungen zum Schutz vor Fälschungen. kenkassen die Regelungen so interpretieren, dass sie nur Hier werden insbesondere die derzeit für Arzneimittel die sozialpädiatrische Diagnostik übernehmen wollen geltenden Vorschriften auch auf Wirkstoffe zur Arzneimit- und die Kinder und Jugendlichen zur Therapie an die Ju- telherstellung ausgedehnt. gendhilfe verwiesen werden sollen. Dies entspricht aus meiner Sicht nicht dem Wunsch des Gesetzgebers und Schließlich enthält der Entwurf Ergänzungen zur kli- sollte klargestellt werden. Ebenso notwendig ist es, dass nischen Prüfung im Interesse des Schutzes der Probanden die Krankenkassen Übergangsregelungen bis zum In- und der Arzneimittelentwicklung. krafttreten dieses Gesetzes abschließen. Damit auch in Zukunft die flächendeckende Arzneimit- telversorgung für die Patientinnen und Patienten ge- Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär bei der Bun- währleistet ist, erhalten der Großhandel und der pharma- desministerin für Gesundheit: zeutische Unternehmer einen Sicherstellungsauftrag für Der von der Bundesregierung heute eingebrachte Ent- die Arzneimittelversorgung der Patientinnen und Patien- wurf für ein Gesetz zur Änderung arzneimittelrechtlicher ten. Hierfür ist es notwendig, dass der vollversorgende und anderer Vorschriften enthält im Wesentlichen Anpas- Großhandel einen gesetzlichen Belieferungsanspruch ge- sungen des Arzneimittelgesetzes an europäische Verord- genüber der Pharmaindustrie erhält, damit er seiner Ver- nungen und an Erfahrungen aus dem Vollzug. Mit dem antwortung nachkommen kann. Darüber hinaus wird der Gesetzentwurf wird die Arzneimittelsicherheit weiter ver- Verordnungsgeber verpflichtet, die Großhandelsspannen bessert. Zudem werden so weit wie möglich Verfahrenser- neu zu gestalten. leichterungen für die Arbeit der Behörden und der Unter- nehmen geschaffen. Die Änderungen im Betäubungsmittelgesetz dienen im Wesentlichen der Anpassung an Regelungen und Ände- Der Gesetzentwurf enthält neben den Änderungen des rungen im Arzneimittelgesetz und in anderen Vorschrif- Arzneimittelgesetzes Änderungen anderer Gesetze, insbe- ten. Für Patientinnen und Patienten bei klinischen Prü- (B) (D) sondere des Fünften Buches Sozialgesetzbuch. Wesentli- fungen und „Compassionate Use“ ist eine Ausnahme che Anpassungen im Arzneimittelgesetz gehen auf zwei von der betäubungsmittelrechtlichen Erlaubnispflicht EG-Verordnungen zurück: die Verordnung über Arznei- vorgesehen. Damit werden die (Prüf-)Ärztinnen und mittel für neuartige Therapien und die über Kinderarz- (Prüf-)Ärzte und das Bundesinstitut für Arzneimittel und neimittel. Medizinprodukte von unnötigem bürokratischen Aufwand entlastet. Sicherheit und Kontrolle des Betäubungsmittel- Arzneimittel für neuartige Therapien unterliegen verkehrs bleiben in gleichem Maße gewährleistet. grundsätzlich der europäischen Verordnung. Zu den Arz- neimitteln für neuartige Therapien zählen zum Beispiel Lassen Sie mich nun kurz die wichtigsten Änderungen biotechnologisch bearbeitete Gewebeprodukte, die in der der Gesetze benennen, die nicht im Zusammenhang mit regenerativen Medizin angewendet werden. Soweit sol- den Änderungen des Arzneimittelgesetzes stehen: Beson- che Arzneimittel nicht routinemäßig, sondern individuell ders hervorzuheben sind die Änderungen im SGB V, ins- für einzelne Patientinnen und Patienten hergestellt wer- besondere die Änderungen zum Krankengeld: Das GKV- den, unterliegen sie nicht den Zulassungsregelungen der Wettbewerbsstärkungsgesetz hat für bestimmte Versi- EU-Verordnung. Deshalb sollen im Arzneimittelgesetz chertengruppen mit Wirkung ab 2009 Wahltarife zur Ab- ähnliche Qualitäts- und Sicherheitsstandards geschaffen sicherung des Krankengeldanspruchs eingeführt. Damit werden, wie sie auch in den Fällen routinemäßiger, also wurden flexible Angebote für die Versicherten ermög- industrieller Herstellung im Rahmen der EU-Verordnung licht. Bei der Umsetzung der Vorgaben durch die Kran- erfüllt werden müssen. Damit werden der Zugang der Pa- kenkassen hat sich allerdings gezeigt, dass die gesetzli- tientinnen und Patienten zu diesen Arzneimitteln und zu- chen Vorgaben zur Vermeidung von ungerechtfertigten gleich ein hohes Qualitäts- und Sicherheitsniveau ge- Belastungen, vor allem bei älteren Versicherten, und zur währleistet. Verwaltungsvereinfachung angepasst werden müssen. Hinsichtlich der Verordnung über Kinderarzneimittel Versicherte, die einen Krankengeldanspruch nach den sind im AMG insbesondere Bußgeldbewehrungen und Regelungen des GKV-Wettbewerbstärkungsgesetzes seit Klarstellungen zur Kennzeichnung vorgesehen. 1. Januar 2009 allein über einen Wahltarif absichern konnten, erhalten deshalb künftig wieder die zusätzliche Nach der Föderalismusreform ist es möglich und aus Option, wie Arbeitnehmer gegen Zahlung des allgemei- Gründen der Arzneimittelsicherheit auch erforderlich, nen Beitragssatzes einen „gesetzlichen“ Krankengeld- die Vorschriften des Arzneimittelgesetzes auch auf solche anspruch ab der siebten Woche der Arbeitsunfähigkeit Arzneimittel auszudehnen, die nicht dazu bestimmt sind, abzusichern. Daneben ist auch weiterhin der Abschluss in Verkehr gebracht zu werden. Damit werden auch ins- von Wahltarifen möglich. Auch über den „gesetzlichen“

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22891

Parl. Staatssekretär Rolf Schwanitz (A) Anspruch hinausgehende Absicherungswünsche können Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) weiterhin über Wahltarife realisiert werden. Entgegen Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- der bisherigen Praxis vieler Krankenkassen sind künftig wurfs auf Drucksache 16/12256 an die in der Tagesord- aber Differenzierungen nach dem individuellen Risiko nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es der Versicherten, insbesondere also Altersstaffelungen, anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann nicht mehr möglich. ist die Überweisung so beschlossen. Eine weitere wichtige Änderung im SGB V ist die Re- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf: gelung zur Sicherung der Fortführung der Versorgung mit Leistungen der Sozialpsychiatrie-Vereinbarung. Auf- Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker grund von Kündigungen der Sozialpsychiatrie-Vereinba- Beck (Köln), Irmingard Schewe-Gerigk, Birgitt rungen durch Krankenkassen ist bei den betroffenen Ärz- Bender, weiteren Abgeordneten und der Fraktion tinnen und Ärzten, deren Mitarbeiterinnen und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Mitarbeitern und den betroffenen Patientinnen und Pa- Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Le- tienten sowie deren Familien erhebliche Unsicherheit benspartnerschaftsgesetzes und anderer Ge- entstanden, da die Finanzierung nichtärztlicher Leistun- setze im Bereich des Adoptionsrechts gen im Rahmen sozialpädiatrischer und psychiatrischer (LPartGErgG AdoptR) Tätigkeit zur Disposition gestellt wurde. Um die Sorge – Drucksache 16/5596 – über die Fortführung der Versorgung mit Leistungen der So-zialpsychiatrie-Vereinbarung zu beenden, wird ge- Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) setzlich klargestellt, dass die Krankenkassen für diese Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Leistungen eine angemessene Vergütung vereinbaren müssen und dass das Nähere hierzu im Bundesmantelver- Wir nehmen die Reden der Kolleginnen und Kolle- trag zu vereinbaren ist. gen Daniela Raab, CDU/CSU, Christine Lambrecht, SPD, Jörg van Essen, FDP, Dr. Barbara Höll, Die Linke, Hervorheben möchte ich die Änderungen im SGB V Volker Beck, Bündnis 90/Die Grünen, zu Protokoll. zur Abrechnung parenteraler Zubereitungen. Apotheken, die Arztpraxen mit Infusionen und anderen parenteralen Zubereitungen versorgen, sollen künftig offenlegen, wo Daniela Raab (CDU/CSU): sie die Arzneimittel eingekauft haben, aus denen die Zu- Am 19. Dezember 2008, also vor genau vier Monaten, bereitung hergestellt worden ist. Das verbessert die Arz- habe ich zuletzt über dieses Thema geredet. Ich habe neimittelsicherheit. Außerdem sollen die Einkaufsvorteile schon damals wiederholt gesagt, dass ich gar nicht wis- sen will, wie oft wir schon wegen dieser Thematik hier zu- (B) für Infusionsarzneimittel weitergeleitet werden. Rabatte (D) sollen nicht in der Vertriebskette versickern. Das Geld sammengekommen sind. Diesmal fordert die Fraktion der soll in die medizinische Versorgung der Patientinnen und Grünen also erneut eine vollständige Gleichstellung ein- Patienten fließen. Die Apotheken erhalten auch die Mög- getragener Lebenspartnerschaften mit der Ehe in Bezug lichkeit, künftig die Einkaufspreise für Arzneimittel zur auf die Adoptionsrechte. Sie begründet dies unter ande- Herstellung von Infusionen frei zu vereinbaren. Dies ver- rem mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom bessert die Wirtschaftlichkeit und stärkt die ortsnahe Ver- 17. Juli 2002 und den Inhalten des Europäischen Über- sorgung durch Apotheken. einkommens vom 24. April 1967 zur Kindesadoption. Der Gesetzentwurf enthält auch die Regelungen zur Leider muss ich Ihnen auch heute wieder mitteilen, elektronischen Gesundheitskarte. Im Zusammenhang mit dass insbesondere im Bereich der Adoption keinerlei Zu- ihrer Einführung hat sich aus unterschiedlichen Gründen stimmung vonseiten der Union zu erwarten ist. Wir sind Anpassungsbedarf für gesetzliche Regelungen ergeben. weiterhin gegen ein volles Adoptionsrecht für Lebens- Um den Arbeitsabläufen in der Praxis Rechnung zu tra- partnerschaften und somit gegen ein erneutes „Heranrü- gen, soll in Zukunft neben den Leistungserbringern auch cken“ an die Ehe. Wir haben der Stiefkindadoption zuge- deren Praxispersonal befugt sein, die Einwilligung der stimmt, was schon ein großer Schritt war. Außerdem kann Versicherten zum Speichern ihrer Daten mittels der elek- auch ein Lebenspartner, dessen Partner ein adoptiertes tronischen Gesundheitskarte zu dokumentieren. Darüber Kind hat, nach § 9 LPartG zur Mitentscheidung in Ange- hinaus wird klargestellt, dass auch die ambulant tätigen legenheiten des täglichen Lebens, die das Kind betreffen, Krankenhäuser von den bestehenden Finanzierungsrege- befugt sein. Er ist bei Gefahr im Verzug nach § 9 Abs. 2 lungen erfasst sind. Zusätzlich werden die bereits beste- LPartG ebenfalls berechtigt, zum Wohl des Kindes auch henden umfangreichen Aufgaben des Bundesamtes für Si- allein zu handeln. Sie liefern also keine neue Basis, die cherheit in der Informationstechnik detaillierter im eine gemeinsame Adoption eines Kindes durch Lebens- Gesetz geregelt. Die gesetzlichen Anpassungen sind er- partner auf eine solide, sozialwissenschaftlich gesicherte forderlich, um die Einführung der elektronischen Ge- Tatsachengrundlage stellen würde und bei der das Kin- sundheitskarte weiter zu unterstützen. deswohl im Vordergrund steht. Das vom BMJ ins Leben gerufene Forschungsvorhaben zur Situation von Kindern Der Entwurf enthält ein ganzes Bündel wichtiger Maß- in Lebenspartnerschaften und Lebensgemeinschaften von nahmen, nicht zuletzt wegen der europarechtlichen Be- Menschen gleichen Geschlechts ist weder abgeschlossen, züge müssen wir den Entwurf rasch umsetzen. Lassen Sie noch gibt es erste Erkenntnisse. Daher werden wir von uns daher nun konzentriert und intensiv im Ausschuss der Union uns auch weiterhin gegen diese Möglichkeit über den Entwurf beraten. aussprechen. 22892 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Daniela Raab (A) Grundsätzlich ist festzuhalten: Klar ist für mich per- Verhältnis entsteht, so eröffnet die Stiefkindadoption die (C) sönlich – und da spreche ich für viele meiner Kollegen –: Möglichkeit, das Kind rechtlich besser in der Familie ab- Eine völlige Gleichstellung von Ehe und Lebenspartner- zusichern. Sie muss beim Vormundschaftsgericht bean- schaft streben wir nicht an und sie ist auch nicht geboten! tragt werden. Der Antrag ist notariell zu beurkunden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge- Einbezogen wird auch das Jugendamt, das vom Vormund- richts ist es dem Gesetzgeber wegen des verfassungs- schaftsgericht beauftragt wird, zu prüfen, ob die beab- rechtlichen Schutzes der Ehe aus Art. 6 Abs. 1 des Grund- sichtigte Adoption, wie selbstverständlich, dem Wohle des gesetzes grundsätzlich nicht verwehrt, diese gegenüber Kindes dient und zu erwarten ist, ob zwischen dem An- anderen Lebensgemeinschaften zu begünstigen. Das be- nehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind-Verhältnis ent- deutet nicht etwa eine Schlechterstellung oder Benachtei- steht. Das Jugendamt überprüft dabei die Beziehung zu ligung der Lebenspartnerschaften, aber eine Andersbe- dem Stiefelternteil sowie die gesundheitlichen und wirt- handlung. schaftlichen Verhältnisse der Lebenspartner wie bei hete- rosexuellen Paaren auch. Christine Lambrecht (SPD): Der Weg zur Stiefkindadoption ist also schon jetzt nicht Wir beraten heute in erster Lesung den von der Frak- einfach. Laut Untersuchungen leben in Deutschland min- tion der Grünen eingebrachten Gesetzentwurf zur Ergän- destens 13 000 Kinder bei homosexuellen Paaren. Oft zung des Lebenspartnerschaftsgesetzes und anderer Ge- stammen diese Kinder aus vorangegangenen Beziehun- setze im Bereich des Adoptionsrechts. Hier vorgesehen ist gen, immer öfter werden Kinder aber auch via Samen- die Angleichung der Lebenspartnerschaft an die Ehe im spende hineingeboren. Adoptionsrecht und die Ermöglichung einer gemeinsa- men Adoption für eingetragene Lebenspartnerschaften. Das von dem Gesetzentwurf der Grünen vorgesehene Derzeit ist es für Homosexuelle nur möglich, ein Kind als Recht eingetragener Lebenspartner, gemeinschaftlich ein Einzelperson anzunehmen, da nur Verheirateten die Mög- Kind anzunehmen, bedeutet nach der Stiefkindadoption lichkeit offen steht, gemeinschaftlich ein Kind anzuneh- einen neuen Schritt. Abzuwarten bleibt, wie sich die ge- men. Ein erster Schritt in die Richtung, dies zu ändern, sellschaftliche Akzeptanz dafür entwickelt. Selbstver- war die Stiefkindadoption, die seit 2005 möglich ist. ständlich haben wir uns wie immer an den Wünschen und Bedürfnissen der Menschen zu orientieren. Der rechtli- Ein Blick zurück zeigt, dass wir seit der Einführung des che Rahmen für Ehe, Lebenspartnerschaften und Familie Lebenspartnerschaftsgesetzes 2001 durch die rot-grüne muss zeitgemäß sein und den Bedürfnissen der Menschen Koalition viel erreicht haben, jedoch leider noch nicht die entsprechen. Für die Änderungen des Adoptionsrechts vollständige Gleichstellung mit der Ehe. Das Bundesver- müssen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stim- fassungsgericht hat die Gleichstellung mit der Ehe durch (B) men. Sicherlich kann sich gerade im Fall von Pflege- und (D) sein Urteil vom 17. Juli 2002 vom Grundsatz her bestä- Adoptivkindern ein gesellschaftliches Bedürfnis für eine tigt. Unter anderem steuerrechtlich oder im Beamten- gemeinschaftliche Adoption dieser Kinder durch gleich- recht behandelt das Gesetz Lebenspartner aber noch im- geschlechtliche Paare durchsetzen. Dass die Paare mer nicht gleich. Hier haben wir noch eine Menge zu tun, selbstbewusst zu ihrer Lebensweise stehen, wurde von ich gehe aber acht Jahre nach dem Inkrafttreten des Le- den Adoptionsvermittlungsstellen, die Erfahrungen mit benspartnerschaftsgesetzes davon aus, dass wir trotz der homosexuellen Paaren hatten, als positiv für die Entwick- Widerstände einiger konservativer Kräfte die Vollendung lung der Kinder beurteilt. Es bleibt aber noch abzuwar- der Gleichstellung mit der Ehe doch noch erreichen kön- ten, wie sich die gesellschaftliche Akzeptanz nach der nen. Einführung der Stiefkindadoption weiterentwickelt. Vor- Das von der rot-grünen Koalition 2004 verabschiedete eilige Schlüsse verbieten sich bei diesem Thema. Die an- Gesetz zur Überarbeitung des Lebenspartnerschafts- stehenden Beratungen geben Gelegenheit, über die offe- rechts glich weiterhin die Rechte und Pflichte in der Le- nen Fragen zu beraten. benspartnerschaft denen in der Ehe so weit wie möglich an. Es wurde im Zuge dessen auch ein kleines Adoptions- Jörg van Essen (FDP): recht, die Stiefkindadoption leiblicher Kinder der Lebens- Ich freue mich darüber, dass die langjährige Forde- partnerin oder des Lebenspartners eröffnet. So ist es rung der FDP, auch gleichgeschlechtlichen Paaren ein durch die Stiefkindadoption seit Beginn 2005 erstmals gemeinsames Adoptionsrecht einzuräumen, mittlerweile möglich in Deutschland, dass zwei Mütter oder zwei Vä- auch in der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mehrheits- ter rechtlich als Elternpaar anerkannt werden. Die ge- fähig ist. Nur zu gut erinnere ich mich an die kontroversen meinschaftliche Annahme bleibt aber Ehepaaren vorbe- Diskussionen aus der 14. und 15. Wahlperiode über die- halten. Aufgrund des Verbotes von Kettenadoptionen ses Thema. Die FDP-Bundestagsfraktion hat als erste kann ein adoptiertes Kind auch nicht durch weitere Per- Fraktion überhaupt 2004 einen Gesetzentwurf in den sonen adoptiert werden. Die Stiefkindadoption ist für die Deutschen Bundestag eingebracht, der neben Regelun- Paare an strenge Voraussetzungen geknüpft. Die Adop- gen im Sozialhilfe-, Einkommen- und Erbschaftsteuer- tion ist mit allen Konsequenzen endgültig. Verwandt- recht auch ein gemeinsames Adoptionsrecht für eingetra- schaftsbeziehungen zum leiblichen Elternteil, auch die gene Lebenspartner vorgesehen hat. Diese Initiative ist unterhaltsrechtlichen und erbrechtlichen Ansprüche an damals leider an der Mehrheit von Rot-Grün gescheitert. die leiblichen Verwandten des Kindes sind mit der An- nahme vollständig aufgehoben. Ist zu erwarten, dass zwi- Auch in den Reihen der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- schen dem Annehmenden und dem Kind ein Eltern-Kind- nen gab es erhebliche Widerstände gegen ein gemeinsa-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22893

Jörg van Essen (A) mes Adoptionsrecht. Die damalige Bundestagsvizepräsi- In einem Antrag zur Adoption von Kindern, den wir in (C) dentin erklärte dazu im Oktober 2004 im dieser Woche in den Bundestag eingebracht haben, be- Deutschen Bundestag, sie teile die Befürchtung, dass die kräftigen wir diese Forderung erneut. Stiefkindadoption als Türöffner genutzt werden könnte, In einer Anhörung des Rechtsausschusses vom vergan- um langfristig das volle Adoptionsrecht für gleichge- genen Jahr haben die dort anwesenden Experten aus dem schlechtliche Paare zu erleichtern. Mit der Adoption gehe Bereich des Familienrechts übereinstimmend erklärt, es aber nicht um Emanzipationsbestrebungen oder um dass Unterschiede im Hinblick auf die Entwicklung zwi- Statusfragen von benachteiligten gesellschaftlichen schen Kindern in gleichgeschlechtlichen Familien und Gruppen, sondern allein um die Frage des Kindeswohls, Kindern in heterosexuellen Familien nicht vorliegen. Die so Frau Vollmer. Im gleichen Jahr schrieb sie im „Tages- Sachverständigen haben vorgetragen, dass praktisch ver- spiegel“, sie sei davon überzeugt, dass die Erfahrung des gleichbare Entwicklungsbedingungen für Kinder in Lebens mit einem weiblichen und einem männlichen El- gleichgeschlechtlichen Partnerschaften bestehen. Alle ternteil für Kinder im Grundsatz produktiv und gut sei. Vorurteile, die in früheren Jahren gegen die Erziehungs- Kinder wollen einen Vater und eine Mutter, so Frau kompetenz von gleichgeschlechtlichen Paaren vorgetra- Vollmer. gen wurden, sind durch zahlreiche wissenschaftliche Un- Darüber hinaus hat sich die rot-grüne Koalition in den tersuchungen klar widerlegt worden. vorangegangenen Jahren ständig hinter dem Europäi- Die FDP-Bundestagsfraktion wird den Gesetzentwurf schen Adoptionsabkommen versteckt und behauptet, das der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen daher unterstützen. Abkommen stünde einem gemeinsamen Adoptionsrecht von homosexuellen Menschen in Deutschland entgegen. Die FDP-Bundestagsfraktion war von dieser Argumenta- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): tion nie überzeugt, insbesondere im Hinblick auf das ge- Als Präsident Obama am 20. Januar sein Amt antrat, meinsame Adoptionsrecht in den Niederlanden. Nunmehr ließ er auf der Homepage des Weißen Hauses seine poli- räumen auch die Grünen in ihrem vorliegenden Gesetz- tischen Ziele veröffentlichen. In diesen turbulenten Zeiten entwurf ein, dass das Abkommen der Einführung eines beschränkte er sich nicht auf Statements zur größten gemeinschaftlichen Adoptionsrechts für gleichge- Wirtschafts- und Finanzkrise seit 1929, sondern betonte schlechtliche Lebenspartner nicht entgegensteht. Die auch die Unterstützung der Lesben- und Schwulenbewe- Einsicht kommt zwar spät, aber besser als nie. Die FDP- gung: Bundestagsfraktion begrüßt ausdrücklich, dass in dieser Präsident Obama meint, dass wir die Adoptions- wichtigen Frage mittlerweile auch bei Bündnis 90/Die rechte für alle Paare und Einzelpersonen gewähr- Grünen ein Umdenken stattgefunden hat. leisten müssen, ohne Rücksicht auf die sexuelle Ori- (B) (D) Der Gesetzgeber hat in der 15. Wahlperiode die Stief- entierung. Er denkt, dass das Wohl eines Kindes kindadoption für Lebenspartner eingeführt. Für die FDP- von einem gesunden und liebevollen Heim abhängt Bundestagsfraktion war dies ein Schritt in die richtige und nicht davon, ob die Eltern schwul/lesbisch sind Richtung, aber letztendlich auch nicht mehr als nur eine oder nicht. halbherzige Lösung. Nach Auffassung der FDP ist Rot- Demgegenüber haben wir in Deutschland eine rück- Grün mit dieser Initiative auf halbem Weg stehen geblie- ständige Situation. Beispielhaft für die Auseinanderset- ben. In Deutschland leben schätzungsweise weit mehr als zung ist die Aussage der CSU-Abgeordneten Daniela 10 000 Kinder in gleichgeschlechtlichen Lebensgemein- Raab. Sie sprach am 19. Dezember im Plenum des Bun- schaften. Die Tatsache, dass Kinder mit zwei Bezugsper- destages zum Stand der Gleichstellung von Ehe und ein- sonen aufwachsen, die dem gleichen Geschlecht angehö- getragener Partnerschaft: „Solange die Union an der ren, ist daher in Deutschland keine Seltenheit, sondern Regierung beteiligt ist, wird es eine vollständige Gleich- vielmehr Ausdruck einer Lebensform, die in der Gesell- stellung nicht geben.“ Dies heißt für die CDU/CSU, dass schaft anerkannt und akzeptiert ist. Homosexuelle Men- sie ein Adoptionsrecht für lesbische und schwule Paare schen haben bereits heute das Recht, als Einzelperson ein verhindern will. Während der Präsident der Vereinigten Kind zu adoptieren. Darüber hinaus werden gleichge- Staaten das Adoptionsrecht erweitern will, kommt die schlechtliche Paare seit Jahren von den Jugendämtern CDU/CSU zur gegenteiligen Schlussfolgerung und verstärkt als Pflegeeltern angeworben, weil sich ihre Er- möchte das Adoptionsrecht lesbischen und schwulen ziehungskompetenz in besonderer Weise bewährt hat. Paaren in jedem Fall verwehren. Ausschlaggebend für eine Adoption muss alleine das Kin- Wie kommt es zu dieser strikten Ablehnung? „In dieser deswohl sein. Frage darf es keine Kompromisse geben. Denn anders als Ein Kind hat gute Entwicklungschancen in einer stabi- bei der rechtlichen Ausgestaltung der Lebenspartner- len und gefestigten Beziehung. Es dient gerade in beson- schaften sind hier nicht nur die Interessen der Betroffenen derer Weise dem Kindeswohl, wenn das Kind zwei Be- tangiert, sondern in erster Linie die der Kinder, die staat- zugspersonen hat, die beide Verantwortung für das Kind lichen Schutz benötigen.“ So die Stellungnahme der Ar- beitsgemeinschaft Recht zur Klausurtagung der CDU/ und seine Erziehung übernehmen. Im Interesse der Stabi- CSU am 28. Mai 2008. lität von Familienstrukturen und Verantwortungsgemein- schaften und insbesondere im Interesse der betroffen Kin- Worum geht es hier eigentlich? In Deutschland können der hält die FDP-Bundestagsfraktion es daher für sich erwachsene Menschen frei entscheiden, wie sie zu- zwingend geboten, auch gleichgeschlechtlichen Paaren sammenleben. Zwei Rechtsinstitute stehen zur Verfügung, die Möglichkeit einer gemeinsamen Adoption zu eröffnen. die Ehe und die eingetragene Lebenspartnerschaft, um

Zu Protokoll gegebene Reden 22894 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Dr. Barbara Höll (A) das Zusammenleben rechtlich abzusichern. Es existieren der auf. Nach bestehender Rechtslage ist eingetragenen (C) viele familiäre Konstellationen: die Groß- und Kleinfami- Lebenspartnerinnen oder Lebenspartnern anders als lie, alleinerziehende Väter und Mütter, Drei-Generatio- Eheleuten eine gemeinsame Adoption dennoch nicht nen-Familien, die Patchwork-Familie und vieles mehr. möglich. Mit dem Gesetz zur Ergänzung des Lebenspart- Entscheidend für die Kinder ist, dass sie Liebe und Zunei- nerschaftsgesetzes und anderer Gesetze im Bereich des gung erfahren. Der rechtliche Rahmen sollte für Erwach- Adoptionsrechts will die Bundestagsfraktion Bündnis 90/ sene und Kinder so dynamisch sein, dass das Wohl und Die Grünen die bestehende Benachteiligung nun korri- die Rechte für alle gewährleistet sind. Kinder haben das gieren. Recht auf Umgang mit ihren biologischen Eltern, aber im Falle des Falles auch mit ihren sozialen Eltern. Das Im Mittelpunkt unserer Familienpolitik steht immer Sorge-, Umgangs-, Unterhalts- und eben auch das Adop- das Wohl des Kindes. Bei den in Lebenspartnerschaften tionsrecht bilden den rechtlichen Rahmen. lebenden Kindern handelt es sich um eigene Kinder, aber auch um gemeinsame Pflegekinder oder Adoptivkinder In Deutschland wachsen etwa 13 000 Kinder bei einer Partnerin oder eines Partners. Obwohl zwei Erzie- gleichgeschlechtlichen Paaren auf. Stellen sie sich ein hungspersonen für das Kind sorgen, werden die Kinder schwules Paar vor, Herrn Schön und Herrn Stark. Dieses durch fehlende Ansprüche gegenüber den faktischen El- möchte gerne gemeinsam ein Kind großziehen und es da- tern nach dem geltenden Unterhalts- oder Erbrecht be- her gemeinsam adoptieren, um die Verantwortung ge- nachteiligt. Gegenüber gemeinschaftlich adoptierten meinsam zu tragen. Doch nach geltendem Recht wird dem Kindern verheirateter Eltern fehlt ihnen die doppelte Si- Paar eine gemeinsame Adoption verweigert. Die Konse- cherheit. Auch im Alltag erfahren Kinder in solchen Fa- quenz: Herr Stark adoptiert das Kind, Roland, allein. milien Nachteile durch die fehlende rechtliche Anerken- Doch nach 14 Jahren gemeinsamer Partnerschaft, für- nung als Familie. Diese Diskriminierung ist hinsichtlich sorglicher Erziehung und gemeinsamer Fürsorge des des Art. 6 Abs. 1 GG bedenklich, da der Schutz der Fami- Kindes trennt sich Herr Schön von Herrn Stark. Die Be- lie und das Wohl des Kindes die rechtliche Absicherung ziehung geht im Streit auseinander. Roland hat nun nur dieser faktischen Eltern-Kind-Beziehungen gebieten. Rechte gegenüber Herrn Stark, nicht aber gegenüber In der politischen Diskussion vorgetragene Befürch- Herrn Schön. Und Herr Schön muss sich das gemeinsame tungen, das Aufwachsen in gleichgeschlechtlichen Le- Umgangsrecht mühsam erstreiten. Beim Unterhalts- und bensgemeinschaften füge Kindern seelische und psychi- beim Erbschaftsteuerrecht ist Roland gegenüber anderen sche Schäden zu und führe zu Entwicklungsstörungen, Adoptivkindern benachteiligt. Soll dies im Interesse des sind wissenschaftlich nicht haltbar. Alle vorliegenden Kindeswohls sein? Studien legen nahe, dass kein nennenswerter Unterschied zum Leben in Familien mit verschiedengeschlechtlichen (B) Mit der Möglichkeit der Stiefkindadoption, die seit (D) 1. Januar 2005 besteht, wurde ein weiterer Schritt zum Eltern auszumachen ist. Eine Beeinträchtigung der kind- Wohle des Kindes in einer Lebenspartnerschaft gegan- lichen Entwicklung kann der aktuellen Forschung nach gen. Nun ist es an der Zeit, das Kindeswohl vollständig zu nicht festgestellt werden. In zahlreichen Kommunen be- beachten. Frau Bundesministerin Zypries, bitte geben Sie richten Jugendämter über ihre guten Erfahrungen mit nicht noch eine Studie zur Situation von Kindern bei schwulen und lesbischen Pflegeeltern. Auch die positiven gleichgeschlechtlichen Paaren in Auftrag, lassen Sie uns Meldungen aus Schweden, dem Vereinten Königreich, endlich die Gleichstellung zwischen hetero- und homo- Spanien, Belgien und den Niederlanden, wo die Möglich- sexuellen Paaren vollziehen. Meine Damen und Herren keit der gemeinschaftlichen Adoption durch gleichge- von der CDU/CSU: Rüsten sie endlich ideologisch ab. schlechtliche Paare bereits eingeführt ist, widerlegen die Meine Damen und Herren von der SPD: Handeln sie im ohnehin empirisch nie belegten Vorbehalte. Und reden Inte-resse der Kinder. Lassen sie uns dem Antrag der Sie sich nicht mit der Studie, die vom Bundesministerium Grünen zustimmen – im Interesse der Kinder. Kinder ver- der Justiz im Auftrag gegeben wurde, heraus. Die liegt dienen es, gleich behandelt zu werden. schon dem Ministerium längst vor und belegt, dass es keine sachlichen Gründe gegen Gleichberechtigung ein- getragener Lebenspartnerschaften im Adoptionsrecht Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gibt. Und auch dem Bundesverfassungsgericht wird die Zu Beginn erlauben Sie mir, Ihnen eine gute Nachricht Auskunft verweigert, obwohl es schon öfters nach den Er- von unserem nördlichen Nachbarland zu verkünden. gebnissen der Studie gefragt hatte. Bereits gestern wurde ein Gesetz vom Parlament in Kopenhagen beschlossen, nach dem das Adoptionsrecht Niemand hat ein Recht auf ein Kind. Kinder haben für eingetragene Lebenspartnerschaften eröffnet wurde. vielmehr ein Recht auf Liebe, Fürsorge, Aufmerksamkeit Angesichts der Tatsache, dass die Dänen mit dem Institut und Geborgenheit. All dies können sie bei gleichge- der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften schon schlechtlichen Eltern grundsätzlich in gleicher Weise er- 20 Jahre Erfahrung haben, kann man ihnen wohl ver- fahren wie bei verschiedengeschlechtlichen Paaren. Les- trauen, dass sie das Richtige tun. ben und Schwule sind genauso verantwortliche Eltern wie andere Menschen auch. Ein genereller Ausschluss Das Grundgesetz schützt in Art. 6 Abs. 1 die Familie. vom gemeinsamen Adoptionsrecht stellt die Fähigkeit von Um diesen Schutz gewährleisten zu können, muss das Fa- Lesben und Schwulen zur Kindererziehung aus ideologi- milienrecht sich wandelnden familiären Lebensformen schen Gründen pauschal infrage. Diese willkürliche Dis- gerecht werden. In Deutschland wachsen bereits in jeder kriminierung ist sachlich nicht gerechtfertigt und schadet achten gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft Kin- dem Kindeswohl, indem es die Stigmatisierung bereits be-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22895

Volker Beck (Köln) (A) stehender Familien mit gleichgeschlechtlichen Eltern Genaue, nach sozio-demografischen Strukturmerkma- (C) fördert und den Kreis der am besten geeigneten Adoptiv- len differenzierbare Bevölkerungszahlen sind aber die eltern künstlich verknappt. Ob eine Adoption im konkre- wesentliche Grundlage für viele politische und wirt- ten Fall dem Wohl des Kindes dient, muss bei gleichge- schaftliche Planungen, ebenso wie für die wissenschaft- schlechtlichen Lebenspartnerschaften genauso wie bei liche Forschung. Wie viele Kindergartenplätze braucht Ehepaaren jeweils im Einzelfall der sachkundigen Ent- eine Gemeinde? Wie viele Schulen und wie viele Alten- scheidung des Vormundschaftsgerichts überlassen blei- heime? Ist das neue Krankenhaus notwendig? Alles Fra- ben. gen, die sich nur auf der Basis verlässlicher Bevölke- rungsdaten beantworten lassen. Gleiches gilt für die Und beenden möchte ich meine Rede ebenso mit einer Einteilung von Bundestagswahlkreisen oder für den Fi- guten Nachricht, die allerdings vom Mai letzten Jahres nanzausgleich zwischen den Ländern. Wahlkreise dürfen kommt. Damals verabschiedete das Ministerkomitee des in ihrer Größe nicht zu sehr voneinander abweichen, Europarats die revidierte Fassung des Übereinkommens sonst kann theoretisch sogar die Wahl angefochten wer- über die Adoption von Kindern von 1967, nach der das den. Und im Länderfinanzausgleich geht es um viel Geld, Adoptionsrecht auf gleichgeschlechtliche Ehepaare bzw. hier fällt jeder Einwohner mit rund 2 000 Euro ins Ge- Lebenspartner ausgeweitet werden kann. Dies zeigt, dass wicht. auf der europäischen Ebene die Vorurteile gegenüber ho- mosexuellen Eltern keine Mehrheiten mehr finden. Des- Wenn man das weiß und wenn man weiß, dass die amt- halb wäre es wünschenswert, wenn auch der deutsche liche Einwohnerzahl in rund 50 Rechtsvorschriften eine Gesetzgeber die Gleichstellung der Lebenspartnerinnen wichtige Bemessungsgrundlage darstellt, dann wird und Lebenspartner mit den Ehegatten im Bereich des Ad- deutlich, wie wichtig auch hier verlässliche Zahlen sind. optionsrechts beschließen würde. Im Übrigen rufe ich die Ein solides Datenmaterial ist also die Voraussetzung für Bundesregierung auf, der Ratifizierung der zeitgemäßen gute Politik. Wir können die notwendigen Veränderungs- Fassung des Übereinkommens nicht mehr entgegenzuste- prozesse nur dann gestalten, wenn wir über ein angemes- hen. senes Bild der Wirklichkeit unserer Gesellschaft verfü- gen. So weit, denke ich, sind wir uns alle einig. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Ich weiß aber auch, dass manch einer bezweifelt, dass Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wir zum Einblick in diese Wirklichkeit überhaupt einen wurfs auf Drucksache 16/5596 an die in der Tagesord- Zensus brauchen. Eines ist richtig: Natürlich haben wir nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es bereits Bevölkerungszahlen. Aber diese Zahlen basieren anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann auf Fortschreibungen der Volkszählung von 1987 in der ist die Überweisung so beschlossen. Bundesrepublik Deutschland und von 1981 in der DDR. (B) (D) Eine erste Testerhebung zur Vorbereitung des Zensus hat Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf: gezeigt, wie dramatisch dabei die Abweichungen der Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Hochrechnungen zu den tatsächlichen Zahlen sein dürf- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anord- ten: Die aktuellen Bevölkerungszahlen dürften zurzeit um nung des Zensus 2011 sowie zur Änderung von mindestens 1,3 Millionen überhöht sein. Das Ausländer- Statistikgesetzen zentralregister weist 600 000 weniger Ausländerinnen und Ausländer auf als die Bevölkerungsfortschreibung. – Drucksache 16/12219 – Überweisungsvorschlag: Von mancher Seite aus kommt auch der Einwand, man Innenausschuss (f) bräuchte deshalb keinen umfänglichen Zensus, weil man Rechtsausschuss ja den regelmäßigen Mikrozensus habe. Dieser diene ja Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung gerade dazu, in regelmäßigen und kurzen Abständen Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung und Strukturdaten über die Bevölkerung und den Arbeits- Technikfolgenabschätzung markt zu gewinnen. Der Glaube, dass der Mikrozensus Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO den großen Zensus ersetzen könne, ist jedoch – auch nur einzelne Merkmale betreffend – aus statistischer Sicht ein Die Reden dazu nehmen wir ebenfalls zu Protokoll. Trugschluss. Der Mikrozensus ist eine Repräsentativsta- Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kol- tistik. Dass heißt, er basiert ausschließlich auf einer legen Kristina Köhler, CDU/CSU, Maik Reichel, SPD, Stichprobe. Eine verlässliche Stichprobe kann man aber Gisela Piltz, FDP, Petra Pau, Die Linke, Silke Stokar von nur dann ziehen, wenn man die Grundgesamtheit kennt. Neuforn, Bündnis 90/Die Grünen. Ich kann eben nur dann sagen, dass die von mir ausge- wählte Gruppe repräsentativ für die Gesamtbevölkerung Kristina Köhler (Wiesbaden) (CDU/CSU): ist, wenn ich zugleich auch weiß, wie sich die Gesamtbe- Mit Stichtag 3. November 2008 gab es 12 987 543 völkerung – also die Grundgesamtheit – zusammensetzt. Rindviecher in Deutschland, davon 632 in Berlin. Wir Und diese Grundgesamtheit hat sich seit den letzten Zäh- wissen also genau, wie viele Rindviecher welchen Alters lungen 1987 bzw. 1981 ziemlich verändert. Diese Verän- wo in Deutschland leben. Wenn wir jedoch genau wissen derung lässt sich mit reinen Fortschreibungen eben nicht wollen, wie viele Menschen in Deutschland leben, dann verlässlich erfassen, wie die Abweichungen beim Zensus- müssen wir leider feststellen, „nichts Genaues weiß man test gezeigt haben. Hier wieder die Wirklichkeit als Basis nicht“. Es gibt keine exakten Daten über Umfang und Zu- zu haben, genau darum geht es auch im großen Zensus. sammensetzung der Bevölkerung in Deutschland. Deshalb kann der Mikrozensus den Zensus nicht ersetzen. 22896 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Kristina Köhler (Wiesbaden) (A) Im Gegenteil: Ohne eine regelmäßige Gesamterhebung Mein besonderer Dank an dieser Stelle gilt den Mitar- (C) sind die Ergebnisse des Mikrozensus nicht verlässlich! beitern des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden und Deshalb brauchen wir den Zensus 2011 und deshalb wer- den Mitarbeitern der Statistischen Landesämter für ihre den wir uns an der Zensusrunde der Europäischen Union schon jetzt hervorragende Arbeit bei der Vorbereitung beteiligen. des Zensus 2011. Die Methode des nun geplanten regis- tergestützte Zensus wurde von ihnen in jahrelanger Arbeit Dabei sage ich im Übrigen auch ganz offen: Aus mei- entwickelt. Erlauben Sie mir diese Anmerkung als Sozio- ner Sicht war es ein Fehler, dass man im Jahr 2000 die login: Sie haben hier eine Pionierarbeit geleistet, die Zensusrunde der EU nicht mitgemacht hat. Ich bin froh, nicht hoch genug eingeschätzt werden kann! Vielen dass dieses Mal die Volkszählung von fast allen Seiten in Dank! einem sehr konstruktiven Rahmen begleitet wird. Dass sich die Proteste gegen den Zensus in Grenzen halten, hat Maik Reichel (SPD): aber sicherlich auch damit zu tun, dass sich die Methode des Zensus 2011 grundsätzlich von einer traditionellen 1981 wurde in der damaligen DDR, 1987 in der dama- Volkszählung unterscheiden wird. Es wird keine umfang- ligen BRD die letzte Volkszählung durchgeführt. In ziem- reiche Befragung aller Haushalte geben. In erster Linie lich genau zwei Jahren wird es in der EU eine Volks- und werden bestehende Register genutzt, vor allem die Mel- Gebäudezählung geben. Die beteiligten Länder werden deregister der Kommunen und die Daten der Bundes- diesen Zensus auf unterschiedliche Weise durchführen. agentur für Arbeit. Nur um Ungenauigkeiten zu erkennen Nachdem die letzten Volkszählungen 1981 und 1987 auf und um solche Daten zu erhalten, für die es – wie etwa im konventionelle Weise, das heißt durch die Befragung aller Falle des Bildungsabschlüsse – keine bundesweiten Ver- Bürger, abliefen, soll es 2011 erstmals einen registerge- waltungsdaten gibt, wird im Jahr 2011 ein kleiner Teil der stützten Zensus geben. Dies entlastet die Bürger von allen Bevölkerung direkt von Interviewern befragt werden. Wir großen und zeitraubenden Auskunftspflichten. Es bringt reden hier von circa 7 bis 8 Prozent. Außerdem werden uns aber auch, und darauf werde ich noch näher einge- die rund 17,5 Millionen Eigentümer und Verwalter von hen, bisher vollkommen neue Fragen und Probleme auf Wohnraum schriftlich befragt werden, da es bundesweit den Tisch, unter anderem auch deshalb, weil zur Feststel- keine Register zur Wohnraumversorgung gibt. Dieser lung der bevölkerungsstatistischen Angaben nicht mehr Zensus ist also, wenn Sie so wollen, ein „minimalinvasi- alle Bürgerinnen und Bürger befragt werden sollen. ver Zensus“. Die aktuellen Bevölkerungszahlen in Bund, Ländern und Kommunen sind teilweise mit großen Unsicherheiten Das nun vorliegende Gesetz zum Zensus 2011 werden behaftet. In der Anhörung vom September 2007 bekamen wir intensiv beraten. Aus dem Deutschen Bundestag wir zur Genauigkeit bzw. zur Richtigkeit mancher Regis- (B) kommt selten etwas wieder so raus, wie es reingekommen (D) ter sehr deutliche Aussagen der Gutachter. Genauere ist. Das wird wohl auch mit diesem Gesetz nicht anders Zahlen sind notwendig. Wenn wir schon durch eigene sein. Dabei gibt es einige diskussionswürdige Vorschläge Schätzung davon ausgehen, dass 1,3 bis 1,5 Millionen Men- zur weiteren Verbesserung des Zensus 2011. Dazu gehört schen weniger als geglaubt in Deutschland leben – also etwa die Forderung, das Merkmal „Migrationshinter- nicht die 82 Millionen, von denen wir heute sprechen –, so grund“ in die Stichprobenbefragung aufzunehmen. Da ist das eine Abweichung von etwa 1,8 Prozent. Es handelt haben wir nämlich genau das Problem, dass der zwar im sich eben nur um Schätzungen. Mikrozensus erhoben wird, wir aber die Grundgesamt- heit nicht kennen. Oder es gibt die Forderung des Bun- Zuverlässige Bevölkerungszahlen sind auch als Be- desrates, das Merkmal „Religionszugehörigkeit“ in die rechnungsgrundlage für den Länderfinanzausgleich und Stichprobe aufzunehmen. Auch diesen Vorschlag prüfen den kommunalen Finanzausgleich notwendig. Die zum wir zurzeit sehr sorgfältig. Dann gibt es noch weitere Vor- Zensusstichtag festgestellten Einwohnerzahlen bilden die schläge vor allem der Länder und Kommunen zur Frage Grundlage für die Bevölkerungsfortschreibungen. Sie der Optimierung der Genauigkeit der Daten. Auch diese wirken sich aber auch auf etwa 50 Rechtsvorschriften Vorschläge werden wir uns natürlich genau anschauen. aus, für die die amtliche Einwohnerzahl als wichtige Be- messungsgrundlage dient. Betroffen sind noch weitere Grundsätzlich gilt natürlich bei allen Verbesserungs- Bereiche, zum Beispiel die Festlegung von Wahlkreisen vorschlägen, dass auch sie sich an den verfassungsrecht- zu Bundes- oder Landtagswahlen, die Bundesratsstim- lichen Vorgaben orientieren müssen, die das Bundesver- men, die Berechnung von Sitzen bis in die Vertretungen fassungsgericht uns in seinem Volkszählungsurteil kommunaler Gebietskörperschaften sowie die auf Ein- auferlegt hat. An diese strengen Maßgaben wollen und wohnerzahlen basierenden Finanzzuweisungen. Wir brau- werden wir uns auch halten, ebenso wie wir uns strikt an chen also dringend eine solche neue Zählung. einem optimalen Datenschutz und an einer optimalen Da- tensicherheit orientieren werden. Dass der Zensus notwendig ist, darin sind wir uns ei- nig. Dass wir ihn registergestützt machen, das ist neu. Ich bin froh, dass es auf allen Seiten die Bereitschaft Aber auch da stimmen wir überein. In der EU wird dies ja gibt, dieses wirklich komplexe Werk „Zensus 2011“ zu ei- sehr unterschiedlich gehandhabt. Um jedoch bundesweit nem erfolgreichen Abschluss zu führen. Die Große Ko- eine einheitliche Qualität erreichen zu können, werden alition im Bundestag und auch der Bundesrat sind sich wir – und dies deutet die Stellungnahme des Bundesrates ihrer Verantwortung bewusst. Wir brauchen dieses Zen- zum vorliegenden Gesetzentwurf bereits an – noch weiter susgesetz, weil wir den Zensus brauchen. auf spezifische Besonderheiten so mancher Gebietskör-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22897

Maik Reichel (A) perschaft eingehen müssen. So bestätigte die Evaluation gemeinsames Interesse, ein unanfechtbares, effektives (C) im letzten Jahr die bereits im Vorfeld des Vorbereitungs- Gesetz auf den Weg zu bringen und damit allen Beteilig- gesetzes befürchteten Probleme, ländliche Strukturen und ten ein funktionsfähiges Instrument an die Hand zu ge- Besonderheiten von Großstädten statistisch homogen ab- ben. Es soll auch für europäische Kollegen Vorbild sein. bilden zu können. Berlin beispielsweise würde laut Bun- desrat in seiner Struktur vollkommen unscharf abgebildet Gisela Piltz (FDP): werden, da hier, wie wir als Bundestagsabgeordnete bes- Die FDP-Bundestagsfraktion hatte zum Zensusvorbe- tens wissen, nach Bezirken verwaltet und regiert wird. reitungsgesetz in ihrem Entschließungsantrag einige zen- Dementsprechend werden bevölkerungsstatistische Da- trale Forderungen im Hinblick auf das Anordnungsgesetz ten auch bezirksweise erhoben und weiterverarbeitet. dargelegt. An diesen ist der nun vorgelegte Gesetzentwurf Ein weiteres zu beachtendes Thema sind die ländli- aus unserer Sicht zu messen. chen Strukturen, unter anderem in Rheinland-Pfalz. Wie Bevor ich auf die Einzelheiten des Gesetzentwurfs ein- die dort zuständigen Verantwortlichen zu bedenken ge- gehe, möchte ich noch einmal ausdrücklich betonen, dass ben, werde eine Mindesterhebungsgrenze bei Gebietskör- die FDP-Bundestagsfraktion den Ansatz eines registerge- perschaften von 10 000 Einwohnern 95 Prozent der Ge- stützten Zensus begrüßt und unterstützt. Damit wird die meinden nicht statistisch abbilden können. Inwiefern dies notwendige Erhebung valider Daten für statistische Zwe- sinnvoll ist, wird in der weiteren Diskussion zu hinterfra- cke, die unerlässliche Grundlage für staatliches Handeln gen sein. sind, datenschutzfreundlich ermöglicht. Der registerge- In der Anhörung vom September 2007 wurde auch die stützte Zensus bietet grundsätzlich die Chance, die für die Einheitlichkeit der Erhebung deutlich hervorgehoben. Funktionsfähigkeit des Staates erforderliche Datenerhe- Vor allem die Länder sind darauf eingegangen. Das vor- bung mit dem grundrechtlich garantierten Schutz perso- liegende Gesetz ermöglicht ja einige Abweichungen in nenbezogener Daten in Einklang zu bringen. den Ländern. Inwieweit dies zu unterschiedlichen Ergeb- Schon im Entschließungsantrag zum Zensusvorberei- nissen, die auf nicht vergleichbarer Basis erhoben wor- tungsgesetz hatte die FDP-Bundestagsfraktion die Be- den sind, führt, wird ebenfalls zu prüfen sein. Eines will schränkung auf wenige Merkmale und Register begrüßt. ich aber deutlich sagen: Es muss Rechtssicherheit gege- Nur so kann dem Volkszählungsurteil von 1983 Rechnung ben sein. Ich bin mir aber sicher, dass es sich hierbei um getragen werden. durchaus lösbare Probleme handelt. Denn nicht nur der Bund, sondern auch die Länder sind sehr stark am Zen- Nun stehen wir aber – wie es fast zu erwarten war – vor susergebnis interessiert. der Situation, dass die Forderungen immer zahlreicher werden, was noch alles aufgenommen werden sollte. Da (B) Wenn man sich all dies vor Augen führt, dann blickt (D) kommen die Kommunen mit der Forderung nach Erhe- man natürlich auch auf die verbleibende Zeit. Millionen bung der Höhe des Mietzinses und der Nebenkosten. Da von Daten werden bewegt und zusammengeführt. Das kommen die Kirchen mit der Forderung nach Erhebung machen nicht nur Computer, das müssen auch Menschen der Religionszugehörigkeit. Das sind alles interessante machen. Ende 2010 wird das Anschriften- und Gebäude- Fragen. Es gibt für alle diese Punkte auch gute Gründe, register einsatzfähig sein. Und ich gehe davon aus, dass warum für diesen oder jenen im Gemeinwesen notwendi- zu diesem Zeitpunkt auch alle beteiligten Institutionen gen oder wünschenswerten oder auch nur angenehmen und Ämter einen Datensatz erstellen können, der unseren Zweck diese oder jene Datenerhebung und -auswertung hohen Ansprüchen an Vergleichbarkeit und Datenquali- sinnvoll wäre. Ich warne aber ausdrücklich davor, die an- tät gerecht wird und uns für den Zensusstichtag am 9. Mai stehenden Beratungen zu einem Wunschkonzert zu ma- 2011 die notwendigen Ergebnisse und Zahlen liefern chen. Wir müssen bei all den an uns schon herangetrage- wird. nen oder noch kommenden Forderungen sehr genau Diese millionenfache Datenverarbeitung und deren hinsehen, ob das wirklich im Rahmen dieser Datenerhe- Vorbereitung braucht Zeit. Die Bundesregierung hat im bung notwendig und erforderlich ist. Wir dürfen nicht den Bundeshaushalt die Weichen gestellt. Die Erhöhung der Fehler machen, dass wir am Ende mit einem Bauchladen Haushaltsmittel des Statistischen Bundesamtes um an neuen Merkmalen und Registern herauskommen – und 16 Millionen Euro, beginnend mit dem Haushaltsjahr damit genau die Balance zwischen Datenerhebung und 2008, resultiert zu etwa drei Vierteln aus dem Zensus, den Datenschutz nicht mehr stimmt. wir 2011 erstellen werden. Dafür wurden und werden Ein Problem, das die FDP-Fraktion schon 2007 beim etwa 60 Stellen, teilweise zeitlich befristet, eingerichtet. Zensusvorbereitungsgesetz angesprochen hatte, ist mit Auch die Länder haben ihre Hausaufgaben bereits umfas- dem Zensusanordnungsgesetz nicht gelöst. Die Vorge- send gemacht. hensweise bei der Vorbereitung und Durchführung des Der Entwurf der Bundesregierung sieht eine Umset- Zensus in Bund, Ländern und Kommunen muss einheit- zung der EU-Vorgaben 1:1 vor. Vonseiten der Kirchen lich gestaltet sein. Valide und vor allem auch gerichts- sind wir in Briefen bzw. in persönlichen Gesprächen auf feste Statistiken, die dann zum Beispiel über den Finanz- das fehlende Merkmal „Religionszugehörigkeit“ hinge- ausgleich, die Zuweisung von Fördermitteln oder wiesen worden. Wir werden in der weiteren Diskussion Ähnliches entscheiden, kann man nicht gewinnen, wenn auch darauf unser Augenmerk zu lenken haben. Meine jeder sein eigenes Süppchen kocht und dabei natürlich ei- Fraktion wird sich mit den Empfehlungen des Bundesra- gene Interessen verfolgt. Denn es geht dabei ja um Geld, tes konstruktiv auseinandersetzen. Schließlich ist es unser um viel Geld. Dieses Problem ist mit dem vorliegenden

Zu Protokoll gegebene Reden 22898 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Gisela Piltz (A) Gesetzentwurf nicht gelöst. Im Gesetz müsste daher – wie mal erwähnen, dass die FDP-Fraktion Beratungsbedarf (C) dies auch von den Ländern gefordert wurde – eine Ver- bei der Erhebung von Daten zur Religionszugehörigkeit pflichtung zur einheitlichen Durchführung verankert sieht. Weiterhin muss bei der Frage der eingetragenen werden. Der Bundesrat hatte dies auch eingefordert, aber Lebenspartnerschaften auf einen Lückenschluss zum die Bundesregierung hat in ihrer Gegenäußerung keine Bundesstatistikgesetz, dem das Merkmal noch immer Bereitschaft gezeigt, den Ländern entgegenzukommen. fremd ist, obwohl eingetragene Lebenspartnerschaften erfreulicherweise längst gesellschaftliche Realität sind, Genau zu prüfen werden auch die Wünsche der Kom- hingewirkt werden. munen sein, die sich erhoffen, von den durch den Zensus erhobenen Daten für ihre eigene Aufgabenerfüllung zu Die FDP-Bundestagsfraktion sieht den Beratungen profitieren. Kleinräumige Planungsdaten dürfen nach mit der Hoffnung entgegen, dass die berechtigten Kritik- dem Gesetzentwurf nur sehr eingeschränkt genutzt wer- punkte des Bundesrats hier im Hause Gehör finden wer- den. Dies ist einerseits ein Beitrag zum Datenschutz, aber den und am Ende ein notwendiges Vorhaben mit einem andererseits muss man sich schon die Frage stellen, ob vernünftigen Gesetz auf den Weg gebracht werden kann, und inwieweit ein solches Vorhaben nicht auch sinnvolle ohne dass – wie bei dem Vorbereitungsgesetz – erneut der Datengrundlagen für die Kommunen schaffen sollte. Hier Vermittlungsausschuss angerufen werden muss. muss auch berücksichtigt werden, dass eine Nutzung auch für Kommunen etwaige eigene Datenerhebungen Petra Pau (DIE LINKE): dort vermeiden hilft, was auch zur Datensparsamkeit Es bestehen unausgeräumte Zweifel. führt und es gegebenenfalls auch im Interesse einer effi- zienten Verwaltung und der Vermeidung weiterer Kosten Erstens. Es ist nachvollziehbar, dass die Politik, die für die öffentliche Hand ist, den Kommunen eigene Erhe- Verwaltung und andere mehr möglichst stimmige Daten bungen zu ersparen. Denn es geht ja in diesem Fall nicht anstreben. Das ist seit Bibel-Zeiten so und das wurde um den Wunsch nach Erhebung weiterer Daten, sondern auch noch in der Neuzeit über Volkszählungen prakti- um die Nutzbarmachung der ohnehin zu erhebenden Da- ziert. ten. Hier muss im weiteren Verfahren eine Abwägung Zweitens. Es war aber ausgerechnet eine Volkszählung durchgeführt werden, um zu einem Interessen ausglei- in der BRD-alt, bei der das Bundesverfassungsgericht ein chenden Ergebnis zu kommen. Stoppzeichen setzte. Es erhob in einem historischen Ur- Erheblichen Bedenken begegnet die Vorgabe, dass alle teil den Datenschutz zum Grundrecht. Daten beim Statistischen Bundesamt ausgewertet werden Drittens. Nun geht es aktuell nicht um eine groß ange- sollen. Hierzu soll ein höchst komplexes und im Übrigen legte Volkszählung, sondern „nur“ um eine Mini-Volks- noch nie in der Realität und unter wirklichen Arbeitsbe- (B) zählung, genannt „Zensus“. Aber auch eine kleine Volks- (D) dingungen angewandtes IT-System aufgebaut und einge- zählung will bürgerrechtlich begründet sein. setzt werden. Dies widerspricht dem schon zwischen Bund und Ländern vereinbarten Fachkonzept, nach dem Viertens oder anders gesagt: Der erwartete Nutzen für die zu verarbeitenden riesigen Datenbestände auf vier die Bürgerinnen und Bürger muss erkennbar weit größer verschiedene Statistische Ämter des Bundes und der Län- sein als das befürchtete Risiko für ihre verbrieften Rechte. der aufgeteilt werden sollten, um dort aufbereitet zu wer- Und genau da bestehen unausgeräumte Zweifel. den. Dieses Fachkonzept erscheint wesentlich sinnvoller. So erscheint schon die Schaffung eines derartigen riesi- Fünftens. Zu alledem wird es noch eine Anhörung von gen IT-Systems für eine einmalige Anwendung fragwür- Expertinnen und Experten geben. Das haben Bündnis 90/ dig – nicht nur unter haushalterischen Gesichtspunkten, Die Grünen und die Linke beantragt. Ich werde heute da- sondern weil es doch immer so ist, dass, wenn schon mal her nicht unserem Urteil danach vorgreifen. ein System besteht, um die vielen Daten der Bürgerinnen und Bürger zu nutzen, zu verknüpfen, abzugleichen und Silke Stokar von Neuforn (BÜNDNIS 90/DIE auszuwerten, dieses ganz bestimmt auch für andere An- GRÜNEN): wendungen dann irgendwann genutzt werden soll. Das Die Zeiten ändern sich, löste die Volkszählung 1983 mag jetzt einigen vielleicht ein wenig hysterisch vorkom- noch eine große Protestbewegung aus, so können wir men. Aber die Erfahrung zeigt, dass alle Systeme, mit de- heute in der entwickelten Informationsgesellschaft unauf- nen man persönliche Daten sammeln und auswerten geregt über den europaweiten Zensus 2011 reden. Die kann, auch genutzt werden – und zwar nicht nur für den Bundesregierung hat dazugelernt, die staatlichen Zähler ursprünglich genannten Zweck. Daher ist eine dezentrale dringen nicht mehr mit Fragebögen in die Wohnungen Datenverarbeitung sehr sinnvoll. Ebenso erscheint diese der Bürgerinnen und Bürger ein und stellen Fragen, die sinnvoll, weil die Risiken eines Systemausfalls damit ab- tief in das Privatleben eindringen. Die Volkszählungsboy- gefedert werden und weil schon getestete Systeme zum kottbewegung hat damals das Volkszählungsurteil erstrit- Einsatz kämen. Eine Risikoerhöhung durch ein neues IT- ten, und das war gut so. Wir haben heute das Grundrecht Mammutprojekt – ich erinnere hier nur an die Bundes- auf informationelle Selbstbestimmung, und auf dieser agentur für Arbeit – ist erheblich. Grundlage findet der Zensus 2011 statt. Im nun anstehenden parlamentarischen Verfahren gibt Der Staat braucht statistische Informationen, um Poli- es also noch einige Detailfragen, bei denen konstruktiv tik für die Zukunft planen zu können. Der Staat verfügt über den besten Weg gestritten werden muss. Neben den heute über eine große Menge von Datenmaterial – mehr genannten Punkten möchte ich an dieser Stelle schon ein- als uns manchmal lieb ist –, und es ist richtig, dass nicht

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22899

Silke Stokar von Neuforn (A) alles neu erfasst wird, sondern auf das vorhandene Mate- schutzbeauftragten der Länder das gesamte Verfahren (C) rial zurückgegriffen wird. Im Zensusvorbereitungsgesetz Zensus 2011 eng begleiten und bewerten. Wenn der Da- ist festgelegt, dass die Daten zur Volkszählung 2011 aus tenschutz gewahrt bleibt, spricht nichts gegen den Zensus den Melderegistern der Kommunen und aus dem Daten- 2011. bestand der Bundesagentur für Arbeit entnommen wer- den sollen. Länder und Kommunen sind mit dem Zensus- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: vorbereitungsgesetz aufgefordert, ihre Daten auf einen aktuellen Stand zu bringen und an den Bund zu liefern. Zu- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- sätzlich werden 25 Millionen Einwohner, davon 17,5 Mil- wurfs auf Drucksache 16/12219 an die in der Tagesord- lionen Wohnungseigentümer, persönlich befragt. Nach nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie der vorläufigen Kalkulation des Statistischen Bundesam- einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlos- tes und der statistischen Ämter der Länder werden wahr- sen. scheinlich 527,81 Millionen Euro an Gesamtkosten ent- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 c auf: stehen. Davon will der Bund 44,81 Millionen Euro tragen, die Länder sollen 483 Millionen Euro der Ge- a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ samtkosten übernehmen. Lassen Sie mich an dieser Stelle CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines sagen, wir sehen in der Frage der Kostenaufteilung wei- Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes teren Klärungsbedarf und haben sehr wohl Verständnis (Artikel 87 d) für die Forderungen aus dem Bundesrat, dass die Kosten zwischen Bund und Ländern hälftig geteilt werden. Wir – Drucksache 16/12280 – setzen uns für eine faire Kostenverteilung zwischen Bund Überweisungsvorschlag: und Ländern ein und fordern, dass das Bundesamt für Innenausschuss (f) Statistik die analysierten Daten so bald wie möglich den Auswärtiger Ausschuss Rechtsausschuss Ländern und Kommunen zur Verfügung stellt. Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss Der Bundesrat sieht auch inhaltlichen Korrekturbe- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung darf, wir sollten in der geplanten Anhörung des Innen- Ausschuss für Tourismus ausschusses die Anregungen aus den Ländern und natür- Haushaltsausschuss lich aus dem Bereich des Datenschutzes sorgfältig prüfen. b) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ Eine formale Eins-zu-eins-Umsetzung des EU-Beschlus- CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines ses darf schon angesichts der enormen Kosten, die der Gesetzes zur Änderung luftverkehrsrechtli- Zensus 2011 verursacht, nicht dazu führen, dass wichtige cher Vorschriften (B) Informationen, die wir national für erforderlich halten, (D) nicht erhoben werden. Ich möchte hier insbesondere auf – Drucksache 16/12279 – den Migrationsbereich verweisen. Eine gezielte Integra- Überweisungsvorschlag: tionspolitik braucht wissenschaftlich analysiertes Zah- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) lenmaterial, und hier muss sorgfältig geprüft werden, ob Auswärtiger Ausschuss nicht das eine oder andere Merkmal zusätzlich abgefragt Innenausschuss werden soll. Wenn wir Anonymisierung und Datenschutz Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie sicherstellen, spricht nichts dagegen, Informationen über Verteidigungsausschuss Einbürgerungen, Herkunftsländer oder Bildungsab- Ausschuss für Tourismus schlüsse für Eingewanderte auszuwerten, und auch der Haushaltsausschuss strittige Punkt der Aufnahme der Religion als Merkmal muss erneut sachlich diskutiert und bewertet werden. c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errich- Politik braucht Planungsdaten, und dazu gehört als tung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsi- Fundament eine verlässliche Bevölkerungsstatistik. Die cherung und zur Änderung und Anpassung Zahl der Einwohnerinnen und Einwohner in unseren weiterer Vorschriften Kommunen entscheidet über die Zuschnitte von Bundes- tagswahlkreisen, sie ist Grundlage für eine gerechte Ver- – Drucksache 16/11608 – teilung der Steuerlasten, sie ist Berechnungsgrundlage Überweisungsvorschlag: für den kommunalen Finanzausgleich, und sie regelt den Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Innenausschuss Finanzausgleich zwischen Deutschland und Europa. Bei Rechtsausschuss der zusätzlich geplanten Gebäudeerhebung ist allerdings Haushaltsausschuss darauf zu achten, ob diese Daten wirklich alle gebraucht werden. Auch die Reden hierzu nehmen wir zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kolle- Wir werden beim Zensus 2011 darauf achten, dass der gen Clemens Binninger und Norbert Königshofen, Grundsatz der „Einbahnstraße“ von statistischen Daten CDU/CSU, Klaus Uwe Benneter und Uwe Beckmeyer, gewahrt bleibt, es keine Speicherung über den erforderli- SPD, Jan Mücke, FDP, Dorothée Menzner, Die Linke, chen Zeitraum hinaus gibt und Zugriffe Dritter auf die Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen, und des Daten ausgeschlossen bleiben. Wir erwarten, dass der Parlamentarischen Staatssekretärs Ulrich Kasparick für Datenschutzbeauftragte des Bundes und die Daten- die Bundesregierung. 22900 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Clemens Binninger (CDU/CSU): im Grenzbereich notwendig ist. Auch das ermöglicht nun (C) Der Einheitliche Europäische Luftraum hat zum Ziel, die Änderung des Art. 87 d. Zusätzlich zu der Möglichkeit die bisherige, weitgehend nationale Einteilung der Luft- einer völkerrechtlichen Regelung und einer Übertragung räume in ein europaweites System zu überführen. Mit dem von Hoheitsrechten an eine zwischenstaatliche Organisa- Einheitlichen Europäischen Luftraum können von Flug- tion wird die Übertragung von Aufgaben an ausländische gesellschaften verstärkt direkte Flugkorridore verwendet Organisationen damit in Zukunft auch auf Basis eines werden. Das erspart Umwege und Zeit, Kerosin und Geld. Bundesgesetzes möglich sein. Dieses Begleitgesetz sieht Letztlich können dadurch bis zu 12 Prozent der CO2- sehr enge Grenzen für eine solche Übertragung an aus- Emissionen – also etwa 11,2 Millionen Tonnen – einge- ländische Organisationen vor. Nur, wo es zur Schaffung spart werden. Der Einheitliche Europäische Luftraum eines funktionalen Luftraumblocks oder aus praktischen stellt also ein wichtiges Element zur Verbesserung der Erwägungen notwendig ist, können die Flugsicherungs- Gesamtwirtschaftlichkeit und Effizienz des Flugverkehrs aufgaben übertragen werden. Damit gilt nach wie vor: dar, wie auch zur Reduktion von Treibhausgasen. Der größte Teil der Flugsicherung in Deutschland wird nur von einer zu 100 Prozent im Bundeseigentum befind- Die wesentlichen Vorschriften zum Single European lichen Gesellschaft durchgeführt werden. Flugsiche- Sky stammen aus dem Jahr 2004. Heute beraten wir die rungsaufgaben können an ausländische Organisationen notwendigen Gesetzänderungen, um die Vorgaben für auch nur dann übertragen werden, wenn diese ein Zerti- den Einheitlichen Europäischen Luftraum in Deutsch- fizierungsverfahren durchlaufen haben. Damit wird si- land umzusetzen. chergestellt, dass das hohe Sicherheitsniveau, das wir Zu diesen notwendigen Rechts- und Strukturanpassun- heute haben, auch in Zukunft aufrechterhalten bleibt. gen gehört auch eine Änderung des Art. 87 d Grundge- Mit dieser Grundgesetzänderung schaffen wir die setz, die wiederum die Voraussetzung für die Änderung verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für eine europa- verschiedener luftverkehrsrechtlicher Vorschriften und rechtskonforme Ausgestaltung der Luftverkehrsverwal- Gesetze ist. tung und für die Beteiligung Deutschlands am Einheitli- chen Europäischen Luftraum. Damit ist nicht nur eine Mit der Änderung des Art. 87 d wird erstens klarge- sicherere, sondern auch eine effizientere grenzüber- stellt, dass die Luftverkehrsverwaltung allgemein der schreitende Zusammenarbeit möglich, die viele Vorteile Bundesverwaltung zugeordnet ist. Damit bleibt sie Ho- mit sich bringt. heitsaufgabe – soweit dem das Recht der Europäischen Gemeinschaft nicht entgegensteht. Sie muss aber nicht mehr durch Behörden der unmittelbaren Bundesverwal- Norbert Königshofen (CDU/CSU): tung oder von der bundeseigenen Verwaltung zugerech- Mit den heute eingebrachten Gesetzen nehmen wir die (B) (D) neten organisationsprivatisierten Einrichtungen durch- Diskussion über die Weiterentwicklung der Flugsiche- geführt werden. Vielmehr können damit Aufgaben der rung wieder auf, die schon einmal – nämlich am 7. April Luftverkehrsverwaltung auch durch die mittelbare Bun- 2006 – in einen Beschluss des Deutschen Bundestages desverwaltung einschließlich privater Beliehener durch- einmündete. Damals hat der Bundespräsident Horst geführt werden. Dies ist nicht nur aus fachlicher Sicht un- Köhler das Gesetz, das der Deutsche Bundestag mit einer verzichtbar, sondern entspricht auch der aktuellen Praxis über neunzigprozentigen Mehrheit verabschiedet hatte, unter anderem bei Flugsicherungsbetriebsdiensten sowie aufgrund verfassungsrechtlicher Bedenken nicht unter- Flugwetterdiensten an kleineren Flughäfen und ist auch schrieben. vom Gemeinschaftsrecht so vorgesehen. Darüber hinaus Wir ziehen nun daraus die Konsequenzen, indem wir wird die Möglichkeit geschaffen, technische Unterstüt- den Art. 87 d Grundgesetz durch das eingebrachte „Ge- zungsdienste, insbesondere sogenannte CNS-Dienste setz zur Änderung des Grundgesetzes“ an die Vorgaben – also Communication, Navigation, Surveillance –, aus des Rechts der Europäischen Gemeinschaft zur Schaffung der hoheitlichen Luftverkehrsverwaltung herauszuneh- eines einheitlichen europäischen Luftraums (Single Euro- men, wie es das geltende europäische Recht schon heute pean Sky/SES) anpassen. vorsieht. Das bisherige, national organisierte System der Flug- Zweitens schaffen wir die Voraussetzungen, um gemäß sicherung ist bereits vor geraumer Zeit an seine Grenzen der Single-European-Sky-Verordnungen funktionale Luft- gestoßen. Schon seit Jahren haben wir auch in Deutsch- raumblöcke einrichten zu können. Dies wird über staats- land eine grenzüberschreitende Flugsicherung; so wird vertraglich vereinbarte Kooperation zwischen den beispielsweise der an die Schweiz grenzende südwest- Mitgliedstaaten geschehen. Zur Einrichtung dieser Luft- deutsche Raum durch die schweizerische Skyguide kon- raumblöcke muss die grenzüberschreitende Zusammen- trolliert. Seit 2007 nehmen Lotsen der österreichischen arbeit von nationalen Flugsicherungsorganisationen er- Austro Control Flugverkehrskontrolldienste an einer möglicht und intensiviert werden. Dazu ist es notwendig, Reihe deutscher Regionalflughäfen wahr. Beides ist bei dass auch ausländischen, nach EU-Recht zugelassenen strenger Auslegung des Grundgesetzes nicht verfassungs- Flugsicherungsorganisationen entsprechende Flugsiche- konform. rungsaufgaben in Deutschland übertragen werden kön- nen. Eine solche Kooperation kann darüber hinaus auch Der Flugverkehr hatte in den letzten Jahren außeror- unabhängig von europarechtlich zwingenden Vorgaben dentliche Wachstumsraten. Allgemein geht man davon geschehen, wenn es zum Beispiel aus technischer oder aus, dass unabhängig von der derzeitigen Wirtschafts- praktischer Hinsicht etwa bei Regionalflugplätzen oder und Finanzkrise sich die Flüge in Europa bis zum Jahr

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22901

Norbert Königshofen (A) 2020 gegenüber 2005 an Zahl verdoppeln werden. Schon dige Behörden des Bundes sowie durch Körperschaften (C) heute ist der Himmel über Mitteleuropa hoffnungslos und Anstalten oder Beliehene wahrgenommen werden. überlastet. Besonders führen die Kapazitätsengpässe rund um die Drehkreuze Paris, Frankfurt und London im- Diesem weiten Verständnis hat sich der Bundespräsi- mer häufiger zu Ehrenrunden in der Luft und Stauungen dent aber ausdrücklich nicht angeschlossen. Seiner Auf- am Boden. fassung nach gibt Art. 87 d GG dem Bund auf, der Verantwortung für die Flugsicherung nur dann nachzu- Nach Berechnungen der International Air Transport kommen, wenn eine jederzeitige Durchsetzung des staat- Association (IATA) summierten sich allein im Jahr 2007 lichen Willens garantiert ist. Dies sei aber schon bei mit- die durch die fragmentierte Überwachung verursachten telbarer Staatsverwaltung nicht mehr der Fall. Ist die Verspätungen auf eine Dauer von 40 Jahren. Das bedeu- Deutsche Flugsicherung als bundeseigene GmbH heute tet 468 Millionen unnötige Flugkilometer oder 16 Millio- also im Rahmen der Beleihung tätig, deckt sich diese Pra- nen Tonnen unnütz in die Atmosphäre geblasene Abgase. xis nicht mehr mit der Ansicht des Bundespräsidenten. Es leuchtet daher ein, dass wir unser Verfassungsrecht mit Daher soll ein einheitlicher europäischer Luftraum der Wirklichkeit in Einklang bringen müssen. Wir können geschaffen werden, indem aus den derzeitig 60 Luftraum- und wollen uns hier kein rechtliches Vakuum leisten. kontrollstellen der 27 nationalen Flugsicherungen mehrere große Einheiten gebildet werden, sogenannte Wir sind für ein Europa, das nicht nur am Boden mit Functional Airspace Blocks (FABs). Neben dem ökonomi- den Schengen-Abkommen, sondern auch in der Luft wei- schen Aspekt ist hier auch der ökologische Nutzen her- ter zusammenwächst. Europa wirkt schon heute vielfältig im Bereich des Luftverkehrs nach Deutschland hinein, vorzuheben. So kann der CO2-Ausstoß laut Berechnun- gen um rund 1 800 000 Tonnen verringert werden. zum Beispiel mit der Gestaltung der europäischen Außen- beziehungen im Luftverkehr oder bei der Verbesserung Deutschland, Belgien, Frankreich, Luxemburg, die der Verbraucherrechte für Flugpassagiere. Niederlande sowie die Schweiz wollen den „Functional Im Jahr 2004 wurde diese Zusammenarbeit auf eine Airspace Block European Central“ (FABEC) bilden. Da- neue Stufe gehoben: Mit den SES-Abkommen wurden die für ist es allerdings notwendig, dass wir auch in Deutsch- Voraussetzungen für die Einrichtung eines einheitlichen land eine europarechtskonforme Ausgestaltung der Flug- europäischen Luftraumes geschaffen. Im Bereich der sicherung durch die Regelung des Luftverkehrsgesetzes Flugsicherung herrscht heute noch die Kleinstaaterei, ermöglichen. Neben der Deutsche Flugsicherung GmbH Zuständigkeiten richten sich nach Landesgrenzen und (DFS) müssen auch andere ausländische – nach dem nicht nach Flugrouten, Umwege der Flugzeuge mit höhe- Recht der Europäischen Gemeinschaft zertifizierten – rem Spritverbrauch und CO -Ausstoß sind die Folge. Die Flugsicherungsorganisationen in die Luftverkehrsver- 2 (B) geplanten fortgeschriebenen SES-II-Verordnungen ver- (D) waltung des Bundes eingebunden werden können, so wie pflichten uns darüber hinaus, ausländische Flugsiche- die DFS auch jenseits der deutschen Grenze tätig werden rungsorganisationen in Deutschland zuzulassen. Diese können soll. Um dies zu ermöglichen und den gesetzwid- Verordnungen sind in Ordnung. Genauso wie wir bei der rigen Zustand in Deutschland zu beseitigen, müssen wir Kriminalitätsbekämpfung, beim Verbraucherschutzes die Vorschrift, dass die Luftverkehrsverwaltung in bun- und in der Wirtschafts- und Finanzpolitik eng zusammen- deseigener Verwaltung geführt wird, im Art. 87 d des arbeiten, ist auch die Flugsicherheit heute keine rein na- Grundgesetzes durch eine europarechtskonforme Fas- tionale Angelegenheit mehr. sung ersetzen. Art. 87 d GG verbietet uns aber hier mit seinem Gebot Ich bitte Sie dringend, der Anpassung des Grundgeset- der bundeseigenen Verwaltung, ausländische Flugsiche- zes und der übrigen Änderungen luftverkehrlicher Vor- rungsorganisationen in Deutschland zuzulassen. Die schriften zuzustimmen. Es ist ein wichtiger unverzichtba- Grundgesetzanpassung erscheint deshalb aus europa- rer Schritt auf dem Weg zur Schaffung eines einheitlich rechtlichen Gründen notwendig. Nun ist das Grundgesetz kontrollierten europäischen Luftraums. keine beliebige Verfügungsmasse. Änderungen bedürfen stets besonderer Rechtfertigung. In der Beratung des vor- Klaus Uwe Benneter (SPD): liegenden Gesetzentwurfes müssen wir uns deshalb von folgenden Grundsätzen leiten lassen: Der vorliegende Gesetzentwurf hat den Zweck, die Luftverkehrsverwaltung in Deutschland den Realitäten Erstens: Oberste Priorität hat für uns Sozialdemokra- und den Vorgaben der europäischen SES-Verordnungen ten die Sicherheit der Tausenden von Menschen, die täg- anzupassen. Dazu soll – man ist fast versucht zu sagen: lich in der Luft über Deutschland unterwegs sind. Sie ha- wieder einmal – das Grundgesetz geändert werden. ben einen Anspruch darauf, dass wir alles Mögliche für sichere Flüge tun. Wirtschafts- oder Marktinteressen Zurzeit verpflichtet uns Art. 87 d GG, die Luftverkehrs- müssen hier zurückstehen. Die Deutsche Flugsicherung verwaltung in bundeseigener Verwaltung zu führen. Was ist eine der besten der Welt. Dies muss so bleiben. Das bedeutet das? Wir müssen feststellen: Schon in der Aus- Unglück von Überlingen im Jahr 2002 hat uns brutal vor legung dieses Begriffes ist man sich nicht einig. Die Ver- Augen geführt, was es heißt, wenn Kontrollen versagen fassungsliteratur versteht diesen Begriff weit. Sowohl die oder lax gehandhabt werden. unmittelbare als auch die mittelbare Staatsverwaltung soll davon umfasst sein. Damit könnte die Flugsicherung Zweitens: Die Deutsche Flugsicherung GmbH muss in Deutschland durch eigene und rechtlich unselbststän- weiter die zentral verantwortliche Institution für die Luft-

Zu Protokoll gegebene Reden 22902 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Klaus Uwe Benneter (A) verkehrskontrolle in Deutschland bleiben. Nur in Aus- die Flugsicherheit. Um die Qualität der Flugsicherheit in (C) nahmefällen sollten Dritte – nach strengen Zulassungs- Europa zu verbessern, wurden einheitliche Zulassungs- und Zertifizierungsverfahren – diese Aufgaben wahrneh- kriterien für Flugverkehrskontrollanbieter und feste Vor- men können. gaben für Struktur, Verfahren und Technik festgelegt. Darüber hinaus ist ein großräumiger Zuschnitt der je- Drittens: Der Bundesparteitag der SPD im Oktober weils überwachten grenzüberschreitenden Luftraumblö- 2007 hat uns aufgetragen, keinesfalls einer Initiative zu- cke vorgesehen. Außerdem strebt die Europäische Union zustimmen, die eine Privatisierung der Deutschen Flug- eine Verbesserung der Effektivität der Flugsicherungs- sicherung zum Ziel hat und insbesondere das Grundge- leistungen an und schreibt eine Trennung von Aufsicht setz dafür ändert. An diesen Beschluss fühle ich mich und Umsetzung von Flugsicherungsdiensten vor. gebunden. Mit ist durchaus bewusst, dass eine Privatisie- rung nicht das Anliegen des vorliegenden Gesetzentwur- Mit der angestrebten Änderung des Grundgesetzes fes ist, allerdings wird sie mit dieser Grundgesetzände- wollen wir die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen rung theoretisch möglich sein. Das ist problematisch. für eine europarechtskonforme Ausgestaltung der Luft- verkehrsverwaltung schaffen. Deutschland will und muss Darüber hinaus stellen sich mir eine Reihe weiterer sich aktiv an der Herstellung eines einheitlichen europäi- Fragen: Die Luftverkehrsverwaltung soll in Zukunft nach schen Luftraums beteiligen. Außerdem wollen wir den un- Art. 87 d Abs. 1 GG in sogenannter Bundesverwaltung haltbaren Zustand beenden, dass bereits heute in grenz- geführt werden. Damit werden die verfassungsrechtli- nahen Räumen ausländische Flugsicherungsorganisatio- chen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Dritte mit nen ohne rechtliche Grundlage tätig werden; ein der Flugsicherung in Deutschland beauftragt werden Umstand, der sich aus der Notwendigkeit ergibt, dass können. Das Institut der „Bundesverwaltung“ ist neu und Flugkorridore und damit die dortige Sicherheit am Him- dem Grundgesetz bisher fremd. Wenn hier aber neue Be- mel über nationale Grenzen hinweg organisiert werden grifflichkeiten geschaffen werden, halte ich es für uner- müssen, um einen effektiven Flugverkehr zu ermöglichen. lässlich, dass ihre Bedeutung und Systematik genau be- Die Hoheitsgrenzen der Bundesrepublik Deutschland las- stimmt ist, um rechtliche Grauzonen auszuschließen. Dies sen sich nicht parallel mit den Zuständigkeitsbereichen leistet der Gesetzentwurf bisher nicht in ausreichendem der Flugsicherungsorganisationen in der Luft abbilden. Maße. Vom Grundsatz der Bundesverwaltung darf weiter Hier kommt es zu Überschneidungen mit den Aufgaben- gemäß Art. 87 d Abs. 1 GG dann abgewichen werden, und Funktionsbereichen anderer ausländischer Flugsi- wenn europäisches Recht dies notwendig macht. Auch cherungsorganisationen. Kooperationen und Abspra- diese Formulierung ist für mich alles andere als eindeu- chen der Deutschen Flugsicherung mit anderen ausländi- tig. Warum ist in der Gesetzesbegründung beispielsweise schen Flugsicherungsorganisationen sind zwangsläufig von „zwingendem europäischen Recht“ die Rede, im (B) notwendig, um den Flugsicherungsbetrieb in diesen Luft- (D) Grundgesetz aber nicht? Diese und andere Punkte sind räumen ordnungsgemäß abwickeln zu können. Ähnlich für mich noch nicht hinreichend beantwortet. Das müssen sieht es bereits heute an Regionalflughäfen aus, an denen wir uns noch einmal genau angucken. aus praktischen und technischen Gründen ausländische Flugsicherungsorganisationen tätig sind und deren Tä- Uwe Beckmeyer (SPD): tigkeit bisher rechtlich nicht gedeckt ist. Wir beraten heute in erster Lesung einen Gesetzent- wurf zur Änderung des Grundgesetzes im Art. 87 d sowie Mit der Neuregelung im Grundgesetzartikel 87 d öff- einen Entwurf für ein Gesetz zur Änderung der luftver- nen wir die bundeseigene hoheitliche Luftverkehrsver- kehrsrechtlichen Vorschriften. Darüber hinaus liegt uns waltung für abweichende Vorgaben des europäischen ein Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Errichtung Rechts. Sie wird auch künftig der Bundesverwaltung zu- eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung vor. geordnet. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich, dass die Aufgaben der Luftverkehrsverwaltung Hoheitsaufga- Die Änderungen, die wir als Koalitionsfraktionen pa- ben des Bundes bleiben. Sie müssen jedoch nicht mehr rallel zur Bundesregierung in die parlamentarischen Be- nur durch Behörden und Personal des Bundes, sondern ratungen einbringen, stehen im engen Zusammenhang können in Ausnahmefällen auch im Wege der mittelbaren mit dem festen Willen der Mitgliedstaaten der Europäi- Bundesverwaltung einschließlich beliehener Flugsiche- schen Union, eine engere Zusammenarbeit im Luftver- rungsorganisationen wahrgenommen werden. kehr zu erreichen. Ziel der Kooperation innerhalb der Europäischen Union ist es, die Verkehrsströme in der Luft Darüber hinaus werden mit der Grundgesetzänderung effektiver zu organisieren. Im Jahr 2004 hat die Europäi- die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen geschaffen, sche Union ein Paket an Verordnungen zur Errichtung ei- um in Übereinstimmung mit dem geltenden Recht der Eu- nes einheitlichen europäischen Luftraums verabschiedet. ropäischen Gemeinschaft Unterstützungsdienste der Oberstes Ziel ist es, grenzüberschreitende „funktionale Flugsicherung, das heißt Kommunikations-, Naviga- Luftraumblöcke“ zu schaffen. Auf diese Art werden Flug- tions- und Überwachungsdienste sowie Flugberatungs- trassen optimiert. Die Schadstoffemission von Flugzeu- dienste aus der Hoheitsverwaltung des Bundes ausglie- gen wird reduziert. dern zu können. Dabei handelt es sich um die technischen Dienste, die die Beschäftigten der Flugsicherungsorga- In den grenzüberschreitenden Luftfahrtblöcken ist nisationen wie die Fluglotsen bei ihrer Tätigkeit unter- darüber hinaus eine grenzüberschreitende Zusammenar- stützen. Mit dem Gesetz zur Änderung luftverkehrsrecht- beit der nationalen Flugsicherungsorganisationen der licher Vorschriften folgen wir dem Auftrag des neuen europäischen Mitgliedstaaten vorgesehen. Das erhöht Art. 87 d im Grundgesetz, der uns als Gesetzgeber

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Uwe Beckmeyer (A) beauftragt, die konkrete Regelung der Flugsicherung in Kapitalprivatisierung bekanntlich offen gegenüber. Da- (C) Deutschland in einem eigenständigen Bundesgesetz zu rum geht es bei den vorliegenden Gesetzentwürfen aber treffen. gar nicht. Vielmehr schaffen sie einen Rechtsrahmen da- für, wie in Deutschland zukünftig Flugsicherung allge- Mit den geplanten Änderungen im Luftverkehrsgesetz mein organisiert sein soll. wollen wir festschreiben, dass auch in Zukunft die Deut- sche Flugsicherung als bundeseigenes Unternehmen im Die Initiativen sind aber nicht etwa das Ergebnis des vollständigen Besitz des Bundes bleibt. Wir schließen unbändigen Tatendrangs von Bundesregierung und Ko- eine Privatisierung aus. Darüber hinaus wird die DFS alitionsfraktionen. Beide wurden schlicht und einfach weiterhin die führende Flugsicherungsorganisation in durch die Gegebenheiten zum Handeln gezwungen. Flug- Deutschland bleiben. Nur in Randbereichen lassen wir sicherungsdienste werden in grenznahen Regionen der auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages eine Bundesrepublik durch ausländische Organisationen er- Beleihung von ausländischen Flugsicherungsorganisa- bracht. Dies ist auch zweckmäßig, da Luftraumblöcke nur tionen zu. Um die hoheitlichen Kontroll- und Aufsichts- schwerlich am genauen Grenzverlauf ausgerichtet wer- rechte des zu errichtenden Bundesaufsichtsamtes für den können. Diese Praxis verstößt jedoch gegen die Vor- Flugsicherung zu sichern, ist es bei einer Beleihung einer gaben des Grundgesetzes. Das ist der Bundesregierung ausländischen Flugsicherungsorganisation unabdingbar, und der Koalition spätestens seit der Anhörung im Ver- dass ein zwischenstaatlicher Vertrag vorliegt. Die Ho- kehrsausschuss zum Flugsicherungsgesetz im März 2007 heitsrechte des deutschen Staates müssen an dieser Stelle bekannt. Mehrere Gutachter, darunter auch der Staats- gewahrt werden. rechtler Professor Wieland, machten damals auf das Pro- blem und all seine Folgen aufmerksam. Passiert ist hin- Außerdem legen wir fest, dass nach Maßgabe der eu- gegen nichts. Mehr noch: Von der Opposition im ropäischen Regelungen jede Flugsicherungsorganisa- Verkehrsausschuss beantragte Selbstbefassungen zu tion, die in Deutschland tätig wird, ein europäisches Zer- diesem Thema wurden mehrfach vertagt, deren par- tifikat vorzuweisen hat. Damit schließen wir im Einklang lamentarische Initiativen wie der Antrag der FDP-Bun- mit den europäischen Vorgaben zukünftig eine Beleihung destagsfraktion „Zukunft der Flugsicherung verfas- natürlicher Personen für die Zukunft aus. Aktuell gel- sungskonform gestalten“ wurden abgelehnt. tende Einzelbeauftragungen erlöschen spätestens mit Ab- lauf des 31. Dezember 2010. Gleichzeitig stellen wir klar, Dabei ist das Thema alles andere als zum Aussitzen ge- dass zu einer ordnungsgemäßen Durchführung der Flug- eignet. Der anhaltende Verfassungsbruch führt dazu, sicherung neben der Sicherheit, Ordnung und flüssigen dass die Bundesrepublik für Schäden, die in diesem Zu- Abwicklung des Luftverkehrs auch die Beachtung der As- sammenhang entstehen, voll haften muss. Das wurde uns pekte des Lärm- und Umweltschutzes gehört. bereits vom Landgericht Konstanz in seinem Urteil zum (B) (D) Unglücksfall Überlingen bestätigt. Auch dort erbrachte Die Bundesregierung hat darüber hinaus ein Gesetz das Schweizer Unternehmen Sky Guide Flugsicherungs- zur Errichtung eines Bundesaufsichtsamtes für Flugsi- dienste über deutschem Hoheitsgebiet. Die Regierungs- cherung vorgelegt, das wir im Zusammenhang mit den koalition nahm damit für lange Zeit neben dem Verfas- anderen beiden Gesetzesinitiativen beraten. Das europäi- sungsverstoß als solchem ein Haushaltsrisiko in sche Recht sieht eine zwingende Trennung von Aufsichts- unüberschaubarer Höhe in Kauf. Wenn sie nun endlich und Durchführungsaufgaben im Bereich der Flugsiche- – nach über zwei Jahren – legislativ tätig wird, ist dies rung vor. Das zu errichtende Bundesaufsichtsamt wird zwar zu begrüßen; es wird aber auch allerhöchste Zeit. die hoheitlichen Kontrollaufgaben gegenüber den Flug- sicherungsorganisationen wahrnehmen. Ein ähnlich starker Handlungszwang geht auch vom europäischen Gemeinschaftsrecht aus. Innerhalb des Ich lade alle Fraktionen des Deutschen Bundestags letzten Jahres wurde deutlich, dass es Europa ernst meint ein, sich konstruktiv an der parlamentarischen Beratung mit dem Single European Sky. Die Kommission hat einen der vorliegenden Gesetzentwürfe zu beteiligen. Meine Vorschlag für eine Verordnung vorgelegt, nach der die Hoffnung ist, dass wir die vorgeschlagenen Änderungen Mitgliedstaaten bis spätestens 2012 Funktionale Luft- mit einer breiten Mehrheit des Hohen Hauses verabschie- raumblöcke errichten müssen. Spätestens zu dieser Zeit den werden. Das wäre ein gutes Signal im Sinne einer muss sichergestellt sein, dass auch ausländische Organi- weiteren Integration in der europäischen Luftverkehrspo- sationen ihre Dienste im deutschen Luftraum erbringen litik. können. Deutschland kann sich dann schlechterdings nicht den Angeboten ausländischer Unternehmen unter Jan Mücke (FDP): Hinweis auf die nationale Verfassungslage verschließen – Durch die Medienberichte der letzten Tage entstand unabhängig von den geplanten EU-Vorschriften. Denn teilweise der Eindruck, dass mit den drei Gesetzentwür- alles andere wäre ein Rückschritt hin zu reinem Protek- fen, die uns zur Beratung vorliegen, die Zukunft der Deut- tionismus. Und es wird Sie nicht verwundern, dass wir in schen Flugsicherung GmbH oder gar deren Kapitalpri- der FDP-Bundestagsfraktion diesem nicht die Hand rei- vatisierung bzw. ihre Verhinderung geregelt werden soll. chen werden. Dabei mache ich mir um die DFS übrigens Sicher, von einigen Grenzregionen und Regionalflughä- keine Sorgen. Dank der Organisationsprivatisierung im fen abgesehen, werden die Flugsicherungsdienste in der Jahre 1993 ist sie hervorragend aufgestellt und muss kei- Bundesrepublik von der DFS erbracht. Insofern trifft die nen Vergleich mit anderen Organisationen fürchten. Die beabsichtigte Novellierung dieses Unternehmen ganz be- Anzahl der von ihr kontrollierten Flüge nahm in den letz- sonders. Auch steht die FDP-Bundestagsfraktion einer ten 15 Jahren um 40 Prozent auf 3,15 Millionen zu. Trotz-

Zu Protokoll gegebene Reden 22904 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Jan Mücke (A) dem hatten im Jahr 2008 nur 4 von 100 Flügen eine Ver- Auch kann ich nicht erkennen, warum die Flugsiche- (C) spätung von mehr als 15 Minuten, die in die rung sicherer sein soll, wenn sie eine hoheitliche Aufgabe Verantwortung der DFS fiel. Diese Zahlen belegen: We- darstellt. Der Vergleich mit dem Verkehrsträger Schiene niger Staatsnähe im Bereich der Flugsicherung ist eine beweist das Gegenteil. Der Fahrdienstleiter, der dem Chance und kein Risiko für das Unternehmen. Lokpersonal zum Beispiel durch Signale die Streckenfrei- gabe erteilt und Anweisungen gibt, ist Angestellter der Wir begrüßen es auch aus einem anderen Grund, dass privatrechtlichen DB Netz AG. Er hat keinerlei Hoheits- die Kommission bei der Errichtung des Single European gewalt. Trotzdem ist ein sicherer und reibungsloser Be- Sky jetzt Gas gibt. Durch ihn kann ein wertvoller Beitrag triebsablauf auf der Schiene gewährleistet. Darüber zum Umweltschutz geleistet werden, ohne dass damit wie- hinaus würden Zwangsbefugnisse rein faktisch ins Leere der eine Verteuerung des Luftverkehrs und der Ticket- laufen. Kein Fluglotse am Boden wäre in der Lage, seine preise einhergehen würde. Allein durch die Vermeidung Weisung mit staatlicher Gewalt an Bord des Flugzeugs von Umwegen, die auf nationalstaatliche Interessen zu- durchzusetzen. Schon heute ist deshalb anerkannt, dass rückzuführen sind, kann der CO2-Ausstoß der Flugzeug- die Fluglotsen primär nicht regulierend, sondern unter- flotten um bis zu 16 Prozent reduziert werden. Um dieses stützend tätig sind. Und folgerichtig haben bereits heute Ziel erreichen zu können, müssen auch – und gerade – die nach § 3 Luftverkehrsordnung die Piloten das Recht der rechtlichen Voraussetzungen auf der Ebene der Mitglied- letzten Entscheidung. staaten geschaffen werden. Vor diesem Hintergrund ka- men die Entwürfe spät, sehr spät. Umso wichtiger ist es, Die FDP-Bundestagsfraktion begrüßt es sehr, dass das dass die letztlich beschlossenen Gesetze Bestand haben Thema Flugsicherung noch einmal am Ende dieser Legis- laturperiode angepackt wurde. Dies darf aber nicht dazu und einer verfassungsrechtlichen Kontrolle standhalten. führen, dass die Beratungen im Schweinsgalopp verlau- Es wäre fatal, wenn ein Gesetz die Flugsicherung betref- fen und nicht genügend Zeit für die Klärung von entschei- fend zum dritten Mal innerhalb von 19 Jahren für verfas- denden Fragen bleibt. Wir werden das Verfahren jeden- sungswidrig erklärt werden würde. Im Rahmen der Bera- falls konstruktiv begleiten und freuen uns auf die weiteren tungen ist daher besonderes Augenmerk auf die Diskussionen. Unterrichtungen des Bundespräsidenten aus den Jahren 1991 und 2006 und die darin aufgeführten Gründe für die Nichtausfertigung zu richten. Es werden im Rahmen der Dorothée Menzner (DIE LINKE): Anhörung dahin gehend einige Fragen zu klären sein. Ein Das, was die Koalition uns hier vorlegt, ist absurd. erneutes Scheitern an den Hürden des Grundgesetzes Während die CDU sich aus ihrer Sicht gerade mit dem darf es nicht geben. Teufel einlässt und eine Bank verstaatlicht, bereiten Sie (B) den Weg für einen Verkauf der Flugsicherung. Nachdem (D) Es freut uns, dass auch aus Sicht der Koalition Kom- die Koalition mit der Privatisierung der Deutschen Bahn munikations-, Navigations- und Flugberatungsdienste ab gescheitert ist, wird nun wieder die Flugsicherung ausge- sofort nicht mehr hoheitliche Handlungen darstellen, graben, um kurz vor Geschäftsschluss, dem Ende der Le- sondern als privatwirtschaftliche Tätigkeiten zu Markt- gislatur, der Öffentlichkeit noch einen Erfolg vorweisen bedingungen erbracht werden sollen. Union und SPD be- zu können. stätigen damit die Auffassung der FDP, die seit Jahren von uns vertreten wird, so zum Beispiel in unserem Antrag Werte Kolleginnen und Kollegen, es gibt bemerkens- „Zukunft der Flugsicherung verfassungskonform gestal- werte Parallelen zwischen der Finanzkrise und dem, was ten“. Bedauerlich ist, dass die Koalition nicht konsequent zurzeit in der europäischen Flugsicherung passiert: Vor genug war, einen Schritt weiterzugehen und auch Flug- der Finanzkrise wurde jahrelang den Banken und Invest- sicherungsverkehrsdienste als privatwirtschaftliche mentgesellschaften absolutes Vertrauen geschenkt und Dienstleistung auszugestalten. Dies würde aus unserer Wünschen nach weniger Gesetzen und Regelwerken Sicht nur Vorteile bringen. So stellt sich die Frage, warum nachgegeben, statt eigene Kompetenzen bei der Banken- es zur Erbringung von Flugsicherungsdiensten durch aufsicht aufzubauen. Die Quittung zahlen die Bürgerin- ausländische Organisationen auch nach der geplanten nen und Bürger. Die Bundesregierung lernt nichts dazu. Grundgesetzänderung notwendig sein soll, dass eine völ- Sie vertraut nun in gleicher Weise den europäischen kerrechtliche Vereinbarung mit dem Heimatstaat der Or- Flugsicherungsorganisationen, denen es in erster Linie ganisation geschlossen worden sein muss. Wohl auch aus auch nur ums Geldverdienen geht. Dabei weiß die Bun- desregierung schon heute nicht mehr, was in ihrer bun- Sicht der Koalition genügen ansonsten die Ingerenz- deseigenen Flugsicherung passiert. Künftig wird sie noch rechte des Staates nicht den Voraussetzungen einer weniger wissen! Wie sonst wäre es zu erklären, dass die – wenn auch nur einfachen – Bundesverwaltung. Im Er- Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion Die gebnis hieße dies aber, dass, solange es keine entspre- Linke vom 24. November 2008 zu Cross-Border-Leasing- chenden Vereinbarungen gibt, die Praxis in den grenz- Geschäften im Bereich des Bundes bzw. bundeseigener nahen Regionen Deutschlands rechtswidrig bleibt. Durch Unternehmen nicht antwortete? die Grundgesetzänderung würde es danach zu keinerlei Vereinfachungen kommen. So hat sich Europa den Single Die Flugsicherung ist heute schon privatrechtlich or- European Sky sicherlich nicht vorgestellt. Dieses ganisiert und damit juristisch in der alleinigen Verant- Dilemma kann verhindert werden, wenn auch Flugsiche- wortung. Fakt ist jedoch, es besteht ein 1,4-Milliarden- rungsverkehrsdienste als privatwirtschaftliche Dienst- Deal der bundeseigenen Verwaltung Deutsche Flugsiche- leistungen ausgestaltet werden. rung GmbH mit der AIG zum technischen Equipment.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22905

Dorothée Menzner (A) AIG, das ist der Konzern, der gerade den größten Quar- bracht: Drucksache 16/3803, ausdrücklich nicht zur Än- (C) talsverlust in der Wirtschaftsgeschichte eingefahren hat: derung des Grundgesetzes. Das muss man nicht verbie- 61,7 Milliarden Dollar! gen, um die europäischen Vorgaben im Luftverkehr einzuhalten! Für einen einheitlichen Luftraumblock in Zu Beginn dieser Legislaturperiode ist die Privatisie- Zentraleuropa, der von den Pyrenäen bis zur Oder reicht, rung der Flugsicherung am Bundespräsidenten aus ver- genügt eine zwischenstaatliche Organisation. Art. 24 des fassungsrechtlichen Gründen gescheitert. Die Linke Grundgesetzes reicht sehr wohl aus! Das ist längst Pra- stimmte damals als einzige Fraktion im Bundestag gegen xis: Eurocontrol überwacht schon seit Jahrzehnten einen dieses Gesetz, nicht nur, weil wir die Privatisierung für Luftraum, zu dem auch der Nordseeraum und Nord- falsch hielten und halten, sondern weil wir verfassungs- deutschland zählen. Und selbst wenn Sie das Grundge- rechtliche Bedenken hatten. Auf den Satz „Die Luftver- setz ändern, müssen trotzdem zwischenstaatliche Ein- kehrsverwaltung wird in bundeseigener Verwaltung ge- richtungen geschaffen werden. Ansonsten bliebe nur der führt“ in Art. 87 d des Grundgesetzes hatte sich Weg, dass jeder Staat mit jedem anderen einen Vertrag Bundespräsident Horst Köhler berufen, als er 2006 das abschließt. Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung ablehnte. Diesen Satz wollen Sie nun ändern. Unter dem Deckman- Ich möchte Ihnen Ihre angeblichen Sachzwänge ein- tel der Anpassung ans europäische Recht bereiten Sie den mal vor Augen führen: Für den einheitlichen europäi- Boden für eine materielle Privatisierung der Flugsiche- schen Luftraumblock ist bislang lediglich eine Joint De- rung. Natürlich verkaufen Sie die nicht gleich. Ich kann claration of Intent unterzeichnet worden, auf Deutsch: auch lesen, dass die Flugsicherung weiter zu 100 Prozent eine „Gemeinsame Absichtserklärung“! Das ist die nied- in Bundesbesitz befindlich bleibt. Das steht aber nur im rigste Stufe einer irgendwie gearteten Vereinbarung! Das Begleitgesetz. nehmen Sie zum Anlass, das Grundgesetz zu ändern? Das Grundgesetz sagt, folgt das Parlament Ihrem An- Völlig ausgeblendet haben Sie anscheinend auch die trag, bald etwas anderes. Das wollen Sie so ändern, dass Auswirkungen auf andere Luftverkehrsverwaltungen. Sie die lästigen Hürden, die den Bundespräsidenten damals tun so, als ob die Flugsicherung der einzige Bestandteil gezwungen haben, die Privatisierung zu stoppen, besei- der Luftverkehrsverwaltung wäre. Dem aber ist nicht so, tigt werden. Ich möchte vier Sätze aus einem Bericht des und Sie wissen das! Auch das Luftfahrt-Bundesamt, Verkehrsministeriums vom 23. März 2007 zitieren: „Die LBA, die Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung, Wörter ‚bundeseigener Verwaltung’ in Satz 1 werden BFU, und das zukünftige Bundesamt für Flugsiche- ersetzt durch das Wort ‚Bundesverwaltung’. Die Bundes- rungsaufsicht, BAF, sind Bestandteile der Luftverkehrs- verwaltung erhält hiernach einen größeren Handlungs- verwaltung. Darüber, was die Grundgesetzänderung für (B) spielraum, indem sie private Dritte auch in Kernberei- diese Verwaltungen bedeutet, haben Sie bisher wohl (D) chen der Staatsverwaltung, insbesondere auch im Bereich noch nicht nachgedacht, getreu der Devise: Hauptsache, der Gefahrenabwehr einsetzen kann. Der bisherige Satz 2 die Koalition erweckt noch den Anschein der Hand- wird gestrichen. Für die beabsichtigte Kapitalprivatisie- lungsfähigkeit. rung der DFS ist der bisherige Satz 2 nicht ausreichend.“ Beide „Bedingungen“ für eine Kapitalprivatisierung er- Hier sehen wir noch deutlichen Klärungsbedarf in den füllen Sie mit dieser Grundgesetzänderung. Sie lassen da- weiteren Beratungen. Wenn Flugsicherungsorganisatio- mit zu, dass auch in den Kernbereichen der Luftsicherheit nen anderer Staaten – nach entsprechender Zertifizierung – private Unternehmen agieren dürfen. Der Vorwand ist, künftig Bestandteil der nationalen deutschen Bundesver- dies wäre nötig, um in den Grenzregionen Verfassungs- waltung werden, dann muss gesichert sein, dass eine konformität herzustellen, aber ich sage: Das ist nur die Institution vorhanden ist, die kontrolliert, ob diese Orga- halbe Wahrheit. Mit anderen Worten: Die SPD macht sich nisationen die zahlreichen Gesetze, Verordnungen, Richt- zum Wegbereiter für eine Kapitalprivatisierung der DFS – linien und Erlasse einhalten, die für Bundesverwaltungen trotz Hamburger Parteitagsbeschluss. Schwarz-Gelb, so nun einmal gelten. Das neue Aufsichtsamt für die Flug- das auf uns zukommt, kann in der nächsten Legislaturpe- sicherung BAF mit seinen künftig etwa 80 Beamten wird riode in Ruhe vollenden. Die hätten dann natürlich keine mit diesen Angelegenheiten mit ziemlicher Sicherheit Zweidrittelmehrheit, deswegen muss jetzt die SPD noch überfordert sein! Es ist in der Tat so, dass die Organisa- einmal den nützlichen Idioten spielen. Wollen Sie das tionseinheiten von AustroControl, die einen Teil der deut- wirklich? schen Regionalflughäfen kontrollieren, sich künftig in der Rolle einer Bundesverwaltung befinden werden und ent- Wer der Meinung ist, die Deutsche Flugsicherung soll sprechendes öffentliches Recht für ihren inneren Aufbau zu 100 Prozent in Bundesbesitz bleiben, der darf dieser werden anwenden müssen! Die Frage ist jedoch, wer das Grundgesetzänderung nicht zustimmen! Ich appelliere an kontrolliert. Wir sehen noch umfänglichen Klärungsbe- die Genossinnen und Genossen der SPD, das zu überden- darf für die weiteren Beratungen. ken, anderenfalls könnte einem glatt die Idee kommen, es läge ein Deal vor. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Anlass des Vorschlags zur Änderung des Grund- Wir hatten uns als Verkehrspolitiker im Jahr 2006 auf gesetzes des gemeinsamen Luftraums in Zentraleuropa ist ein Gesetz zur Kapitalprivatisierung der Deutschen Flug- unbestritten. Auch die Linke setzt sich dafür ein, dass die sicherung, DFS, geeinigt und waren damals der Auffas- gesetzlichen Grundlagen ans Europarecht angepasst sung, zu einem guten Kompromiss gekommen zu sein. werden. Wir haben dazu einen eigenen Antrag einge- Das Gesetz sollte der Umsetzung der neuen Anforderun-

Zu Protokoll gegebene Reden 22906 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Winfried Hermann (A) gen für einen einheitlichen und sicheren europäischen fordert, eine Trennung von Flugsicherungsabwicklung (C) Luftraum dienen, die mit einer Reihe von EU-Verordnun- und Kontrolle sicher zu stellen. Das BAF soll alle Kon- gen zum Single European Sky, SES, vorgegeben waren. trollaufgaben in Sachen Flugsicherung wahrnehmen und Die zentralen Zielsetzungen des Gesetzes lauteten: Wah- die Einhaltung von Standards sichern, umfassende rung europäischen Rechts und des Grundgesetzes, Wah- Rechts- und Fachaufsicht. Die Einrichtung dieser Be- rung und Sicherung hoheitlicher Aufgaben, Schaffung hörde ist längst überfällig; denn seit Jahren ist eine Art optimaler Bedingungen für das international anerkannte Übergangsbehörde mit unzureichender Personalausstat- Flugsicherungsunternehmen DFS im europäischen Wett- tung allein für die Kontrolle, Genehmigung und Zertifi- bewerb sowie Garantie und Sicherung unabhängiger zierung zuständig. Dieser Zustand muss dringend abge- staatlicher Aufsicht. Der Bundespräsident hat gegen das stellt werden. Gesetz sein Veto eingelegt und dies mit der Verfassungs- widrigkeit des DFS-Gesetzes begründet. Unserer Auffassung nach müssen die beschriebenen Probleme mit der derzeitigen rechtswidrigen Flugsiche- Ohne eine Neuregelung konnten die europäischen Vor- rungspraxis rasch gelöst werden. Überdies drohen Ver- gaben bisher nicht umgesetzt werden. Auch die Probleme tragsverletzungsverfahren, wenn die europäischen Vor- der Luftraumüberwachung in Grenzgebieten durch aus- gaben nicht umgesetzt werden. Die Schaffung eines ländische Flugsicherungsorganisationen, die man kaum einheitlichen europäischen Luftraums soll – so ein erklär- als in „bundeseigner Verwaltung“ betrieben bezeichnen tes Ziel – zu mehr Effizienz im Flugverkehr führen. Wir kann, wurden nicht gelöst, noch wurden die Fragen der meinen, dies ist ein wichtiger Baustein für mehr Klima- Rechtmäßigkeit der Tätigkeit privater Flugsicherungs- schutz im Luftverkehr und begrüßen daher die Umsetzung organisationen an Regionalflughäfen beantwortet. Der des einheitlichen europäischen Luftraums. Bundesregierung ist es lange Zeit nicht gelungen, aus dem gescheiterten Vorhaben Konsequenzen zu ziehen. Gleichwohl müssen wir jetzt im parlamentarischen Jetzt endlich – immerhin drei Jahre später – werden drei Verfahren wohlüberlegt und mit großer Sorgfalt sicher- Regelwerke vorgelegt, die diesem Zustand abhelfen sol- stellen, dass mit den jetzt vorliegenden Gesetzentwürfen len. wirklich alle Fragen der momentan grundgesetzwidrigen Praxis in der Flugsicherung beim grenzüberschreitenden Mit dem ersten Gesetz soll Art. 87 d des Grundgesetzes Flugverkehr und der Verfassungskonformität mit euro- geändert werden. Die Debatte wie auch verfassungs- päischen Anforderungen geklärt werden. Wir werden die rechtliche Gutachten zu den Einwänden des Bundesprä- Vorlagen in der nötigen Ruhe kritisch prüfen und im Rah- sidenten haben die Notwendigkeit einer Grundgesetzän- men der parlamentarischen Beratung wie auch der ver- derung nahegelegt. Die jetzt von der Bundesregierung abredeten Anhörung im Deutschen Bundestag auf trans- (B) vorgeschlagenen zentralen Änderungen sind: Die For- parente, eindeutige und rechtskonforme Regelungen (D) mulierung „bundeseigene Verwaltung“, Art. 87 d GG drängen. Denn mit Blick auf die Historie – immerhin wur- derzeit, soll durch die Formulierung „Bundesverwal- den schon durch zwei Bundespräsidenten Regelungen tung“ ersetzt werden, das heißt, die Aufgaben der Flugsi- zum Flugverkehr aufgehalten – wollen wir darauf drän- cherung können sowohl öffentlich-rechtlich als auch gen, dass klare und unmissverständliche Regelungen ge- durch private Organisationen, etwa durch Beleihung, troffen werden, damit nicht erneut ein Scheitern am Ende ausgeübt werden. Ausländische Flugsicherungsorgani- steht. Für uns hat Sicherung hoheitlicher Aufgaben der sationen, die nach EU-Recht zertifiziert sind, sollen ge- Flugsicherung höchste Priorität. Die Verantwortung für mäß europäischer Vorgaben für Tätigkeit über deutschem den sicheren Luftraum muss beim Bund bleiben. So soll Hoheitsgebiet zugelassen werden. Das zielt, so die Be- auch zukünftig die zivil-militärische Integration bei der gründung, auf die Absicherung ausländischer Organisa- Überwachung des Flugverkehrs eine höchstmögliche Si- tionen, die im Rahmen der Schaffung von FABs, Funktio- cherheit garantieren. naler Lufträume in der EU, zur Umsetzung des einheitlichen europäischen Luftraums über deutschem Ulrich Kasparick, Parl. Staatssekretär beim Bundes- Gebiet tätig werden. minister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Das Gesetz zur Änderung luftverkehrsrechtlicher Vor- Wir behandeln heute ein umfangreiches Gesetzespaket schriften enthält die Ausführungsbestimmungen für die zur Neuregelung der Flugsicherung, bestehend aus drei vorgeschlagene Grundgesetzänderung sowie Klarstel- Gesetzen. Wir müssen unser nationales Recht aus ver- lungen und Regelungen über jene technischen Bereiche schiedenen Gründen weiterentwickeln und anpassen. der Flugsicherung – Unterstützungsdienste, Kommunika- tions-, Navigations- und Überwachungsdienste –, die Wir wollen mit dem BAF-Errichtungsgesetz das erste nach europäischen Vorgaben nicht mehr als hoheitliche EU-Verordnungspaket über den einheitlichen europäi- Aufgaben des Bundes wahrgenommen werden müssen. schen Luftraum – SES I – umsetzen. Dies müssen wir Eine Kapitalprivatisierung wie im Gesetz von 2006 vor- schon deshalb tun, weil wir ein Vertragsverletzungs- gesehen wird ausdrücklich nicht angestrebt; die Deut- verfahren der EU und insbesondere auch Defizite in der sche Flugsicherung bleibt im Besitz des Bundes. Sicherheit durch eine unzureichende Aufsicht vermeiden wollen. Mit der Grundgesetzanpassung in der jetzt vorlie- Mit dem BAF-Gesetz soll das einzurichtende Bundes- genden Form haben wir einen Weg gefunden, bei allen aufsichtsamt für Flugsicherung, BAF, als unabhängige wichtigen EU-Vorhaben zur Weiterentwicklung eines Aufsichtsbehörde auf den Weg gebracht werden. Die EU gemeinsamen Luftraums mitwirken zu können. Das von hatte mit den SES-Vorgaben die Mitgliedstaaten aufge- uns sogenannte Begleitgesetz zur Flugsicherung ist die

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22907

Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick: (A) logische und zwingende Folge der von mir eben vorge- davon aus, dass die Luftverkehrsverwaltung und damit die (C) stellten Maßnahmen zu Grundgesetz und EU sowie SES. Flugsicherung durch eigene Einrichtungen des Bundes Bei allem spielt außerdem eine wichtige Rolle, dass wir darstellbar wären. Das ist aber heute in einem zusammen- den Herausforderungen eines kontinuierlich wachsenden wachsenden Europa nicht mehr der Fall. Der grenzüber- Luftverkehrs sachgerecht begegnen können. schreitende Flugverkehr fordert andere Lösungen. Das ist der Grund, warum wir unsere Verfassung anpassen Die Europäische Union hat bereits im Jahre 2004 müssen. reagiert. Mit dem Verordnungspaket zum Einheitlichen europäischen Luftraum soll ein grenzüberschreitender Gleichzeitig – und das möchte ich hier besonders heraus- Single European Sky in Zentraleuropa geschaffen wer- stellen – berücksichtigen wir bei der vorliegenden, an den den. Wir hinken nach wie vor hinterher. Nach wie vor ist Notwendigkeiten Europas wie der Praxis orientierten Ver- unser Recht nicht auf den Single European Sky aus- fassungsänderung auch Bedenken des Bundespräsidenten gerichtet. Deutschland als das Kernland in Europa kann bezüglich der Bundesverwaltung, die er 2006 – wenn sich hier aber nicht einfach heraushalten. auch in anderem Zusammenhang – geäußert hat. Die besondere Herausforderung, vor der wir stehen, ist, Zweitens: Gesetz zur Änderung luftverkehrsrechtlicher die Flugsicherung grenzüberschreitend zu organisieren. Vorschriften. Dieses Gesetz ist zur Umsetzung der neuen Es gilt, eine weitgehend zersplitterte Flugsicherungs- grundgesetzlichen Vorgaben notwendig. Mit dem Gesetz landschaft in der Europäischen Union zu vereinheitlichen werden die von der Neufassung von Art. 87 d des Grund- und auf einen gemeinsamen Level zu bringen. Die Lenkung gesetzes geforderten einfachgesetzlichen Grundlagen des Flugverkehrs soll sich künftig nicht mehr an Staats- geschaffen, um die deutsche Flugsicherung europa- grenzen orientieren, sondern an den Verkehrsströmen. rechtskonform auszurichten. Darüber hinaus werden die Flugzeuge sollen, insbesondere auch im Interesse des Voraussetzungen geschaffen, um Flugsicherungsaufgaben Umweltschutzes, auf möglichst direktem Weg an ihr je- in Deutschland in bestimmten Ausnahmefällen durch aus- weiliges Ziel geführt werden. Dazu sollen in ganz Europa ländische Flugsicherungsorganisationen wahrnehmen grenzüberschreitende funktionale Luftraumblöcke ein- lassen zu können. gerichtet werden. Unter Beteiligung Deutschlands, Lassen Sie es mich an dieser Stelle noch einmal aus- Frankreichs, der Benelux-Staaten und der Schweiz laufen drücklich betonen: Es steht kein Ausverkauf der Flug- die Arbeiten an der Errichtung eines solchen gemeinsa- sicherung an. Wir übertragen insbesondere auch keine men Luftraums über Zentraleuropa: Functional Airspace Hoheitsrechte an Dritte. Die Flugsicherung in Deutsch- Block Europe Central, FABEC. Es gilt daher, die aktive land bleibt weiterhin eine Aufgabe des Bundes. Keiner in Beteiligung Deutschlands an diesem FABEC sicherzu- Deutschland tätigen Flugsicherungsorganisation werden stellen. (B) daher Kompetenzen des Bundes übertragen. Diese Orga- (D) Wir brauchen insoweit die notwendige Flexibilität, um nisationen sind nur befugt, die Hoheitsrechte des Bundes hier auf gleicher Augenhöhe mit den anderen Staaten unter seiner Aufsicht und Kontrolle wahrzunehmen. Die gemeinsame Lösungen konzipieren und verwirklichen zu Belange des Bundes müssen dabei in jedem Fall gewahrt können. Diesen Freiraum, diese notwendige Flexibilität werden. Dazu braucht der Bund aber entsprechende Steu- schaffen wir mit dem Gesetzespaket zur Neuorganisation erungsinstrumente. der Flugsicherung in Deutschland. Lassen Sie mich kurz Es war gerade der Bundespräsident, der uns 2006 in auf die einzelnen Regelwerke eingehen. besonders eindringlicher und anschaulicher Form noch Erstens: Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes, einmal deutlich gemacht hat, welch bedeutende Rolle, Art. 87 d GG. Mit der Grundgesetzänderung wird die Aufgabe und Verantwortung der Bund für eine sichere Luftverkehrsverwaltung neu ausgerichtet. Die bisherige und ordnungsgemäße Flugsicherung trägt. Ohne wirk- bundeseigene Verwaltung des Luftverkehrs wird in eine same Kontroll- und Durchsetzungsbefugnisse kann der Bundesverwaltung überführt. Der einfache Gesetzgeber Bund – wie der Bundespräsident betont hat – seiner Ver- hat so die Möglichkeit, sie als bundesunmittelbare, aber antwortung nicht gerecht werden. Vor diesem Hinter- auch als mittelbare Verwaltung auszugestalten. Durch die grund und im Hinblick auf die herausragende Funktion Möglichkeit der Ausgestaltung als mittelbare Verwaltung und Stellung der DFS in der Flugsicherung sind wir nun- wird insbesondere der Weg eröffnet, Dritte in die Bundes- mehr der festen Überzeugung, dass eine solche Aufgabe verwaltung einbeziehen zu können. Wir brauchen diesen grundsätzlich nur von einer zu 100 Prozent in Bundes- Freiraum gerade in der Flugsicherung. Zum Beispiel ha- eigentum stehenden Flugsicherungsorganisation – sprich: ben wir Situationen an unseren Grenzen, wo es sich nicht DFS – wahrgenommen werden kann. vermeiden lässt, dass auch ausländische Flugsicherungs- Die Aufrechterhaltung des Alleineigentums an der organisationen mit ihrer Flugsicherungstätigkeit gleich- DFS erscheint uns letztlich als die beste Lösung, um jed- sam von außen nach Deutschland hineinwirken. Kommt weden verfassungsrechtlichen Bedenken entgegentreten es zur Errichtung des FABEC, wird sich dieser Umstand zu können und um eine Gewähr für die Aufrechterhaltung noch beträchtlich ausweiten. Staatsgrenzen spielen dann des hohen Sicherheitsstandards Deutschlands in der keine Rolle mehr; entscheidend für die Ausrichtung und Flugsicherung bieten zu können. Nach den vorgesehenen Ausgestaltung der internationalen Flugsicherungstätig- Neuregelungen wird daher die DFS als bundeseigenes, keit werden nur noch die Verkehrsströme sein. privatrechtliches Unternehmen auch weiterhin die hoheit- Bei Abfassung des Grundgesetzes waren diese Um- lichen Aufgaben des Bundes in Deutschland wahrneh- stände nicht erkennbar. Der Gesetzgeber ging seinerzeit men.

Zu Protokoll gegebene Reden 22908 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Parl. Staatssekretär Ulrich Kasparick: (A) Nicht bundeseigene Flugsicherungsorganisationen las- Übereinkommen vom 30. Mai 2008 über (C) sen wir nur in Randbereichen der Flugsicherung zu, und Streumunition zwar für die Flugsicherung an Regionalflughäfen. Hier – Drucksache 16/12226 – handelt es sich nicht um die Kontrolle des An- und Ab- fluges oder des Streckenfluges, sondern nur um die Über- Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuss (f) wachung des Flugplatzverkehrs auf dem Flugplatz. Diese Verteidigungsausschuss Dienste waren bislang einzelnen natürlichen Personen Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe übertragen. Künftig können sie nur von Flugsicherungs- Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und organisationen durchgeführt werden, die nach europäi- Entwicklung schem Recht zertifiziert sind. Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kolle- Bestimmte Dienste im Zusammenhang mit der Flug- gen Hans Raidel, CDU/CSU, Andreas Weigel, SPD, sicherung wollen wir allerdings gänzlich aus dem hoheit- Florian Toncar, FDP, Inge Höger, Die Linke, Winfried lichen Pflichtenkreis des Bundes herausnehmen. Es han- Nachtwei, Bündnis 90/Die Grünen. delt sich hierbei um Kommunikations-, Navigations- und Überwachungsdienste – CNS-Dienste –, Flugberatungs- dienste, AIS-Dienste sowie Flugvermessungsdienste. Hans Raidel (CDU/CSU): Diese Dienste werden zukünftig der Privatwirtschaft Seit den 1990er-Jahren ist die Stärkung des humanitä- überlassen und der Aufsicht des noch zu errichtenden ren Völkerrechts weit vorangekommen. Das Verbot der Bundesaufsichtsamtes für Flugsicherung unterstellt. Damit Antipersonenminen war ein erster Meilenstein. Der von kommen wir europäischen Vorgaben nach. Norwegen im Februar 2007 eröffnete Oslo-Prozess zu Streumunition gestaltet sich zu einer weiteren wichtigen Künftig können auch zertifizierte ausländische Flug- Etappe. sicherungsorganisationen mit Sitz oder Niederlassung im Ausland im Bereich der grenzüberschreitenden Flug- Streubomben sind scheußliche Waffen. Sie können sicherung unter Kontrolle und Aufsicht des Bundes ein- nicht zuverlässig zwischen militärischen und zivilen Zie- gesetzt werden. Dazu schaffen wir die Voraussetzungen len unterscheiden. Noch Jahrzehnte nach dem Einsatz für eine Unterbeauftragung von ausländischen Flug- von Streubomben werden Menschen von Sprengkörpern sicherungsorganisationen durch die DFS. So erhalten wir getötet oder schwer verletzt. Das Erbe der nicht explo- eine wesentlich verbesserte rechtliche Basis für die dierten Streumunition verhindert auch nach Beendigung Zusammenarbeit mit ausländischen Flugsicherungsorga- eines Krieges den Wiederaufbau eines Landes. Die Besei- nisationen. tigung von Streubomben ist ebenfalls eine Voraussetzung für die Normalisierung eines Landes nach einem Krieg, (B) (D) Drittens: Gesetz zur Errichtung eines Bundesauf- wie die Beseitigung von Antipersonenminen. sichtsamtes für Flugsicherung. Das dritte Gesetz im vor- Seit dem Einsatz von Streumunition im Nahen Osten im liegenden Paket setzt die zur Verbesserung der Flug- Sommer 2006 wird ein Verbot für diese Munition gefor- sicherheit nach europäischen Vorgaben zwingend dert. Die damals eingesetzte Munition hatte nach Aussa- gebotene Trennung operativer und regulativer Aufgaben gen von Nichtregierungsorganisationen eine enorm hohe im Bereich der Flugsicherung um. Nachdem die DFS in Blindgängerrate von weit über 15 Prozent. Allein im der Vergangenheit als Rechtsnachfolgerin einer ehema- Libanon wurden über 3 000 Blindgänger entschärft, ligen Bundesbehörde auch zahlreiche Hoheitsaufgaben 60 Zivilisten sollen im Libanon durch Blindgänger ums des Bundes im Rahmen der Aufsicht und Regulierung Leben gekommen sein. wahrgenommen hat, wird sie durch dieses Gesetz von die- sen Aufgaben befreit. Die vorhandenen und neu durch die Die Bundesrepublik Deutschland ist sich schon früh- Umsetzung des SES-Verordnungspakets entstandenen zeitig der Gefahren bewusst gewesen, die durch Ge- Aufgaben werden zukünftig auf eine neue Bundesbehörde brauch und hohe Blindgängerrate bestimmter Arten von verlagert: das Bundesaufsichtsamt für Flugsicherung. Streumunition vor allem der Zivilbevölkerung drohen. Sie Als nachgeordnete Behörde des BMVBS soll dieses Amt unterstützte daher von Beginn an aktiv den Verhand- als eigenständige nationale Aufsichtsbehörde für die lungsprozess zu Streumunition, um die Zivilbevölkerung Flugsicherung fungieren, wie sie in Art. 4 der EG-Verord- vor den Gefahren dieser Munition stärker zu schützen nung 549/2004 vorgeschrieben ist. und das humanitäre Völkerrecht weiter zu entwickeln. Deshalb möchte ich den Vertretern der Bundesregierung für ihren Einsatz meinen Dank aussprechen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Die Bundesregierung war immer bemüht, möglichst viele Staaten mit ins Boot zu holen. Letztlich lässt sich ein den Drucksachen 16/12280, 16/12279 und 16/11608 an stärkerer Schutz der Zivilbevölkerung nur dann errei- die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- chen, wenn diese Verpflichtungen von so vielen Staaten schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der wie nur irgend möglich mitgetragen werden, insbe- Fall. Dann ist das so beschlossen. sondere von den Staaten, die über große Streumunitions- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: arsenale verfügen. Unsere Verhandlungsführer zeigten diplomatisches Fingerspitzengefühl für das politisch Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Machbare, immer verbunden mit einem realistischen gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Schrittfolgekonzept. Ein langer Atem und die Bereitschaft Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22909

Hans Raidel (A) zum Bohren dicker Bretter waren Voraussetzungen für nichten. Dies gab einen wichtigen Impulse für die inter- (C) den Erfolg. Wir wissen aus Erfahrung, wie mühsam es ist, nationalen Verhandlungen. Abrüstungserfolge zu erzielen. Betrachten wir nur das Der Oslo-Prozess zu Streumunition wurde im Februar Ottawa-Minenprotokoll und das damit verbundene jahre- 2007 von Norwegen außerhalb des VN-Kontextes eröff- lange Tauziehen. Auch dabei haben sich Deutschlands nete. 107 Teilnehmerstaaten, 21 Beobachterstaaten sowie Regierung und Parlament besonders engagiert und 200 NGO-Vertreter nahmen daran teil. Das Übereinkom- Schrittmacherdienste geleistet. Es hat sich gelohnt: men wurde anschließend am 3. Dezember 2008 in Oslo Heute ist das Ottawa-Protokoll in Kraft. von 94 Staaten, darunter auch Deutschland, unterzeich- Die Mitglieder des parlamentarischen Forums „Small net. Mit der Unterschrift Tunesiens am 12. Januar 2009 Arms and Light Weapons“, dessen Vorstand ich ange- haben inzwischen 95 Staaten das Übereinkommen unter- höre, haben 2007 in einer Erklärung ihre Solidarität mit zeichnet. allen Opfern von Streubomben bekundet. Da Streubom- Ein großes Defizit des gesamten Prozesses ist, dass benmunition Zivilisten in Konfliktgebieten großen Scha- mehrere Länder mit großen Streumunitionsbeständen wie den zufügt, haben wir darin unsere tiefsten Bedenken zum die USA, Russland, China, Indien, Pakistan, Brasilien, Ausdruck gebracht. Die hohe Zahl an Toten und Verletz- Korea und Israel das Übereinkommen bisher nicht unter- ten sowie die Gefahr einer nachhaltigen Schädigung zeichnet haben. Es bleibt zu hoffen, dass durch den Regie- durch Blindgänger weit nach Ende des Konflikts werden rungswechsel in den Vereinigten Staaten Präsident von uns zutiefst bedauert. Obama auch in diesem wichtigen Politikfeld eine Wende in Amerika einleitet und damit auch die anderen Staaten, In der Erklärung wird gefordert, dass aufgrund der die das Abkommen noch nicht unterzeichnet haben, mit- rücksichtslosen und nachhaltigen Gefährdung der Zivil- reißt und eine gemeinsame Lösung gefunden wird, die von bevölkerung ein internationales Instrument geschaffen allen akzeptiert wird. wird, um gegen Streubomben vorzugehen. Das Forum fa- vorisiert dabei eine Lösung, durch die jede Form von Das jetzige Abkommen ist sehr weitreichend. Das ist Streubombenmunition verboten werden soll. Hierin wird gut und notwendig. Nicht nur Einsatz, sondern auch Ent- die Befürchtung zum Ausdruck gebracht, dass eine Ab- wicklung, Herstellung, Lagerung sowie Import und Ex- schmälerung dieses Verbotes dazu führen könnte, dass port von Streumunition aller Typen werden in dem neuen der Handel und die Produktion weitergehen könnten. Es Übereinkommen untersagt. Das Verbot umfasst sämtliche wird darauf gedrängt, dass sich die produzierenden Län- bislang zum Einsatz gekommenen Streumunitionstypen. der dem Moratorium zu einem Verbot von Streubomben Die vorhandenen Bestände von Streumunition sind inner- anschließen. Ziel sollte es sein, den Handel und die Pro- halb von acht Jahren zu vernichten, in besonderen Fällen (B) duktion dieser Waffen einzustellen. Ein solches Morato- kann diese Frist zweimal um je vier Jahre verlängert wer- (D) rium soll auch für Artillerie und hochmoderne Waffen- den. Die Hilfe für die Opfer früherer Einsätze und die Un- technologien mit Selbstzerstörungseinrichtungen gelten. terstützung betroffener Staaten werden gestärkt. Die Verhandlungen waren sehr schwierig, da die Vor- In der Berlin-Erklärung vom Februar 2009 begrüßen stellungen der unterschiedlichen Staaten sehr verschie- die Teilnehmer die im Dezember 2008 in Oslo von den waren, die Interessen stark auseinandergingen. Viele 94 Ländern unterzeichnete Konvention gegen den Ein- Regelungen des Verhandlungstextes sind teilweise iden- satz von Streubomben. Die Implementierung dieses Do- tisch mit entsprechenden Bestimmungen der Ottawa-An- kuments wird als eine wichtige Errungenschaft angese- tipersonenminen-Konvention von 1997 bzw. bauen hier- hen, da es sich gegen die Produktion, den Gebrauch, den auf auf. Dennoch musste in dem Übereinkommen eine Besitz sowie den Handel dieser Waffen ausspricht. Die Reihe komplexer Fragen gelöst werden, die sich, anders Staaten werden dazu ermuntert, sich für die Ratifizierung, als bei den Antipersonenminen, hier in wesentlich kontro- die Teilnahme und die Umsetzung dieser Konvention ein- verserer Form stellten. Ich möchte einige Beispiele nen- zusetzen. Die anhaltende Produktion, Weiterverbreitung nen. Interoperabilität: Wie kann und darf militärisch mit und Lagerung solcher Waffen wird von den Parlamenta- Nicht-Vertragsstaaten gemeinsam agiert werden? Defini- riern kritisiert, da diese Waffen unendliches Leid über die tion: Welche alternativen Waffen dürfen genutzt werden? Betroffenen in den Einsatzgebieten bringen. Rückwirkung von Räumverpflichtungen etc. Die Bundeswehr hat Streumunition nie eingesetzt. Be- Um die Ratifizierung noch in dieser Legislaturperiode reits 2001 hat die Bundeswehr damit begonnen, Streumu- sicherzustellen, hat die Bundesregierung in der Kabinetts- nition aus ihren Arsenalen zu entfernen. Das deutsche sitzung am 21. Januar 2009 einen entsprechenden Ge- frühzeitige Engagement, seit 2004 aktiv im Rahmen des setzentwurf beschlossen. Nach positivem Votum des Bun- VN-Waffenübereinkommens wie auch im Oslo-Prozess desrates am 6. März 2009 liegt der Gesetzesentwurf nun seit dessen Beginn Ende 2006, hat die diplomatischen Be- dem Bundestag vor. Ich bitte Sie alle um Ihre Zustim- mühungen für ein globales Einsatzverbot entscheidend mung. Sind wir damit schon am Ziel? Nein, leider noch mitgeprägt. Bereits im März 2006 hat die Bundesregie- nicht. Wir müssen den Verhandlungsprozess in die Verein- rung mit einer „8-Punkte-Position“ erste konkrete Maß- ten Nationen tragen. Es muss uns gelingen, gemeinsam nahmen zu einem einseitigen Verzicht Deutschlands auf mit der großen Mehrheit der Vertragsstaaten des VN-Waf- Streumunition beschlossen. Damals hat sich Deutschland fenübereinkommens, im VN-Rahmen für ein ambitionier- verpflichtet, auf Neubeschaffungen zu verzichten und Mo- tes Protokoll zu Streumunition zu kommen, das natürlich delle mit Blindgängerraten über einem Prozent zu ver- nicht im Widerspruch zum Oslo-Übereinkommen über

Zu Protokoll gegebene Reden 22910 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Hans Raidel (A) Streumunition stehen darf und eine klare Verbotsregelung dass sich im Mai 2008 rund hundert Staaten auf ein Ver- (C) enthalten muss. Es muss ein entsprechendes Protokoll als bot geeinigt haben, welches nicht nur den Einsatz, son- ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einem letztendlich dern auch die Entwicklung, Herstellung und Lagerung weltweiten Verbot von Streumunition gefunden werden. sowie den Im- und Export von Streumunition aller Typen umfasst. Das fortgesetzte intensive Werben des Ministers Auf der Basis eines entsprechenden Mandates aus dem – insbesondere gegenüber Staaten, die dem Verbot noch Jahre 2007 fanden 2008 insgesamt sieben Verhandlungs- nicht beigetreten sind – verdient die volle Unterstützung wochen zur dringlichen Frage der humanitären Auswir- dieses Hauses. kungen von Streumunition statt. Da erhebliche Differen- zen unter den Vertragsstaaten nicht ausgeräumt werden Internationale abrüstungspolitische Bemühungen wa- konnten, wurde von den Mitgliedstaaten Ende 2008 be- ren seit Ende des Kalten Krieges nicht gerade erfolgsver- schlossen, die Bemühungen um ein Zusatzprotokoll zum wöhnt. Die im vergangenen Jahr erzielte Einigung auf ein VN-Prozess zum Thema Streumunition 2009 fortzusetzen. umfassendes Verbot von Streumunition stellt da einen Die erste Verhandlungsrunde hat bereits im Februar höchst erfreulichen und ermutigenden Wendepunkt dar. stattgefunden, allerdings ohne nennenswerte Fortschritte Zu Beginn des Jahres 2009 ist nun – auch dank des Amts- in der Sache. Die Aussichten, die weiterhin bestehenden antritts der neuen US-Administration – viel Rückenwind Differenzen zu wesentlichen Elementen wie Definition für eine Wiederbelebung von Abrüstung und Rüstungs- und Verbotsumfang im April 2009 auszuräumen und zu kontrolle zu spüren. Diesen Rückenwind gilt es weiter zu einem für alle betreffenden Mitgliedstaaten akzeptablen verstärken. Ergebnis zu gelangen, werden als eher gering einge- Das im vergangenen Jahr international ausgehandelte schätzt. Eine substanzielle Regelung zu Streumunition im Verbot von Streumunition sollte schnellstmöglich in Kraft VN-Prozess wäre jedoch insofern wichtig, als hier auch treten und Wirksamkeit entfalten. Das ist das Ziel des die oben genannten Staaten mit großen Streumunitionsbe- heute hier von der Bundesregierung vorgelegten Gesetz- ständen eingebunden sind, die in Dublin nicht teilgenom- entwurfs. men haben. Diese stehen einem umfassenden Verbot nach dem Modell von Dublin/Oslo leider weitgehend ableh- Der Bundesrat hat bereits Anfang März vorbehaltlos nend gegenüber. „grünes Licht“ für den Gesetzentwurf signalisiert. Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier sollten ihn nun Wir müssen mit allen uns zur Verfügung stehenden in den kommenden Wochen ebenfalls zügig beraten und Mitteln bei allen Nicht-Teilnehmerstaaten des Oslo-Pro- mit breitem Rückhalt versehen. Entscheidend ist dabei zesses aktiv für die Universalisierung des Übereinkom- gar nicht so sehr, dass wir damit das Streumunitionsver- mens werben. Am 25. und 26. Juni 2009 wird in Berlin in bot hierzulande gesetzlich verankern, sondern vielmehr (B) Kooperation mit Norwegen eine Fachkonferenz zu Art. 3 die internationale Signalwirkung, die von einer raschen (D) des Übereinkommens über Streumunition durchgeführt, Ratifizierung Deutschlands ausgehen kann. der die Zerstörung vorhandener Bestände festlegt. Zu dieser Konferenz werden alle Besitzerstaaten von Streu- Das im Mai 2008 in Dublin von rund 100 Staaten ge- munition, die das Übereinkommen gezeichnet haben, so- troffene Übereinkommen tritt erst in Kraft, wenn es min- wie weitere an dem Thema interessierte Zeichnerstaaten destens 30 Staaten ratifiziert haben. Eine zügige deutsche eingeladen werden. Die Konferenz in Berlin wird das Ratifizierung im ersten Halbjahr 2009 hätte Vorbildcha- wichtigste Zusammentreffen zum Thema Streubomben in rakter und könnte so ganz wesentlich zu zweierlei beitra- diesem Jahr sein und eine gute Möglichkeit bieten, den gen: erstens dass das Streumunitionsverbot bis Ende des Vertrag auf internationaler Ebene zu stärken. Ich hoffe, Jahres international Gültigkeit erlangt und zweitens dass dass sie dazu beiträgt, den Ratifizierungsprozess in den weitere Staaten zu einem raschen Vertragsbeitritt ermu- Unterzeichnerstaaten zu beschleunigen. Ich möchte das tigt werden. Auswärtige Amt auffordern, die Konferenz auch für Staa- National ist das umfassende Streumunitionsverbot in ten zu öffnen, die die Konvention nicht unterzeichnet ha- Deutschland ohnehin bereits seit vergangenem Mai wirk- ben, jedoch Streumunition lagern. Insbesondere eine Ein- sam. Noch vor Abschluss der internationalen Verhand- ladung an die Vereinigten Staaten könnte dazu beitragen, lungen am 30. Mai wurden sämtliche Streumunitionsbe- dass die Obama-Regierung dazu ermutigt würde, ihre stände der Bundeswehr per ministeriellen Erlass außer bisherige ablehnende Haltung zu ändern. Dienst gestellt. Das Verbot von Streumunition wird zu Recht als bedeu- Andreas Weigel (SPD): tender Meilenstein zur Weiterentwicklung humanitärer „2009 muss ein Jahr des Aufbruchs sein für die inter- Rüstungskontrolle gewürdigt. Denn damit wird eine nationale Sicherheits- und Abrüstungspolitik.“ Diese Waffe geächtet, deren Einsatz verheerende Auswirkungen klare Richtungsvorgabe von Außenminister Frank-Walter hat und der bis in die jüngste Vergangenheit ganz über- Steinmeier bei der Münchener Sicherheitskonferenz An- wiegend Zivilisten zum Opfer gefallen sind. Splitterbom- fang Februar bezieht sich nicht zuletzt auf die angestrebte ben verursachen weit verstreut Blindgänger und fordern Inkraftsetzung und Universalisierung des Streumuni- so häufig auch lange nach Kriegsende noch zahlreiche tionsverbots. unschuldige Menschenleben. Die deutsche Vorreiterrolle und insbesondere die ge- Dass das Streumunitionsverbot von nahezu allen ge- schickte und geduldige Verhandlungsführung des Aus- wichtigen EU- und NATO-Staaten mitgetragen wird, sen- wärtigen Amtes haben maßgeblich dazu beigetragen, det ein starkes Signal an diejenigen Länder aus, die noch

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22911

Andreas Weigel (A) an einer Produktion und Verwendung von Streumunition wir uns jedenfalls unbedingt darum bemühen, die deut- (C) festhalten. Die erhoffte stigmatisierende Wirkung auf sche Ratifikation im Vorfeld dieser Konferenz abzuschlie- Staaten, die auf Splitterbomben bislang nicht verzichten ßen. wollen, zeigt derweil erste Früchte. So bedrückend der neuerliche Kriegsausbruch im Gaza-Streifen rund um Im Bundestag haben wir die deutsche Verhandlungs- den Jahreswechsel auch war, so lässt sich zumindest fest- führung zu Streumunition in den vergangenen Jahren halten, dass Israel, anders als zwei Jahre zuvor im Liba- intensiv begleitet und mit geprägt. Die schnelle Ratifizie- non, wenigstens auf den Einsatz von Streumunition ver- rung des Streumunitionsverbots wurde bereits im Dezem- zichtet hat. ber mit einem ohne Gegenstimme verabschiedeten Koali- tionsantrag auf den Weg gebracht. Auch in den USA gibt es bezüglich einer Neupositio- nierung zur militärischen Notwendigkeit von Streumuni- Mit dem Antrag haben wir das Bundesverteidigungs- tion Bewegung. US-Präsident Obama hat vergangene ministerium zudem dazu aufgefordert, die Fachaus- Woche ein Gesetz unterschrieben, das den Export von in schüsse des Parlaments detaillierter über die Entwick- den USA produzierter Streumunition drastisch ein- lung und Erprobung von neuen Munitionstypen zu schränkt und zudem die Vorrangigkeit humanitärer Er- unterrichten. Wir werden als Abgeordnete auch künftig in wägungen – also des Schutzes von Zivilisten – betont. der Pflicht stehen, dafür Sorge zu tragen, dass die mit dem Streumunitionsverbot etablierten Kriterien eingehal- Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die Men- ten und nicht verwässert werden. schenrechtsorganisation Human Rights Watch sieht da- durch sogar einen grundlegenden Wandel in der US-Po- sition zu Streumunition heraufziehen. Präsident Obama Florian Toncar (FDP): sollte nun allerdings auch tatsächlich, so wie in seinem Die heutige Debatte behandelt ein Thema, das wir in Wahlkampf angekündigt, weitere Einschränkungen für diesem Hause regelmäßig in den letzten drei Jahren teils den Einsatz von Streumunition durch das US-Militär auf sehr kontrovers behandelt haben. Es geht um das Verbot den Weg bringen. von Streumunition. Streumunition ist eine Waffe, die groß- flächige Zerstörungen verursacht und wegen ihrer hohen Der Erfolg des Streumunitionsverbots beruht – wie Blindgängerquote auch nach dem Ende von Konflikten auch das Ottawa-Abkommen zum Verbot von Antiperso- eine langfristige Bedrohung der ansässigen Bevölkerung nenminen – auf einem richtungsweisenden Verhandlungs- darstellt. Vor allem spielende Kinder wurden in der Ver- ansatz. Wenn gleichgesinnte Regierungen, Parlamente gangenheit Opfer dieser heimtückischen Gefahr. und zivilgesellschaftliche Netzwerke in lange blockierten Rüstungskontroll- und Abrüstungsfragen ihre Kräfte bün- Seit längerem schon haben wir auf nationaler wie in- (B) deln, dann können Sie eine Menge bewegen und öffentli- ternationaler Ebene über ein Verbot dieser grausamen (D) chen Druck erzeugen. Waffen debattiert. Umso mehr freut es mich, dass dieser Diskussionsprozess Früchte trägt und wir uns nun mit der In diesem Zusammenhang möchte ich ausdrücklich konkreten Umsetzung des am 3. Dezember 2008 in Oslo das beharrliche Engagement zivilgesellschaftlicher Or- unterzeichneten „Übereinkommens über Streumunition“ ganisationen würdigen, die sich auch weiterhin konstruk- befassen. Dieses verpflichtet Deutschland als Unter- tiv für eine Universalisierung des Streumunitionsverbots zeichnerstaat, seine gesamte Streumunition zu entsorgen. einsetzen. So haben etwa die Cluster Munition Coalition und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz erst Mit der heutigen Vorlage des Gesetzentwurfs wird ein kürzlich umfassendes Material für Parlamentarier in wichtiger Schritt zur Ratifizierung des Abkommens durch denjenigen Ländern zusammengestellt, die dem Verbot Deutschland getan. Er schafft die Voraussetzung dafür, bislang noch nicht beigetreten sind, damit diese gegen- dass die notwendigen Schritte zur Umsetzung eingeleitet über ihren jeweiligen Regierungen mit Nachdruck für werden. Insbesondere wird ein Rahmen für die Finanzie- eine Zeichnung eintreten können. rung der Maßnahmen geschaffen. So sollen für die Ver- Erst gestern hat zudem im Hauptquartier der Vereinten nichtung der deutschen Streumunition 40 Millionen Euro Nationen in New York eine Konferenz zur Ausweitung des zur Verfügung gestellt werden. Diese Mittel werden im Streumunitionsverbots stattgefunden. Unter Anwesenheit regulären Haushaltsplan des Bundesministeriums der von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Vertretern aus Verteidigung eingestellt werden. Der Verteidigungsaus- 75 Staaten haben mit der Demokratischen Republik schuss des Deutschen Bundestages hat das Verteidi- Kongo sowie Laos zwei der am meisten von Streumuni- gungsministerium gebeten, bis Ende Mai 2009 einen de- tion betroffenen Länder das Verbot unterzeichnet bzw. im taillierten Kosten-, Zeit- und Arbeitsplan zur Vernichtung Falle von Laos sogar bereits ratifiziert. der deutschen Streumunition auszuarbeiten und dem Par- lament vorzulegen. Dann werden wir genauere Einzelhei- Das Auswärtige Amt plant für Ende Juni eine Konfe- ten zu den konkreten Arbeitsschritten erfahren. Ferner renz, die sich an sämtliche Vertragsstaaten des Streumu- sieht der jetzige Gesetzentwurf 500 000 Euro für den nitionsverbots richtet und bei der konkrete Umsetzungs- Haushalt des Auswärtigen Amtes vor, um einen Beitrag schritte wie die Vernichtung vorhandener Bestände für die vorgesehenen Treffen der Vertragsstaaten zu leis- beraten werden sollen. Es wäre dabei durchaus beden- ten. Diese Kosten teilt Deutschland sich anteilsmäßig mit kenswert, ob man zu dieser Konferenz nicht auch Nicht- den anderen Staaten gemäß dem angepassten Beitrags- vertragsstaaten einlädt, die über signifikante Streumuni- schlüssel der Vereinten Nationen. Es ist insgesamt erfreu- tionsbestände verfügen. Vonseiten des Parlaments sollten lich, dass die Bundesregierung ausreichend Mittel zur

Zu Protokoll gegebene Reden 22912 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Florian Toncar (A) Verfügung stellt, um diese wichtigen Aufgaben zu erfül- sieht dafür umfangreiche Möglichkeiten vor. Deutschland (C) len. hat bereits vergleichbare technische Unterstützung ge- leistet. Die fachgerechte Vernichtung großer Streumuni- Die FDP hat diesen nunmehr fast drei Jahre andau- tionsbestände aus militärischen Arsenalen stellt eine er- ernden Prozess unterstützt und ist stets für ein umfassen- hebliche technische Herausforderung dar. Deutschland des Verbot von Streumunition eingetreten. Von daher sind kann hier seine umfangreichen technischen Kenntnisse wir erfreut, dass jetzt konkrete Schritte erkennbar wer- bei der Entsorgung alter Munitionsbestände einbringen. den. Trotz dieser positiven Entwicklung möchte ich je- Dies würde die Glaubwürdigkeit der deutschen Abrüs- doch auch einige kritische Worte zur Rolle der Bundesre- tungspolitik stärken und wäre ein konkreter Beitrag für gierung in diesem Prozess anbringen. Frieden und Entwicklung in der Welt. In der Denkschrift zum Übereinkommen erweckt die Bundesregierung den Eindruck, dass sie von Beginn an zu Inge Höger (DIE LINKE): den Vorreitern beim Verbot von Streumunition gezählt habe. Dies ist nicht der Fall. Das möchte ich an dieser Streumunition ist eine der heimtückischsten Waffen, Stelle klar unterstreichen. Die Bundesregierung sowie die die moderne Rüstungsingenieure je entwickelt haben. Fraktionen von CDU/CSU und SPD waren bis zur ent- Schon der Abschuss einer Salve Streumunition kann ein scheidenden Verhandlung im Mai 2008 in Dublin der Auf- ganzes Dorf unbewohnbar oder das Bestellen von Gemü- fassung, dass nur „für die Zivilbevölkerung gefährliche“ segärten und Feldern zur tödlichen Falle machen. Dass Streumunition mit einer Blindgängerrate von über einem die Streumunitionsblindgänger teilweise noch Jahrzehnte Prozent unter das Verbot fallen sollte. Die vermeintlich nach einem Konflikt explodieren können, macht diese zuverlässigere Streumunition mit einer Blindgängerrate Waffe zu einem ganz entscheidenden Hindernis für Wie- von unter einem Prozent sollte ausgenommen werden. deraufbau und Entwicklung nach Kriegen und Bürger- Auch wenn es erfreulich ist, dass die Bundesregierung kriegen. Verstümmelte Menschen, Alte und Junge, Frauen letztendlich von diesem Vorhaben abgerückt ist, wirkt es und Kinder sind der sichtbare und spürbare Preis, den unglaubwürdig, wenn sie sich in der Denkschrift als Vor- Menschen in den Einsatzgebieten von Streumunition für reiter darstellt. Vielmehr sah sie sich gezwungen, dem diese Form der Kriegsführung bezahlen. Druck anderer Regierungen sowie der Organisationen Deswegen ist es ein großer zivilisatorischer Fort- der Bürgergesellschaft nachzugeben und ihren Wider- schritt, wenn nun die Ächtung dieser Waffe einen recht- stand gegen ein umfassendes Streumunitionsverbot auf- lich verbindlichen Charakter bekommt. Es ist ein Fort- zugeben. Vom 25. bis 26. Juni 2009 wird in Berlin eine schritt, wenn am Sitz der Vereinten Nationen in New York weitere Streumunitionskonferenz stattfinden. Es wäre nun ein Staat nach dem anderen durch seine Unterschrift sehr zu begrüßen, wenn bis dahin die Ratifikation dieses (B) die Konvention zum weltweiten Verbot von Streumunition (D) Abkommens durch Deutschland erfolgt wäre. Die FDP unterzeichnen kann. wird sich für eine rasche Beratung und Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs in den Ausschüssen des Deutschen Die Verabschiedung des „Gesetzes zu dem Überein- Bundestages einsetzen. kommen vom 30. Mai 2008 über Streumunition“ ist die Da der vorliegende Gesetzentwurf auch die Aufwen- Voraussetzung, dass auch die deutsche Regierung das dung finanzieller Mittel vorsieht, ist nun die Bundesregie- Verbot der Streumunition ratifizieren kann. Die Fraktion rung am Zug, möglichst schnell einen Überblick über die Die Linke begrüßt diesen längst überfälligen Schritt aus- tatsächliche Verwendung dieser Gelder zu liefern. Dies drücklich. Dass wir überhaupt über ein verbindliches wird dem Parlament die Ratifikation des Übereinkom- Verbot von Streumunition abstimmen können, ist das Ver- mens zum Verbot von Streumunition erleichtern. Sobald dienst zahlreicher zivilgesellschaftlicher Akteure, wie die Ratifikation vollzogen ist, muss die Bundesregierung etwa „Handicap International“ oder das „Aktionsbünd- aktiv auf diejenigen Staaten zugehen, die dem Streumuni- nis Landmine“, die in unermüdlicher Arbeit auf die Pro- tionsverbot noch nicht beigetreten sind. Dazu zählen blematik der Streumunition hingewiesen und den Oslo- derzeit auch noch acht NATO- bzw. neun EU-Staaten. Prozess zum Verbot der Munition zum Laufen gebracht Bundeskanzlerin Merkel und Bundesaußenminister haben. Steinmeier stehen hier in der Pflicht, politisches Kapital Die Dynamik, die durch diese Diskussionen ausgelöst zurückzuerlangen, welches in der Startphase des Ver- wurde, kann niemand mehr rückgängig machen. Nun ist handlungsprozesses leichtfertig von deutscher Seite ver- spielt wurde, als man Ausnahmen für vermeintlich unge- auch in den USA, wo die Administration bis jetzt gegen fährliche Streumunition schaffen wollte. Die FDP wird alle Einschränkungen bei Einsatz und Verkauf der tödli- genau beobachten, welches Engagement die Bundesre- chen Waffensysteme opponiert hatte, ein Schwenk vollzo- gierung an den Tag legen wird, wenn es darum geht, für gen worden. In einem Nachtragshaushalt, den US-Präsi- den Beitritt weiterer Staaten zum Streumunitionsverbot zu dent Barack Obama in der letzten Woche unterzeichnete, werben. ist eine Regelung enthalten, die künftig den Export von Streubomben aus den USA verbietet. Da die USA zu den Um es anderen Staaten zu erleichtern, dem Verbotsab- wichtigsten Exporteuren dieser Waffe gehören, ist dies kommen beizutreten, sollte die Bundesregierung darüber ein entscheidender Schritt. Es könnte deswegen nur eine hinaus prüfen, in welchem Rahmen sie abrüstungswilli- Frage der Zeit sein, bis sich die Einsicht durchsetzt, dass gen Staaten helfen kann, die mit dieser Aufgabe jedoch Waffen, die zu grausam zum Exportieren sind, auch von technisch überfordert sind. Art. 6 des Verbotsvertrages der eigenen Armee nicht eingesetzt werden sollten.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22913

Inge Höger (A) All diese Entwicklungen sind wichtige Schritte in die tung lange Zeit Bremser einer umfassenden und raschen (C) richtige Richtung. Allerdings bleibt noch viel zu tun, bis Ächtung. Umso erfreulicher ist es, dass man sich im Mai eine vollständige und globale Ächtung sämtlicher For- vergangenen Jahres auf einen Kurswechsel eingelassen men von Streumunition durchgesetzt ist. hat und im Dezember zu den 94 Unterzeichnern des Oslo- Abkommens gehörte. Die grüne Bundestagsfraktion be- Die Regelungen der Streumunitionskonvention und grüßt, dass die Bundesregierung dem Parlament nun bin- des hier debattierten Gesetzes enthalten noch zahlreiche nen vergleichsweise kurzer Zeit den Gesetzentwurf zur Lücken und Ausnahmeregelungen. Diese sind aus huma- Ratifizierung des Osloer Streumunitionsabkommens vor- nitären Erwägungen nicht akzeptabel. So wird Munition legt. vom Verbot ausgenommen, wenn sie weniger als zehn explosive Submunitionen enthält, oder Munition, die mit Wir möchten, dass das Abkommen so schnell wie mög- einem elektronischen Selbstzerstörungsmechanismus lich in Kraft tritt. Obwohl es eine Reihe offener Fragen ausgestattet ist. Dabei ist nicht gesichert, dass diese gibt, auf die ich später eingehen werde, sind wir an einer Selbstzerstörung auch wirklich unter allen Bedingungen zügigen Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag in- zuverlässig funktioniert. teressiert. Wir werden der Bundesregierung keine Steine in den Weg legen, sondern konstruktiv mitwirken. Ich Dass die Ausnahmeregelungen ihren Weg in die Geset- denke, es wäre ein gutes Zeichen, wenn die Bundesregie- zestexte gefunden haben, ist maßgeblich die Schuld der rung, sozusagen beseelt vom Geist der Abrüstung, die Ur- deutschen Regierung. Die Bundesregierung hat in den kunde zu Pfingsten hinterlegen könnte. Das macht sich Verhandlungen über das Oslo-Abkommen die Interessen auch für den bevorstehenden Wahlkampf gut. Dann kann der deutschen Rüstungsindustrie vertreten und mit massi- man von abrüstungspolitischen Sündenfällen, ich nenne vem Druck solche Ausnahmeregelung durchgesetzt. So- hier nur den indischen Nukleardeal, die Nichtratifizie- genannte Zielpunktmunition, deren Definition exakt auf rung des AKSE-Vertrags und die verheerende Rüstungs- das Diehl-Produkt „Smart 155“ zutrifft, gilt nicht als exportpolitik, ein wenig ablenken. Streubombe. Der Bundesregierung geht es also explizit um den Erhalt von Absatzmöglichkeiten für die deutsche Ich möchte an dieser Stelle nicht wiederholen, was wir Rüstungsindustrie. in den vorangegangenen Debatten oder in unseren parla- mentarischen Anfragen und Anträgen zum Thema zu Pro- In Österreich fällt sogenannte Zielpunktmunition be- tokoll gegeben haben. Das kann man nachlesen. Lassen reits seit 2007 unter das Streubombenverbot. In den Sie mich zunächst nur noch einmal betonen, wie wichtig Verhandlungsdokumenten der Genfer UNO-Abrüstungs- dieses Zeichen von Oslo auch über den Streumunitions- konferenz wurde Zielpunktmunition unter dem Titel „Aus- bereich hinaus ist. Im Abrüstungsbereich ist die weitge- nahmen für weiterhin erlaubte Streumunitionstypen“ ge- hende Ächtung dieser besonders grausamen Waffe ein (B) führt. Diese umstrittene Definition hat nun auch zu (D) Licht in der Finsternis. Das Oslo-Abkommen stärkt die juristischen Problemen für einen Journalisten geführt, Hoffnung, dass auch hier ein Wandel möglich ist. der nach dem Urteil eines Münchner Gerichtes nun die Streumunition „Smart 155“ nicht mehr als „Streumuni- Dass die größten Streumunitionsstaaten, wie die USA, tion“ bezeichnen darf. Internationale Militärexperten Russland, China, Indien, Pakistan usw., nicht dabei sind zweifeln zwar, dass Smart wirklich alle Bedingungen der und damit nur etwa 10 Prozent der weltweiten Bestände Konvention erfüllt. Sie verweisen auf negative Erfahrun- unter das Abkommen fallen, ist zweifellos ein Manko. gen mit vergleichbarer Munition im Irakkriegseinsatz, die Aber wir sind zuversichtlich, dass sich künftig kein Staat Blindgänger hinterließ. Trotzdem vertraute das Münch- mehr erlauben kann, diese Waffen einzusetzen, ohne als ner Gericht den Herstellerangaben. Schurkenstaat an den Pranger gestellt zu werden. Wir ha- ben das schon im Georgienkrieg gesehen. Und wir wissen Die Linke erwartet von der Bundesregierung, dass sie aus der Landminenerfahrung, dass solche Abkommen endlich die Interessen der Menschen und nicht diejenigen auch auf Nichtmitglieder eine hemmende Wirkung entfal- der Rüstungsindustrie in den Mittelpunkt ihrer Politik ten. Die Ankündigung der US-Administration, künftig stellt. Dazu ist es notwendig, nicht nur schnell zu ratifi- eine restriktivere Exportpolitik im Bereich der Streumuni- zieren, sondern auch die Vernichtung der Lagerbestände tion verfolgen zu wollen, ist sicherlich eine erste, wenn in Angriff zu nehmen und die Beteiligung an Einsätzen, auch nicht hinreichende Reaktion auf Oslo. bei denen auch Streumunition eingesetzt wird, definitiv auszuschließen. Der von Norwegen eingeleitete Prozess zeigt uns: Der Ansatz, immer auf die USA oder andere zu warten, hilft Die Linke wird ebenfalls sehr genau und kritisch ver- uns oft nicht weiter. Die USA und andere führende Ak- folgen, welche Pläne für sogenannte alternative Flächen- teure mitzunehmen, ist zweifellos wichtig. Aber wir dür- munition entwickelt werden. Es darf nicht sein, dass die fen uns, gerade wenn es um Fragen humanitärer Rüs- eine grausame Waffe gegen andere grausame Systeme tungskontrolle geht, nicht ausbremsen oder elementare ausgetauscht wird. Wir treten gegen Auslandseinsätze der Standards verwässern lassen. Der Ottawa- und Oslo- Bundeswehr ein und sehen deswegen keinerlei Bedarf für Prozess zeigen, dass wir in bestimmten Bereichen mit ei- Flächenmunition – welcher Art auch immer. nem Avantgarde-Ansatz wesentlich erfolgreicher sind. Daraus müssen wir für die Zukunft – zum Beispiel im Be- (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): reich von Uranmunition oder Atomwaffen – Lehren zie- Wir haben nicht vergessen: Diese Bundesregierung hen. Und es wäre gut, wenn Deutschland mit zu den Vor- war in der Frage der Streumunitionspolitik mit ihrer Hal- reitern und nicht zu den Bremsern gehören würde.

Zu Protokoll gegebene Reden 22914 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Winfried Nachtwei (A) Zur Erinnerung sei nur gesagt: Wir Grüne haben uns Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung im (C) immer gegen die Augenwischerei von vermeintlich unge- Dezember unter anderem aufgefordert, das Oslo-Abkom- fährlicher Streumunition gewehrt und uns für eine rasche men in Deutschland binnen vier Jahren umzusetzen. Wir Ächtung jeglicher Streumunition ausgesprochen. Was uns erwarten, dass die Bundesregierung die in Deutschland hier die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen vorhandenen Streumunitionsbestände offenlegt, zügig als ungefährliche Streumunition unterjubeln wollten, war vernichtet und auch anderen Staaten bei der Vernichtung haarsträubend. Und wir waren es auch, die – übrigens als ihrer Bestände und Opferfürsorge behilflich ist. Deutsche einzige Fraktion im Bundestag – schon früh gefordert ha- dürfen sich nicht mehr an der Entwicklung, Herstellung, ben, nicht nur auf den mühsamen Weg über die VN-Waf- Lagerung, dem Erwerb und dem Einsatz dieser Waffen fenkonvention zu setzen, sondern dem Ottawaer Modell beteiligen. Das heißt für uns: auch keine Zulieferung von zu folgen. Ziel muss es sein, das Oslo-Übereinkommen zu streumunitionsrelevanten Komponenten. Wir erwarten, einem universell gültigen Abkommen mit größtmöglicher dass es auch hinsichtlich der Investmentpolitik klare Mitgliedschaft zu machen. Die Standards sind jedenfalls Richtlinien gibt, sich nicht mehr an Projekten zu beteili- gesetzt. Ein neues VN-Waffenprotokoll zu Streumunition gen, die die Entwicklung, Herstellung, Lagerung und den kann und darf nicht hinter den Osloer Konsens zurückfal- Einsatz von Streumunition unterstützen. len. Lassen Sie mich zum Schluss all jenen danken, die Lassen Sie mich zum Schluss noch zu einigen kriti- dazu beigetragen haben, dass es zu diesem Abkommen schen Punkten Stellung nehmen und unsere Erwartungen und zum Kurswechsel innerhalb der Bundesregierung ge- kommen ist. Unser Dank geht dabei ausdrücklich auch an darlegen. Nichtregierungsorganisationen wie landmine.de und Sie wissen, dass wir uns bei der Definition, ab wann Handicap International, die sich beharrlich für dieses man von Streumunition sprechen kann, für eine möglichst wichtige Thema eingesetzt und im besten Sinne Lobbyar- umfassende Lösung eingesetzt haben. Die Bundesregie- beit betrieben haben. Lassen Sie uns weiterhin gemein- rung hat mit Erfolg durchgesetzt, dass wir jetzt eine wei- sam und entschieden für die rasche und weltweite Umset- chere Definition haben, die die sogenannte Punktzielmu- zung dieses Abkommens werben. nition wie die von Diehl und Rheinmetall hergestellte SMArt-Munition erlaubt. Die Bundesregierung ist nun in Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: der Pflicht, zweifelsfrei nachzuweisen, dass diese Muni- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- tion auch unter ungünstigsten Bedingungen nicht den- wurfs auf Drucksache 16/12226 an die in der Tagesord- noch wie Streumunition wirkt und das Leben von Zivilis- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es (B) ten bedroht. Im Übrigen, das sei hier erlaubt, habe ich anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann (D) kein Verständnis dafür, dass ein Rüstungsunternehmen, ist die Überweisung so beschlossen. das in nicht unerheblichem Umfang Mittel aus dem Bun- deshaushalt erhält, einen Journalisten vor Gericht zerrt, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 30 a und 30 b auf: nur weil er eine Meinung vertritt, die dem Unternehmen nicht passt. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure- Obwohl 18 der 26 NATO-Staaten und 19 der 27 EU- gelung der abfallrechtlichen Produktverant- Staaten die Konvention unterzeichnet haben, hat sich die wortung für Batterien und Akkumulatoren Bundesregierung für eine Ausnahmeklausel für Bündnis- partner eingesetzt. Wir haben große Bedenken, dass der – Drucksachen 16/12227, 16/12301 – „Artikel 21“ dazu führt, dass andere Staaten Streumuni- Überweisungsvorschlag: tion einsetzen und wir nichts dagegen unternehmen oder Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit uns gar unterstützend beteiligen. Wir begrüßen, dass sich b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia die Bundesregierung in der Denkschrift dafür einsetzt, Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, wei- dass die Bündnispartner auf den Einsatz von Streumuni- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- tion verzichten und dem Abkommen beitreten. Allerdings NIS 90/DIE GRÜNEN untergräbt die gleichzeitige Ankündigung, dass man im Rahmen der Befehlsstruktur Befehle zum Streumuni- Schadstoffbelastung durch Batterien begrenzen tionseinsatz ohne Vertragsverstoß weitergeben könne, diese Zusicherung. Dies erschwert uns die Zustimmung – Drucksache 16/11917 – zu dem Gesetzentwurf. Der Deutsche Bundestag und die Überweisungsvorschlag: Bundesregierung sollten unmissverständlich klarstellen: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Es ist nach dem Oslo-Abkommen kein Zeichen von Bünd- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Gesundheit nisfähigkeit, wenn Bündnispartner weiterhin diese beson- ders verheerend wirkenden Streuwaffen einsetzen und wir Auch die Reden zu diesen Tagesordnungspunkten wegschauen oder gar die Einsatzbefehle weitergeben. nehmen wir zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden Die Bundesregierung muss in der NATO und in der EU der Kolleginnen und Kollegen Michael Brand, CDU/ darauf hinwirken, dass Streumunition nicht mehr zum zu- CSU, Gerd Bollmann, SPD, Horst Meierhofer, FDP, Eva lässigen Waffenarsenal auch im Rahmen von bündnisge- Bulling-Schröter, Die Linke, Sylvia Kotting-Uhl, Bünd- meinsamen Operationen gehört. nis 90/Die Grünen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22915

(A) Michael Brand (CDU/CSU): Es ist aus Sicht der CDU/CSU zweifelsfrei so, dass die (C) Mit der Umsetzung der Richtlinie der EU aus dem Leistungen der Kommunen bei der Erfassung und Samm- Jahre 2006 durch die Neuregelung des Gesetzes zur Neu- lung von Altbatterien wie auch der von Elektroaltgeräten regelung der abfallrechtlichen Produktverantwortung für einen willkommenen, weil stabilisierenden Beitrag zum Batterien und Akkumulatoren wird ein weiterer und ein Umweltschutz wie zum Recycling und zur Ressourcen- wichtiger Schritt beim umweltschonende Umgang mit schonung in diesen Bereichen darstellen. Insofern ist die den für den Verbraucheralltag wie für die Industrie dyna- Haltung der beteiligten Wirtschaft, sich lieber mit den öf- misch an Bedeutung zunehmenden Einsatz von mobiler fentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern als mit dem Versorgung mit elektrischer Energie durch Batterien und Handel auseinandersetzen zu wollen, sehr nachvollzieh- Akkus getan. bar. Dass wir angesichts aktueller umweltrelevanter De- Dennoch wird zu prüfen sein, inwiefern Teile der sys- batten um Umweltprämien, Energiesparleuchten und temisch bei den Herstellern zu verortenden Produktver- Biokraftstoffe auch die kleinen und großen „Helferlein“ antwortung von diesen auf Dauer auf die öffentliche im privaten und wirtschaftlichen Alltag mit besonderer Hand und somit auf die Allgemeinheit der Beitragszahler Sorgfalt im Blick auf deren Lebensende – oder neu- von kommunalen Entsorgungsgebühren übergewälzt deutsch „end of cycle“ – betrachten, gehört zu den werden sollen. Insofern ist sicher der Punkt einer ver- Grundvoraussetzungen einer von der CDU/CSU verfoch- pflichtenden Beteiligung der öffentlich-rechtlichen Ent- tenen Linie, die eine Fortentwicklung der auf Ressour- sorgungsträger an der Erfassung bzw. Sammlung trotz censchonung und ökologische Sensibilität ausgerichteten oder gerade wegen der anerkannten Erfolge der öffent- sozialen Marktwirtschaft verfolgt. lich-rechtlicher Entsorgungsträger genau zu prüfen. Es ist für die CDU/CSU nicht ausgemacht, dass die öffentli- Dazu zählt auch die weitere Reduzierung der Schad- che Hand hier Aufwand und Kosten tragen soll, die ange- stoffgehalte in den Produkten, hier Cadmium, sowie die sichts der zu erwartenden weiteren Dynamik beim Einsatz Kennzeichnungspflicht, die für die Käufer eine klare An- von Batterien und Akkus eher steigen als sinken dürften. gabe zu Schadstoffgehalt und Kapazität beinhaltet. In den Beratungen der kommenden Wochen werden Den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden wir in wir hier Fragen zu beantworten und zu entscheiden ha- diesem Zusammenhang ebenso im Ausschuss beraten. ben, die nicht mit dem Hinweis auf geringe Kostenanteile Wie nicht selten sind in diesen Anträgen prinzipiell rich- der Kommunen abgetan sein dürften. Wir erwarten die tige mit operativ falschen Ansätzen und Zielen vermischt Darstellung der unterschiedlichen Positionen und der worden. Doch dazu wird man sich im Ausschuss und bei damit zusammenhängenden Erläuterungen zu den jewei- den Schlussberatungen näher austauschen können. ligen Kosten mit großem Interesse. (B) (D) Da beim Stand der Technik bei der Produktion von Allerdings, und auch das wird in den Beratungen eine Batterien und Akkus wertvolle, knappe sowie sehr um- Rolle spielen, werden wir als CDU/CSU nicht tatenlos weltschädliche Ressourcen verbraucht werden, sollen mit einem Konzentrationsprozess durch eine zu enge Ausle- der Umsetzung der EU-weit gültigen Richtlinie Abfall- gung der Produktverantwortung folgen können. Wir wol- stoffe besser als bislang erfasst werden, um Ressourcen len Innovation in Logistik und Recycling durch wettbe- durch Rohstoffrückgewinnung zu schonen und hohe Um- werbsoffene Strukturen. Insofern ist beispielsweise die weltbelastungen deutlich zu reduzieren. So werden durch unternehmensinterne und Wettbewerb ausgrenzende Aus- die vorgesehene Steigerung der Sammelquote bereits bis gabe und Rücknahme von Batterien zum Beispiel im Kfz- 2012 auf mindestens 35 Prozent sowie bis 2016 auf dann Bereich nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen. Wir 45 Prozent weitere, zusätzliche regulatorische Anreize wollen einen differenzierten, qualitativ wettbewerbsfähi- zur Sammlung und Wiederverwertung gegeben und eine gen und ökologisch verantwortbaren Mix an Lösungen die Umwelt belastende Entsorgung von Altbatterien wei- und Marktbeteiligten. Dies scheint nicht immer im Inte- ter eingeschränkt. resse aller zu liegen, weswegen hier besonderes Augen- merk erforderlich erscheint. Dass wir in Deutschland dabei auf ein seit 10 Jahren erprobtes System der GRS aufsetzen können, in dem pri- Wir übersehen dabei nicht, dass es im Rahmen von In- vate Wirtschaft und kommunale Entsorgungsträger eine ternationalisierung und Globalisierung nicht nur Kosten- insgesamt gut funktionierende, wenn auch verbesse- senkungen für die Produkte, sondern eben auch Wettbe- rungsfähige Erfassungs- und Sammelstruktur für Altbat- werbsverzerrungen zulasten qualitativer Produkte terien installiert und im Dauerbetrieb umgesetzt haben, entstehen können. Wir wollen dezidiert nicht einer Über- kann in diesem Zusammenhang positiv verbucht werden. schwemmung des Marktes mit leistungsschwachen, unter zweifelhaften oder gar völlig indiskutablen Produktions- Wenn in der Umsetzung des Gesetzes nun Fragen sei- bedingungen und ökologisch katastrophalen Bedingun- tens der Produzenten aufgeworfen werden und von dieser gen hergestellten Batterien oder Akkus untätig zusehen. Seite eine Beibehaltung der von den Kommunen bzw. den Dies wäre gegen die Interessen der Verbraucher, und es öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern heute er- wäre eine ökologische Sünde, der wir durch sinnvolle und brachten Leistungen im Zusammenhang mit der Samm- angemessene Regulierung einen Riegel vorschieben kön- lung von Altbatterien verlangt wird, ist dies eine interes- nen. sante ordnungspolitische Einlassung, der wir in den Ausschussberatungen im Detail noch werden nachgehen Dass der Bundesrat Änderungen am vorgelegten Ge- müssen. setzentwurf wünscht und die Bundesregierung ihrerseits

Zu Protokoll gegebene Reden 22916 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Michael Brand (A) gestern eine Gegenäußerung beschlossen hat, zeigt eben- Universitäten, Unternehmen, öffentlichen Gebäuden und (C) falls einen klaren Beratungsbedarf auf. Insofern bleiben auf Recyclinghöfen zur Verfügung. Aber auch im Bereich die beteiligten Ressorts auf Bundesebene wie die Kolle- der Batterieentsorgung sind Verbesserungen möglich. ginnen und Kollegen aus den Ländern aufgefordert, den Mit dem vorliegenden Entwurf des „Gesetzes zur Neu- zuständigen Ausschüssen ihre Positionen und die ent- regelung der abfallrechtlichen Produktverantwortung für sprechenden Argumente vorzutragen. Batterien und Akkumulatoren“ setzen wir nicht nur die Die Situation nach der gestrigen Gegenäußerung der Batterierichtlinie um, sondern wir verbessern Gesund- Bundesregierung ist Anlass zu weiteren Abstimmungsge- heitsschutz, Sammlung und stoffliche Verwertung sowie sprächen, die wir als CDU/CSU wachsam und konstruk- die ordnungsgemäße Entsorgung alter Batterien. Dabei tiv begleiten. Wir werden dabei sicherlich so zügig voran- werden funktionierende Rücknahme- und Entsorgungs- gehen, dass wir das Ziel des Inkrafttretens des neuen strukturen beibehalten. Unser Ziel ist es, das bereits be- Gesetzes in diesem Jahr in jedem Falle erreichen werden. stehende System zu schützen und weiter zu verbessern. Für den Bürger bleibt alles beim Alten. Den beteiligten Kreisen sei von dieser Stelle aus emp- fohlen, nicht nur den Dialog mit der Exekutive in Bund Der vom Kabinett beschlossene Gesetzentwurf ist und Ländern zu pflegen. Sich mit guten Argumenten und meiner Meinung nach sehr gut. Insbesondere die wei- natürlich auch kritischen Anmerkungen an das Parla- tere Einschränkung für den Einsatz gefährlicher Stoffe ment zu wenden, ist der Sache sicher selten abträglich. wie Cadmium und Quecksilber in Batterien ist sehr be- Die CDU/CSU für ihren Teil hat sich Rat von fachkundi- grüßenswert. Sie dient sowohl dem Gesundheits- als auch gen Beobachtern eingeholt, tut dies weiter und lädt herz- dem Umweltschutz. Positiv ist ebenfalls, dass erstmals lich dazu ein, auch in diesem Thema von weitreichender verbindliche Sammelziele für Altbatterien – 35 Prozent praktischer Konsequenz vertrauensvoll und offen den bis 2012 und bis 2016 45 Prozent – festgelegt werden. Dialog zu suchen. Verantwortlich für die Rücknahme und Verwertung Am Ende sollte unserer Auffassung nach eine Rege- sind die Hersteller. Die SPD begrüßt, dass mit diesem Ge- lung stehen, die – wie gute Batterien oder besser noch: setz Hersteller und Vertreiber eindeutig verpflichtet wer- gute, wiederverwertbare Akkus – eine lange Reichweite den, Altbatterien zurücknehmen und umweltverträglich im operativen Dauerbetrieb ermöglicht. zu entsorgen. Die Vertreiber müssen für die Bürger deut- lich sichtbar Sammelstellen in ihren Verkaufsstellen ein- Die CDU/CSU begibt sich sozusagen frisch aufgela- richten. Die Hersteller müssen dann die Altbatterien ab- den in die kommenden Beratungen, um mit der nötigen holen und weitgehend stofflich verwerten. Diese Aufgabe Energie und hoher Ausdauer zu beraten. Die Kapazität können die Hersteller über das bereits bestehende ge- (B) dafür haben wir sicherlich, und wir laden zum fachlichen meinsame Rücknahmesystem der Industrie oder über her- (D) Dialog ein. stellerindividuelle Rücknahmesysteme, quasi Selbstent- sorger, bewerkstelligen. Mit dieser Regelung wird für Gerd Bollmann (SPD): diesen speziellen Abfallbereich die ungeteilte Produkt- Mit dem heute eingebrachten Batteriegesetz wollen verantwortung von Herstellern und Vertreibern durchge- wir die umweltverträgliche Entsorgung von gebrauchten setzt. Eine Abwälzung der Verantwortung und Kosten auf Batterien und Akkumulatoren neu regeln. Damit setzen Kommunen und Bürger wird verhindert. Damit ist ein so- wir die entsprechenden europäischen Richtlinien vom zialdemokratisches Ziel in der Abfallpolitik zumindest 6. September um. teilweise erreicht worden. Nach Angaben der Bundesregierung wurden 2006 Dies bedeutet aber nicht, dass die den Bürgern be- rund 1,5 Milliarden Gerätebatterien in Verkehr gebracht, kannten, von vielen Kommunen eingerichteten Rückgabe- dabei lag der Anteil an wiederaufladbaren Batterien bei möglichkeiten nun verboten sind. Die Kommunen können ungefähr 10 Prozent. Zukünftig wird die Zahl neuer Bat- freiwillig ihre bewährten Sammelsysteme beibehalten. terien durch den steigenden Einsatz elektrischer und elek- Ich appelliere an die Kommunen, dies auch zu tun. Viele tronischer Geräte stark ansteigen. Auch neue, von uns ge- Bürger haben sich daran gewöhnt. Es ist ein Akt der Bür- wollte Anwendungsgebiete, wie die Energiespeicherung gerfreundlichkeit und des freiwilligen Umweltschutzes, und Hybridfahrzeuge, wirken sich, vor allem im Bereich der jeder Stadt gut zu Gesicht steht. Ein solches freiwilli- der Industriebatterien, verbrauchssteigernd aus. ges Engagement von Kommunen dürfen Hersteller und Vertreiber jedoch nicht zum Vorwand nehmen, ihre Auf- Dabei dürfte es jedem klar sein, dass gebrauchte Bat- gaben zu vernachlässigen. Forderungen aus der Wirt- terien nicht so einfach in die Hausmülltonne geworfen schaft, die Kommunen zum Sammeln zu verpflichten, leh- werden können. Altbatterien müssen vollständig und ge- nen wir ab. trennt von anderem Müll gesammelt, abgeholt und umwelt- verträglich behandelt oder recycelt werden. In Deutsch- Die Einhaltung gesetzlicher Auflagen, Gebote und land haben wir bereits durch die Batterieverordnung, Verbote muss aber auch bezüglich der Durchführung kon- aber auch durch freiwillige Teilnahme von Kommunen, trolliert werden. Dazu wird ein zentrales Melderegister ein gut funktionierendes Rücknahmesystem. Ebenso sind für die Batteriehersteller beim Umweltbundesamt einge- infolge der technischen Innovation heutige Batterien richtet. Zugleich wird dem Umweltbundesamt die Verfol- weitgehend frei von Blei, Cadmium und Quecksilber. gung bestimmter Bußgeldbestände bei Verstößen gegen Bundesweit gibt es über 170 000 Sammelstellen. Insge- die Meldepflicht und bestimmte Grundpflichten der ab- samt rund 400 000 Behälter stehen in Supermärkten, fallrechtlichen Produktverantwortung übertragen. Eine

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22917

Gerd Bollmann (A) zentrale, länderübergreifende Verfolgung von Trittbrett- Unsere Kritik richtet sich deshalb auch weniger gegen (C) fahrern wird so sichergestellt. Auch die betroffenen Wirt- das Umsetzungsgesetz als solches. Im Gegenteil: Wir be- schaftskreise haben sich dafür eingesetzt. Diese Regelung grüßen vor allem, dass das Bundeskabinett, was die ist notwendig. Denken Sie daran, welche Probleme die Übertragung der Herstellerpflichten auf den Handel an- Trittbrettfahrer im Bereich der Verpackungsverordnung belangt, noch einmal nachjustiert hat. Der ursprüngliche bewirkt haben. Vorschlag des BMU, dem Handel immer dann die Pflich- ten der Hersteller zu übertragen, wenn diese ihre Markt- Nun hat der Bundesrat unter anderem folgende Ände- teilnahme nicht ordnungsgemäß anzeigen, wäre nicht nur rung beschlossen: Die herstellerindividuellen Rücknah- über die Vorgaben des Europarechts, sondern auch weit mesysteme, also Selbstentsorger, sollen nicht genehmigt, über das politisch Vertretbare hinausgeschossen. Die jet- sondern nur angezeigt werden. Eine eigenständige Buß- zige Einschränkung auf vorsätzliches und fahrlässiges geldnorm soll es nicht geben, also keine Bußgelder gegen Handeln seitens der Händler ist unserer Ansicht nach Verstöße. Ich kann nachvollziehen, dass die Bundeslän- weitaus sachgerechter. der Verwaltungsaufwand und Bürokratie gering halten wollen. Das darf aber nicht dazu führen, dass der Vollzug Auch begrüßen wir die Idee nach einer aussagekräfti- gar nicht kontrolliert und Verstöße nicht geahndet wer- gen, eindeutigen und verständlichen Kennzeichnung von den. Man stellt ja auch kein Verkehrsschild mit Tempobe- Batterien – so wie die FDP das ja generell für die Pro- duktkennzeichnung fordert. Schließlich spielt für uns grenzung auf und schreibt gleichzeitig daneben: Verstöße Liberale auch die souveräne Entscheidung der Konsu- werden nicht bestraft. Gerade auch vor dem Hintergrund menten eine wichtige Rolle. Wir sind der Meinung, öko- der Erfahrungen mit der Verpackungsverordnung ist ein logische Produktverantwortung darf nicht nur einseitig wirksames ordnungsrechtliches Instrument zur Errei- als Produzentenverantwortung verstanden und mit dem chung unserer abfallpolitischen Ziele notwendig. Ich Erlass möglichst strenger Vorschriften für bestimmte habe hier bereits mehrfach erwähnt: Bürokratieabbau Produkte gleichgesetzt werden, wie dies zum Beispiel bei darf nicht missverstanden werden. Bürokratieabbau ist den Glühbirnen unlängst der Fall war, sondern muss kein Aussetzen der Vollzugskontrolle. Wir erleben es bei auch den mündigen Verbraucher mit einbeziehen. den Skandalen um illegale Abfallentsorgung in Ton- und Kiesgruben. In manchen Bereichen findet eine fatale Ent- Doch gerade vor diesem Hintergrund hätten wir uns wicklung statt. Lassen Sie es mich ganz drastisch sagen: die Kennzeichnung, wie sie in der Richtlinie und demzu- Ohne Kontrollen beim Verzug brauchen wir uns nicht der folge eben auch im nationalen Umsetzungsgesetz vorge- Mühe einer Gesetzgebung zu unterwerfen. Ohne Über- sehen sind, schon etwas transparenter gewünscht. Das prüfung auf Einhaltung ist ein Gesetz nur Schein. Geset- bisher bestehende Kennzeichen der durchgestrichenen (B) zestreue Bürger und Firmen sind die Benachteiligten, in Mülltonne zukünftig um die chemischen Symbole „Hg“ (D) unserem Fall auch die Umwelt. Ich appelliere daher an bei mehr als 0,0005 Prozent Quecksilber, „Cd“ bei mehr die Vollzugsbehören und an die Länder, Bürokratieabbau als 0,002 Prozent Cadmium und „Pb“ bei mehr als nicht mit Personalabbau und völligem Verzicht auf Kon- 0,004 Prozent Blei zu ergänzen, ist für uns alles andere trollen zu verwechseln. In dem konkreten Fall stimme ich als verständlich. Im Gegenteil: Es geht an der Lebens- der Bundesregierung zu, die in ihrer Gegenäußerung zur wirklichkeit der Menschen und an ihren konsumrelevan- Stellungnahme des Bundesrates diesen Änderungs- ten Entscheidungen vorbei. Doch auch hier sind die Wür- wunsch ablehnt. fel in Brüssel leider bereits gefallen, und die nationale Ebene muss umsetzen. Insgesamt bin ich der Meinung, dass der Gesetzent- wurf der Weiterentwicklung der Kreislaufwirtschaft dient Zum Antrag der Grünen: Wir Liberale halten es für und mit unseren abfallpolitischen Zielen übereinstimmt. falsch, für Batterien noch strengere Regulierungen oder gar eine Pfandpflicht einzuführen, wie Frau Kotting-Uhl fordert. Angesichts der geringen Preise herkömmlicher Horst Meierhofer (FDP): Haushaltsbatterien würde dies lediglich dem Handel eine Die Sammlung und das Recycling von Altbatterien ähnlich hübsche Zusatzeinnahme bescheren, wie wir dies sind bei uns in Deutschland bereits heute eine Erfolgs- schon vom Zwangspfand im Getränkebereich kennen, geschichte. Die Sammelquote alter Batterien liegt mit ohne dass das ökologisch etwas bringt. mehr als 41 Prozent schon heute höher, als die EU for- dert, und auch der Schadstoffgehalt der Batterien wurde Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): in den letzten Jahren drastisch reduziert. Hinzu kommt: Wenn die Bundesregierung bei der Vorlage ihres Ent- Die gewerbliche Wirtschaft verfügt seit langem über ge- wurfs eines Batteriegesetzes (BattG) betont, dieser festigte und leistungsfähige Strukturen zur Rücknahme Rechtsakt sei nur eine 1:1-Umsetzung der entsprechen- alter Batterien. Kurz: Eigentlich gibt es bei uns keinen den EU-Richtlinie, so verzichtet sie in diesem Bereich der Änderungsbedarf. Doch, wie so oft in der Umweltpolitik, Abfall- und Produktpolitik auf eine Vorreiterrolle in der geht es auch bei dem Entwurf für das Batteriegesetz, den EU. Mehr noch: In zentralen Details ist der Entwurf wir heute diskutieren, um die Umsetzung Brüssler Vorga- sogar ein Rückschritt. Denn wie kann es sein, dass für ben, und die sind aus europäischer Perspektive durchaus Geräte-Altbatterien lediglich Rücknahmequoten von zu begrüßen. Schließlich gibt es in einigen Mitgliedstaa- 35 Prozent bis zum Jahr 2012 gefordert werden, wo doch ten in puncto vernünftiger und umweltgerechter Entsor- in der Praxis schon 2007 rund 40 Prozent erreicht wur- gung von Altbatterien noch einiges zu tun. den? Hier sind mindestens 70 Prozent gefordert. Die

Zu Protokoll gegebene Reden 22918 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

Eva Bulling-Schröter (A) Sammelquoten könnten noch weiter erhöht werden, in- Die zum Speichern notwendige Masse macht ebenfalls (C) dem die Pfandpflicht von Starterbatterien auf alle Batte- Probleme. Beispiel Elektrofahrzeuge: Die Batterien al- rien ausgedehnt würde – auch hier Fehlanzeige im Ge- leine sind oft schwerer als das Gesamtfahrzeug ohne setzentwurf. Akku. Auch das mobile „Immer-und-Überall-Erreichbar- Sein“ braucht tragbare Energiespeicher. Seit dem Sieges- Hohe Sammel- und Verwertungsquoten sind unter an- zug der Informations- und Kommunikationstechnologien derem deshalb wichtig, weil durch die Zunahme mobiler sind daher immer mehr kleine Batterien im Einsatz. In der Endgeräte der Bedarf an ökologisch problematischen Folge gab es einen Sinneswandel bei der ökologischen Einwegbatterien und Akkumulatoren rasant angestiegen Folgeabschätzung. Galten Batterien in den 1980er-Jah- ist – und wohl noch weiter steigen wird. Gefordert sind ren noch als harmlos, erklärte das Umweltbundesamt parallel energische Schritte, um den Einsatz von Einweg- Ende der 1990er-Jahre die Batterien als d i e bedeut- batterien zugunsten von langlebigen wieder aufladbaren same Quelle für den Schwermetalleintrag in den Haus- Akkumulatoren zu begrenzen. Schließlich vermindern müll. Gerade Akkus weisen einen hohen Anteil von Nickel zwei bis drei Prozent mehr Akkus in den entsprechenden und Cadmium auf. Neben einer Reduzierung des Queck- Anwendungen circa 20 Prozent Einwegbatterien. Doch silbergehaltes in Zink/Kohle- und Alkali/Mangan-Batte- von solchen Regelungen ist im künftigen Gesetz nichts zu rien zielte deshalb zunächst eine Selbstverpflichtung der lesen. Batteriehersteller und – als das nichts half – 2001 die Zu einer verantwortungsvollen Abfall- und Produktpo- Batterieverordnung auf die Getrenntsammlung von Bat- litik gehört zudem, den Einsatz hochgiftiger Stoffe in Bat- terien ab. Die Rücknahmepflicht haben die Hersteller in terien und Akkus zu reduzieren und einen hohen Anteil Eigenverantwortung über eine Stiftung geregelt – das Ge- stofflicher Verwertung anzustreben. Auch hier hat die meinsame Rücknahmesystem Batterien (GRS). Sie funk- Bundesregierung gepatzt: Ausnahmebestimmungen, etwa tioniert ähnlich wie die sogenannte EAR, die Stiftung für bei Knopfzellen oder schnurlosen Elektrowerkzeugen, das „Elektro-Altgeräte Register“, die durch das Elektro- durchlöchern das weitgehende Verbot des Einsatzes von nikgerätegesetz 2005 nötig wurde. Diese industrielle Stif- Quecksilber bzw. Cadmium. Diese Ausnahmen sind nicht tungskonstruktion ist übrigens deutlich fähiger als das zu verstehen, denn es gibt bereits Alternativen für den komplizierte System bei der Verpackungsrücknahme. Einsatz der gefährlichen und umweltbelastenden Stoffe. Bei der Verwertung fordert die Linke anspruchsvolle Nun liegt der Entwurf eines Gesetzes mit dem viel ver- Quoten für die stoffliche Verwertung sowie – angesichts sprechenden Titel „Zur Neuregelung der abfallrechtli- der hohen Schadstoffbelastung – die „bestverfügbare chen Produktverantwortung für Batterien und Akkumula- Technik“ als Standard bei den Verwertungsverfahren an- toren“ vor. Dieser Entwurf wird seinem Titel jedoch in stelle des vorgesehenen „Standes der Technik“. keiner Art und Weise gerecht. Im Klartext: Er ist eine (B) Farce. Schon das Ziel ist viel zu eng gefasst: Es beinhaltet (D) Kritisch zu sehen ist schließlich auch die Behandlung keinen Vorschlag zur Umweltentlastung. Noch in der EU- von Produkten mit fest eingebauten Altbatterien im Ge- Richtlinie zu Batterien – 91/157/EWG – heißt es: „Die setz. Zwar ist nachvollziehbar, dass sich der Rücknahme- Umweltbelastungen durch Batterien und Akkumulatoren weg für Altbatterien für entsprechende Elektrogeräte sind auf ein Mindestmaß zu beschränken, um so zu nicht eignet. Allerdings wirkt die Freistellung von der Schutz, Erhaltung und Erhöhung der Qualität der Um- Rücknahmeverpflichtung für eingebaute Batterien nach welt beizutragen.“ Demzufolge müsste das zu schaffende § 9 des Gesetzentwurfes wie eine Belohnung dafür, Akkus Gesetz den Rahmen für eine Reduktion von Umweltbelas- unsinnigerweise fest in Gehäuse zu integrieren. Sinnvol- tungen stecken und damit Forderungen zur Energieeffi- lerweise müsste also hier ein grundsätzliches Verbot des zienz und zur Nutzungsintensität und -dauer beinhalten. festen Einbaus – etwa über eine Stichtagsregelung – die Es ist völlig klar, dass das bloße Bekenntnis zum Sammeln vorgesehene Lösung flankieren. und Verwerten von Altbatterien nicht reicht! Geradezu In diesem Sinne unterstützen wir im Grundsatz den An- absurd ist es, wenn die geforderte Sammelquote unter- trag der Grünen. Über Details wird noch im Ausschuss zu halb des Status quo liegt. Es wirkt lächerlich, wenn in reden sein. dem Gesetzentwurf gefordert wird, bis zum Jahr 2012 eine Sammelquote von 35 Prozent zu erreichen. Nach An- gaben der GRS, dem Gemeinsamen Rücknahmesystem, Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): wurden bereits 2007 über 40 Prozent der Altbatterien ge- Die Umweltdebatte ist seit Jahren von der Energiedis- sammelt und einer Verwertung zugeführt. Wozu brauchen kussion gekennzeichnet. Einige Verbesserungen bei der wir ein Gesetz, das weniger fordert, als heute – bei aller Energieeffizienz wurden auch erreicht. Aber ein Feld be- Unvollständigkeit der Erfassung – bereits erreicht wird? reitet immer noch erhebliche Sorgen: die Energiespeiche- rung. Sie ist nur mit einem hohen Aufwand bei einer ge- Nicht viel anders sieht es bei der Schwermetallbegren- ringen Effizienz möglich. Das ist ja gerade auch das zung aus. Es macht keinen Sinn, Knopfzellen vom Verbot wesentliche Hindernis bei den erneuerbaren Energien des Einsatzes von Quecksilber auszunehmen, weil gerade und der Elektromobilität. Klassische Batterien und ihre sie einen hohen Quecksilberanteil aufweisen. Die Aus- wiederaufladbare Spielart, die Akkumulatoren, funktio- nahmeregelung vom Verbot des Cadmiumeinsatzes für nieren auf der Basis der Elektrolyse und brauchen dazu schnurlose Elektrowerkzeuge ist ebenfalls kontraproduk- eine Vielzahl von metallischen Stoffen. Von diesen Ein- tiv, sind diese „Power Tools“ doch anteilsmäßig der satzstoffen sind die meisten toxikologisch gefährlich, also größte Verwendungszweck von Cadmiumbatterien. Dabei giftig oder zumindest als sehr bedenklich eingestuft. gibt es bereits gleichartige Elektrowerkzeuge, deren Ak-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22919

Sylvia Kotting-Uhl (A) kumulatoren den Grenzwert von Cadmium einhalten. Seit Die Reden nehmen wir zu Protokoll. Es handelt sich (C) Jahren kooperiert das Umweltbundesamt mit Batterie- um die Reden der Kolleginnen und Kollegen Monika herstellern, um Substitutionen schließlich auch für Spe- Grütters, CDU/CSU, Dr. h. c. Wolfgang Thierse, SPD, zialanwendungen zu realisieren. Bündnis 90/Die Grünen Hans-Joachim Otto, FDP, Petra Pau, Die Linke, Volker fordert deshalb, keine Ausnahmen von Schadstoffbegren- Beck, Bündnis 90/Die Grünen.1) zungen im Batteriegesetz zuzulassen. Und: Wir wollen eine Begrenzung der mengenmäßig dominierenden Ein- Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- wegbatterien mit derzeit 90 Prozent. Denn um die Spei- wurfs auf Drucksache 16/12230 an die in der Tagesord- cherleistung einer Reduktion von Einwegbatterien um nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es 20 Prozent zu kompensieren, ist lediglich ein Zuwachs anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann von 2 bis 3 Prozent an wieder aufladbaren Batterien er- ist die Überweisung so beschlossen. forderlich. Die Substitution von Einweg- durch Mehrweg- Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: batterien ist zudem ganz im Sinne der EU-Richtlinie zur Vermeidung der Umweltverschmutzung, IVU, und des Beratung des Antrags der Abgeordneten Volkmar Konzeptes der Integrierten Produktpolitik. Beide Regel- Uwe Vogel, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus werke sind darauf angelegt, Umweltbelastungen entlang W. Lippold, weiterer Abgeordneter und der Frak- der ganzen Herstellungslinie zu reduzieren. tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Ernst Kranz, Petra Weis, Alte Batterien sollen umweltverträglich verwertet wer- Sören Bartol, weiterer Abgeordneter und der den. Dazu ist eine Verdoppelung der bisherigen Sammel- Fraktion der SPD quote erforderlich. Deutschland kann das schaffen. Es lässt sich leicht erreichen, wenn ein Pfand erhoben wird, Programm „Stadtumbau Ost“ – Fortsetzung ei- so wie wir es in unserem Antrag „Schadstoffbelastung nes Erfolgsprogramms durch Batterien begrenzen“, Drucksache 16/11917, vor- – Drucksache 16/12284 – schlagen. Überweisungsvorschlag: Was die wirklich zweckdienlichen Schritte zur abfall- Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) rechtlichen Produktverantwortung bei Batterien und Ak- Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie kumulatoren wären, haben wir in dem hier zur Debatte Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gestellten grünen Antrag benannt. Den Entwurf des Bat- Haushaltsausschuss teriegesetzes lehnen wir in der vorgelegten Form ab. Die gröbsten Mängel am Gesetzentwurf werden die Grünen Auch die Reden zu diesem Tagesordnungspunkt neh- men wir zu Protokoll. Es handelt sich um die Reden der (B) durch Änderungsanträge im Fachausschuss zu heilen (D) versuchen, und ich freue mich auf eine hoffentlich inhalt- Kolleginnen und Kollegen Volkmar Uwe Vogel, CDU/ lich getragene parlamentarische Auseinandersetzung. CSU, Ernst Kranz, SPD, Joachim Günther, FDP, Heidrun Bluhm, Die Linke, Peter Hettlich, Bündnis 90/ Die Grünen.2) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksachen 16/12227, 16/12301 und 16/11917 an die Drucksache 16/12284 an die in der Tagesordnung aufge- in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Fall. Dann ist das so beschlossen. so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 e auf: Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages- ordnung. e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- rung des Gesetzes zur Errichtung einer „Stif- destages auf morgen, Freitag, den 20. März 2009, 9 Uhr, tung Denkmal für die ermordeten Juden ein. Europas“ Die Sitzung ist geschlossen. – Drucksache 16/12230 – (Schluss: 22.03 Uhr) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Kultur und Medien (f) 1) Auswärtiger Ausschuss Anlage 8 Innenausschuss 2) Anlage 9

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(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2

Liste der entschuldigten Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Rede

zur Beratung entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich – des Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Datenschutzaudits und zur Änderung Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 19.03.2009 datenschutzrechtlicher Vorschriften DIE GRÜNEN – der Beschlussempfehlung und des Berichts Brüderle, Rainer FDP 19.03.2009 zu der Unterrichtung: Tätigkeitsbericht Dr. Eid, Uschi BÜNDNIS 90/ 19.03.2009 2005 und 2006 des Bundesbeauftragten für DIE GRÜNEN den Datenschutz und die Informationsfrei- heit – 21. Tätigkeitsbericht – Granold, Ute CDU/CSU 19.03.2009 (Tagesordnungspunkt 13 a und b) Hill, Hans-Kurt DIE LINKE 19.03.2009

Hinz (Essen), Petra SPD 19.03.2009 Petra Pau (DIE LINKE): Darüber ist zu sprechen:

Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ 19.03.2009 Erstens. Wir diskutieren heute über einen Bericht des DIE GRÜNEN Bundesbeauftragten für Datenschutz. Der Bericht ist rund zweieinhalb Jahre alt, also asbach-uralt. Inzwischen Dr. Keskin, Hakki DIE LINKE 19.03.2009* wurde ein Datenskandal nach dem anderen publik. Wir könnten also genauso über die Bundesligasaison 2005/ Korte, Jan DIE LINKE 19.03.2009 2006 debattieren. Das wäre möglicherweise sogar span- nender, aber ebenso brotlos. Kunert, Katrin DIE LINKE 19.03.2009 (B) (D) Zweitens. Brotlos ist es auch deshalb, weil bisher Laurischk, Sibylle FDP 19.03.2009 keine Debatte des Bundestages über einen Bericht des Lehn, Waltraud SPD 19.03.2009 Bundesbeauftragten für Datenschutz wirklich zu Konse- quenzen geführt hat. Bestenfalls haben die Fraktionen Lintner, Eduard CDU/CSU 19.03.2009* gemeinsam Mängel beklagt. Aber immer nur nach dem Motto: „Gut, dass wir mal darüber geredet haben!“ Mehr Lips, Patricia CDU/CSU 19.03.2009 war nie.

Merz, Friedrich CDU/CSU 19.03.2009 Drittens. Der Bericht des Datenschutzbeauftragten enthält viele Warnzeichen. Ich nenne nur Stichworte: Reichenbach, Gerold SPD 19.03.2009 Vorratsdatenspeicherung, Antiterrordatei, biometrische Daten in Ausweisen und Pässen. Ich könnte die Liste der Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 19.03.2009 Datenrisiken fortsetzen, aber übergreifend ist: Alle War- nungen wurden verlässlich in den Wind geschlagen. Schily, Otto SPD 19.03.2009

Dr. Schmidt, Frank SPD 19.03.2009 Viertens. Deshalb wiederhole ich für Die Linke nur Zweierlei: Das Amt des Datenschutzbeauftragten muss Scholz, Olaf SPD 19.03.2009 aufgewertet werden – politisch, personell und finanziell. Und wir brauchen endlich ein Datenschutzrecht des Segner, Kurt CDU/CSU 19.03.2009 21. Jahrhunderts. Beides wird durch die Union und durch die SPD bislang blockiert. Darüber wäre endlich Tauss, Jörg SPD 19.03.2009 zu sprechen.

Wolff (Wolmirstedt), SPD 19.03.2009 Fünftens. Mit zur Debatte steht der Entwurf für ein Waltraud Datenschutzauditgesetz. Dazu wird es demnächst auch eine Anhörung von Experten geben. Heute mache ich le- Zimmermann, Sabine DIE LINKE 19.03.2009 diglich darauf aufmerksam, dass vielen der Gesetzent- wurf nicht weit genug geht. Zu den Kritikern gehören * für die Teilnahme an den Sitzungen der Parlamentarischen Ver- Datenschützer und Verbraucherschützer. Die Fraktion sammlung des Europarates Die Linke teilt deren Bedenken. 22922 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Anlage 3 es konsequent anzuregen, dass ÖPP auch in der Bundes- (C) haushaltsordnung ausreichend berücksichtigt werden: Zu Protokoll gegebene Reden Wann immer geprüft wird, welches die wirtschaftlichste zur Beratung des Antrags: Faire Wettbewerbs- Variante ist, muss auch die Möglichkeit einer öffentlich- bedingungen für Öffentlich Private Partner- privaten Partnerschaft mit einbezogen werden. Stellt sich schaften schaffen (Tagesordnungspunkt 15) heraus, dass Private eine staatliche Aufgabe besser er- bringen, müssen auch Private damit beauftragt werden. Dr. Ole Schröder (CDU/CSU): Öffentlich-private Im Umkehrschluss bedeutet dies nicht, dass sich die Partnerschaften, kurz ÖPP, verfolgen das Ziel, durch öffentliche Hand grundsätzlich für ÖPP entscheiden eine langfristige Zusammenarbeit zwischen öffentlicher muss. Es ist wichtig, dass ein sorgfältiger Vergleich auf Hand und privater Wirtschaft Infrastruktur effizienter Basis von Marktpreisen für alle Realisierungsvarianten bereitstellen zu können. Sie sind die Alternative zur kon- vorgenommen wird. ÖPP muss aber eine dieser mögli- ventionellen Bereitstellung durch die öffentliche Hand chen Varianten sein. Insofern ist die Festschreibung in auf der einen und materieller Privatisierung auf der an- der Bundeshaushaltsordnung, die der Antrag „Faire deren Seite. Wettbwerbsbedingungen für ÖPP schaffen“ vorsieht, Andere Länder, allen voran Großbritannien, haben richtig. mit dieser Form der Beschaffung sehr gute Erfahrungen In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass gemacht. In Deutschland stehen wir gerade auf Bundes- es sinnvoll ist, noch weitere Änderungen der Bundes- ebene mit diesem Ansatz noch am Anfang. Das Poten- haushaltsordnung vorzunehmen, um die Bedingungen zial ist längst noch nicht ausgeschöpft. Das Besondere für ÖPP zu erleichtern. Derzeit zwingt die Bundeshaus- an öffentlich-privaten Partnerschaften ist der sogenannte haltsordnung dazu, die Finanzierungskosten von ÖPP in Lebenszyklusansatz. Das bedeutet, dass planen, bauen, dem entsprechenden Fachetat zu etatisieren. Das führt zu betreiben und finanzieren eines Projektes in einer Hand einer deutlichen Benachteiligung gegenüber der konven- liegen. Die Vorteile eines solchen Ansatzes sind offen- tionellen Beschaffung. Bei der konventionellen Variante sichtlich: Ist jemand nicht nur, wie im Fall der konven- werden die gesamten Finanzierungskosten im Einzelplan tionellen Beschaffung, für die Planung oder das Bauen 60 etatisiert. Diese Ungleichbehandlung muss beseitigt eines Gebäudes verantwortlich, sondern auch für das Be- werden. Sie führt in den einzelnen Ressorts dazu, dass treiben, dann berücksichtigt derjenige auch die Heraus- sich gegen ÖPP entschieden wird, da die Finanzierungs- forderungen, die das Betreiben mit sich bringt. Das zeigt kosten bei anderen Ausgaben eingespart werden müssen. sich zum Beispiel bei der Wahl der Fenster, die er reini- Wenn ÖPP eine mögliche Realisierungsvariante ist, dann gen lassen muss oder bei der Auswahl von langlebigen (B) müssen wir auch dafür sorgen, dass die Wettbewerbsbe- (D) Baumaterialien. Der Lebenszyklusansatz von ÖPP ver- dingungen für alle Varianten gleich sind. An diesem langt eine ausgewogene Risikoverteilung über die Ver- Punkt besteht Nachholbedarf. tragslaufzeit. Wenn der Private über die gesamte Projekt- laufzeit Risiken trägt, hat er ein eigenes Interesse an Aber nicht nur die Haushaltsordnung ist der Grund optimierten Kosten, Terminen und Qualitäten. Das führt für die unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen. zu Synergieeffekten und vor allem zu Kostenersparnis- Eine weitere Benachteiligung fällt besonders ins Ge- sen, von denen der Bund, die Länder und die Gemeinden wicht: Öffentlich-private Partnerschaften sind aufgrund profitieren. Denn angesichts geringer finanzieller Spiel- des Lebenszyklusansatzes mitunter effizienter als die räume sind neue Wege und Lösungen gefragt, um den konventionelle Beschaffung. Trotzdem ist ÖPP für den Spagat zwischen einer guten Infrastruktur und soliden Haushalt des Auftraggebers nicht immer die kostengüns- Finanzen zu schaffen. tigere Variante, weil die Finanzströme dem entgegenste- hen: Vergibt zum Beispiel eine Kommune personalinten- Aber ein ÖPP-Projekt bringt nicht nur Vorteile für die sive Aufträge im Rahmen von ÖPP, muss Umsatzsteuer öffentliche Hand, sondern vor allem auch für den Nut- bezahlt werden. Diese wird aber nicht vollständig an die zer: Die Menschen können sich durch die vertraglichen Kommune zurückgeführt. Wenn die Kommune hingegen Regelungen auf eine zügige Umsetzung verlassen, und eigenes Personal beschäftigt, fällt keine Umsatzsteuer gleichzeitig wird durch ÖPP langfristig eine Instandhal- an. Deshalb lohnen sich besonders personalintensive tung und Unterhaltung auf hohem Niveau sichergestellt. ÖPP-Projekte für die Kommune häufig nicht, obwohl sie Um die Vorteile, die ÖPP-Projekte bieten, wirkungs- gesamtstaatlich und auch für den Nutzer sinnvoll wären. voll nutzen zu können, sind die Rahmenbedingungen für Diese Umsatzsteuerproblematik ist ein eindeutiger Wett- ÖPP in den letzten Jahren verbessert worden: Im Som- bewerbsnachteil für ÖPP. Wie groß diese Nachteile sind, mer 2008 ist mit der Gründung der Partnerschaften ist derzeit nicht genau zu bestimmen. Aus diesem Grund Deutschland ein weiterer Schritt zur Förderung von ÖPP wird die Bundesregierung aufgefordert, in einem Mo- gemacht wurden. Die Kompetenzen und das Know-how dellversuch zu klären, in welchem Ausmaß es zu Be- sollen dort gebündelt werden. Die Erfahrungen aus bis- nachteiligungen kommt, und zu prüfen, wie die Umsatz- herigen Projekten können so effektiv genutzt werden. steuerproblematik bei ÖPP-Projekten gelöst werden kann. Trotzdem gilt es, die Rahmenbedingungen weiter zu verbessern, denn aufgrund der Effizienzvorteile von Der Antrag für faire ÖPP-Wettbewerbsbedingungen ÖPP können auch die Haushaltsgrundsätze Sparsamkeit hat schließlich noch einen anderen Bereich im Auge, in und Wirtschaftlichkeit besser erfüllt werden. Deshalb ist dem die Wettbewerbsbedingungen für ÖPP verbessert Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22923

(A) werden sollen. Bei der Finanzierung von Fernstraßen, der öffentlichen Hand und einem privaten Investor, oder (C) die von Privaten im Rahmen von ÖPP ausgebaut wer- – was mir noch viel wichtiger ist – zwischen der öffentli- den, brauchen wir mehr Refinanzierungsflexibiliät. Über- chen Hand und einem privaten Betreiber behindern, nimmt ein Privater den Ausbau und Betrieb eines Auto- müssen wir als Gesetzgeber tätig werden und die Rah- bahnabschnittes, bekommt er zur Refinanzierung für menbedingungen schnellstens verändern. diesen Abschnitt vom Staat die entsprechende Maut. Bei besonders teuren Abschnitten rechnet sich das A-Modell Angesichts der zu erwartenden erheblichen zusätzli- nicht. Um die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen, ist es des- chen Belastungen des Staates durch die Bewältigung der halb sinnvoll, die mit einem Projekt in einem unmittel- Weltwirtschaftskrise sind neue innovative, effizienzstei- baren Zusammenhang stehenden Teilstücke eines Bau- gernde und damit kostensparende Beschaffungsmetho- werkes oder einer Strecke in die Mautanteile mit den erforderlich, mit denen Pflichtaufgaben des Staates einzubeziehen und damit für die privaten Unternehmen finanziert und abgewickelt werden können. attraktiver zu gestalten. Ich bitte den Bundestag heute um Zustimmung zu Besonders im Fernstraßenbau zeigen sich die Vorteile diesem Antrag und bitte Herrn Bundesfinanzminister von ÖPP. Der private Projektträger hat aufgrund der Ab- Peer Steinbrück, dass er anschließend einen entsprechen- hängigkeit von den Mauteinnahmen ein großes Interesse den Gesetzentwurf zügig vorlegt. Zusätzlich wollen wir an einer schnellen Fertigstellung des gesamten Projek- mit der Änderung des Fernstraßenprivatfinanzierungsge- tes. Dies ist wiederum im besonderen Interesse des Nut- setzes die Bedingungen für die Erstellung von Verkehrs- zers, der ebenfalls durch den schnellen Ausbau profitiert sonderbauten erleichtern. Auch dieses Gesetzesvorhaben und keine jahrelangen Baustellen und Staus in Kauf neh- soll noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt werden. men muss. Die Große Koalition wird bei diesem wichtigen Thema ihre Handlungsfähigkeit beweisen und im Interesse der Es ist eindeutig, dass öffentlich-private Partnerschaf- Steuerzahler und der betroffenen Unternehmen schnell ten eine Vielzahl von Vorteilen für die öffentliche Hand, handeln. die Privatwirtschaft und für die Nutzer bieten. Deshalb müssen die Rahmenbedingungen für ÖPP weiter verbes- Dr. Michael Bürsch (SPD): Die derzeitigen Kon- sert werden, damit diese Vorteile auch wirklich genutzt junkturprogramme mit ihren Investitionen in öffentliche werden können. Infrastruktur werden nichts an der Erkenntnis ändern: Der Staat ist aktuell und auch künftig alleine nicht mehr Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU): Im in der Lage, den erheblichen Bedarf an öffentlicher In- Sommer 2005 hat der Deutsche Bundestag ein ÖPP-Be- frastruktur zu decken. Darum muss über die traditionelle (B) schleunigungsgesetz beschlossen. Dieses Gesetz hat Arbeitsteilung zwischen Staat und Privatwirtschaft neu (D) wichtige Verbesserungen für die Betroffenen und Ent- nachgedacht und die Frage nach neuen Modellen gestellt bürokratisierungen gebracht. Die Beschlussfassung fiel werden. Öffentliche-private Partnerschaften – kurz ÖPP – noch unter die rot-grüne Regierungszeit, und ich erkenne geben hierauf eine Antwort. diese Leistung ausdrücklich an. Wir haben als damalige ÖPP sind ein neuer und – bei sorgfältiger Planung Oppositionspartei den Gesetzgebungsprozess positiv be- und Durchführung – auch erfolgreicher Weg, öffentliche gleitet und eigene Anregungen eingebracht. Aber ein Infrastruktur und Dienstleistungen effizienter bereitzu- wichtiger Punkt wurde damals vergessen oder besser stellen. Internationale und inzwischen auch deutsche Er- ausgedrückt: Wir hatten damals noch nicht den richtigen fahrungen bestätigen, dass durch ÖPP Effizienzgewinne Ansatz für die Lösung dieses speziellen Problems gefun- in Höhe von 10 bis 20 Prozent erzielt werden können, den. Es ist das Problem der umsatzsteuerlichen ohne die Qualitätsstandards zu reduzieren. Die Effi- Ungleichbehandlung zwischen staatlich erbrachten zienzsteigerungen entstehen vor allem durch Einsparun- Dienstleistungen und den Dienstleistungen, die private gen bei den Kosten für den gesamten Lebenszyklus Unternehmen im Rahmen einer öffentlich-privaten Part- – Planung, Bau, Unterhalt, Verwertung –, durch Aus- nerschaft erbringen. Ein Wirtschaftlichkeitsvergleich schluss von Kostenüberschreitungen und kürzere Bau- – und das wollen wir mit diesem Antrag erreichen – ist zeiten, durch kostengünstigeren Betrieb der ÖPP-Pro- für den Bauherren oder Auftraggeber aber nur dann jekte während der Vertragslaufzeit sowie eine optimale realisierbar, wenn diese steuerliche Ungleichbehandlung Risikoverteilung. aufgehoben ist. Ziel und Voraussetzung für den Erfolg von ÖPP ist, Öffentliche-private Partnerschaften sind kein Allheil- dass alle Beteiligten profitieren: die Politik, die Verwal- mittel. Damit sind nicht alle wirtschaftlichen und fiskali- tung, die Bürger, der private Investor, der private Betrei- schen Probleme lösbar. Aber ich freue mich, dass sich in ber. Wesentliche Instrumente für die erfolgreiche Gestal- fast allen Fraktionen die Kenntnis durchgesetzt hat, dass tung einer ÖPP sind ein Wirtschaftlichkeitsvergleich der Staat nicht alles selber machen muss. Im Gegenteil. möglicher Handlungsoptionen und eine interessenge- Das Bauen von Gebäuden und deren Bewirtschaftung rechte und faire Vertragsgestaltung. können private Unternehmen in der Regel kostengünsti- ger. Deswegen muss unser Denken und Handeln freier Um es klar zu sagen: ÖPP sind keine neue Form der werden. Wir brauchen Vorrang für privatwirtschaftliches Privatisierung öffentlicher Aufgaben und sie haben über- Handeln. Da, wo bürokratische, vergaberechtliche oder haupt nichts mit aberwitzigen, unverantwortlichen Steu- steuerrechtliche Vorschriften eine Kooperation zwischen ersparmodellen mancher Kommunen wie Cross Border 22924 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Leasing zu tun, die jetzt zunehmend gegen die Wand Sie selber kann jedoch mit keinem nennenswerten Rück- (C) fahren. Sie sind vielmehr ein dritter Weg zwischen der fluss rechnen. Personalkostenintensive ÖPP werden Bereitstellung öffentlicher Infrastruktur und Dienstleis- kaum eine Chance haben, sich gegen konventionelle tungen durch die öffentliche Hand selbst auf der einen Leistungserstellungen der öffentlichen Hand durchzuset- Seite und der reinen Privatisierung auf der anderen Seite. zen, wenn sie aufgrund der Umsatzsteuermehrbelastun- Der Staat zieht sich bei ÖPP nicht aus der Verantwortung gen bereits von Anfang an mit Kostennachteilen in der zurück, für ein hohes Niveau öffentlicher Leistungen zu Größenordnung von fünf und mehr Prozent rechnen sorgen. Der Staat entscheidet über die Art und den Um- müssen. Faktisch wirkt die Umsatzsteuerpflicht für fang der Leistungen, er entscheidet über ihre Qualität. Er ÖPP-Projekte damit als Expansionshindernis, das nicht setzt den Kostenrahmen fest. Auch während der gesam- im Interesse des Bürgers, des Steuerzahlers und auch des ten Projektlaufzeit behält er die Kontrolle über das mit Staates sein kann. der ÖPP-Projektgesellschaft vereinbarte Leistungs- niveau. Der Staat verfügt über eine abgestufte Palette Hier setzt das Modellprojekt an, das der Bund in den von Interventionsoptionen einschließlich Strafzahlungen nächsten fünf Jahren mit einigen Ländern durchführen oder Ausstieg aus dem Vertrag für den Fall, dass Ver- wird. Ziel ist die Erstattung von nachgewiesenen Um- träge nicht eingehalten werden. satzsteuermehraufkommen an private ÖPP-Projektträ- ger. Am Ende wird sich zeigen, ob auf diesem Wege Ziel von richtig verstandener ÖPP ist eine Projekt- gleiche Augenhöhe zwischen öffentlicher und privater realisierung vom Anfang bis zum Ende. Der gesamte Le- Leistungserbringung erreicht werden kann. benszyklus einer öffentlichen Leistungserstellung von der Planung, dem Entwerfen, dem Bauen, Betreiben, In- Zusammen mit den beiden gesetzgeberischen Ele- standhalten, Verwerten und Finanzieren wird Gegen- menten des Antrags im Bereich des Haushaltsrechts und stand der ÖPP. Durch den Wirtschaftlichkeitsvergleich des Fernstraßenbaus verspreche ich mir von den geplan- auf der Basis der konventionellen Realisierung ist die öf- ten Maßnahmen eine weitere Verbesserung der Rahmen- fentliche Verwaltung gezwungen, sich über die wahren bedingungen für ÖPP. Ausgelöst durch die Wirtschafts- Kosten einer über den Lebenszyklus betrachteten Leis- und Finanzkrise, hat im Moment die öffentliche Finan- tungserstellung klar zu werden. Deshalb ist ÖPP auch zierung von Infrastruktur deutlich Vorrang. Aber ich bin mehr als ein bloßes Finanzierungsinstrument. ÖPP ist ei- sicher: Der Ruf nach öffentlich-privaten Partnerschaften ner der wesentlichen Treiber für die Modernisierung des wird bald schon wieder lauter erschallen. Denn der Staates. Modernisierungsbedarf in öffentlicher Infrastruktur in Deutschland beträgt über 700 Milliarden Euro. Mit dem vorliegenden Antrag soll insbesondere ein (B) (D) Problem aus dem Bereich des Umsatzsteuerrechts gelöst Ulrike Flach (FDP): Als Liberale muss ich hier nicht werden. Erbringt die öffentliche Hand hoheitliche Leis- beweisen, dass wir ÖPP- und PPP-Modelle für wichtige tungen mit eigenem Personal, so unterliegen diese Leis- Instrumente zur kostengünstigen und effizienten Erbrin- tungen nicht der Umsatzbesteuerung. Werden derartige gung von Leistungen halten. Wir haben uns schon für Leistungen aber im Rahmen von ÖPP erbracht, so wer- PPP ausgesprochen, als auf der Seite der Sozialdemokra- den sie beim privaten Projektpartner mit dem vollen ten noch der Untergang des Abendlandes befürchtet Umsatzsteuersatz von 19 Prozent belastet. Damit kommt wurde, wenn der Staat nicht selbst ein Gebäude errichtet, es zu einer Diskriminierung von ÖPP gegenüber der sondern es einen privaten Investor errichten lässt und konventionellen Leistungserstellung durch die öffentli- dann mietet. che Verwaltung. Je höher der Personalkostenanteil an der Leistungserstellung ist, desto stärker schlägt diese Ihr Antrag, der vor zwei Tagen noch gar nicht vorlag, Diskriminierung zu Buche. erweckt den Eindruck, hier wird der Koalitionsvertrag noch einmal ausgekehrt und geschaut: Was hat man ver- Das nicht gelöste Umsatzsteuerproblem für ÖPP ist einbart? Was geht überhaupt noch in dieser Koalition der verteilungspolitisch ungerecht, es werden dadurch fal- Ermatteten? Und da hat offenbar jemand im Koalitions- sche Anreize gesetzt, eine Leistungssteigerung der öf- vertrag (Seite 15) gelesen, dass die Koalition die Beseiti- fentlich Hand behindert, die Expansion von ÖPP auf gung der Diskriminierung von PPP im Fernstraßenbau- personalintensive Bereiche verhindert: Die Gemeinde, privatisierungsgesetz vordringlich anpacken will. Na ja, die mit ÖPP effizienter arbeitet, Steuern spart und mehr so vordringlich kann sie nicht gewesen sein, dass Sie da- für ihre Bürgerinnen und Bürger herausholt, wird da- mit so lange gewartet haben. Also wird das noch durch- durch „bestraft“, dass sie mit der gewählten ÖPP-Lö- gewunken, das ist Kehraus-Politik kurz vor dem Son- sung gleichzeitig Umsatzsteuermehrbelastungen zu tra- nenuntergang. gen hat, die anderen Gemeinden für eben dieselben Leistungen nicht zu tragen haben. Da die Beschaffungs- Wir halten die Vorschläge, die Sie zur Änderung der varianten „konventionelle Realisierung“ und „ÖPP“ im Bundeshaushaltsordnung machen, für akzeptabel, aber Wettbewerb stehen, wird die ÖPP-Variante aufgrund der wir sind sehr kritisch, was Ihr Modellprojekt angeht. Es Umsatzsteuermehrbelastung diskriminiert und es werden macht stutzig, dass dafür nur ein Betrag von 10 Millio- Entscheidungen getroffen, die für alle Beteiligten nach- nen Euro jährlich eingestellt werden soll. Ich werde den teilig sind. Die Gemeinde, die den ÖPP-Weg wählt, trägt Verdacht nicht los, dass Sie bereits ein konkretes Projekt zu einer zusätzlichen Finanzierung des Bundeshaushalts, haben, das schnell noch abgesegnet werden soll. Der der Länderhaushalte und der Kommunalhaushalte bei. Wert ist so gering, das macht mich einfach misstrauisch. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22925

(A) Und auch die Konstruktion des Modellvorhabens ist nutzte Instrument mal erläutern: Im Rahmen eines ÖPP- (C) nicht die ÖPP-Konstruktion, die wir uns vorstellen. Sie Projektes übernimmt der Investor den Bau oder die Sa- schaffen nämlich einen Subventionstatbestand, indem nierung eines Gebäudes. Die Kommune verpflichtet sich die Gebietskörperschaften, die am Modellprojekt teil- im Gegenzug dazu, 25 Jahre Miete an den Investor zu nehmen, ihren PPP-Projektträgern die Umsatzsteuer- zahlen. Kaum ist die Unterschrift der Kommune unter Mehrbelastung als Projektförderung zurückerstatten. dem ÖPP-Vertrag, geht der Investor mit ihm zur Bank. Auch das wirkt, als ob es da sehr konkrete Bewerber Der Bank verkauft er die Forderung für die 25 Jahre gibt. Auch die Festlegung, dass mindestens drei Länder Miete und lässt sie sich pauschal auszahlen. Das ist die teilnehmen müssen, macht stutzig. Forfaitierung. Das heißt, obwohl die Kommune formal Wir wollen PPP als echte Wettbewerbspartnerschaft. nicht selbst einen Kredit aufgenommen hat, steht sie Es wäre doch ein Leichtes, eine bestimmte Leistung aus- jetzt bei der Bank in der Kreide und zwar zu den Zinssät- zuschreiben. Offenbar findet sich aber für die gesuchte zen, die der Private zahlen muss, nicht etwa zu den güns- Leistung nur dann ein privater Partner, wenn er die Um- tigeren Bedingungen für Kommunalkredite. Die Kom- satzsteuer zurückerhält oder wenn es sonst eine Subven- mune verpflichtet sich, im Gegenzug pünktlich immer tion gibt. Dies einen Modellversuch zu nennen, erscheint die volle Miete zu bezahlen, unabhängig davon, ob der mir äußerst verdächtig. Wenn Sie wirklich PPP steuer- Investor mangelhaft arbeitet oder gar pleitegeht. Das ist lich besserstellen wollen, dann ändern Sie das Umsatz- der Einredeverzicht. Wenn Sie das als Erfolg bezeichnen – steuergesetz und stellen die privaten PPP-Partner von ich bezeichne das als Verlagerung von Problemen in die der Umsatzsteuer frei. Das wird aber Herr Steinbrück folgenden Legislaturperioden und als eine Potenzierung nicht mitmachen, denn bei einer Investitionssumme von der Risiken und Kosten. 875 Millionen Euro im Jahr 2007 würde das einen erheb- lichen Umsatzsteuerverlust bedeuten. Was Sie jetzt ma- Eine Besonderheit der öffentlich-privaten Partner- chen, verzerrt aber den Wettbewerb, indem der Staat schaften ist das Cross Border Leasing. Mit diesem Ge- dem Privaten die Steuern rückerstattet. Das verdirbt eher schäftsmodell sind die Kommunen heute schon baden die Sitten, als dass es PPP fördert. Wir lehnen deshalb gegangen. Das Vorgehen war das gleiche: umfangreiche den Antrag ab. Geheimverträge, Verlagerung aller Risiken auf die deut- schen Gebietskörperschaften. Warnungen, die es bei Ab- schluss der Verträge gab, wurden einfach in den Wind Ulla Lötzer (DIE LINKE): Was Sie hier vorlegen mit geblasen. Nun drohen infolge der Finanzkrise den Steu- Ihrem Antrag zu öffentlich-privaten Partnerschaften, ist schon ein starkes Stück. Weil eine Gebietskörperschaft erzahlern zusätzliche Kosten in zigfacher Millionen- keine Umsatzsteuer zahlen muss, soll jetzt in einem Mo- höhe. dellversuch den Privaten die Umsatzsteuer zurückerstat- (B) Aus Erfahrungen sollte man klug werden. Deshalb (D) tet werden. Geht’s noch? Wie kann man ideologisch so lehnen wir Ihren Antrag ab und fordern Sie auf, die För- verbohrt sein, dass man auf Teufel komm raus öffentli- derung von ÖPP-Projekten zu stoppen. che Gelder in die Taschen Privater umschaufeln will! Bevor Sie hier weiter das Hohelied auf die Privatisie- Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rung singen, sollten Sie sich endlich mit den realen Öffentlich-private Partnerschaften sind als Alternative Folgen vor Ort auseinandersetzen. Öffentlich-private zu herkömmlichen Beschaffungsformen der öffentlichen Partnerschaften sind kein wirksames Instrument, den Auftraggeber in den vergangenen fünf Jahren erheblich „Grundsätzen der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit wichtiger geworden. Nach einer Veröffentlichung der besser gerecht zu werden“, wie Sie in Ihrem Antrag PPP-Task-Force beim Bundesministerium für Verkehr, schreiben. ÖPP verteilen die Gewinne an die Privaten Bau und Stadtentwicklung wurden bis Mai 2008 bundes- und die Risiken auf die öffentliche Hand. Außer den In- weit 97 ÖPP-Projekte mit einem Investitionsvolumen vestoren verdienen sich die Beraterfirmen eine goldene von 3,5 Milliarden Euro an Investoren vergeben. Nase. Und ganz nebenbei wird die kommunale Demo- kratie ausgehebelt und werden die Verträge als „streng Grundsätzlich halten wir ÖPPs für ein interessantes geheim“ eingestuft. Modell zur effizienteren Umsetzung von Beschaffungs- Die ÖPP-Projekte in Deutschland sind noch nicht so maßnahmen. Wir brauchen aber einen richtigen Ord- alt, aber schon jetzt zeigt sich, dass die Versprechungen nungsrahmen, um bei jedem Projekt genau zu prüfen, vielfach gelogen sind. Nehmen wir das Bildungszentrum wie es sich am wirtschaftlichsten umsetzen lässt. Dabei Ostend in Frankfurt. Hier wurden Zusatzkosten ver- sind wir für eine konkrete Betrachtung am jeweiligen schwiegen und es wurde billigst gebaut. Da die Stadt die Fall: Ist ÖPP, ist rein privatwirtschaftliches oder ist rein Strom-, Heiz- und Wasserkosten selbst zahlen muss, staatliches Handeln angebracht und wirtschaftlich? wurde vom Investor kein Geld für Sparvorrichtungen Wir müssen sichere Investitionen ermöglichen und ausgegeben. Effiziente Verglasung, Bewegungsmelder, für Vertrauen sorgen. Oft kann ein Beschaffungsauftrag Wasserstoppuhren – Fehlanzeige. Das ist kein Einzelfall: nach Ausschreibung am effizientesten von einem Privat- Die Kölner Messehallen, die Schulsanierungen im Land- unternehmen durchgeführt werden. Aber auch durch ge- kreis Offenbach, das Mautsystem von Toll Collect – im- nuin staatliche Infrastruktur können Aufgaben häufig mer bleibt die öffentliche Hand auf den Zusatzkosten sparsam durchgeführt werden. Die Ergänzung der Bun- und auf allen Risiken sitzen. deshaushaltsordnung, die Sie vorschlagen, unterstützen Sagt Ihnen das Instrument „Forfaitierung mit Ein- wir in diesem Sinne. Es ist wichtig, einen einheitlichen redeverzicht“ etwas? Ich will Ihnen dieses gerne be- Maßstab für Wirtschaftlichkeitsvergleiche zu schaffen. 22926 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Auch die Umsatzsteuerfrage ist in diesem Zusam- Das ist gerade angesichts der schwierigen Lage und der (C) menhang von hoher Wichtigkeit. Die umsatzsteuerliche sich überschlagenden Ereignisse in Pakistan in den ver- Benachteiligung gegenüber staatlicher Eigenleistung ist gangenen Wochen und Tagen dringend geboten. ein großes Problem bei ÖPP-Projekten. Ein Modellvor- haben, wie Sie es in Ihrem Antrag fordern, ist daher mei- Ob der Antrag der Linken zu diesem Thema aller- nes Erachtens sinnvoll, um einen Umgang mit diesem dings dabei sehr hilfreich ist, kann mit Recht bezweifelt Problem zu finden. werden. Denn es ist hier wie mit allem: Die Lösung des Problems beginnt mit der Betrachtung der Realität. Und Ein aktueller Bericht des Rechnungshofes in Baden- wenn man da bereits die falschen Erkenntnisse gewinnt, Württemberg, der diese Woche vorgelegt wurde, zeigt dann kann es auch keine richtigen Lösungen geben. aber auch deutlich, dass die Effizienzrenditen von über 10 Prozent für ÖPP-Projekte, wie sie bisher wiederholt Was fordern Sie in Ihrem Antrag? Ich will es einmal angenommen wurden, in bestimmten Bereichen in Ba- etwas platt zusammenfassen: Wir setzen alle in dieser den-Württemberg kaum zu realisieren waren. Es liegt Region an Konflikten beteiligten Staaten an einen Tisch, nahe, anzunehmen, dass die Lage in Baden-Württem- nehmen noch die Paschtunen hinzu, lassen die alle mit- berg den einen oder anderen Rückschluss auf die Ge- einander beraten. Dann fügen Sie noch ein paar ziemlich samtproblematik erlaubt. allgemeine und wohlklingende Forderungen wie die ÖPP-Projekte können nicht von vornherein als die nach der Unterstützung bei der Demokratisierung Pakis- wirtschaftlichere Variante angesehen werden. Deshalb tans hinzu, mahnen väterlich das Ende von Rüstungs- benötigt man eine belastbare Vergleichsbasis für die Ent- exporten an, würzen das Ganze mit der bei Ihnen obliga- scheidung zwischen einem ÖPP-Modell und einer staat- torischen USA-Kritik: Und schon herrscht himmlischer lich durchgeführten Variante. Insbesondere bei den ÖPP- Frieden auf Erden. Projekten der zweiten Generation, die neben Planung, Wohlgemerkt: Vieles von dem, was Sie hier vorschla- Finanzierung und Bauen auch den Betrieb umfassen, ist gen, ist nicht falsch. Aber das liegt daran, dass Ihre For- es aufgrund der Kosten für die Risikovorsorge und der derungen sehr allgemein sind, und nicht daran, dass man langen Vertragslaufzeiten schwierig, Vergleiche mit ei- aufgrund ihrer Gedankentiefe sofort zustimmen müsste. ner Eigenrealisierung hinsichtlich der Wirtschaftlichkeit anzustellen. Daher muss ein sorgfältiger Vergleich auf Auf der anderen Seite wird Ihr Antrag aus meiner Basis von Marktpreisen für alle Realisierungsvarianten Sicht auch nicht annähernd der Komplexität der Lage, vorgenommen werden. Der Rechnungshof kam zum Er- gerade in Pakistan, gerecht. Worum geht es? Ihr Antrag gebnis, dass in Baden-Württemberg auch ÖPP-Projekte trägt zwar Afghanistan und Pakistan im Titel, beschäftigt umgesetzt wurden, obwohl diese letztendlich teurer wa- sich aber überwiegend mit der Lage in Pakistan und (B) ren als eine Eigenleistung des Staates. Außerdem warnt dann mit ihren Auswirkungen auf die Situation in (D) er vor einer steigenden Vorbelastung künftiger Haushalte Afghanistan. Dagegen ist auch nichts einzuwenden. durch ÖPP-Projekte bei Vertragslaufzeiten von üblicher- Wenn man allerdings Pakistan in besonderer Weise in weise 20 bis 30 Jahren, der sogenannten grauen Ver- den Blick nimmt, dann ergeben sich zwei Konsequen- schuldung. Das muss uns bei der Diskussion um ÖPPs zen: Erstens ist der Titel Ihres Antrags falsch, denn Pa- bewusst sein. kistan liegt definitiv nicht in Zentralasien. Das wäre aber Trotz unserer Zustimmung zu den Änderungen der noch zu verschmerzen. Wichtiger ist, dass Sie bei dem Bundeshaushaltsordnung und des Modellvorhabens leh- Text Ihres Antrags die inneren Verhältnisse in Pakistan nen wir den Antrag insgesamt ab: Durch die Novellie- im Grunde überhaupt nicht in Betracht ziehen. rung des Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetzes doktern Sie an einem Problem herum, statt zuzugeben, Dazu gibt es aber allen Grund. Pakistan ist durch das dass das F-Modell bisher gescheitert ist. Die Novellie- Einlenken von Präsident Zadari im Streit um die Wieder- rung wäre unnötig, wenn der Verkehrsfluss bei den Pro- einsetzung des Obersten Richters Chaudry gerade noch jekten realitätsnäher berechnet worden wäre. Eine an- einmal so an einem das gesamte Land lahmlegenden dere Möglichkeit sehe ich in Konzessionsmodellen mit Streik und an vermutlich blutigen Auseinandersetzungen variabler Laufzeit. Durch den von Ihnen vorlegten Vor- zwischen Truppen der Regierung und des Präsidenten schlag kann die Wirtschaftlichkeit eines Projektes nur und Anhängern Chaudrys und des Oppositionsführers unmaßgeblich verbessert werden. Sharif entgangen. Die Macht des gewählten Präsidenten ist so weit erodiert, dass nicht einmal der gegen Sharif verhängte Hausarrest tatsächlich durchgesetzt wurde. Anlage 4 Nach einer Umfrage des International Republican Insti- tute sprechen sich inzwischen 59 Prozent der befragten Zu Protokoll gegebene Reden Pakistani für Oppositionsführer Sharif als Präsidenten zur Beratung der Beschlussempfehlung und des aus, nur 19 Prozent für den Amtsinhaber. Berichts: Pakistan und Afghanistan stabilisie- Die wirtschaftliche Lage des Landes kann nur als ka- ren – Für eine zentralasiatische regionale tastrophal bezeichnet werden. Ohne die Unterstützung Sicherheitskonferenz (Tagesordnungspunkt 16) der internationalen Gemeinschaft wäre das Land nicht mehr „lebensfähig“. Zudem musste die Zentralregierung Holger Haibach (CDU/CSU): Zum zweiten Mal in ihre erfolglosen Bemühungen einstellen, die Taliban im Folge beschäftigen wir uns in einer Sitzungswoche des Lande militärisch erfolgreich zu bekämpfen. Dies hatte Deutschen Bundestages mit Pakistan und Afghanistan. zur Folge, dass im Swat-Tal und anderen Regionen, das Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22927

(A) war Teil der Verhandlungslösung, die Scharia das seithe- und den anderen Partnern, die zu beteiligen wären. Stan- (C) rige Rechtssystem abgelöst hat. Entgegen anderen Zusa- den sich bei der KSZE zwei Machtblöcke und politische gen haben dort die regionalen Führer – nicht durch die Systeme gegenüber, die aber beide bereit waren, auf Schließung, aber durch eine wesentlich effektivere Waffengewalt zu verzichten, so haben wir es im jetzigen Methode, nämlich Abbrennen der Schulen – dafür ge- Fall mit einer Region zu tun, die gerade durch inner- und sorgt, dass zum Beispiel der Unterricht für Mädchen er- zwischenstaatliche kriegerische Auseinandersetzungen schwert wurde. Und es steht zu befürchten, dass dies erst gekennzeichnet ist. der Anfang der Repressalien ist. Noch ein Wort zur Rolle der USA: Man mag zur Ver- Mit ein wenig regionaler Zusammenarbeit und ein wendung beziehungsweise zur Ausweitung der Verwen- bisschen USA-Kritik ist es also nicht getan. Dafür bieten dung von Drohnen auf dem Staatsgebiet Pakistans in den Sie dann die Forderung auf: „Pakistan vermehrt bei sei- sogenannten Tribal Areas und darüber hinaus stehen, nen Demokratisierungsbemühungen unterstützen.“ Eine wie man will. Aber eines darf jedenfalls festgehalten beeindruckende Forderung! Leider bleibt die Linke die werden: Als Pakistan in der vergangenen Woche und in Antwort auf die Frage schuldig, wie dieses hehre Ziel er- dieser Woche nahe am Rand von bürgerkriegsähnlichen reicht werden soll. Und wieso „vermehrt“? In der Zeit, in Zuständen mit unabsehbaren Folgen aufgrund der Nicht- der dieser Antrag geschrieben wurde, hat diese Bundes- Wiedereinsetzung von Richter Chaudry war, hat der pa- regierung, unterstützt durch die sie tragenden Fraktionen kistanische Minister Nabeel Gaboo die Abwendung der von CDU/CSU und SPD, gehandelt. Vertreter der Bun- Krise mit folgenden Worten kommentiert: „Die Eini- desregierung haben Vorschläge zur Verbesserung der gung haben Amerika, die Armee und Allah herbeige- Lage gemacht, darüber hinaus wurden entsprechende führt.“ Und es ist der amerikanische Generalstabschef Mittel zur Demokratisierung aus den Etats der betroffe- Mike Mullen gewesen, der seinen pakistanischen Amts- nen Ministerien zugesagt und bereitgestellt. Deutschland kollegen mehr als einmal von einem gewaltsamen Ein- arbeitet engagiert und an führender Stelle in der interna- greifen in die gegenwärtigen Konflikte abgehalten hat. tionalen Gruppe der „Freunde des demokratischen Pa- Mancher von uns ist mit einer pauschalen Kritik an der kistans“ mit. Haltung und den Handlungsweisen der USA schnell bei Auch die Idee der „zentralasiatischen“ regionalen der Hand. Manchmal wendet sich aber auch diese Pau- Sicherheitskonferenz scheint noch sehr unausgegoren. schalität gegen den, der diese Kritik angebracht hat. Im Antrag der Linken wird die Beteiligung aller mögli- Wenn wir neben der „Afghan Ownership“ auch eine chen regionalen Akteure gefordert, bis hin zu den Pasch- „Pakistan Ownership“ ernsthaft vorantreiben wollen, tunen. Gleichzeitig betonen Sie zu Recht die Existenz dann ergeben sich daraus für mich drei Konsequenzen. ganz anderer, schon Jahrzehnte währender Konflikte, (B) Erstens dürfen wir die vor Ort Handelnden nicht aus der (D) wie etwa der Auseinandersetzung um und in Kaschmir. Verantwortung entlassen, indem wir Entscheidungen für Warum soll den Kaschmiris das verwehrt werden, was sie treffen. Zweitens müssen wir sie aber auch mit den den Paschtunen Ihrer Ansicht nach doch erlaubt sein dafür notwendigen Voraussetzungen ausstatten. Und soll? drittens bedarf es eines Ansatzes, der die regionalen Weiterhin stellt sich die Frage, wie Sie sich die Ein- Akteure und die internationale Gemeinschaft einbindet. bindung der internationalen Staatengemeinschaft vor- Genau an dieser Stelle greift der vorliegende Antrag zu stellen, deren Präsenz vor Ort Sie doch sonst immer kri- kurz. Er ist pauschal und wird den Aufgabenstellungen tisieren. Welche Rolle sollen die USA, Großbritannien nicht gerecht. Deshalb werden wir ihn ablehnen. und etwa Deutschland spielen? Welche Aufgabe hat die UN hierbei? Detlef Dzembritzki (SPD): Die Situation in Pakistan Es ist völlig unbestreitbar, dass eine engere Einbin- bietet ohne Zweifel Anlass zu Sorge, aber auch – wenn dung sämtlicher regionalen Akteure dringend geboten man die Entwicklungen der letzten Tage mit einbezieht – ist, denn ohne diese werden sich stabile Verhältnisse in zu vorsichtigem und verhaltenem Optimismus. der Region nicht herstellen lassen. Aber dazu braucht es Sosehr wir uns als Abgeordnete des Deutschen Bun- mehr als eine Idee oder Antrag im Deutschen Bundestag. destages – ich schließe hier ausdrücklich das ganze Haus Wenn eine solche Konferenz, noch dazu als ständige mit ein – gefreut haben, dass der Übergang von einer Einrichtung, durchgeführt werden soll, dann bedarf es Militär- zu einer zivilen Regierung im September 2008 hierzu sorgfältiger Planungen und Konsultationen. Denn in Pakistan gelungen ist, so sehr waren wir zumindest in eine Konferenz, die in einem Fehlschlag endet und dabei meiner Fraktion von Anfang an in Sorge und zwar da- vielleicht noch ohnehin vorhandene Differenzen ver- rüber, dass sich die neuen „Koalitionsmehrheiten“ in Pa- schärft, wäre ein großer Rückschlag für die friedliche kistan nicht mit Entschiedenheit um die eigentlichen He- Beilegung von Konflikten in dieser Region. rausforderungen in ihrem Land gekümmert haben, Schließlich stellt sich die Frage, ob es für eine solche nämlich die Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit, den Einrichtung Vorbilder gibt. Man könnte dabei an die Energiemangel und Infrastrukturdefizite. Der monate- KSZE/OSZE denken. Allerdings wäre auch hier zu er- lange Streit zwischen Zardari und Sharif, zum Beispiel wägen, ob das, was in Europa funktioniert, ohne Weite- um die Aufhebung der Amnestiegesetze und die Wieder- res auch an anderer Stelle erfolgreich ist, zumal die Ver- einsetzung der Richter, führte zu einem Entwicklungs- hältnisse in Europa der 70er-Jahre völlig andere waren stillstand und Verwerfungen zwischen den „Wahlsie- als die heutigen zwischen Pakistan, Afghanistan, Indien gern“. 22928 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Insofern möchte ich den Kolleginnen und Kollegen Wirtschaftlich steckt Pakistan in einer erheblichen (C) von der Linkspartei durchaus zugestehen, dass auch sie Krise. Dank eines von der Bundesregierung mit Nach- die ernste Sorge haben, dass der Weg in eine friedliche druck unterstützten Beistandskredits des IWF in Höhe Zukunft für dieses in der Region so wichtige Land von 7,6 Milliarden US-Dollar konnte im Herbst des Jah- schwierig sein wird. Ich nehme dennoch für mich und res 2008 ein finanzieller Zusammenbruch des Landes meine Fraktion in Anspruch, dass wir immer betont ha- abgewendet werden. Über die Bewältigung der Wirt- ben, dass nur mit einem regionalen Ansatz unter Einbe- schaftskrise hinaus wird die Überwindung der großen ziehung von Afghanistan, Pakistan, Iran, aber auch In- Einkommensunterschiede innerhalb des Landes – auch dien und China eine Lösung der Konflikte möglich ist. zwischen Stadt und Land – die zentrale Herausforderung Es reicht nicht, jetzt so zu tun, als genüge es, sich auf für die demokratische pakistanische Regierung sein. Die eine solche Konferenz zu fokussieren, als sei dies die Bundesregierung ist durch die Gesellschaft für Techni- einzige Lösung. Es ist schon etwas komplizierter! sche Zusammenarbeit, GTZ, auf diesen Gebieten schon jetzt mit Vorhaben zu Grundbildung, Gesundheit und Natürlich haben auch wir ernste Sorgen um Pakistan. Energie tätig. Insgesamt wurde die deutsche Entwick- Lassen Sie mich die Herausforderungen in einigen kur- lungszusammenarbeit mit Pakistan bei den Regierungs- zen Sätzen skizzieren: Pakistan als Nuklearmacht wird verhandlungen im vergangenen Jahr verdoppelt. Aus un- von seinen Nachbarn Afghanistan und Iran eher kritisch serer Sicht setzt die Bundesregierung hier die richtigen betrachtet. Pakistan und Afghanistan teilen eine lange, Schwerpunkte: Hilfen für die Wirtschaft, insbesondere sehr schwierige Geschichte. Wenn man – wie sicher ei- durch Mikrokredite; Beratung der örtlichen Verwaltung nige Kolleginnen und Kollegen dieses Hauses – die Ge- und Investitionen in die Bildung. Gerade dem Bildungs- legenheit hatte, mit Vertretern dieser beiden Nationen zu bereich sollte aus unserer Sicht in Zukunft noch mehr sprechen, so fällt das tiefsitzende Misstrauen auf beiden Aufmerksamkeit gewidmet werden. Schließlich ist ein Seiten sofort auf. Ohne die grundsätzliche Bereitschaft Bildungssystem für alle Heranwachsenden in Pakistan beider Staaten, aufeinander zuzugehen, wird mittelfristig die beste Garantie gegen die Madrassen, islamistische kein regionaler Nachbarschaftsprozess gelingen. Wir ha- Koranschulen, die bereits Kinder indoktrinieren und die ben in der Vergangenheit einige ermutigende Zeichen oft nur deshalb frequentiert werden, weil staatliche auf diesem Weg gesehen, und wir hoffen, dass beide Sei- Schulen nicht existieren oder zu teuer sind. Armutsbe- ten diesen Weg weiter gehen. kämpfung, Entwicklung und Bildungsmöglichkeiten sind die effektivsten, langfristig wirkenden Maßnahmen Ich bin deshalb dankbar, dass Außenminister gegen eine drohende Radikalisierung der Bevölkerung. Steinmeier bereits im Juni 2007 in Potsdam eine Initiative gestartet hat, um beide Länder an einen Tisch zu bringen. Die EU hat letztes Jahr die Armutsbekämpfung zum (B) Es wird in Zukunft in der Region nur dann Frieden geben, wichtigsten Ziel ihrer Länderstrategie in Pakistan er- (D) wenn beide Seiten bereit sind, Schritte zu gehen, die über klärt. Dabei konzentriert sich die EU in ihrer Zusam- das hinausgehen, was momentan vorstellbar erscheint. menarbeit auf die ländliche Entwicklung, den nachhalti- Dabei wird die gemeinsame, 2 400 Kilometer lange gen Umgang mit natürlichen Ressourcen, den Grenze, die faktisch nicht zu sichern ist, eine Rolle spie- Bildungssektor und die Qualifizierung staatlichen Perso- len. Fehler wurden in der Vergangenheit gemacht: Die nals. Grenze wurde willkürlich durch die Kolonialherren ge- Sosehr wir die Hand reichen zum Dialog und zur zogen. Dies kann aber nicht bedeuten, alte Streitigkeiten Hilfe, so sehr müssen wir unsere Ablehnung von gefähr- wieder aufzuwärmen: Auch hier müssen Pakistan und lichen Kompromissen wie der Wiedereinführung der Afghanistan aufeinander zugehen. Es ist bekannt, dass Scharia im Swat-Tal zum Ausdruck bringen. Wir sind in die Grenzgebiete als Rekrutierungsgebiete für afghani- Pakistan wie in anderen Teilen der Welt für eine Ent- sche und pakistanische Taliban dienen. Es gibt darüber wicklungszusammenarbeit auf Augenhöhe, für Verhand- hinaus auch Erkenntnisse, dass international operierende lungen auch mit schwierigen Partnern, für Respekt ge- Terrorgruppen diesen Rückzugsraum nutzen. genüber Traditionen und Werten. Dieser Ansatz findet jedoch da seine Grenzen, wo Menschenrechte unter an- Unabhängig davon, wie wir als Parlamentarier die derem von Frauen und Minderheiten buchstäblich mit neue pakistanische Regierung bewerten: Die Probleme Füßen getreten werden. sind immens. Jede demokratische Regierung wird auch in naher Zukunft mit den Problemen Islamisierung, Ein- In der Vergangenheit hat auch der pakistanische Ge- kommensunterschiede, Armut und wirtschaftliche heimdienst ISI eine sehr problematische Rolle gespielt. Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die jetzige Regie- Teile des ISI bildeten einen Staat im Staat und unter- rung Pakistans bietet zumindest die Chance, dass wir als stützten die Entstehung und Entwicklung der Taliban, Europäer mit Unterstützung, Know-how und Ressourcen weil man sich von einem instabilen Afghanistan einen dem Land beim eigenen Aufbau behilflich sind, aber Zugewinn an Macht versprach und die Taliban als mög- auch den regionalen Dialog weiter fördern, zum Beispiel liche Bündnispartner für eine Auseinandersetzung mit im Rahmen der Ende September 2008 gegründeten Indien sah. Bis heute ist nicht eindeutig festzustellen, Gruppe „Freunde des demokratischen Pakistans“. Ein- wie stark die Verbindungen zwischen Politik und ISI seitige Militärschläge helfen sicher nicht weiter – sie sind und auf welchen Feldern der ISI nach wie vor ver- verstärken nur die ohnehin vorhandene Abneigung ge- sucht, seinen Einfluss zu sichern und die Entscheidun- gen den Westen, die in Pakistan weit verbreitet ist und gen der demokratisch gewählten Regierung Pakistans zu sich insbesondere auf die USA bezieht. beeinflussen. Hier bleibt die Bundesregierung aufgefor- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22929

(A) dert, weiterhin energisch auf eine effektive Kontrolle des Berufsausübung ihrer Kollegen zu demonstrieren. Auch (C) Geheimdienstes zu dringen. das Militär hat diesmal hinter den Kulissen für Demo- kratie und Rechtsstaat Partei ergriffen. So hat Armeechef Sicherlich stellen die Stammesgebiete im Grenzgebiet Kayani seinem Präsidenten Zardari frühzeitig signali- zu Afghanistan, die sogenannten Federally Admistered siert, dass dieser im Falle einer Eskalation nicht mit der Tribal Areas, FATA, neben der sehr schlechten Wirt- Unterstützung durch die Armee rechnen könne. Dies ist schaftslage eine sehr große Herausforderung für Pakis- das erste Mal in der jüngsten pakistanischen Geschichte, tan dar. Das pakistanische Militär hat hier einen hohen dass ein Armeechef aufseiten der Demokratie steht. Preis bezahlt. Pakistanische Gesprächspartner, insbeson- dere Vertreter der Regierung, verweisen immer wieder Bei aller Wachsamkeit gegenüber islamitischen Ten- auf diesen Beitrag im Kampf gegen den internationalen denzen sollten wir diese Anzeichen auch als Hoffnung Terrorismus. Aus unserer Sicht war das Vorgehen der verstehen, dass Pakistan seine Angelegenheiten durch- Regierung Musharraf und auch das der Bush-Adminis- aus aus eigener Kraft bewältigen kann. Wir sollten Pa- tration zu sehr auf militärisches Vorgehen beschränkt. kistan auf diesem Wege weiter unterstützen. Auch ist die pakistanische Armee strukturell überhaupt noch nicht auf die Herausforderungen des internationa- Hellmut Königshaus (FDP): Der Ansatz des hier len Terrorismus und der asymmetrischen Kriegsführung eingebrachten Antrages ist nicht falsch. In Afghanistan eingestellt. Die pakistanische Armee ist immer noch auf haben wir es nicht mit einem nur nationalen Konflikt zu einen potenziellen Großkonflikt mit Indien ausgerichtet. tun, der an den Grenzen des Landes endet. Nicht zuletzt Ohne eine deutliche Neuausrichtung wird die pakistani- Pakistan fällt dabei eine bedeutende Rolle zu. Das Land sche Armee auch in Zukunft keinen Beitrag zu einer Be- ist ein entscheidender Faktor bei der politischen Stabili- kämpfung von Terrorgruppen in den Stammesgebieten sierung Afghanistans. Die pakistanische Regierung hat leisten können. derzeit offenkundig keine wirksame Kontrolle über die Gleichzeitig sollte die Bundesregierung bei ihren nordwestlichen Grenzprovinzen, in denen 3,5 Millionen Kontakten zu den pakistanischen Partnern auch weiter- Einwohner leben. Stattdessen üben diese Kontrolle ex- hin mit Nachdruck darauf dringen, die Rückkehr der Ar- tremistische, terroristische und kriminelle Kräfte aus, die mee in die Kasernen zu unterstützen und ihren direkten aus dem Grenzgebiet auch nach Afghanistan eindringen, Einfluss auf die Politik zurückzudrängen. Erfreulich um dort ebenfalls ihren Einfluss auszubauen. Der Ver- festzustellen ist, dass im aktuellen Konflikt zwischen such der pakistanischen Regierung, diese Gebiete militä- Opposition und Präsident das Militär sich nicht hat in- risch wieder zurückzugewinnen, ist zumindest vorerst strumentalisieren lassen. Das spannungsgeladene Ver- gescheitert. Trotz seiner komplizierten innenpolitischen hältnis zu Indien hat sich seit Amtsantritt der neuen pa- Lage darf Pakistan die Kontrolle über diese Region je- (B) (D) kistanischen Regierung leicht verbessert. So hat die doch nicht dauerhaft aus der Hand geben. Der Afghanis- pakistanische Regierung angekündigt, die Doktrin des tan-Konflikt ist zwar ein regionaler Konflikt, aber seine Ersteinsatzes von Nuklearwaffen nicht länger aufrecht- Ursachen sind im gesamten zentralasiatischen Raum an- zuerhalten. Weitere Signale deuten darauf hin, dass die gesiedelt, und er entfaltet auch dort seine Wirkungen. pakistanische Seite an einer Normalisierung der Bezie- Eine Sicherheitskonferenz für die Region kann inso- hungen zu Indien interessiert ist. Die Bundesregierung weit zur Lösung der dortigen Probleme beitragen, aber sollte alles tun, um Pakistan auf diesem Wege zu unter- sicherlich nicht allein. Dem Antrag fehlen insoweit er- stützen. Überhaupt könnte eine engere wirtschaftliche gänzende Maßnahmen und Schritte, die über die Einbe- Kooperation mit den Nachbarn – insbesondere mit In- rufung einer Sicherheitskonferenz hinausgehen. Auch dien und China, aber auch mit den zentralasiatischen aktuelle Bezüge und geopolitische Konsequenzen feh- Staaten sowie dem Iran – zur Stabilisierung der pakista- len. Zudem ist der Antrag mit seiner verkürzenden Art nischen Wirtschaft beitragen. Diese Zusammenarbeit auf der Darstellung auch ungeeignet, die Probleme hinrei- wirtschaftlichem Gebiet könnte in Kombination mit Ko- chend zu beschreiben und die vorgeschlagenen Lösungs- operation auf anderen Gebieten zum Schlüssel für ein ansätze nachzuvollziehen. friedliches – oder zumindest friedlicheres – Miteinander in der Region beitragen. Die neue US-Administration hat begriffen, dass der Konflikt in Afghanistan längst kein ausschließlich af- Aber auch auf politischem Terrain gibt es in der letz- ghanischer mehr ist und dass die gesamte Region in der ten Zeit Anzeichen, die eine friedliche Lösung möglich Gefahr steht, politisch zu kollabieren. Deshalb spricht – oder möglicher – erscheinen lassen. Es gibt in Pakistan sie mittlerweile von „AfPak“, wenn sie auf die Region zunehmend Kräfte, die die Islamisierung des Landes schaut. Das Engagement der US-Administration zeigt nicht nur rhetorisch ablehnen, sondern auch bereit sind, noch einmal deutlich, dass Pakistan essenziell für die diesen Tendenzen mutig entgegenzutreten. Dazu gehört Stabilität der gesamten Region ist. Nicht zuletzt mit für viele Experten auch Ministerpräsident Gilani, der Blick auf die pakistanischen Nuklearwaffen müssen wir sich jüngst für die tatsächliche Wiedereinsetzung des mit unseren Partnern gemeinsam handeln, neue Kon- obersten Richters Chaudhry einsetzte. Präsident Zardari zepte entwickeln und umsetzen. hatte die zunächst im Wahlkampf versprochene Wieder- einsetzung behindert. Auch ist ermutigend, dass Zehn- Dafür müssen wir aber zunächst die gleiche Sprache tausende Richter und Anwälte nicht nur damals unter sprechen. Dieser Ansatz ist auch im vorliegenden Antrag Militärherrscher Musharraf demonstrierten, sondern zu finden. Allerdings ignoriert er die Möglichkeit, dass auch jetzt in der Demokratie bereit waren, für die freie eine solche Konferenz auch scheitern könnte. Und er 22930 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) geht auch nicht hinreichend auf die nachfolgenden Die UN-Hilfsorganisationen legten Ende 2008 einen (C) Schritte ein, sollte eine solche Sicherheitskonferenz für Überblick über die humanitäre Situation in Afghanistan die Region erfolgreich verlaufen. Welche Bedeutung vor. Die Situation der afghanischen Bevölkerung habe werden die erreichten Ergebnisse haben? Wer verfolgt sich 2008 verschlechtert, heißt es darin. Die Gründe für die Umsetzung der Vorgaben? Welche Konsequenzen die Verschlechterung seien in der Hauptsache in der hat die Nichteinhaltung der vereinbarten Vorgaben? Zunahme der Kämpfe, den gestiegenen Nahrungsmittel- preisen und einer akuten Dürre zu sehen. Zu den Und damit sind wir bei einem Kernproblem der deut- bekannten Schwierigkeiten tritt verschärfend das Trink- schen Politik in diesem Bereich; während die USA mit wasserproblem hinzu. Es ist also eindeutig, dass das in- der Ernennung Richard Holbrookes zum Sonderbeauf- ternationale Engagement für den Wiederaufbau nicht tragten für Pakistan und Afghanistan auf diese Kompe- ausreicht. Auch die deutschen Beiträge sind im Ver- tenzfrage reagiert haben, schafft es die Koalition nicht gleich zu den Leistungen anderer Geber, etwa Kanadas, einmal, sich auf einen Sondergesandten für die Region immer noch viel zu gering. Eine verstärkte entwick- zu einigen, der für die gesamte Bundesregierung spricht lungspolitische Zusammenarbeit würde auch die Akzep- und handelt. Im Ergebnis haben wir jetzt einen „Beauf- tanz für die deutsche Präsenz in Afghanistan erhöhen tragten des Auswärtigen Amtes“, der nur für seinen Mi- und damit auch die Sicherheit unserer Soldatinnen und nister und sich selbst sprechen darf. So sieht also die Soldaten. vielbeschworene „vernetzte Sicherheit“ in der Realität dieser Bundesregierung aus. Das hat auch der Beauf- Der Ernst der Lage in Afghanistan zeigt, dass wir alle tragte selbst, der ein hervorragender Diplomat ist, so keine Zeit zu verlieren haben. Die Bundesregierung nicht verdient. Es ist traurig, dass ein so wichtiges muss Schluss machen mit ihrem Wahlkampfgezänk und Thema ganz offenkundig allein zu Wahlkampfzwecken sich gemeinsam und verstärkt für Afghanistan und die missbraucht wird. Insgesamt lähmt der Wahlkampf mitt- Region einsetzen. Der Antrag der Linken ist dabei leider lerweile offenbar die Bundesregierung so stark, dass un- keine wirkliche Hilfe. sere außenpolitische Handlungsfähigkeit gefährdet ist. Wir werden so zum Gespött unserer Partner. Das darf so Dr. Norman Paech (DIE LINKE): Gerade einen nicht weitergehen. Monat ist es her, dass wir im Bundestag über einen An- Eine Sicherheitskonferenz, wie der Antrag sie fordert, trag des Bündnisses 90/Die Grünen diskutiert haben, der kann nur mit einer durchsetzungsfähigen Leitung von noch zur Zeit der Bush-Administration konzipiert war Erfolg gekrönt sein. Hillary Clinton hat beispielsweise und die gleiche Frage wie heute aufwarf: Was ist für die für den nächsten NATO-Gipfel gleich auch eine Afgha- Stabilisierung Pakistans notwendig? Ein Jahr zuvor hatte nistan-Konferenz einberufen. Diese Handlungsfähigkeit es demokratische Wahlen in Pakistan gegeben, die (B) (D) vermisst man leider bei der Bundesregierung. Wir brau- ebenso hoffen ließen wie der Wahlsieg Barack Obamas. chen jetzt aber gemeinsames und entschlossenes Han- Doch nichts ist von dieser Hoffnung geblieben. Pakistan deln aller Partner, um in der Region Fortschritte zu erzie- ist in keiner guten Verfassung, aber nicht erst seit der Er- len. Denn Afghanistan entwickelt sich zurzeit nicht in mordung Benazir Bhuttos, den Attentaten, die bis auf die richtige Richtung. Auch sieben Jahre nach dem Sturz den Norden Indiens übergreifen, der Einrichtung der der Taliban kommt Afghanistan nicht zur Ruhe. Nach ei- Scharia in den Grenzgebieten zu Afghanistan auf Druck nigen vielversprechenden Ansätzen zur Demokratisie- der Taliban und der Wiedereinstellung der aus dem Amt rung und Stabilisierung droht das Land unter den An- gejagten Richter unter dem Druck der Straße. Das ist nur schlägen der islamistischen Kämpfer wieder im Chaos der oberflächliche Ausdruck einer seit langem schwelen- zu versinken. Die allgegenwärtige Gewalt und die wirt- den tiefen Krise dieses Landes. Pakistan ist seit langem schaftliche Stagnation haben in der Bevölkerung ein gezeichnet durch eine dramatische Abwärtsentwicklung Klima der Hoffnungslosigkeit geschaffen. Eine aktuelle der Wirtschaft und das ebenso dramatische Anwachsen Umfrage zeigt die Zweifel der Afghanen. Unter der all- der Auseinandersetzungen zwischen muslimischen Fun- täglichen Erfahrung von Krieg, Gewalt, Korruption und damentalisten in den Grenzgebieten zu Afghanistan. Da- Armut ist auch das anfangs große Vertrauen in USA und hinter tritt der immer noch ungelöste Streit mit Indien NATO in Resignation umgeschlagen. Das ist das Ergeb- um Kaschmir zurzeit in den Hintergrund – er kann jeder- nis einer großen repräsentativen Umfrage, die das zeit zu neuer gefährlicher Gewalt eskalieren. Pakistan, Afghan Institute for Social and Public Opinion Research von den USA als wichtigster Verbündeter gegen den in- im Auftrag von ARD, ABC und BBC durchgeführt hat. ternationalen Terrorismus finanziert und hochgerüstet, Es ist zu befürchten, dass sich die Lage im Laufe des ist selbst schon lange zur Quelle des Terrorismus gewor- Jahres noch einmal verschlimmert, wenn nicht entschie- den. den gegengesteuert wird. Es ist klar, dass nicht nur die USA ein vitales Inte- Der Präsidentschaftswahlkampf macht 2009 zu einem resse daran haben müssen, dass dieser instabile Staat Entscheidungsjahr für Afghanistan. Die neue US-Admi- nicht noch weiter zerfällt und sich durch einen erneuten nistration hat auf die veränderten Vorzeichen bereits re- Militärputsch radikalisiert. Denn dieser Prozess bleibt agiert und ein deutlich verstärktes Engagement in nicht auf Pakistan begrenzt. Der Souveränitätszerfall Pa- Afghanistan angekündigt. Nun ist auch die Bundesregie- kistans würde auch die Desintegration Afghanistans be- rung gefordert, ihre Afghanistanpolitik zu verstärken, schleunigen und die Gewalt in der Region würde enorm damit 2009 zu einem erfolgreichen Jahr für das Land eskalieren. Die Folge wäre die zwangsläufige Auswei- und für die Region wird. tung der Interventionen auf weitere Provinzen Pakistans, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22931

(A) wie sie die USA soeben schon für den Einsatz von Im Nordwesten von Pakistan, im Swat-Tal, bestim- (C) Kampfdrohnen angekündigt haben. men inzwischen Scharia-Gerichte anstatt staatlicher In- stitutionen, was richtig und was falsch ist. In Waziristan Was kann man dagegen tun? Aus den USA kommt erleben wir eine zunehmende Talibanisierung und einen wieder das alte Rezept: 4 bis 5 Milliarden US-Dollar Zerfall der staatlichen Strukturen, keine 200 Kilometer seien unmittelbar notwendig, 1 Milliarde davon für Poli- von Islamabad entfernt. Aber auch in der Hauptstadt zei und Militär. Gerade hatte Pakistan 7,6 Milliarden zeigt sich Erschreckendes. Die erbitterten Kämpfe zwi- US-Dollar vom Internationalen Währungsfonds bekom- schen den beiden verfeindeten Parteien, der Pakistan men. Alle Militärputsche sind mit Milliarden US-Dollar Peoples Party (PPP) und der Muslim Liga, lähmen die für die Rüstung belohnt worden. Eines ist daher sicher: Innenpolitik. Weitere Finanzmittel werden in einem Land mit 170 Millionen Einwohnern, in dem eine schmale Schicht Es ist unglaublich: Bislang haben wir gehofft, Gene- über märchenhaften Reichtum verfügt, die Mehrheit ral Musharraf zugunsten demokratischer Kräfte ein für aber in sozialem Elend lebt, nicht die erhoffte Stabilisie- allemal los zu sein. Jetzt scheint die Situation so verfah- rung bringen. Eine solche Gesellschaft kann man nicht ren, dass ausgerechnet er sich wieder als „Retter in der mit Geld sanieren. Not“ anbieten kann. Ich appelliere an den Präsidenten Man wird dieser Gesellschaft darüber hinaus auch Zardari und an den Oppositionsführer Sharif, ihre alten nicht mehr Sicherheit geben, wenn man weitere Grabenkämpfe endlich ruhen zu lassen und sich zum 17 000 Soldaten in das benachbarte Afghanistan sendet Wohle Pakistans zu einer demokratischen Zusammenar- und gleichzeitig die Kampfzonen auf pakistanischem beit durchzuringen! Territorium ausweitet. Was Afghanistan in sieben Jahren Krieg nicht sicherer gemacht hat, wird auch Pakistan Wenn man der gestrigen Ausgabe der New York Times keine Sicherheit bringen. glauben darf, droht allerdings noch mehr Ungemach. Dort wird von geradezu kontraproduktiven Planungen Viele soziale, ökonomische und politische Maßnah- der US-Administration berichtet. Angeblich will sie die men wären notwendig, um Pakistan die notwendige ge- bisherigen völkerrechtswidrigen Luftschläge in Pakistan sellschaftliche Stabilität zu bringen. Allerdings be- nicht nur fortsetzen, sondern sie sogar auf weitere Ge- schränken sich Instabilität und steigende Gewalt nicht biete des Landes ausweiten. Gegen diese Luftschläge ha- auf Pakistan, sondern haben die ganze Region ergriffen. ben wir uns in zahllosen Anträgen und nicht zuletzt in Deshalb wird Pakistan nicht so schnell aus sich selbst der Aktuellen Stunde ausgesprochen. Eine Ausweitung heraus Stabilität entwickeln – die Probleme sind zu kom- dieser Angriffe würde zu nichts anderem als zu einer plex und eben nicht auf seine Grenzen beschränkt. weiteren Eskalation der Gewalt und einer weiteren (B) Schwächung der staatlichen Institutionen Pakistans füh- (D) Von außen gibt es bestimmt kein Patentrezept. Eine ren. Krise, die nicht auf ein nationales Territorium begrenzt ist, muss mit einem internationalen Konzept bekämpft In dem hier zu beratenden Antrag macht es sich die werden. Es müssen die Staaten zusammengeführt wer- Linke sehr einfach. Sie fordern eine Regionalkonferenz. den, die direkt oder indirekt von dieser Krise gefährdet Ohne Zweifel muss eine solche Konferenz Bestandteil werden. Deshalb erneuern wir noch einmal unseren Vor- des regionalen Lösungsansatzes sein, keine Frage. Aller- schlag einer Konferenz, die die Staaten der Region von dings wurde der Antrag inzwischen von der Realität Iran über Afghanistan bis China und Indien mit Pakistan überholt: Eine Afghanistan-Konferenz findet statt, Ende an einen Tisch holt, um ein gemeinsames, auf wechsel- des Monats in Den Haag. Mit dabei werden viele Ak- seitiger Unterstützung basierendes Sicherheitskonzept teure aus der Region sein, nicht nur Staaten, sondern zu entwickeln. – Übrigens wurde solch eine Konferenz auch Nichtregierungsorganisationen und Hilfsorganisa- jüngst auch in einem Bericht eines US-amerikanischen tionen. Die Zusammensetzung dieser Konferenz zeigt Think Tanks zu Pakistan gefordert. Sicherheit kann nur zumindest eine teilweise Abkehr von der bisherigen Au- mithilfe und der Verpflichtung der Staaten der gesamten ßenpolitik der Bush-Ära durch den US-Präsidenten Region erreicht werden. Und nehmen Sie die neue Ge- Barack Obama und seine Außenministerin Hillary sprächsbereitschaft der US-Administration ernst und sa- Clinton. Die Vereinten Nationen spielen eine wichtigere gen Sie ihr, sie möge die Souveränität Pakistans achten Rolle als bisher. Der Ansatz ist tatsächlich regional und und von der Ausweitung ihrer Kampfeinsätze Abstand richtig, das heißt, man sucht gemeinsam mit den Betei- nehmen – aus politischen und aus rechtlichen Gründen. ligten und deren Nachbarn nach einer Lösung. Und dies hoffentlich unter Beteiligung Irans. Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor einem halben Jahr hatten wir Grüne an dieser Stelle Eine Konferenz alleine wird allerdings nicht ausrei- eine Aktuelle Stunde beantragt mit dem Titel „Pakistan chen, um die zahlreichen und unterschiedlichen Streit- stabilisieren, Völkerrecht beachten“. Damals gab es fragen im Verhältnis zwischen Pakistan und Afghanistan Hoffnung. Es hatte einen demokratischen Machtwechsel sowie zwischen Pakistan und Indien zu lösen. Dazu sind im Land gegeben. Wir alle warben um Unterstützung der langfristiger angelegte regionale Initiativen notwendig, internationalen Gemeinschaft dafür, die Regierung die Vertrauen schaffen. Und es braucht übergreifende Zardari-Gilani handlungsfähig zu machen. Die Hoffnung Überlegungen zu regionalen Entwicklungsstrategien, ist noch da, die Euphorie von damals ist allerdings sehr Versöhnungsinitiativen und eine dauerhafte Sicher- schnell vergangen – vor allem in Pakistan selbst. heitskooperation in der Region. 22932 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Es wäre völlig falsch, Pakistan ausschließlich aus der len musste. Seit dem Jahr 1969 gilt nunmehr das (C) Perspektive der Situation in Afghanistan zu betrachten. sogenannte Tagessatzprinzip. Die Geldstrafe wird nicht Pakistan ist ein selbstständiges Land mit über 160 Mil- mehr in einem Betrag festgesetzt, sondern in Tagen ge- lionen Einwohnern, ein sehr wichtiges Land in der Re- mäß § 40 Abs. 1 des Strafgesetzbuches von fünf Tagen gion und nicht zuletzt eine Atommacht. Sie aber, meine bis 360 Tagen. Nach diesem ersten Zumessungsschritt Damen und Herren von der Linksfraktion, machen wie- folgt der zweite, in dem das tägliche Nettoeinkommen der einmal deutlich, dass Sie in der Außenpolitik kein des zu Verurteilenden ermittelt wird. Dabei sind Unter- Interesse für Details haben. Sie nutzen das Thema vor al- haltsverpflichtungen zu berücksichtigen, aber Belastun- lem, um Ihre populistische Forderung nach dem soforti- gen aus Vermögensbildung nicht und Erträge aus gen und unverantwortlichen Abzug der Bundeswehr aus Vermögen nur eingeschränkt. Das Gericht kann die Ver- Afghanistan zu transportieren. Das ist weder sachge- mögens- und Einkommenslage schätzen (§ 40 Abs. 3 des recht, noch ist es der Ernsthaftigkeit der Situation in Pa- Strafgesetzbuches). Durch den zweiten Zumessungs- kistan angemessen. Wir lehnen Ihren Antrag daher ab. schritt wird sichergestellt, dass Gering- und Besserver- Diese Substanzlosigkeit des Antrags der Linksfration dienende ihren Einkommensverhältnissen angemessen entlässt die Bundesregierung allerdings nicht aus der gleiche Vermögensopfer erbringen müssen. Pflicht, uns endlich zu erklären, welche Strategie sie für Die Höhe eines Tagessatzes beträgt mindestens 1, Pakistan verfolgt. Doch die Koalition ist mittlerweile au- höchstens 5 000 Euro. Bei den höchstmöglich verhäng- genscheinlich in allen Feldern handlungsunfähig. Es baren 360 Tagessätzen ergibt sich daraus eine gesetzli- steht zu befürchten, dass sie auch diese wichtige Frage che Höchstgeldstrafe von 1,8 Millionen Euro, der rech- nicht beantwortet. nerisch ein Monatsnettoeinkommen von 150 000 Euro zugrunde liegt. Nun gibt es aber immer mehr Personen, deren Monatsnettoeinkommen diesen Betrag deutlich Anlage 5 übersteigt. So entsteht eine Belastungsungleichheit zwi- Zu Protokoll gegebene Reden schen Arm und Reich. Während selbst der Sozialhilfe- empfänger von seinem eigentlich pfändungsfreien Ein- zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes kommen zur Geldstrafenzahlung herangezogen werden zur Änderung des Strafgesetzbuches – Anhe- kann, profitiert der Großverdiener von der Deckelung bung der Höchstgrenze des Tagessatzes bei der Tagessatzhöhe auf 5 000 Euro. Dieses Ungleichge- Geldstrafen (Tagesordnungspunkt 17) wicht beseitigt der Gesetzentwurf dadurch, dass die Obergrenze der Tagessatzhöhe nach § 40 Abs. 2 Satz 3 (B) Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ des Strafgesetzbuches von 5 000 auf 30 000 Euro ange- (D) CSU): Wie ein Lindwurm schlängelt sich die Bezeich- hoben wird. Damit kann Belastungsgleichheit bis zu ei- nung des Gesetzes, das wir in erster Lesung beraten, nem monatlichen Nettoeinkommen von 600 000 Euro über zwei Zeilen: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung hergestellt werden. des Strafgesetzbuches – Anhebung der Höchstgrenze des Tagessatzes bei Geldstrafen. Zwei Zeilen, die auf den Dieses Gesetz wird zu nicht unerheblichen Mehrein- Punkt gebracht bedeuten: mehr Belastungsgleichheit bei nahmen bei den Ländern führen. Die Höhe der Mehrein- Geldstrafen. Eine Geldstrafe, die ein Strafgericht fest- nahmen lässt sich nicht einmal grob schätzen. Führt aber setzt, ist nur dann gerecht, wenn sie bei gleicher Tat den die Gesetzesänderung in Deutschland auch nur in fünf „kleinen Mann“ nicht stärker belastet als den gut Situier- Fällen zu einer fiktiven Verurteilung von 180 Tagessät- ten. zen á 30 000, Euro ergibt sich daraus eine Mehrein- nahme von 27 Millionen Euro. Damit lässt sich eine von Das geltende Recht nimmt bei der Verhängung von den Ländern nachhaltig abgewiesene Forderung der Op- Geldstrafen ohnehin schon Ungleichgewichtigkeiten in ferschutzorganisation Weißer Ring umsetzen, dass näm- Kauf. Wird ein Familienvater zu einer Geldstrafe verur- lich auf der Grundlage von Art. 13 Abs. 1 des EU-Rah- teilt, wird der unschuldige Rest der Familie mitbelastet. menbeschlusses vom 15. März 2001 10 Prozent der Außerdem besteht die Möglichkeit, das Strafübel der Geldstrafen Opferschutzzwecken zugeführt werden soll- Geldstrafe straflos auf Dritte abzuwälzen. Wer eine frei- ten. Das wäre nicht nur vor dem Hintergrund des am giebige, vermögende Tante hat, spürt die Last einer 22. März jedes Jahres anstehenden Tages des Kriminali- Geldstrafe nicht. Außerdem wird das Vermögen privile- tätsopfers eine nicht nur noble Geste. Finanzierbar wäre giert. Es darf bei der Bemessung der Geldstrafe nur ein- aber auch die von Kollegen Danckert und mir in unseren geschränkt herangezogen werden (Bay NJW87, 2029). Reden im Deutschen Bundestag vom 12. Februar 2009 Eine Ungleichgewichtigkeit besteht aber auch in der erhobene Forderung, einem in U-Haft genommenen Be- Privilegierung von Straftätern mit außergewöhnlich ho- schuldigten ab dem Zeitpunkt seiner polizeilichen Fest- hem Einkommen, sofern sie zu einer Geldstrafe verurteilt nahme (und nicht wie nach bestehendem Recht des werden. Das bei der Geldstrafenbildung zu berücksichti- § 140 Abs. 1 Ziff. 5 StPO erst nach dreimonatiger Unter- gende Tagesnettoeinkommen ist nämlich bei 5 000 Euro suchungshaft) einen Pflichtverteidiger beizuordnen. gedeckelt. Bis zum 2. StrRG vom 4. Juli 1969 wurde Dies sind zwei rechtspolitische Forderungen, denen mei- eine Geldstrafe als sogenannte Geldsummenstrafe aus- nes Erachtens der Vorrang vor fiskalischen Interessen geworfen. Die Bürger verstanden nicht, warum bei glei- der Länder eingeräumt werden muss. Darauf sollten wir cher Tat ein Verurteilter 500, der andere 5 000 DM zah- in der Ausschussberatung unser Augenmerk lenken. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22933

(A) Dr. Peter Danckert (SPD): Wir beraten heute Abend grenzen liegen bei 1,8 bzw. 3,6 Millionen Euro. Dank (C) in zweiter und dritter Lesung den „Gesetzentwurf der der Neuregelung geht es auch Besserverdienenden an Bundesregierung zur Anhebung des Tagessatzes bei den Kragen. Und das ist auch gut so! Geldstraftaten“. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Obergrenze eines Tagessatzes bei Geldstrafen An dem Grundsatz, dass die schuldangemessene von bisher 5 000 Euro auf maximal 20 000 Euro angeho- Strafe nach der Anzahl der Tagessätze zu bemessen ist ben werden. Im Zuge der parlamentarischen Beratungen und nicht nach deren Höhe, ändert der vorliegende Ge- haben wir die Obergrenze sogar noch auf 30 000 Euro setzentwurf nichts. Was sich ändert, ist, dass jetzt auch erhöht. Damit stellen wir sicher, dass es auch in Zukunft ein Generaldirektor mit einem Jahresnettoeinkommen kein Gerechtigkeitsdefizit im Bereich der Geldstrafen von mehreren Millionen Euro, der Steuern in größerem gibt. Umfang hinterzogen hat, eine Geldstrafe zu zahlen hat, die auch ihn – jedenfalls im Ansatz – schmerzhaft trifft. Das Tagessatzsystem basiert auf dem Gedanken der Damit schaffen wir mehr Gerechtigkeit. Belastungsgleichheit und damit dem Grundsatz der ma- teriellen Gerechtigkeit. Die Anzahl der Tagessätze spie- Gestatten Sie mir zum Abschluss noch folgende Be- gelt den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat wider. Bei merkung. Die Financial Times titelte gestern „Fall einer Einzeltat kann das Gericht maximal 360 und meh- Zumwinkel schreckt ab“. Die Steuerskandale des ver- reren Taten maximal 720 Tagessätze verhängen. Die gangenen Jahres haben bei den Deutschen zu einer leicht Höhe des Tagessatzes soll die Belastungsgleichheit si- verbesserten Steuermoral geführt: Mittlerweile 57 Pro- cherstellen und bemisst sich an den wirtschaftlichen Ver- zent der Bevölkerung sagen, sie würden „auf keinen Fall hältnissen des Täters. Ein Tagessatz entspricht daher in Steuern hinterziehen“. Vor allem die Angst vor Entde- der Regel dem Nettoeinkommen, das dem Täter durch- ckung und Strafe schrecke ab. Das ist doch mal eine schnittlich an einem Tag zur Verfügung steht. Meldung, die die Gerichte, die Staatskasse und nicht zu- letzt uns Rechtspolitiker freuen dürfte. Was ist der Hintergrund für diese in meinen Augen notwendige Initiative von Bundesjustizministerin Bri- Jörg van Essen (FDP): Mich wundert, dass wir gitte Zypries zur Anhebung der Höchstgrenze eines Ta- heute über ein Gesetz eine Debatte führen müssen, bei gessatzes bei Geldstrafen? Im Kern geht es darum, Täter dem wir in den Beratungen Einigkeit hatten. Mehr noch: mit sehr hohen Einkünften bei der Bemessung der Geld- Die in der letzten Sitzungswoche vom Bundesjustiz- strafe angemessen erfassen zu können. Seit 1975 ist das ministerium vorgelegte Formulierungshilfe passierte den sogenannte Tagessatzsystem, mit dem die Höhe einer Rechtsausschuss ohne Debatte. Alle Fraktionen haben Geldstrafe festgelegt wird, nicht verändert worden. Vor zugestimmt – nur Die Linke hat sich enthalten. Wieso dem Hintergrund der Einkommensentwicklung in den (B) nun die heutige Debatte? Ist es nicht so, dass wir sehr (D) letzten gut 30 Jahren ist die Höchstgrenze des Tagessat- viel dringendere Dinge haben als die – in der Tat überfäl- zes von 5 000 Euro nicht mehr zeitgemäß und angemes- lige – Angleichung von Geldstrafen an die heutige Le- sen. Während 1975 ein Tagesnettoeinkommen oberhalb benswirklichkeit? dieser Grenze (damals 10 000 DM) die große Ausnahme darstellte, mehren sich heute die Fälle, in denen das Ein- Selbstverständlich – daran möchte ich hier keinen kommen des Täters dieses Höchstmaß überschreitet – Zweifel lassen – sieht auch die FDP-Bundestagsfraktion und zwar deutlich. Spitzenverdiener mit einem Jahres- die Notwendigkeit einer Anpassung der Höchstgrenze nettoeinkommen von 6 Millionen Euro trifft somit die für Geldstrafen. Der Tagessatz liegt derzeit bei höchs- Geldstrafe weniger hart als einen Geringverdiener. Das tens 5 000 Euro. Diese Höchstsumme ist seit Jahrzehn- ist nicht gerecht! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf ten gleich geblieben. Die 1975 eingeführte Regelung ist schaffen wir die Voraussetzung, dass die Geldstrafe je- im Lichte der Lebenswirklichkeit im Jahr 2009 damit in den Täter mit gleicher Wirkung trifft. Wir wollen, dass der Tat ungerecht. Dabei soll das in § 40 StGB normierte die Strafe den unterschiedlichen wirtschaftlichen Ver- zweiaktige System der Festlegung der Zahl der verwirk- hältnissen der Täter angepasst wird. Es ist in meinen Au- ten Tagessätze und ihrer Höhe gerade sicherstellen, dass gen nur gerecht, wenn dem einkommensstarken Täter die Geldstrafe nicht nur dem Unrechts- und Schuldgehalt grundsätzlich ein vergleichbares finanzielles Opfer ab- der Tat entspricht, sondern diese Strafe jeden Täter unge- verlangt wird wie dem einkommensschwachen Täter. achtet seiner finanziellen Leistungskraft grundsätzlich mit gleicher Wirkung trifft. Es ist daher nur recht und Aufgrund von verfassungsrechtlichen Bedenken ha- billig, einem Täter mit einem hohen Nettoeinkommen ben wir davon abgesehen, die Obergrenze für einen Ta- ein vergleichbares finanzielles Opfer abzuverlangen wie gessatz ganz aufzuheben. Im Rahmen der parlamentari- einem einkommensschwachen Täter. Die Anhebung der schen Beratungen haben wir allerdings die derzeitige strafrechtlichen Tageshöchstsätze ist somit folgerichtig. Obergrenze von 5 000 Euro nicht nur wie im Regie- Damit wird der Entwicklung der vergangenen Jahre rungsentwurf vorgesehen auf 20 000 Euro, sondern auf Rechnung getragen, dass die Menschen heute über ein 30 000 Euro erhöht. Durch eine Anhebung der Höchst- weitaus höheres Nettoeinkommen verfügen, als dies grenze auf ein Tagesnettoeinkommen von 30 000 Euro noch in den 70er-Jahren der Fall war. werden auch Täter der höchsten Einkommensgruppe an- gemessen erfasst. Zukünftig kann als höchste mögliche Ich verhehle nicht, dass ich im Lichte des zuvor Ge- Geldstrafe ein Betrag in Höhe von 10,8 Millionen Euro sagten auch Sympathien für den Ansatz des Bundesrates bei einer Einzeltat und von 21,6 Millionen Euro bei und auch des DAV hatte, die Obergrenze vollkommen mehreren Taten verhängt werden; die bisherigen Höchst- aufzuheben. Dies hätte den Vorteil, dass eine erneute 22934 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Anpassung des § 40 StGB künftig nicht mehr notwendig schlagen wird. Es ist heute leichter, bis in den Bereich (C) werden würde. Auch würden mit der vollständigen Auf- der mittleren Kriminalität ungeschoren mit einer Verfah- hebung der Obergrenze alle Straftäter – auch mit extrem renseinstellung wegen Geringfügigkeit ohne Geldauf- hohen Einkommen – nach ihrer vollen Leistungsfähig- lage davonzukommen als nach einem völlig belanglosen keit belastet werden. Die FDP-Bundestagsfraktion kleinen Verstoß im Straßenverkehr. Auch da wird die nimmt aber den Hinweis der Bundesregierung auf Gerechtigkeit auf den Kopf gestellt. Es wird Zeit, dass Art. 103 Abs. 2 GG – Bestimmtheitsgrundsatz – sehr wir den Abschnitt Rechtsfolgen der Tat im Strafgesetz- ernst. Es wäre nichts erreicht, wenn wir hier eine Rege- buch und im Ordnungswidrigkeitenrecht noch einmal lung schaffen würden, die Gefahr liefe, mit dem Grund- genauer unter die Lupe nehmen. Hier besteht Hand- gesetz unvereinbar zu sein. Der Rechtsprechung des lungsbedarf. Bundesverfassungsgerichts ist unbedingt Rechnung zu tragen. Ulrich Maurer (DIE LINKE): Mit dem vorliegenden Der von dem Bundesjustizministerium vorgelegte Gesetzentwurf der Bundesregierung sollte das Höchstmaß Kompromissvorschlag ist ein guter und gangbarer Weg. für einen Tagessatz bei einer Geldstrafe von 5 000 Euro Mit der jetzt gefundenen Regelung steigt der mögliche auf 20 000 Euro angehoben werden. Die Beschlussemp- Höchstbetrag einer Geldstrafe auf 10,8 Millionen Euro fehlung des Rechtssauschusses sieht nunmehr eine An- bei einer Einzeltat und auf 21,6 Millionen Euro bei Tat- hebung auf 30 000 Euro vor. Wir werden uns enthalten, mehrheit. Das sind keine Peanuts! weil nicht einsichtig ist, warum es überhaupt eine Ober- grenze gibt und weiter geben soll. Richtig wäre deren er- Ich möchte die Gelegenheit aber nutzen, auf die in der satzlose Streichung gewesen. letzten Woche von dem Deutschen Institut für Wirt- schaftsforschung, DIW, vorgestellte Studie zu 40 Jahren Die Höhe eines Tagessatzes orientiert sich an den per- Strafrechtsreform zu sprechen kommen. Diese zeigt zum sönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters. einen die weiter zunehmende Bedeutung von Geldstra- Dabei soll das Gericht in der Regel das durchschnittliche fen. Sie zeigt damit, dass dieses Gesetzgebungsverfahren Nettoeinkommen, das der Täter an einem Tag hat oder in der Praxis Bedeutung hat. Zum anderen kommt die haben könnte, zugrunde legen. Dies zielt auf die Herstel- Studie aber in meinen Augen zu einem sehr alarmieren- lung von Opfergerechtigkeit bzw. -gleichheit. Der „Rei- den Befund: Die Autoren der Studie kamen so unter an- che“ soll durch die Strafe möglichst gleich hart getroffen derem zu dem klaren Schluss, dass es auf Täter negativ werden wie der „Arme.“ Dieses Ziel – das hat die Bun- wirke, dass zunehmend Verfahren eingestellt werden. desregierung zutreffend erkannt – ist mit einem Höchst- Das Problem ist: Seit der Strafrechtsreform 1969 hat die betrag von 5 000 Euro nicht zu erreichen. Man braucht (B) Zahl der Verfahrenseinstellungen massiv zugenommen. sich lediglich die absurden Auswüchse bei der Manager- (D) Vor diesem Ergebnis dürfen wir die Augen nicht ver- vergütung in Erinnerung zu rufen. Es gibt Menschen, die schließen! Die Überschrift „Verbrechen lohnt sich zu deutlich mehr als 5 000 Euro pro Tag verdienen. oft“ einer Tageszeitung zu der Studie hat mich sehr be- unruhigt. Es gibt aber (leider) auch Menschen, die mehr als 30 000 Euro pro Tag verdienen, besser gesagt: bekom- Abschreckend wirken nach Erkenntnissen der Studie vor allem hohe Aufklärungs- und Verurteilungsraten. men. Dass diese Menschen nicht nach ihrer tatsächlichen Daher ist es essenziell, dass wir bei den Ermittlungsbe- Leistungsfähigkeit belangt werden sollen, ist grob unge- hörden nicht den Rotstift ansetzen. Dass dabei gar nicht recht. Die materiell Privilegiertesten in dieser Gesell- so sehr die Härte des Urteils die Kriminalitätsentwick- schaft werden durch die künstliche Deckelung der lung beeinflusst – das sage ich ganz bewusst in Richtung Höchstgrenze nochmals begünstigt. Dabei wird der der Vertreter der Unionsfraktionen –, habe ich übrigens „Reiche“ die Geldstrafe ohnehin stets leichter verkraften mit großem Interesse gelesen. Dieses werden wir bei als der „Arme“, weil er über Möglichkeiten verfügt, die manch kommender Diskussion über Strafrahmenver- der „Arme“ nicht hat. Er hat Rücklagen und Ersparnisse, schärfungen im Hinterkopf haben müssen. Vielmehr einsetzbares sonstiges Vermögen, Sicherheiten für eine kommt die Studie zu dem klaren Ergebnis, dass Strafver- Kreditaufnahme und so weiter. Warum also die unan- urteilung dann wirkt, wenn auf die Straftat die Strafe auf ständig Reichen durch eine Obergrenze zusätzlich privi- dem Fuße folgt. Eine Feststellung, die ich auch aufgrund legieren? Für unsere Fraktion sind keine überzeugenden meiner Erfahrung als früherer Oberstaatsanwalt nur un- Gründe erkennbar. eingeschränkt bestätigen kann. Hoher Verfolgungsdruck Die von der Bundesregierung vorgebrachten verfas- wirkt besser als hohe Strafrahmen. Wichtig ist gerade bei sungsrechtlichen Scheinargumente wurden vom Bundesrat jungen Menschen, dass die Strafe auf dem Fuße folgt. in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf aus zutreffen- Umso schlimmer ist es, wenn bei leichten und mittle- den Gründen zurückgewiesen. Die in Bezug genommene ren Delikten laut der Studie immer mehr Verfahren ein- Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Vermögens- gestellt werden. Die hohen Zahlen der Verfahrenseinstel- strafe lässt sich auf den hier interessierenden Bereich lungen sehe ich mit großer Sorge. Vorschnelle nicht übertragen. Die Haltung der Bundesregierung wäre Verfahrenseinstellungen sind das falsche Signal an die nur verständlich, wenn sie annähme, dass Menschen mit Täter und ein Schlag ins Gesicht für die Opfer. Dies gilt einem Tageseinkommen von über 30 000 per se nicht umso mehr, als im Bereich der „kleinen Sünden“, also kriminell werden oder sich jedenfalls der Strafverfol- im Ordnungswidrigkeitenrecht, unbarmherzig zuge- gung erfolgreich entziehen können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22935

(A) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eine Ob diese Spitzengehälter auch verdient sind, will ich in (C) von einem Strafgericht verhängte Freiheitsstrafe trifft je- dieser Debatte nicht bewerten. den Straftäter gleich. Ein Jahr Freiheitsentzug belastet jeden gleich, zumindest dem Grundsatz nach; denn Frei- Eine Anhebung der Höchstsätze ist wichtig und rich- heit und Lebenszeit sind grundsätzlich gleich viel wert. tig. Die Höchstgrenze von 30 000 Euro reicht aus, um Bei einer Geldstrafe ist dies völlig anders. 1 000 Euro selbst sehr hohe Einkommen abzudecken und eine ge- Geldstrafe sind für einen Armen sehr viel und für einen rechte Strafe zu verhängen. Wir werden diesem Gesetz Reichen sehr wenig. Deshalb haben wir in Deutschland deshalb zustimmen. ein zweistufiges Geldstrafensystem. Zuerst wird die Geldstrafe einem Freiheitsentzug angenähert und erst in Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- einer zweiten Stufe in Geld umgerechnet. In der ersten desministerin der Justiz: Mit dem Ihnen heute vorliegen- Stufe entscheidet das Gericht über die schuldangemes- den Gesetzentwurf wollen wir die Höchstgrenze des Ta- sene Strafe von – in diesem Fall – 100 Tagen bzw. Ta- gessatzes bei Geldstrafen von 5 000 auf 30 000 Euro gessätzen. Danach wird das Tagesnettoeinkommen er- anheben. Hierbei handelt es sich nur scheinbar um eine mittelt und mit der Anzahl der Tage multipliziert. Im eher unbedeutende Änderung in unserem Sanktionensys- Ergebnis ist ein Jahr Freiheitsstrafe immer ein Jahr Frei- tem. Tatsächlich bedeutet diese Änderung: wieder mehr heitsstrafe, aber 1 000 Euro Geldstrafe für einen können Gerechtigkeit bei der Verhängung von Geldstrafen und sehr wohl das Gleiche sein wie 15 000 Euro für einen damit mehr Gerechtigkeit bei der Anwendung unseres anderen. Strafrechts. Ich freue mich daher, dass der Entwurf bei den Beratungen im Rechtsausschuss eine breite und über Das geltende Recht kennt eine Höchstgrenze der Ta- die Koalitionsgrenzen hinausgehende Zustimmung er- gessätze von 360 und eine Höchstgrenze eines einzelnen fahren hat. Tagessatzes, also ein höchstes zu berücksichtigendes Ta- gesnettoeinkommen von 5 000 Euro. Diese Regelung Was ist nun der Hintergrund der Anhebung des soge- bevorzugt alle Straftäter, die mehr als 5 000 Euro täglich nannten Tagessatzes? Wir wollen mit der Anhebung der netto einnehmen. Dies war vor Jahren ein Randproblem, Höchstgrenze des Tagessatzes auch Täter mit sehr hohen ist es aber heute nicht mehr. Deshalb begrüßen wir Grü- Einkünften bei der Bemessung der Geldstrafe wieder an- nen den Gesetzentwurf, mit dem die Höchstgrenze des gemessen erfassen können. Es handelt sich hierbei um Tagesnettoneinkommens auf 30 000 Euro angehoben ein Vorhaben, das wir unter anderem vor dem Hinter- wird. grund des „Mannesmann-Verfahrens“ und der „Liech- tenstein-Affäre“ angestoßen haben. Sollte sich aber he- Auf eine völlige Aufhebung der Obergrenze des rausstellen, dass strafrechtlich relevantes Fehlverhalten (B) Höchstsatzes hat die Bundesregierung verzichtet, um von Spitzenmanagern mitursächlich war für die aktuelle (D) eventuellen Zweifeln an dem Bestimmtheitsgrundsatz Finanz- und Wirtschaftskrise, wäre dies ein weiterer Be- im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG und der diesbezügli- leg dafür, dass die vorgeschlagene Änderung notwendig chen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist, um künftige Vorkommnisse dieser Art – Strafver- Rechnung zu tragen, obwohl sie selbst von diesen Zwei- schärfungen können natürlich immer nur für die Zukunft feln nicht sehr überzeugt ist. wirken – noch angemessener ahnden zu können. Das sehen der Deutsche Richterbund und der Deut- Dabei möchte ich allerdings gleich zu Beginn ein sche Anwaltsverein anders. Sie meinen, dass eine zif- mögliches Missverständnis ausräumen: Selbstverständ- fernmäßige Begrenzung der Tagessatzhöhe nicht erfor- lich ändert der Entwurf nichts an der geltenden Rechts- derlich sei und auch vom Bundesverfassungsgericht lage, wonach bei besonders schweren Taten eine Frei- nicht gefordert werde. Zur Vorhersehbarkeit der Strafe heitsstrafe zu verhängen ist. Es geht also nicht etwa reiche es aus, wenn die Tagessatzanzahl durch das Ge- darum, dass sich reiche Täter von einer an sich gebote- setz bestimmt bleibe. Der DAV sieht bei Beibehaltung nen Freiheitsstrafe „freikaufen“ können. Mit dem Vor- der Obergrenze sogar die Gefahr, dass auf unbeschränkte schlag stellen wir vielmehr sicher, dass in den Fällen, in Geldauflagen ausgewichen wird und damit wieder mehr denen das Gericht eine Geldstrafe für angemessen und kurze Freiheitsstrafen verhängt werden. ausreichend hält, es auch in Zukunft kein Gerechtig- keitsdefizit hinsichtlich der konkreten Höhe dieser Strafe Verlassen wir doch einmal die intellektuell hochinteres- gibt. sante Verfassungsdebatte und mühen uns hinab in die Re- alität der Praxis. Bei einer Tagessatzhöhe von 30 000 Euro Zum Verständnis der Änderung möchte ich kurz das sprechen wir von einem monatlichen Nettogehalt von im deutschen Strafrecht seit langem geltende sogenannte 900 000 Euro. Das entspricht einem Jahreseinkommen Tagessatzsystem erläutern: Eine gerechte Geldstrafe hat von 10 800 000 Euro netto. Dieses Einkommen hat weder nicht nur dem Schuldgehalt der Tat zu entsprechen, sie ein Josef Ackermann mit einer Jahresvergütung von brutto soll auch jeden Täter gleich schwer treffen. Deshalb 13,2 Millionen Euro noch ein Klaus Zumwinkel mit einem muss der einkommensstarke Täter für dieselbe Tat eine Einkommen von gut 4 Millionen Euro brutto. Selbst an- insgesamt höhere Geldstrafe zahlen als der einkommens- dere Spitzenmanager mit einem Jahresnettoeinkommen schwache. Daher bemisst das Gericht bei der Bestim- von 6 Millionen Euro bleiben mit einem Tagessatz von mung der Geldstrafe die Zahl der Tagessätze am 16 667 Euro weit unter der Höchstgrenze im Gesetzent- Unrechts- und Schuldgehalt der Tat; die Höhe des Tages- wurf; nicht zu vergessen, dass wir hier von Gehältern satzes legt es hingegen unter Berücksichtigung der wirt- sprechen, die 0,001 Prozent der Bevölkerung erhalten. schaftlichen Verhältnisse des Täters fest. Dabei geht es 22936 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) in der Regel von dem Nettoeinkommen aus, das der Tä- der Gesetzgeber dem Strafrichter bei der Strafzumes- (C) ter durchschnittlich an einem Tag erzielt oder erzielen sung grundsätzlich eine „fallunabhängige abstrakte Be- könnte. lastungsobergrenze“ vorgeben müsse. Konkret zu § 43 a StGB hat das Bundesverfassungsgericht seinerzeit mo- Belastungsgleichheit und damit materielle Gerechtig- niert, dass dieser auf einen „seinem Betrag nach von keit können wir hier nur erreichen, solange nicht das täg- vornherein festgelegten Strafrahmen“ verzichte. Zwar liche Nettoeinkommen des Täters die Obergrenze eines sprechen gute Gründe dafür, dass trotz dieser Vorgaben Tagessatzes – womöglich deutlich – übersteigt. Ein Spit- auch eine völlige Aufhebung der Obergrenze keinen zenverdiener mit einem Jahresnettoeinkommen von über Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot darstellen würde. 3 Millionen Euro und damit einem Tagesnettoeinkom- Denn die vom Bestimmtheitsgrundsatz geforderte Fest- men von fast 9 000 Euro kann den derzeitigen Höchst- legung der Grenzen der Rechtsfolgen wird bei der Geld- satz von 5 000 Euro in der Regel zwar auch nicht aus der strafe in erster Linie durch die Vorgabe eines festen berühmten „Portokasse“ bezahlen. Diese Sanktion ist für Rahmens für die Zahl der Tagessätze erfüllt. Dennoch ihn aber nicht mehr vergleichbar spürbar wie für einen wollten wir hier kein Risiko eingehen, zumal die jetzt durchschnittlich verdienenden Täter, dessen Tagesnetto- vorgesehene deutliche Erhöhung – ich hoffe, dies haben einkommen von, sagen wir, 100 Euro durch einen ent- meine Ausführungen verdeutlicht – auch bei Tätern mit sprechenden Tagessatz von 100 Euro voll aufgezehrt sehr hohen Einkommen in Zukunft wieder eine weitest- wird. gehend belastungsgleiche Bestrafung ermöglichen wird. Die Erhebungen des Statistischen Bundesamts bele- gen nun – zusätzlich zu den eingangs erwähnten Ein- zelfällen –, dass die seit 1975 im Kern unveränderte Anlage 6 Tagessatzobergrenze von 5 000 Euro – 1975 waren es Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: 10 000 DM – der heutigen Entwicklung von Spitzenein- kommen nicht mehr gerecht wird. Danach kann man – Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des selbst bei zurückhaltender Bewertung davon ausgehen, Einlagensicherungs- und Anlegerentschädi- dass sich die Zahl der Personen, die über ein tägliches gungsgesetzes und anderer Gesetze Nettoeinkommen von mehr als 5000 Euro verfügen, in – Antrag: Reform der Anlegerentschädigung den letzten dreißig Jahren mindestens verachtfacht hat. in Deutschland Während 1974 nur das Einkommen von 88 Steuerpflich- tigen klar über dieser Grenze lag, waren dies in den letz- – Beschlussempfehlung und Bericht: Verbrau- ten Jahren deutlich mehr als 700 Personen. Natürlich cherschutz auf den Finanzmärkten stärken (B) wird es trotz dieses Anstiegs auch in Zukunft nur wenige (Tagesordnungspunkt 19 a bis c) (D) Einzelfälle geben, in denen wir es mit Straftätern in die- ser extremen Einkommensklasse zu tun haben. Ich halte es aber für wichtig, dass unser Strafrecht gerade auch bei Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU): Den uns diesen wenigen, zumeist sehr publikumswirksamen Ein- vorliegenden Gesetzesentwurf möchte ich in zwei zelfällen verdeutlicht, dass es besonders einkommens- Abschnitte unterteilen: Der erste Teil ist die Umsetzung starke Täter keinesfalls privilegiert, sondern auch hier einer EU-Richtlinie vom Dezember 2008. Mit ihr soll- eine angemessen hohe Strafe ermöglicht. ten, vor dem Hintergrund der Finanzkrise, Anleger von Sparguthaben und anderer Einlagen besser abgesichert Die vorgesehene Versechsfachung der Tagessatzober- werden. Ein wichtiger Schritt dazu ist die Aufstockung der grenze von 5 000 auf 30 000 Euro wird dies gewährleis- gesetzlichen Mindestdeckung für diese Einlagen. Sie soll ten. Sie wird im Ergebnis dazu führen, dass als höchste ab dem 30. Juni 2009 50 000 Euro statt zuvor 20 000 Euro mögliche Geldstrafe zukünftig ein Betrag von 10,8 Mil- betragen. Die bisherige 10-prozentige Selbstbeteiligung lionen Euro bei einer Einzeltat und von 21,6 Millionen fällt komplett weg. Des Weiteren prüft die EU eine wei- Euro bei mehreren Taten verhängt werden kann. Nur als tere Erhöhung der Mindestabdeckung auf 100 000 Euro. Vergleich, ohne dass ich damit natürlich diese Berufs- gruppe unter den Verdacht stellen will, eine potenzielle Eine zusätzliche Maßnahme wird sein, dass die Aus- Tätergruppe zu sein: Nach einer aktuellen Studie des zahlungsfristen an Sparer im Entschädigungsfall stark Bundesanzeigers liegt das durchschnittliche Bruttoein- verkürzt werden sollen, von zuvor drei Monaten auf nun kommen eines Vorstandsvorsitzenden eines DAX-Unter- 20 Werktage, in besonderen Fällen höchstens 30 Werk- nehmens doch deutlich darunter, nämlich bei etwa tage. 5 Millionen Euro, inklusive Boni, was bei steuerlichen Dieser Teil des Entwurfes entspricht größtenteils der Abzügen von etwa der Hälfte circa 2,5 Millionen Euro EU-Richtlinie und ist also entsprechend umzusetzen. In netto bedeuten dürfte. meinen Augen ist das nicht sehr problematisch, Lassen Sie mich aber trotzdem noch ein paar Anmerkungen Von einer völligen Aufhebung der Obergrenze haben dazu machen. wir hingegen bewusst abgesehen. Wir wollen damit et- waige Zweifel an der hinreichenden Bestimmtheit der Erstens. Ich bin der Meinung, der komplette Wegfall der Neuregelung von vorneherein ausschließen. In seiner uns bekannten Selbstbeteiligung in Höhe von 10 Prozent recht restriktiven Entscheidung zur Vermögensstrafe im Falle einer Entschädigung sollte zumindest diskutiert – BverfG-Urteil vom 20. März 2002 (2 BvR 794/95) – werden. Die Abschaffung lähmt meiner Meinung nach hat das Bundesverfassungsgericht nämlich verlangt, dass die Eigenverantwortung bei der Auswahl der Finanz- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22937

(A) anlage. Es werden beim Kauf bestimmter Produkte Garan- Drittens. Wie sieht es mit der Nachhaftung für ausge- (C) tieversprechungen suggeriert, die nur die Bereitschaft schiedene Mitglieder aus? Was passiert nach Festsetzung stärken, ein höheres Risiko einzugehen. Eine Entschädi- des Entschädigungsfalls? Dieser Punkt ist weiter unklar. gungseinrichtung werde im Notfall ja schon einspringen. Ich sehe hier eine ganz problematische Denkweise! Die Die nächsten Gespräche werden zeigen, wie wir in Pleite des Wertpapierhandelsunternehmens Phoenix ist Deutschland die Einlagensicherung und Anlegerentschä- dafür das beste Beispiel. Auch hier wurden Anleger mit digung noch besser reformieren können. unseriösen Garantieversprechungen gelockt und betro- gen. Jörg-Otto Spiller (SPD): Der große Themenkom- plex „Lehren aus der Finanzmarktkrise“, also etwas pau- Zweitens. Die Verkürzung der Frist, in der eine Insol- schal gesagt: die Frage nach dem international zu verab- venz durch die Behörden festgestellt wird, soll sich auf redenden und national umzusetzenden Regelwerk, das fünf Tage reduzieren. Das finde ich schon sehr knapp. Das zur Wiederherstellung von Stabilität und Vertrauen ge- gilt auch für die Auszahlungsfrist von maximal 30 Tagen. eignet ist, wird den Bundestag in den nächsten Monaten Es ist zu prüfen, ob ein geordnetes Entschädigungsver- und vermutlich über die Wahlperiode hinaus noch aus- fahren mit dieser kurzen Frist überhaupt möglich ist. giebig beschäftigen. Bei dem Teilaspekt des Sparer- und Einlagenschutzes, um den es im vorliegenden Gesetzent- Lassen Sie mich nun zum zweiten Teil des Entwurfes wurf geht, ist der Entscheidungs- und Handlungsbedarf kommen, zur Reform der Entschädigungseinrichtungen erfreulicherweise weitaus geringer. Denn die Kunden- in der deutschen Finanzwirtschaft. In meinen Augen einlagen bei deutschen Kreditinstituten sind seit langem sollte dieser Teil von der doch relativ unproblematischen so gut abgesichert wie kaum irgendwo sonst auf der Umsetzung der EU-Richtlinie getrennt und in einem ei- Welt. Bei nahezu allen deutschen Kreditinstituten geht genen Gesetz verabschiedet werden. Warum? die Einlagensicherung auch wesentlich über das Maß hi- Ich sehe hier noch einigen Diskussionsbedarf, denn das naus, das Gesetz und EU-Richtlinie als Mindestabsiche- Thema Anlegerentschädigung ist einfach sehr komplex. rung vorschreiben. Außerdem ist das Problem Phoenix, bei dem Anleger auf Einer unbeschränkten Garantie unterliegen die Kun- betrügerische Weise getäuscht und mit Garantieverspre- denforderungen an Sparkassen und Genossenschaftsban- chungen gelockt wurden, immer noch nicht gelöst. So ken. Denn alle Sparkassen haben sich verpflichtet, falls lange können wir auch nicht eine Anlegerentschädigungs- nötig, füreinander einzustehen und keine Sparkasse in- einrichtung – genauer die Entschädigungseinrichtung für solvent werden zu lassen. In diesen Haftungsverbund Wertpapierhandelsunternehmen, kurz EdW – reformieren. sind übrigens auch die Landesbausparkassen einbezo- (B) Mindestens drei gerichtliche Verfahren sind noch anhän- gen. Ganz ähnlich konzipiert ist die Bestandssicherung (D) gig und die Entschädigungsmodalitäten immer noch der Genossenschaftsbanken. Die meisten – allerdings nicht richtig geklärt. Erst muss dieses Problem gelöst sein, nicht alle – privaten Banken gehören freiwillig dem Ein- dann kann auch die entsprechende Einrichtung reformiert lagensicherungsfonds des Bundesverbandes deutscher werden. Banken an. Auch er bietet ein sehr hohes Maß an Absi- Dieser Teil des Gesetzesentwurfes hat noch einige cherung. Geschützt sind alle Einlagen von sogenannten weitere kritische Punkte: Erstens. Es soll unter anderem Nichtbanken, also von Privatpersonen, Wirtschaftsunter- ein sogenanntes risikoorientiertes Beitragssystem einge- nehmen und öffentlichen Stellen. Zu den gesicherten führt werden, mit dem sich die Entschädigungseinrichtun- Guthaben gehören neben den Sicht-, Spar- und Termin- gen in Zukunft finanzieren sollen. Eine gute Idee, aber einlagen auch auf den Namen lautende Sparbriefe, aller- welche Höhe werden diese Beiträge wohl haben? Gibt es dings keine Inhaberpapiere wie zum Beispiel Inhaber- einen Grundbeitrag plus einen Anteil vom Umsatz? Aber schuldverschreibungen und -zertifikate. was ist mit den kleinen Wertpapierunternehmen? Zu hohe Summenmäßig gibt es formal eine Begrenzung. Pro Beiträge können schnell die Existenz gefährden. Das Kunde werden Einlagen bis zu insgesamt 30 Prozent des könnte kritisch werden. Deshalb sollte uns recht bald ein haftenden Eigenkapitals seiner Bank garantiert. In der Vorschlag für eine geplante Beitragsordnung vorliegen. Praxis heißt das, der Schutz ist summenmäßig so gut wie unbegrenzt. Denn schon die kleinste Bank in Deutsch- Zweitens. Der Entwurf enthält keine Versicherungs- land benötigt, um überhaupt zugelassen zu werden, ein lösung für Vermögensverwalter. Das sind Institutionen, Eigenkapital von 5 Millionen Euro. Selbst bei einem so die im Auftrag Vermögen verwalten und anlegen. Wa- kleinen Institut gilt also ein Schutz von 1,5 Millionen rum keine Versicherungslösung? Nach Aussagen des Euro pro Kunde. Die gesetzlich bisher vorgeschriebene Bundesfinanzministeriums wäre diese nicht konform mit Mindestgarantie von bis zu 20 000 Euro pro Kunde ist EU-Recht. Das ist nach meinen Informationen nicht nach- wesentlich geringer. Für die Kunden der meisten deut- vollziehbar. Eine Zwangsmitgliedschaft für Vermögens- schen Banken wird sich materiell also durch die Neure- verwalter, wie sie die EU-Richtlinie vorsieht, bedeutet gelung nichts ändern. doch nicht, dass diese nicht durch eine Versicherung er- setzt werden könnte. Solch eine Haftpflichtversicherung Vor allem soll mit dem Gesetzentwurf die Änderung ist in den meisten freien Berufen schon längst üblich und der EU-Einlagensicherungsrichtlinie in deutsches Recht vorgeschrieben. Das wäre auch für die Vermögens- umgesetzt werden, auf die sich die EU im Dezember verwalter ein geeignetes Modell. Eine solche Haft- 2008 aufgrund der weltweiten Finanzmarktkrise geeinigt pflichtversicherung muss weiter geprüft werden. hat. Spätestens ab dem 30. Juni 2009 soll die Mindest- 22938 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) deckung für Einlagen auf 50 000 Euro angehoben und derbeiträge endlich von den EdW-Mitgliedern genom- (C) die bisherige Selbstbeteiligung von Anlegern in Höhe men wird. von 10 Prozent abgeschafft werden. Ab dem 31. Dezem- Sie muss auch handeln, damit die betroffenen Anleger ber 2010 ist eine weitere Anhebung auf 100 000 Euro endlich ihr Geld bekommen. Diese Menschen wollten und eine Verkürzung der Auszahlungsfrist auf höchstens auf Nummer sicher gehen und haben sich auf die Aus- 30 Arbeitstage vorgesehen. sage, 20 000 Euro seien gesetzlich geschützt, verlassen. Der Gesetzentwurf zielt auch darauf ab, die Entschädi- Diese Anleger dürfen Sie nicht länger im Regen stehen gungseinrichtungen in Deutschland krisenfester zu ma- lassen. Das Verhalten seitens der Bundesregierung und der chen. Er enthält verbesserte Regelungen zur Früherken- Koalition ist nicht hinnehmbar: Statt einer vernünftigen nung von Risiken und der Schadensprävention. Um die Entschädigung gibt es nur Teilentschädigungen, die wie Gefahr des Eintritts eines Entschädigungsfalls besser im Lotterieverfahren innerhalb von zweieinhalb Jahren einzuschätzen, werden die Entschädigungseinrichtun- ausgezahlt werden sollen. Wer Glück hat, bekommt sein gen verpflichtet, bei den ihnen zugeordneten Instituten Geld jetzt, wer Pech hat, muss warten. Aber das regelmäßig Prüfungen vorzunehmen. Schlimmste ist, dass Sie tatenlos zusehen, wie diese Bür- ger nun Post vom Finanzamt bekommen: Sie sollen ihr verlorenes Geld auch noch versteuern. Das zeigt die Ab- Frank Schäffler (FDP): Vor etwas mehr als einem surdität der Politik dieser Koalition. Jahr haben wir hier den Antrag der FDP-Fraktion „Kon- sequenzen aus dem Entschädigungsfall Phoenix GmbH“ Dr. Axel Troost (DIE LINKE): Die Bundesregierung – Bundestagsdrucksache 16/5786 – diskutiert. Die An- will die gesetzlich gesicherte Mindestsumme für Spar- legerentschädigungsrichtlinie der EU, die Grundlage für einlagen und Wertpapiere erhöhen. Ab dem 30. Juni das deutsche System der Anlegerentschädigung ist, be- 2009 sollen 50 000 Euro pro Person garantiert sein, ab trifft die Verbindlichkeiten aus Wertpapiergeschäften. dem 1. Januar 2011 sogar 100 000 Euro. Bisher lag der Die deutsche Umsetzung im Einlagensicherungs- und gesicherte Betrag bei maximal 20 000 Euro. Anlegerentschädigungsgesetz ist jedoch nicht tragfähig, wie der Fall Phoenix zeigt. Bereits vor einem Jahr war Gewöhnlich mag man denken, wir hätten es mit ei- die Untätigkeit der Koalition in diesem Entschädigungs- nem Fortschritt zu tun. Tatsächlich jedoch ist es nicht der fall mit 30 000 betroffenen Anlegern skandalös. Den- Verbraucherschutz, der dieses Gesetz angestoßen hat. noch wurde unser Antrag von allen Fraktionen abge- Wir laufen sogar Gefahr, als Steuerzahlerinnen und Steu- lehnt. Seitens der Koalition wurde auf ein Gutachten erzahler zur Kasse gebeten zu werden. Um diesen verwiesen, das man abwarten wolle. Sie haben das Gut- Zusammenhang zu verdeutlichen, erzähle ich zunächst (B) achten nicht nur abgewartet, sondern direkt nach der etwas zum Hintergrund des Gesetzes. Anschließend (D) Vorlage des Gutachtens, das umfassenden Reformbedarf komme ich auf die entscheidende Frage, wie zahlungsfä- bei der Anlegerentschädigung nachgewiesen hat, weiter hig die Einlagen- und Wertpapiersicherung ist. Diese gewartet. Frage bekommt umso mehr Gewicht, als wir uns in einer Krise befinden. Was die Bundesregierung für die heutige Beratung Zum Hintergrund des Gesetzes: Die Finanzwelt steckt vorgelegt hat, ist – soweit es die Anlegerentschädigung bereits mitten in der Krise, da verkündet Kanzlerin betrifft – ein reines Mini-Reparaturgesetz. Die Bundes- Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung: „Kein Spa- regierung hat in Person der Entschädigungseinrichtung rer muss um seine Einlagen fürchten. Diese Zusage gilt.“ der Wertpapierhandelsunternehmen, EdW, vor dem Das war am 7. Oktober 2008. Nach diesem Versprechen Verwaltungsgericht Berlin im September 2008 eine kra- frage ich mich, warum wir über ein Gesetz reden, das chende Niederlage erlitten. Die Erhebung der Sonderbei- hinter diese Zusage zurückfällt. Aber es soll nicht meine träge bei den Zwangsmitgliedern der EdW ist rechtswi- Aufgabe sein, die Widersprüche der Regierung zu recht- drig. Darauf reagiert die Bundesregierung nun mit fertigen. Fakt ist: Die Europäische Kommission will nun kleinen Korrekturen im Bereich der Anlegerentschädi- einen Wettlauf um die besten Garantien verhindern und gung. Das Grundproblem, dass die EdW nicht tragfähig deshalb die Mindestsumme europaweit anheben. Das ist, wird dadurch nicht gelöst. Selbst wenn die Erhebung Ziel dabei lautet: Bürgerinnen und Bürger zu beruhigen, der Sonderbeiträge auf dieser Grundlage vor Gericht Be- damit sie ihr Geld bei den Banken lassen. Denn für die stand hätte, wäre die EdW dennoch nicht in der Lage, die Banken wäre es möglicherweise fatal, würden Kundin- Entschädigung im Fall Phoenix zu finanzieren. Wir for- nen und Kunden zuhauf ihre Konten räumen. dern daher eine umfassende Reform der Anlegerentschä- digung. Doch unumgänglich stellt sich hier die folgende Frage: Wie zahlungsfähig ist die Einlagen- und Wertpa- Wir fordern aber auch, dass die Bundesregierung end- piersicherung? Und: Wer zahlt, wenn der Sicherungs- lich ein Konzept vorlegt, wie der Fall Phoenix gelöst fonds erschöpft ist? Alle deutschen Einlagensicherungen werden kann. Die Bundesregierung steht deshalb in der zusammengenommen – gesetzliche wie freiwillige – Verantwortung, weil sie das unzureichende deutsche könnten keinen Einlagenverlust bei der Deutschen Bank Anlegerentschädigungsgesetz und die Schlamperei der auffangen. Weltweit ist kein Einlagensicherungssystem Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, BaFin, in der Lage, Schieflagen bei größeren Geldhäusern zu politisch zu vertreten hat. Sie muss handeln, damit die beheben. Die Fonds sind einzig dazu angelegt, Schwie- Unsicherheit über drohende existenzgefährdende Son- rigkeiten bei kleinen und mittleren Instituten auszuglei- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22939

(A) chen. Wie sollen sie da krisentauglich sein? Der Jahres- arbeitung bedarf. Die politische Erklärung der Bundes- (C) beitrag je Kreditinstitut ist hierzulande nicht mehr als ein regierung einer Garantie für die Spareinlagen der Bürge- symbolischer Obolus: 0,008 Prozent der Verbindlichkei- rinnen und Bürger im Oktober 2008 mochte vorläufige ten gegenüber Kundinnen und Kunden. Bei der Wertpa- Sicherheit suggerieren. Sie ersetzt aber keinesfalls eine piersicherung ist es ähnlich. rechtlich verbindliche Lösung zugunsten der Bürgerin- nen und Bürger. Auch enthält eine solche politische Zu- Symbolisch bleiben auch die im Gesetzentwurf vor- sicherung keinerlei Aussage darüber, auf welchem Wege gesehenen Nachbesserungen zum Fondsvolumen der ge- eine solche Absicherung sinnvoll und über die akute setzlichen Einlagensicherung. Zwar soll der Fonds Son- Notlage hinaus tragfähig installiert werden kann. derbeiträge fordern und Kredite aufnehmen dürfen. Für anfallende Zins- und Tilgungszahlungen können wie- Der nun im Gesetzentwurf vorgeschlagene Weg zur derum Sonderzahlungen erhoben werden. Doch alles zu- Verbesserung des jetzigen Systems der Einlagensiche- sammen darf das Fünffache des Jahresbeitrags nicht rung und Anlegerentschädigung vermag in keiner Weise überschreiten. Mehr sei nicht zumutbar. Der unbe- zu überzeugen. Diese punktuellen Änderungen sind schränkte Rest wird stattdessen den Steuerzahlerinnen Flickschusterei und Garant dafür, dass das System beim und Steuerzahlern zugemutet, wenn verlorene Einlagen nächsten Ausfall eines Institutes aus dem Einlagen- oder eingefordert werden. Geht es um Bürgerinnen und Bür- Wertpapieranlagebereich erneut kollabiert. Leidtra- ger, handelt die Regierung nach dem Motto: Den letzten gende solcher halbherzigen Änderungsvorschläge sind beißen die Hunde. Geht es um die Regulierung von Ban- die Bürgerinnen und Bürger, Investoren und Kommu- ken, handelt sie – trotz blumiger Rhetorik – zahnlos. nen, die bei kommenden Turbulenzen um die Sicherheit ihres Geldes bangen müssen, statt sich auf eine zeitnahe Die Linke hat einen zusätzlichen Sicherungsfonds für Entschädigung verlassen zu können. private Finanzinstitute vorgeschlagen, den diese selbst finanzieren: Die Finanzinstitute könnten sich untereinan- Lassen Sie mich zunächst einige Punkte hinsichtlich der vor Insolvenz schützen und damit automatisch zum der vorgesehenen Änderungen im Bereich der Einlagen- Erhalt der Einlagen beitragen. Alle anderen Parteien ha- sicherung ausführen, bevor ich mich den Vorschlägen ben diesen Antrag als unnötig abgelehnt. Wer allerdings zur Reformierung der EdW zuwende. Dass die De- Stabilität will, kommt nicht umhin, glaubwürdig und ckungssumme von der EU zunächst auf 50 000 Euro konsequent zu regulieren. Er kommt nicht umhin, Ein- hochgesetzt wird und insbesondere der Selbstbehalt der kommen sozial gerecht zu verteilen, statt Vermögensbla- Sparer von 10 Prozent entfällt, ist eine vertrauensbil- sen zu produzieren und zu erhalten. Er kommt nicht um- dende Maßnahme, die wir begrüßen. Auch dass die Aus- hin, die Sozialisierung von Verlusten zu verhindern. Das zahlungsfrist verkürzt wird, sehen wir als positive Stär- (B) wäre wahrer Schutz der Bürgerinnen und Bürger, ob als kung des Verbraucherschutzes auf Finanzmärkten. (D) Verbraucherin oder als Steuerzahler. Fraglich ist jedoch, ob eine schlichte Anhebung der Deckungssumme – ohne die Tragfähigkeit des Systems Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): zu überdenken – eine geeignete Lösung des Problems Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung eines Ge- darstellt. Diese Frage stellt sich insbesondere bei der setzes zur Änderung des Einlagensicherungs- und Anle- weiteren vorgesehenen Anhebung auf 100 000 Euro ab gerentschädigungsgesetzes (EAEG) macht es sich zur dem Jahr 2011. Es mutet fast wie ein Freud’scher Ver- Aufgabe, das deutsche System der Sicherungseinrich- sprecher an, wenn die EU-Richtlinie 2009/14/EG dazu tungen auf eine europarechtskonforme und finanziell in Erwägungsgrund drei ausführt, dass diese Aufsto- tragfähige Grundlage zu stellen. Dazu sollen einerseits ckung davon abhängig gemacht wird, ob eine zu erstel- die aktuellen Vorgaben der europäischen Richtlinie lende Folgenabschätzung zu dem Schluss gelangt, dass 2009/14/EG vom 11. März 2009 zur Änderung der Ein- eine solche Erhöhung für alle Mitgliedstaaten finanziell lagensicherungssysteme im Hinblick auf die Deckungs- tragbar ist. Hier zeigt sich implizit die Annahme, dass summe und Auszahlungsfrist umgesetzt werden. Ande- solche Summen die Tragfähigkeit der Sicherungssys- rerseits sollen neben der Einlagensicherung auch teme überfordern könnten und im Zweifel doch wieder Nachbesserungen am System der Anlegerentschädigung der Staat einzuspringen hat. Wir werden uns hier im par- bei Wertpapierdienstleistungen erfolgen. lamentarischen Verfahren dafür einsetzen, dass konkret Diese Zielvorgaben begrüßen wir außerordentlich. festgelegt wird, wie ein System auszusehen hat, das aus Eine Reform des unübersichtlichen und unpraktikablen eigener Kraft solche Entschädigungssummen bewerk- Systems der deutschen Einlagensicherungs- und Anleger- stelligen kann. entschädigung fordern wir Grüne seit langem. Sie ist überfällig. Im Bereich der Anlegerentschädigung durch Dass es gegenwärtig jedenfalls nicht funktioniert, hat die Entschädigungseinrichtung der Wertpapierhandels- der Fall der Lehman Brothers Bankhaus AG offenbart, unternehmen (EdW) hat die Bundesregierung bereits in zu dessen Behebung der Einlagensicherungsfonds der Ausschusssitzungen im Frühjahr 2007 konzediert, das deutschen Banken Garantien des Sonderfonds Finanz- EAEG sei unzulänglich. Seitdem ließen Nachbesserun- marktstabilisierung (SoFFin) in Anspruch nehmen gen auf sich warten. musste. Und auch die aktuellen Probleme bei der Aus- zahlung der Gelder von deutschen Kundinnen und Kun- Bei der Einlagensicherung hat die Finanzmarktkrise den der isländischen Kaupthing Bank führen vor Augen, eindrucksvoll bewiesen, dass das bestehende System dass das System nicht ausreichend durchdacht ist bezie- ebenfalls mangelhaft ist und einer grundlegenden Über- hungsweise schlichtweg nicht adäquat funktioniert. Zu- 22940 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) gegeben ist der Staatsbankrott Islands und die Finanz- dies schon deshalb nicht, weil Forderungen aus der In- (C) marktkrise eine außergewöhnliche Situation. Aber das solvenzmasse erfahrungsgemäß nur zu marginalen Tei- Mindeste, was man von der Bundesregierung fordern len befriedigt werden können. muss, ist, dass die gesammelten Erfahrungen genutzt und für eine Reform des EAEG fruchtbar gemacht wer- Kurzum, wir begrüßen den Ansatz der EU, durch eine den. Diese Konsequenzen sucht man im vorliegenden Reform der Einlagensicherung das durch die Finanz- Gesetzentwurf indes vergeblich. marktkrise gebeutelte Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wieder herzustellen. Der vorliegende Gesetzent- Das gleiche Bild ergibt sich bei Betrachtung desjeni- wurf der Bundesregierung enthält aber nicht die notwen- gen Teils des EAEG, der die Änderungen bei der Ent- digen Konzeptverbesserungen, um die ambitionierten schädigungseinrichtung der Wertpapierhandelsunterneh- Vorgaben der EU – höhere Einlagendeckung und kurz- men, EdW, enthält. Hier muss bei Nachbesserungen der fristige, unbürokratische Auszahlungen – praxistauglich Präzedenzfall Phoenix Kapitaldienst GmbH den Orien- umzusetzen. Auf diesem Weg geht man nicht gestärkt tierungsmaßstab bilden. Die Anleger von Phoenix aus der Krise hervor, sondern zementiert Strukturen auf warten seit über vier Jahren auf die Entschädigungsleis- höherem Niveau, die sich bereits als nicht funktionsfähig tungen durch die EdW, und die EdW-pflichtigen Wert- entlarvt haben. papierdienstleister wurden durch plötzlich erhobene Der Vollständigkeit halber sei abschließend ange- Sonderbeiträge oder die nunmehr angedachte Finanzie- merkt, dass wir die vorgesehene Neuregelung in § 7 rung mittels Darlehensaufnahme an den Rand der Insol- Wertpapierhandelsgesetz begrüßen, die den grenzüber- venz geführt. Dass ein solches System dem Grunde nach schreitenden Informationsaustausch der Aufsichtsbehör- völlig verkehrt und mit hoher Wahrscheinlichkeit gar eu- den bezüglich der Handelsplätze für Strom, Gas und an- roparechtswidrig konzipiert ist, muss auf der Hand lie- dere Waren stärkt. Eine rein nationale Aufsicht wird der gen. Die Bundesregierung beschreibt den Handlungsbe- Struktur dieser Märkte nicht gerecht. darf allerdings überraschend wie folgt: „Auch hat die Entschädigungspraxis gezeigt, dass eine Konkretisie- rung der bestehenden Regelungen über die Finanzierung der Entschädigungseinrichtung sinnvoll ist.“ (Gesetzent- Anlage 7 wurf Seite 1, A. Problem und Ziel). Das ist eine Verken- Zu Protokoll gegebene Reden nung der Tatsachen. Es bedarf keiner Konkretisierungen bestehender Regelungen. Es bedarf eines kompletten zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Überdenkens der bestehenden Strukturen des deutschen Stärkung der Sicherheit in der Informationstech- Sicherungssystems zumindest im Bereich der Entschädi- nik des Bundes (Tagesordnungspunkt 21) (B) gungseinrichtung für Wertpapierhandelsunternehmen. (D) Die EdW scheint für sich gesehen nicht finanziell tragfä- Clemens Binninger (CDU/CSU): Wir zählen heute hig. Das aber war und ist Vorgabe der EU-Richtlinie. In- mehr als 1,4 Milliarden Internetnutzer weltweit – weit dem die Bundesregierung die explizite Möglichkeit der über 40 Millionen davon in Deutschland. Damit hat sich Kreditaufnahme bei fehlender Entschädigungsmasse die Zahl der Menschen, die regelmäßig im Internet un- vorsieht, wird das Problem lediglich in die Zukunft ver- terwegs sind, seit 2000 weit mehr als verdoppelt. Allein lagert. Es ist nicht nachvollziehbar, warum die Bundes- das zeigt, wie stark sich die Informations- und Telekom- regierung hier diverse aufgezeigte Lösungsansätze eines munikationswelt in den letzten Jahren verändert hat. eigens in Auftrag gegebenen Gutachtens nicht berück- Wirtschaftliche Aktivitäten und staatliches Verwaltungs- sichtigt. handeln sind in hohem Maße von einer funktionierenden IT-Infrastruktur abhängig. Genau das trifft auch auf die Auch ein weiteres Zuwarten unter Verweis auf derzeit private Nutzung zu. Die Informations- und Kommunika- laufende Konsultationsverfahren der EU im Bereich der tionstechnologie ist mittlerweile eine zentrale Vorausset- Entschädigungseinrichtung bei Wertpapierdienstleistern zung für das Funktionieren unseres Gemeinwesens. Von verbietet sich. Denn erstens resultieren die Probleme der ihr sind weitere Infrastrukturen etwa in den Bereichen EdW vor allem aus den nationalen Besonderheiten des Energie- und Wasserversorgung oder auf dem Verkehrs- grundsätzlich sinnvollen Aufbaus des Bankensystems in sektor abhängig. Deshalb stellen gezielte kriminelle An- drei Säulen. Und zweitens ist durch die Finanzmarkt- griffe auf die IKT-Infrastruktur eine ganz erhebliche Ge- krise die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass es bei den fahr dar. Die Attacke auf das Computersystem Estlands der EdW zugehörigen Unternehmen zeitnah zu weiteren 2007 zeigt, welch schwerwiegende Folgen solche An- Ausfällen kommt. Schließlich zeigt der Gesetzentwurf griffe haben können. Vor zwei Jahren wurden in Estland zur Änderung des EAEGs auch keine Lösung für das die Websites von Regierung und Parlament manipuliert Problem, dass die Entschädigungszahlungen im Fall und lahmgelegt. Außerdem wurde das IT-System einer Phoenix auch deshalb seit vier Jahren auf sich warten der größten Banken des Landes gestört, sodass der Zah- lassen, weil Auszahlungen unter Hinweis auf das noch lungsverkehr für zwei Tage ausgesetzt werden musste. laufende Insolvenzverfahren zurückgehalten wurden. Weitere Bereiche waren betroffen. Das EAEG muss dringend festschreiben, dass Auszah- lungen unabhängig von laufenden Insolvenzverfahren Das Bundesamt für Sicherheit in der Informa- möglich sind. Es ist den Betroffenen nicht zumutbar, tionstechnik – über das wir heute sprechen – ist als IT- Jahre auf die Entschädigung zu warten, nur weil Rechts- Dienstleister des Bundes für die IT-Sicherheit in streitigkeiten im Insolvenzverfahren noch anhängig sind; Deutschland zuständig. Das Bundesamt für Sicherheit in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22941

(A) der Informationstechnik untersucht und bewertet Sicher- schaftlichen Arbeit das erste Computervirus entwickelt, (C) heitsrisiken und schätzt vorausschauend auch die Auswir- das dann – einmal eingespeist – Programme eigenstän- kungen neuer Entwicklungen ab. Dazu muss es auch zu- dig veränderte. Heute wird davon ausgegangen, dass künftig die notwendigen Kompetenzen haben. Internet- zwischen 60 000 und 100 000 Computerviren existieren, Banking, e-Commerce, e-Government, diverse Kommu- die sich über das World Wide Web innerhalb kurzer Zeit nikationsplattformen und soziale Netzwerke im Internet verbreiten können. Hinzu kommen weitere Computer- sind neben der reinen Informationsbeschaffung schon schädlinge wie Trojanische Pferde oder Würmer. Nicht lange Bestandteil fester Alltagsgewohnheiten rund um nur die Zahl von Schadprogrammen ist aus meiner Sicht den Erdball. Angesichts der rasanten Entwicklung der besorgniserregend, sondern auch ihre neue Qualität. Im- letzten Jahre auf diesem Sektor ergeben sich Aufgaben mer häufiger werden Schadprogramme nicht mehr dazu und Erwartungen an das BSI, die sich in der heute gülti- verwandt, unmittelbaren Schaden anzurichten, der be- gen gesetzlichen Grundlage nicht mehr widerspiegeln. merkbar wird. Vielmehr verbreiten sich solche Pro- Das BSI-Errichtungsgesetz wurde 1990 verabschiedet, gramme unbemerkt und zielen darauf, Daten dauerhaft ist 1991 in Kraft getreten und seither im Wesentlichen auszuspionieren, um etwa Passworte, Kreditkarteninfor- unverändert geblieben. Deshalb wollen wir mit dem mationen oder Zugangsdaten zu erhalten, die dann bei- heute von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzent- spielsweise an andere Kriminelle verkauft werden. Der wurf die Rechtsgrundlage für die Arbeit des BSI refor- Bekämpfung dieser Form der Internetkriminalität wird mieren und an die Anforderungen von heute und morgen in einer Zeit, in der digitale Informationen eine immer anpassen. Damit wird das BSI auch in Zukunft zu einem größere Bedeutung haben, notwendigerweise ein höhe- hohen Sicherheitsstandard für die IT-Struktur des Bun- rer Stellenwert zukommen müssen. des und darüber hinaus beitragen können. Deshalb sieht der vorliegende Gesetzentwurf auch Sichere und verfügbare Kommunikationsnetze sind Änderungen des Telekommunikationsgesetzes und des für staatliches Verwaltungshandeln unverzichtbar, des- Telemediengesetzes vor. Im Telekommunikationsrecht halb schaffen wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird die Bundesnetzagentur im Benehmen mit dem BSI die Grundlage für einheitliche Sicherheitsstandards und und dem Bundesdatenschutzbeauftragten in der Lage klare Kompetenzen im Bereich IT-Systeme innerhalb sein, Sicherheitsanforderungen für Anbieter von Tele- der Bundesverwaltung. kommunikations- und Datenverarbeitungssystemen zu erstellen. Diese sollen Grundlage für die Sicherheitskon- Das BSI wird befugt, technische Vorgaben und ver- zepte von Telekommunikationsprovidern werden. Hier- bindliche Mindeststandards für die Sicherung der Infor- durch soll der Schutz des Fernmeldegeheimnisses auch mationstechnik innerhalb der Bundesverwaltung zu ma- durch technische Maßnahmen gewährleistet werden. (B) chen. Das betrifft auch Richtlinien für die Beschaffung (D) von IT-Produkten. Darüber hinaus werden die heute Durch eine Änderung des Telemediengesetzes wird schon existierenden Regelungen zur Zertifizierung durch Telemediendienstanbietern die Befugnis eingeräumt, das BSI modernisiert und neben der reinen Produktzerti- Nutzungsdaten für Zwecke der Sicherheit ihrer techni- fizierung auch auf die Zertifizierung von Personen und schen Einrichtungen zu erheben und zu verwenden. Im Dienstleistungen ausgeweitet. Das BSI kann so private Gegensatz zu den Telekommunikationsprovidern, die IT-Dienstleister prüfen und zertifizieren sowie deren entsprechende Daten zum Erkennen, Eingrenzen oder Eignung und Zuverlässigkeit bestätigen. Das ist für Beseitigen von Störungen erheben können, besteht hier Wirtschaft und Verwaltung gleichermaßen von Bedeu- bei den sogenannten Telemedienanbietern, also etwa tung, kaufen doch Unternehmen und zunehmend auch auch den Betreibern von Internetseiten, eine Rechtslü- Behörden Komplettlösungen, die bis zur vollständigen cke. Das ist ein erhebliches Problem, das immer mehr an Auslagerung der IT reichen. Die Prüfung von Kompe- Bedeutung gewinnt, denn Angriffe auf Telemedienange- tenz und Vertrauenswürdigkeit eines Dienstleisters wird bote nehmen zu, sei es, um Internetangebote zu manipu- hier einen erheblichen Qualitätsschub bewirken. lieren oder angebotene Leistungen zu stören. Eine erheb- In diesem Zusammenhang mit diesen Vorgaben wird liche Gefahr besteht hier aber nicht nur durch die das BSI innerhalb der Bundesverwaltung Maßnahmen Schädigung von angebotenen Diensten. Vielmehr sind umsetzen können, um Gefahren, die von Schadprogram- immer häufiger sogenannte Drive-By Infections zu men auf die Kommunikationsinfrastruktur von Bundes- beobachten, also dass auf PCs der Besucher einer Seite behörden ausgehen, abzuwehren. Bisher war das BSI heimlich Schadprogramme installiert werden, die sich lediglich beratend tätig ohne eigene Befugnisse, die es dann weiter verbreiten. Das heißt, die Angriffsstrategien ermöglichen würden, ohne Anforderung aktiv zu wer- verändern sich und damit auch die Sicherheitsziele von den. Das soll jetzt geändert werden. Darüber hinaus soll Dienstanbietern. Es geht nicht mehr nur um Selbstschutz das BSI als zentrale Meldestelle des Bundes für IT- gegen Manipulationen oder Verfügbarkeitsstörungen, Sicherheit Informationen über Sicherheitslücken, Schad- sondern heute müssen Systeme auch gegen Angriffe ge- programme und neue Angriffsmuster sammeln und aus- schützt werden, die diese Systeme nur als Zwischensta- werten und diese Erkenntnisse an die betroffenen Stellen tion nutzen. Zur Erkennung und Abwehr bestimmter weitergeben. Angriffe ist also die kurzfristige Speicherung und Aus- wertung der Nutzungsdaten notwendig. Durch die Ände- Die Entwicklung der Informations- und Kommunika- rung des Telemediengesetzes soll auch für diese Fälle tionssysteme hat nicht nur positive Seiten – darüber le- Rechtssicherheit geschaffen werden. Die strenge Zweck- sen wir jeden Tag. 1983 wurde im Rahmen einer wissen- bindung der Daten nach dem Telemediengesetz bleibt 22942 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) dabei unangetastet. Eine Datenverarbeitung ist nur zu- muss bei Befugnissen für das BSI, sondern bereits im (C) lässig, soweit und solange dies für die Absicherung der Vorfeld. Technik tatsächlich erforderlich ist. Mit diesem Gesetzesentwurf wird das ganze BSI-Er- IT-Sicherheit ist eine dynamische Aufgabe mit sich richtungsgesetz abgelöst. Es soll etwas völlig Neues ent- verändernden Anforderungen und Problemen. Mit dem stehen. Das BSI soll Gefahrenabwehrbehörde, Prüfbe- vorliegenden Gesetz zur Stärkung der Sicherheit in der hörde, Zertifiziererbehörde und Anbieter von IT- Informationstechnik des Bundes stellen wir sicher, dass Sicherheitsprodukten sein. Alles wird beim BSI zentrali- das BSI in Zukunft in der Lage ist, seine Aufgabe erfolg- siert. Kann das richtig sein? Der Gesetzesentwurf geht reich zu erfüllen. Es wird ein Beitrag geleistet zu mehr davon aus, dass alle eingehenden Datenverkehre bei Sicherheit in der Informations- und Kommunika- Bundesbehörden (mit Ausnahme Bundespräsidialamt, tionstechnologie. Bundestag, Bundesrechnungshof etc.) automatisch ge- scannt werden und die Protokolldaten für eine gewisse Zeit gespeichert werden. Ist es notwendig, dass diese Frank Hofmann (Volkach) (SPD): Jeder von uns hat Datenverkehre offen gespeichert werden, oder könnten gemerkt, ohne PC läuft hier nichts. Das gilt aber nicht diese nicht auch pseudonymisiert oder anonymisiert nur für den Bundestag, das gilt für unsere gesamte Ge- werden? Geht es in erster Linie um die Gefahrenabwehr, sellschaft, für die Verkehrsmittel (siehe Ausfall der dann kommt es weniger auf den Adressaten an. Geht es Computer bei der Deutschen Bahn im Februar), für un- um die Feststellung der Täter und deren Hintermänner, sere bargeldlosen Zahlungen, für die Versorgung mit dann muss man natürlich die Adressaten rückverfolgen Energie oder Wasser. können. Der vorliegende Gesetzesentwurf hat dies nicht befriedigend gelöst. Wir sind abhängig von der Sicherheit unserer Infor- mations- und Kommunikationstechnologie. Und wer Soll das BSI bei der Weitergabe von Daten an Straf- kümmert sich maßgeblich um diese Sicherheit? Soweit verfolgungsbehörden und Verfassungsschutz (§ 5 es den Bund und die Bundesbehörden betrifft: das BSI. Abs. 4) so weit gehen dürfen, dass auch nicht erhebliche Was ist das? Das Bundesamt für Sicherheit in der Infor- Straftaten gemeldet werden können, wenn sie mittels Te- mationstechnologie. Kurz gesagt BSI. Das BSI wurde lekommunikation begangen wurden? An welche Krimi- 1991 gegründet. Vorläufer war Mitte der 1950er-Jahre nalitätsbereiche denkt man hierbei? Ist hier nicht eine die Zentralstelle für das Chiffrierwesen, die dem BND Aushöhlung von Art. 10 GG zu erwarten? unterstellt war. Und direkter Vorgänger war die Zentral- stelle für die Sicherheit in der Informationstechnik, die Interessant finde ich, dass auch die Datenverkehre des Bundesamtes für Datenschutz und Informationstechnik (B) 1989 aus der Zentralstelle für das Chiffrierwesen (ZfCh) (D) hervorging. Seit 1991 heißt diese Bundesbehörde nun gescannt werden sollen. Hier fehlt das Fingerspitzenge- BSI, ist mit 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dem fühl. Der Bürger muss mit dem Datenschutzbeauftragten Bundesministerium des Innern (BMI) unterstellt und be- uneingeschränkt und unbeeinträchtigt kommunizieren schäftigt sich mit der Sicherheit in Anwendungen, kriti- dürfen. Deshalb muss man hier für andere Lösungen sor- schen Infrastrukturen und dem Internet, mit Kryptogra- gen. fie und Abhörsicherheit, mit Zertifizierung, Zulassung In § 5 Abs. 6 regelt der Gesetzentwurf den Kernbe- und Konformitätsprüfungen sowie mit neuen Technolo- reich privater Lebensgestaltung. Danach soll das BMI gien. diesen Kernbereichsschutz gewährleisten. Es wird keine Nun hat sich seit 1991 der Internetverkehr und die genaue Funktionsstelle genannt. Es kann aber doch nicht Gefahrenlage quantitativ und qualitativ verändert. Das sein, dass es irgendjemand aus dem Innenministerium Schadens- und Katastrophenpotenzial, die Verletzlich- macht, Fahrbereitschaft oder Pforte. Hier ist der Gesetz- entwurf schlampig. Mit diesem minimalen Kernbe- keit des Staates und der Gesellschaft ist immens ange- reichsschutz fällt man in Zeiten zurück, in denen dies stiegen. Verändern muss sich deshalb auch der Schutz vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur vor Computerattacken. Der vorliegende Gesetzesent- Onlinedurchsuchung Rechtsauffassung im Innenministe- wurf will darauf eine Antwort geben. rium gewesen sein könnte. Aber heute ist das doch Dass die Bundesregierung die Chance ergreift, sich längst überholt. Weshalb man im Zusammenhang mit gegen Cyberattacks zu wehren, ist notwendig und erfor- diesem Gesetzesentwurf in Art. 3 auch noch das Teleme- derlich. Dass man neuartige, bisher unbekannte An- diengesetz ändern will, ist für mich nicht nachvollzieh- griffsmuster erkennen muss, steht ebenfalls außer Zwei- bar. Eine pauschale Befugnisnorm für Diensteanbieter fel. Es ist deshalb ein sinnvolles Vorhaben, dafür neue sollte vermieden werden. Ohne intensive und breite Aus- Grundlagen zu legen. Die erste Frage muss sein: Kann einandersetzung, juristisch, technisch und ökonomisch, der Bund seine EDV so aufstellen, dass eine möglichst kann ich diesem Gesetzesentwurf nicht zustimmen. geringe Gefahr durch Schadprogramme entsteht? Petra Pau (DIE LINKE): Kein Freibrief zur Überwa- Ist eine Bündelung der EDV richtig, wie wir sie bei chung. der Telekommunikationsüberwachung nunmehr im Bun- desverwaltungsamt vornehmen? Wird dadurch der Staat Erstens. Man versuche sich unsere Gesellschaft, ins- nicht noch stärker angreifbar? Damit will ich zum Aus- besondere die Wirtschaft, aber auch die Verwaltung ohne druck bringen, dass man präventiv nicht erst ansetzen moderne Informationstechnik vorzustellen. Es wird Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22943

(A) nicht gelingen. Denn ohne moderne Informationstechnik heit ist angesichts der Sensibilität der verarbeiteten Da- (C) ständen „alle Räder still“, um ein altes Bild zu bemühen. ten und des immer noch wachsenden IT-Einsatzes ein Deshalb ist es nachvollziehbar, dass der Bund für seine wichtiges Ziel. Aber schon hier stellen sich Fragen: Das Informationstechnik höchste Sicherheitsstandards an- BSI „kann“ nach dem Entwurf Warnungen zu Sicher- strebt. heitslücken veröffentlichen. Es sollte doch zumindest der Regelfall sein, dass es über solche Lücken infor- Zweitens. Das ist der Sinn des vorliegenden Gesetz- miert! Natürlich sind gewisse Ausnahmen und eine ge- entwurfs und des Bundesamtes für Sicherheit in der In- wisse Flexibilität im Verfahren erforderlich – zum Bei- formationstechnik (BSI). Der Gesetzentwurf umfasst in spiel zuerst den Hersteller zu warnen und eine Lösung zu vier Artikeln zwölf Paragrafen mit zahlreichen Unter- entwickeln. Es fragt sich auch, warum der Rat der IT-Be- punkten. Sie alle scheinen einleuchtend, auch wenn sie auftragten der Ministerien eine so starke Rolle bekom- nicht auf den ersten Blick überschaubar sind. Insofern men soll. Es muss doch selbstverständlich sein, dass könnte man meinen: „Je sicherer, desto besser!“ Wäre da Bundesbehörden in der Pflicht sind, die Vorgaben des nicht ein versteckter Pferdefuß. BSI, die ja nicht leichtfertig gemacht werden, umzuset- Drittens. Fast alles, was geregelt werden soll, betrifft zen. Hier ist zu befürchten, dass ressorteigene Prioritäten die interne Informationstechnik und die inneren Infor- allzu oft über die Sicherheitsbelange gestellt werden. mationssysteme des Bundes. Sofern weitere Behörden Wenn man IT-Sicherheit ernst meint, ist das zu wenig. betroffen sein könnten, werden die Kompetenzen des Besonders kritisch müssen aber die neuen Analyse- BSI beschrieben bzw. Grenzen gesetzt. Auch das klingt und Überwachungskompetenzen des BSI gesehen wer- vertrauenswürdig. Allerdings nur bis zum Verweis auf den. Das Amt erhält zur Gefahrenabwehr weitgehende das Telemediengesetz, konkret § 15 Abs. 9. Rechte, um die in der Kommunikation mit den Bundes- Viertens. Dort heißt es: behörden anfallenden Daten zu analysieren. Aber da geht es nicht nur um harmlose Dinge, zum Beispiel um Soweit erforderlich, darf der Diensteanbieter Nut- E-Mails von Bürgerinnen und Bürgern an Behörden. zungsdaten zum Erkennen, Eingrenzen oder Besei- Hier weiß der Bürger, dass er mit dem Staat kommuni- tigen von Störungen seiner für Zwecke seines ziert. Doch die Struktur des Internet ist so, dass die an Dienstes genutzten technischen Einrichtungen erhe- den sogenannten Schnittstellen der Kommunika- ben und verwenden. tionstechnik des Bundes anfallenden Daten auch ohne Hier geht es nicht mehr um interne Systeme von Bundes- jeden Zusammenhang mit den Bundesbehörden sein behörden, sondern um allgemeine Anbieter von Internet- können. Die gutwillige Lesart ist: Hier wird eine auto- leistungen, und die können Google, Yahoo oder anders matisierte Auswertung vorgesehen – sprich, die Kon- (B) heißen. trolle eingehender Post durch Virenscanner. Wird etwas (D) gefunden, darf der Absender identifiziert werden. Nur, Fünftens. Im Klartext: Das Gesetz zur internen wenn man genau das meint, dann muss man das auch so Sicherheit des Bundes ermächtigt externe Anbieter, Nut- formulieren. Aber so wie es in diesem Entwurf steht, zungsdaten zu erheben, zu speichern und gegebenenfalls sind auch weit weniger harmlose Eingriffe möglich. Und weiterzumelden. Damit würde das Surfverhalten von In- wenn das gewollt ist, dann stimmt der häufig gemachte ternetnutzern registriert und kontrolliert, und das alles Vorwurf, dass hier eine allgemeine E-Mail-Überwa- ohne konkreten Verdacht. Das wäre ein Freibrief zur chungsbehörde geschaffen werden soll. Überwachung aller Internetnutzer. Einem solchen Ge- setzentwurf wird die Fraktion Die Linke nicht zustim- Und selbst bei dieser gutwilligen Lesart gibt es reich- men. lich Kritikpunkte: Warum werden die persönlichen Da- ten nicht pseudonymisiert? Wieso gibt es für die nicht- automatisierte Verarbeitung der persönlichen Daten kei- Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nen Richtervorbehalt? Wir sprechen hier immerhin vom Die Ära Schäuble wird als die Ära der neuen zentralen Lesen persönlicher Post, es geht also potenziell um kern- Überwachungs- und Kontrollbehörden in die Annalen bereichsrelevante Inhalte! Und – ganz besonders frag- eingehen. Das belegt auch dieses vorliegende Gesetz. würdig – warum um alles in der Welt soll ausgerechnet Bisher war das Bundesamt für die Sicherheit in der das BMI berechtigt werden, in Zweifelsfällen zu ent- Informationstechnik vor allem für die Prüfung von IT- scheiden, ob der Kernbereich betroffen ist oder nicht? Strukturen, von Programmen und Geräten zuständig. Es Da fällt kaum noch auf, dass auch die Benachrichtigung hatte also vor allem eine forschende und beratende der Betroffenen viel zu lax gehandhabt wird. Funktion. In dieser Funktion hat das Amt auch weithin anerkannte Arbeit geleistet und zur Verbesserung der Es fragt sich auch ganz generell: Warum wird in die- Sicherheit der Informationsverarbeitung im öffentlichen, sem Gesetz sehr wenig über die Pflicht der Behörden ge- aber auch im privaten Bereich viel beigetragen. sagt, zunächst die eigenen IT-Systeme optimal zu schüt- zen? Denn ob Schadsoftware oder sonstige Angriffe In seinem angestammten Bereich soll das BSI neue wirken, hängt doch zuallererst davon ab. Da sollte es Kompetenzen bekommen. Es soll Warnungen zu be- nicht die erste Maßnahme sein, den eingehenden Daten- kannten Sicherheitsproblemen veröffentlichen, Vorga- verkehr zu filtern, sondern die Angriffsfläche zu reduzie- ben für IT-Systeme des Bundes machen und nationale ren. Dann sind auch viel weniger Abwehrmaßnahmen Zertifizierungsstelle im IT-Bereich werden. Das ist im und Eingriffe in den Datenverkehr erforderlich! Die per- Prinzip zu begrüßen, denn eine Stärkung der IT-Sicher- sonenbezogenen Daten, die das BSI so erhebt, dürfen 22944 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) auch an Polizei- und Geheimdienstbehörden weitergege- terirdischen Ort der Information. Mehr als die Hälfte der (C) ben werden. Das Problem liegt darin: Die Schwelle ist Interessierten kommt aus Deutschland, die anderen vor hier viel zu niedrig gewählt! Denn es geht dabei nicht allem aus Israel, Polen und den USA. An einigen Tagen nur um schwere Verbrechen, sondern um jede Straftat, sind es weit mehr als 2 000 Gäste, die die Ausstellung die mittels Telekommunikation begangen wird! Da wird besichtigen. 2 300 Führungen, Workshops und Projekt- dann aus der Behörde, die IT-Expertise sammeln sollte, tage wurden in den vergangenen zwei Jahren an Schüler- endgültig eine Hilfsbehörde zur Strafverfolgung! und Erwachsenengruppen vermittelt. Neben diesen systematischen Mängeln springen zwei Zum Vergleich: Zwischen 500 000 und 600 000 schätzt weitere Einzelpunkte ins Auge: Warum werden manche die Stiftung der Gedenkstätte Buchenwald die Zahl der unabhängigen Bundesbehörden wie das Bundespräsi- jährlichen Besucher ihrer weiträumigen Anlage. Das In- dialamt und der Rechnungshof ausgenommen – der ganz teresse an betreuten Besuchen ist von 2002 bis 2008 besonders auf vertrauliche und integere Kommunikation kontinuierlich um 15 000 Teilnehmer angestiegen. Auch angewiesene Bundesdatenschutzbeauftragte aber nicht? die geschätzte Besucherzahl der Gedenkstätte Sachsen- Schließlich enthält das Gesetz eine Änderung des Tele- hausen in unmittelbarer Hauptstadtnähe ist im vergange- mediengesetzes, die es Dienstanbietern erlaubt, Nut- nen Jahr von 350 000 auf mehr als 400 000 gestiegen. zungsdaten über die normalen Zwecke hinaus zu spei- Die Anzahl der Führungen, der Teilnehmer insgesamt chern und zu verarbeiten, auch wieder begründet mit der und der Anteil ausländischer Besucher haben sich eben- Abwehr von Schadprogrammen und Ähnlichem, aber falls signifikant erhöht. Die Befürchtungen, die Errich- auch wieder zu weit und zu offen formuliert. Denn so, tung eines zentralen Holocaust-Mahnmals könne wie es jetzt im Entwurf steht, ist auch die Erstellung von negative Auswirkungen auf die Wahrnehmung der au- Surfprofilen möglich. thentischen Orte des nationalsozialistischen Verbrechens In dieser Form ist das Gesetz abzulehnen. Es hat zu haben, haben sich also keinesfalls bestätigt. Das Gegen- viele Lücken und bietet unzulänglichen Schutz für die teil lässt sich eher vermuten: Wer die Berliner Mitte be- Bürgerinnen und Bürger. sichtigt, besucht heute selbstverständlich auch das Mahnmal für die ermordeten Juden. Das sind natürlich weit mehr Gäste, als diejenigen, die die außerhalb touris- tischer Zentren liegenden KZ-Gedenkstätten besuchen. Anlage 8 Es ist naheliegend, dass das Interesse des einen oder an- Zu Protokoll gegebene Reden deren Besuchers des Mahnmals für die KZ-Gedenkstät- ten erst durch dieses Erlebnis in Berlin geweckt wurde. zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur (B) Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Eindrucksvoller als nüchterne Besucherzahlen berich- (D) „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden ten jedoch die Einträge im Gästebuch der Stiftung vom Europas“ (Tagesordnungspunkt 39 e) Erfolg ihrer Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit: „Thanks for this impressing and shocking visit. Every Monika Grütters (CDU/CSU): Vor zehn Jahren be- student, every people should be here once, to not forget“, schloss der Deutsche Bundestag das Gesetz zur Errich- schrieb der damalige EU-Kommissar Franco Frattini. tung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. „Erschütternd und zutiefst beeindruckend! Die persönli- Vor zehn weiteren Jahren bereits war der „Förderkreis che Nähe durch die Dokumentation einzelner Opfer war zur Errichtung eines Denkmals für die ermordeten Juden für mich am prägendsten“, notierte eine deutsche Besu- Europas“ gegründet worden. Heute debattieren wir da- cherin. „Thank you for doing this, even though I believe rüber, die Verantwortung der daraus entstandenen Stif- this matter could never be forgotten“, hinterließ die tung um das Denkmal für die im Nationalsozialismus Enkelin von Isac Weizman aus Tel Aviv. Kindern des verfolgten Homosexuellen und das Denkmal für die Kindertransports hat der Besuch in der Ausstellung Auf- Sinti und Roma zu erweitern sowie die Stiftung in die schluss über das Todesdatum der Eltern gegeben. übliche Struktur vergleichbarer Institutionen zu überfüh- Auch das Ergebnis einer Schülerumfrage im Sommer ren. 2006 bestätigt das Denkmalsanliegen: Neun von zehn Nach mehr als zehn Jahren kontroverser Debatte über Jugendlichen werteten den Mahnmalsbau als Zeichen die Notwendigkeit eines eigenständigen Holocaust- von Stärke und Selbstbewusstsein im Umgang mit der Mahnmals in Berlin, über den Ort und die Form des Ge- deutschen Schuld. Der unterirdische Ort der Information denkens sowie nach fast vier Jahren seit der Eröffnung beherbergt eine der eindrucksvollsten Gedenkstätten ist die öffentliche Meinung einhellig: Weltweit gilt das Berlins. In der Konzentration auf Namen, Familienbio- Denkmal für die ermordeten Juden Europas mittlerweile grafien und Orte wird hier jüdisches Leben in ganz als Erfolg. Europa ebenso vergegenwärtigt wie dessen Zerstörung und Auslöschung. Unterstützt mit Mitteln des privaten 1,7 Millionen Gäste haben seit der Eröffnung im Mai Fördervereins konnte die Stiftung inzwischen insgesamt 2005 bis Ende letzten Jahres den Ort der Information des 8 400 Biografien recherchieren, die im Raum der Namen Holocaust-Mahnmals besucht. Im Spätsommer 2009 vor dem Vergessen bewahrt werden und auch im Internet wird der zweimillionste Besucher in der Ausstellung er- zugänglich sind. wartet. Die Zahl der täglichen Besucher des Stelenfeldes kann die Stiftung schon lange nicht mehr zählen. Seit Ende vergangenen Jahres eröffnete die Stiftung das 2006 kamen rund 460 000 Besucher jährlich in den un- Videoarchiv mit den Geschichten betroffener Zeitzeu- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22945

(A) gen. Rund tausend Videozeugnisse der in der Universität Dieses notwendige Miteinander gesellschaftlicher (C) Yale gesammelten Erinnerungen Überlebender in der Kräfte macht politisches Agieren auf dem Feld des Ge- ganzen Welt sind hier nun aufgearbeitet und digitalisiert denkens und Erinnerns aber auch so anspruchsvoll; denn einzusehen. Diese aktive Erinnerungsarbeit ist ebenso hier sollte immer auch ein parteiübergreifender Aus- wichtig wie das stille Gedenken. Denn der Moment ist gleich der Ansichten und Interessen gesucht werden. nicht mehr fern, an dem der letzte Überlebende ver- Über alle strittigen Diskussionen über das Wie des Ge- stummt sein wird. denkens hinweg sollte der mittlerweile stabile Konsens nicht übersehen werden, in dem die Auseinandersetzung In der kurzen Zeit des Dauerbetriebes beteiligte sich mit der Vergangenheit heute in der Bundesrepublik grün- die Stiftung darüber hinaus an der Erarbeitung zweier det. Ich möchte dazu nur an die gemeinsame Entschlie- Sonderausstellungen gemeinsam mit anderen Gedenk- ßung der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD, der FDP stätten und Einrichtungen und veranstaltete eindrucks- und Bündnis 90/Die Grünen zur „Fortschreibung der Ge- volle Vortrags-, Gesprächs- und Zeitzeugen-Abende. denkstättenkonzeption des Bundes“ durch den Beauf- Sechs verschiedene Workshops für Schülergruppen und tragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im zwei für größere Zielgruppen stehen neben Führungen Herbst vergangenen Jahres erinnern. Bei der organisato- und Projekttagen für das museumspädagogische Ange- rischen Einbindung der Denkmale für die verfolgten bot des Denkmals. Homosexuellen sowie die Sinti und Roma in die „Stif- tung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ müs- Es ist nur folgerichtig, endlich umzusetzen, was be- sen natürlich die Vertreter der Opfergruppen gehört wer- reits seit Gründung der Stiftung vorgesehen war: die den. Grundsätzlich sind jedoch eine gemeinsame Geschäftsordnung der anderen Denkmale durch die Verwaltung, der Betrieb und die Pflege der Mahnmale „Stiftung für das Denkmal für die ermordeten Juden eine naheliegende Lösung. Die Individualität des jewei- Europas“ erledigen zu lassen. Mit der Kabinettsvorlage ligen Gedenkens für die Betroffenengruppen und die öf- vom 14. Januar dieses Jahres sollen demnach in die fentliche Wahrnehmung bleiben davon unberührt. überzeugende Stiftungsarbeit zur Erinnerung und Ver- söhnung mit den Opfern des nationalsozialistischen Ter- Über die Art der Einbindung der Vertreter einzelner rors und ihren Angehörigen nun auch das räumlich und Opfergruppen in die betreuenden Gremien der Stiftung gestalterisch korrespondierende Mahnmal für die vom sollte noch einmal gemeinsam nachgedacht werden. Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen und das Eine von einigen angeregte Änderung des Namens der entstehende Mahnmal für die Sinti und Roma am nord- Stiftung kann ich mir allerdings nicht vorstellen. östlichen Rande des Tiergartens in die Denkmalsarbeit der vorhandenen Stiftung mit einbezogen werden. Gleichzeitig mit der Erweiterung der Verantwortung soll die Stiftung durch die Gesetzesänderung nach Been- (B) (D) Faktisch betreut die Stiftung bereits das Denkmal für digung der Aufbauphase des Denkmals für die ermorde- die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. ten Juden Europas nun in die Organisationsstruktur ver- Die Feier zur Übergabe an die Öffentlichkeit am 27. Mai gleichbarer Einrichtungen überführt werden. 2008 wurde von der Stiftung organisiert. Technisch unter- Der im Stiftungszweck formulierte gesetzliche Auf- stützt sie die dort im Rahmen des Berliner Christopher trag, den Entwurf des Stelenfeldes von Peter Eisenman Street Days und des Gedenktages am 27. Januar stattfin- und den ergänzenden Ort der Information zu verwirkli- denden Veranstaltungen. Darüber hinaus zeichnet die chen, wurde inzwischen in vollem Umfang umgesetzt. Stiftung für Begleitmedien (Faltblatt und Materialien- Zur Fortführung der erfolgreichen Stiftungsarbeit soll band) verantwortlich und bemüht sich, das Denkmal in das Gesetz in einigen Punkten geändert und den Erfor- Zusammenarbeit mit dem Schwulen Museum Berlin und dernissen des Dauerbetriebes angepasst werden. dem LSVD in die Bildungsarbeit der Stiftung einzube- ziehen. Dazu gehört neben anderem die Abschaffung des dreiköpfigen Vorstands. Seine Aufgaben sowie die der Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermor- bisherigen Geschäftsführung sollen nun in dem neuen deten Sinti und Roma soll bis September 2009 errichtet Organ des Direktors oder der Direktorin zusammenge- und der Öffentlichkeit übergeben werden. Der offizielle führt werden. Damit wird die Stiftung wie auch an ande- Baubeginn am 19. Dezember 2008 wurde von der Stif- rer Stelle üblich zukünftig von drei Organen geleitet: tung organisiert. Ein entsprechendes Faltblatt zum dem Kuratorium, einem Direktor oder einer Direktorin Denkmal erstellt sie in Absprache mit BKM und dem und dem Beirat. Darüber hinaus wird der engagierten, Künstler Dani Karavan bis zur Eröffnung. zumeist auf der Grundlage eingeworbener Spendenmit- tel des „Förderkreises Denkmal für die ermordeten Ju- Die Errichtung eigener Gedenkstätten für unter- den Europas“ bereits geleisteten Arbeit im Stiftungs- schiedliche Opfergruppen des Nationalsozialismus folgt zweck Rechnung getragen. Die Stiftung erhält nun den dem Respekt vor den Betroffenen und ihrem Wunsch gesetzlichen Auftrag, wechselnde Sonderausstellungen, nach einer eigenen Form des Erinnerns und Gedenkens. Vortrags- und Seminarveranstaltungen durchzuführen Sowohl das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas und begleitende Publikationen im notwendigen Umfang als auch die Denkmäler für die verfolgten Homosexuel- zu erstellen. Damit erkennt die Bundesregierung die bis- len und Sinti und Roma verdanken ihre Entstehung und herigen Stiftungsaktivitäten ausdrücklich an. Umsetzung in staatlicher Verantwortung jeweils einer bürgerschaftlichen Initiative und der engagierten Vertre- Die Auseinandersetzung um die Denkmale der ver- tung durch die Betroffenengruppen. schiedenen Opfergruppen des nationalsozialistischen 22946 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) Terrorregimes macht deutlich: Nationales Gedenken Denkmal seit vier Jahren fertiggestellt. Der ursprüngli- (C) lässt sich weder amtlich formulieren, noch behördlich che Stiftungszweck ist damit hinfällig und es ist an der regeln. Gleichwohl sind Erinnern und Gedenken weder Zeit, das Stiftungsgesetz entsprechend anzupassen. Das Privatsache noch rein bürgerschaftlich zu bewältigen. ist das Ziel des vorliegenden Gesetzentwurfs. Sie sind immer eine öffentliche Angelegenheit, und das heißt in staatlicher Gesamtverantwortung. In der Bun- „Zweck der Stiftung ist die Erinnerung an den natio- desrepublik Deutschland ist mittlerweile eine zukunfts- nalsozialistischen Völkermord an den Juden Europas. weisende Erinnerungskultur gewachsen, die nicht selten Die Stiftung trägt dazu bei, die Erinnerung an alle Opfer auch einen parteiübergreifenden Charakter zeigt. Das des Nationalsozialismus und ihre Würdigung in geeigne- sollte auch in diesem Falle unser Anspruch sein. ter Weise sicherzustellen“, heißt es jetzt im § 2 des Gesetzentwurfs. Aufgabe der Stiftung ist auch die Be- Die Art und Weise, wie eine Nation, wie ein Staat sein treuung des Denkmals für die im Nationalsozialismus Verhältnis zur Geschichte formuliert, gibt Auskunft über verfolgten Homosexuellen, das im letzen Jahr einge- sein Selbstverständnis und prägt seine Identität. Mit weiht wurde, und des Denkmals für die im National- Konrad Adenauer möchte ich schließen, der 1952 dazu sozialismus ermordeten Sinti und Roma, das, hoffent- bekannte: „Man muss das Gestern kennen, man muss lich, in diesem Jahr fertiggestellt wird. auch an das Gestern denken, wenn man das Morgen wirklich gut und dauerhaft gestalten will. Die Vergan- Die anderen Änderungen sind im Wesentlichen An- genheit ist eine Realität. Sie lässt sich nicht aus der Welt gleichungen an die Strukturen vergleichbarer Einrich- schaffen, und sie wirkt fort, auch wenn man die Augen tungen. So wird der dreiköpfige Vorstand abgeschafft schließt, um sie zu vergessen.“ Deshalb ist die Bewah- und die Aufgaben des bisherigen Vorstands und der Ge- rung der Erinnerung, das nationale Gedächtnis, eine schäftsführung werden in dem neuen Organ „Direktor politische, also eine gemeinsame Aufgabe über Partei- oder Direktorin“ zusammengeführt. Allerdings müsste und Fraktionsgrenzen hinweg. – analog zu vergleichbaren Einrichtungen – die Bestel- lung des Direktors für fünf statt für vier Jahre erfolgen.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD): Vor zehn Jahren Über diesen Punkt und über den Sinn einer Änderung haben wir die Errichtung des Denkmals für die ermorde- des Stiftungsnamens und der Besetzung des Kuratoriums ten Juden Europas in Berlin beschlossen – eine der letz- – wie von den Grünen vorgeschlagen – sollten wir im ten Entscheidungen, die noch in Bonn getroffen wurden. Ausschuss diskutieren. Vorausgegangen war dem Beschluss eine langjährige Debatte – die sich gelohnt hat, wie man wenige Hundert Hans-Joachim Otto (Frankfurt) (FDP): Die „Stif- (B) Meter von hier entfernt besichtigen kann. Im Mai 2005 tung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ bedarf (D) wurde das Denkmal eröffnet. Bereits im ersten Jahr be- der Erweiterung. Wir setzen damit einen weiteren Stein suchten mehr als eine Million Gäste das Stelenfeld. in das Mosaik der Erinnerungs- und Gedenkstättenarbeit Deutschlands ein. Die Wurzeln der heutigen Erweite- Streitpunkt der Diskussion und ein wichtiger Punkt rung der „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden des damaligen Beschlusses war die Ergänzung des Europas“ liegen im Denkmalsbeschluss des Bundestages Denkmals durch einen Ort der Information. Selbst der vom 25. Juni 1999. Damals beschloss der Deutsche Bun- Architekt Peter Eisenman, der ursprünglich gegen diese destag das Holocaust-Mahnmal. Wie kaum ein zweites Erweiterung war, ist mittlerweile längst von der Richtig- gesellschafts- und geschichtspolitisches Ereignis in der keit dieser Entscheidung überzeugt. Ohne den Ort der Bundesrepublik hat dieses Vorhaben in einer elf Jahre Information hätte das Denkmal nicht seine Wirkung und dauernden Diskussion die Gemüter durch alle politi- seine Anziehungskraft entfalten können. Den Mitarbei- schen Lager und sozialen Schichten bewegt. tern der Stiftung ist es auf sehr eindrückliche Art gelun- gen, an diesem nicht authentischen Ort an die Schrecken Mit seinem Beschluss stellte der Deutsche Bundestag des NS-Terrors zu erinnern und ihn zu vergegenwärti- gleichzeitig fest: „Die Bundesrepublik Deutschland gen. Die jüdischen Opfer bekommen Namen und Ge- bleibt verpflichtet, der anderen Oper des Nationalsozia- sicht, sodass das Grauen gerade für die jüngeren Genera- lismus würdig zu gedenken.“ Dies ist die Grundlage des tionen nachvollziehbar wird. Mit dem Projekt „Leben Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten mit der Erinnerung. Überlebende des Holocaust erzäh- Sinti und Roma und des Denkmals für die im National- len“ werden das Wissen und die Erfahrungen der Zeit- sozialismus verfolgten Homosexuellen. zeugen, deren Zahl immer weiter abnimmt, gesichert und an die nachfolgenden Generationen vermittelt. Vor fast auf den Tag genau neun Jahren – am 17. März 2000 – wurde die „Stiftung Denkmal für die er- Die Sorge übrigens, das Mahnmal im Herzen der mordeten Juden Europas“ errichtet. Stiftungszweck war Hauptstadt würde Besucher von den authentischen Ge- damals die Errichtung und Unterhaltung des Denkmals, denkorten abziehen, hat sich nicht als zutreffend erwie- eines Ortes der Erinnerung und des Gedenkens an bis zu sen. Im Gesetz zur Errichtung der Stiftung wurde als 6 Millionen Opfer. Nachdem die Stiftung in den Jahren Stiftungszweck im Abs. 1 die „Verwirklichung des 2003 bis 2005 die Bauherrenfunktion ausübte, ist sie Grundsatzbeschlusses des Deutschen Bundestages vom nunmehr für den Betrieb des Denkmals als Ort des Ge- 25. Juni 1999 (Drucksache 14/1238) zur Errichtung ei- denkens, der Aufklärung und der Begegnung zuständig. nes Denkmals für die ermordeten Juden Europas“ festge- Seit seiner Eröffnung im Jahr 2005 ist das Stelenfeld des schrieben. Der Bundestagsbeschluss ist umgesetzt, das Architekten Peter Eisenman eine wahrlich vielbesuchte Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22947

(A) Stätte. Über 5,3 Millionen Menschen besuchten bisher darum, den Stiftungszweck zu erweitern. Er soll (C) das Mahnmal und schon 1,5 Millionen Menschen waren zusätzlich das Denkmal für die durch das NS-Regime er- Gast des Dokumentationszentrums, welches erst im mordeten Homosexuellen umfassen, ebenso das für die Sommer 2008 durch das Videoarchiv ergänzt wurde. ermordeten Sinti und Roma. Außerdem soll die interne Struktur der Stiftung „verschlankt“ werden. Auch das Mitte Mai 2008 konnte das Denkmal für die im Natio- entspricht den Vorschlägen, die das Kuratorium für die nalsozialismus verfolgten Homosexuellen der Öffent- Stiftung bereits vor Jahresfrist beschlossen hatte. Sie lichkeit übergeben werden. Im Sommer 2009 wird das sind plausibel begründet. Die Fraktion Die Linke wird Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten dem Gesetzentwurf daher zustimmen. Sinti und Roma endlich vollendet sein. Die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ bekommt damit neue Aufgaben; das Stiftungsgesetz muss durch Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Neuzugänge aktualisiert und an die Erfordernisse des Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unterstützt durch- Dauerbetriebs angepasst werden. aus die Zielsetzung des zugrunde liegenden Gesetzent- wurfes: Die Aktualisierung des Stiftungszweckes im Neben technischen Details, die ich hier nicht vertiefen Sinne einer Ausdehnung auf die Betreuung des Denk- möchte, sind zwei Punkte hervorzuheben, die im neuen mals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti Stiftungsgesetz verankert werden müssen und sicherlich und Roma sowie des Denkmals für die im Nationalsozia- unstrittig sind: lismus verfolgten Homosexuellen ist sinnvoll. Auch die Strukturveränderung bei der Organisation der Stiftung Erstens: Selbstverständlich muss der Stiftungszweck halten wir grundsätzlich für richtig. an seine erweiterten Aufgabenstellungen angepasst wer- den. Dagegen ist nichts einzuwenden. Zum einen ist es Gleichwohl bin ich irritiert, dass der Gesetzentwurf notwendig, den Stiftungszweck beim Denkmal für die weder mit der Opposition noch mit dem Zentralrat der ermordeten Juden um die ständige Ausstellung im Ort Juden, dem Verband der Sinti und Roma oder dem Les- der Information sowie Vortrags- und Seminarveranstal- ben- und Schwulenverband besprochen wurde: Ich hatte tungen zu erweitern. Zum anderen müssen die beiden bereits in der letzten Kuratoriumssitzung zur Denkmals- neuen Denkmäler mit unter die Obhut der Stiftung fal- befassung angeregt, dem neuen Aufgabengebiet auch len. durch eine Anpassung des Namens der Stiftung Aus- druck zu verleihen. Ich gehe davon aus, dass wir diesen Zweitens wird der bisher neben dem Kuratorium exis- Punkt im anschließenden Ausschussverfahren erörtern tierende Vorstand aufgelöst, und der ehemalige Vorstand und gemeinsam lösen werden. sowie die Geschäftsführung werden im neuen Organ (B) „Direktorin oder Direktor“ zusammengeführt. Im Ausschussverfahren muss auch geklärt werden, (D) wie die von der Aufgabenerweiterung betroffenen Initia- Zwei Punkte, die durch den Gesetzesentwurf nicht an- tiven und Verbände im Kuratorium angemessen einge- gepackt wurden, bedürfen jedoch noch einmal einer Ver- bunden werden. Der Gesetzentwurf gibt hier bedauerli- tiefung: cherweise keinerlei Hinweis. Er ist insofern aus meiner Erstens gilt es, noch einmal zu überdenken, ob durch Sicht lückenhaft. Das Kuratorium muss entsprechend er- die Erweiterung des Stiftungszweckes auch der Name weitert werden. der Stiftung geändert werden müsste. Hier hat sich die Die Gesetzesänderung muss auch haushalterische FDP-Fraktion noch kein abschließendes Urteil gebildet. Konsequenzen haben: Denn wenn die Stiftung tatsäch- Die Für und Wider werden wir sicherlich eingehend im lich zwei neue Denkmäler zur Betreuung hinzugewinnt, Ausschuss diskutieren und die Argumente der sich jetzt so muss sich dies auch bei der Mittelausstattung nieder- schon positionierenden Gruppen einbeziehen. schlagen. Der Gesetzentwurf verliert auch darüber kein Wort. Zweitens gilt es, zu bedenken, ob das Kuratorium mit Erweiterung des Stiftungszwecks durch neue Mitglieder Ich gehe davon aus, dass wir die von mir angespro- ergänzt werden muss. Persönlich erachte ich es als prü- chenen Punkte im Ausschussverfahren einvernehmlich fenswert, ob das bisher schon 23-köpfige Gremium des einer Lösung zuführen werden. Der Gegenstand des Ge- Kuratoriums erweitert werden sollte. Schon jetzt sitzen setzentwurfes eignet sich aus meiner Sicht ganz und gar im Kuratorium alle Fraktionen des Deutschen Bundesta- nicht für parteipolitische Reibereien. ges, die Bundesregierung, das Land Berlin, der Förder- kreis Denkmal für die ermordeten Juden Europas e.V., der Zentralrat der Juden in Deutschland, die Stiftung Anlage 9 Topographie des Terrors, um nur einige zu nennen. Wird dieser Kreis erweitert, ist die Arbeitsfähigkeit des Gre- Zu Protokoll gegebene Reden miums infrage zu stellen. In den kommenden Wochen zur Beratung des Antrags: Programm „Stadt- freue ich mich auf eine konstruktive Diskussion im fe- umbau Ost“ – Fortsetzung eines Erfolgspro- derführenden Ausschuss für Kultur und Medien. gramms (Zusatztagesordnungspunkt 6)

Petra Pau (DIE LINKE): Die Linke stimmt zu. Das Volkmar Uwe Vogel (CDU/CSU): Das Programm Gesetz über die „Stiftung Denkmal für die ermordeten „Stadtumbau Ost“ hat sich bewährt. Bisher haben Bund, Juden Europas“ soll verändert werden. De facto geht es Länder und Gemeinden 2,5 Milliarden Euro aufgewen- 22948 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) det, um der spezifischen Probleme der ostdeutschen stärker berücksichtigt werden sollten. Dort sind auch die (C) Wohnungswirtschaft Herr zu werden. Mit diesen Mitteln kleinteiligen Eigentümerstrukturen zu finden, die unter ist es gelungen, einen großen Schritt zum ansehnlichen anderem die Urbanität einer Innenstadt ausmachen. und bezahlbaren Wohnraum, auch in Zeiten der Verstäd- Daher muss das Programm auch für den privaten Eigen- terung und des Wegzugs, zu machen. So wurden allein tümer besser nutzbar gemacht werden. Eine Möglich- von 2002 bis 2007 circa 220 000 Wohnungen vom Markt keit, die es zu prüfen gilt, ist die Wiederbelebung der genommen, die jetzt nicht mehr bewirtschaftet werden Investitionszulage für diesen Bereich. müssen oder erhöhte Kosten bei den Vermietern und da- mit bei den Mietern verursachen. Zum Schluss möchte ich Sie darauf aufmerksam ma- chen, dass bisher 390 Kommunen in Ostdeutschland von Der Wegzug und der damit verbundene Wohnungs- dem Programm profitiert haben. Die graue Platte einer leerstand haben nicht nur zur Folge, dass die Vermieter Diktatur – eines Unrechtsstaates – ist verschwunden. Die und Wohnungsgesellschaften Einnahmen einbüßen müs- verbliebenen Wohnviertel wurden attraktiv, bunt und sen. Auch die technische Infrastruktur muss den neuen freundlich – so wie die Freiheit. Es ist auch gelungen, Bedingungen angepasst werden, um die Kosten im Griff den der Heimat treu gebliebenen Bürgern nicht nur noch zu behalten. Und auch die soziale Infrastruktur ist davon höhere Lebenshaltungskosten zu ersparen – nein, wir betroffen. Kindertagesstätten, Schulen, Arztpraxen und konnten das gesamte Stadt- bzw. Lebensumfeld in den Freizeiteinrichtungen müssen wegen mangelnder Aus- Kommunen positiv beeinflussen. lastung oder Rentabilität geschlossen werden. Das sind Faktoren, die die Lebens- und Wohnqualität negativ be- Mit dem vorliegenden Antrag will meine Fraktion das einflussen und den Wegzug noch beschleunigen. Programm „Stadtumbau Ost“ bis in das Jahr 2016 weiterführen und die einzelnen Instrumente weiterentwi- Aber mit dem aktuell laufenden Programm ist es ckeln. Ich möchte dafür werben, dass die nachfolgenden gelungen, nach und nach die Situation in den Griff zu Diskussionen in den beteiligten Gremien zügig zum bekommen. Nach Anfangsschwierigkeiten waren die Ende gebracht werden. Das jetzige Programm läuft 2009 Kommunen und Wohnungsunternehmen immer besser aus, und die Fortschreibung ist, das habe ich auch in den in der Lage, mit dem Programm umzugehen. Gesprächen mit Kollegen gespürt, unstrittig. Deswegen kommt es jetzt darauf an, die Finanzierungsgrundlage im Dabei müssen wir eine wesentliche Fehlentwicklung Haushalt ab 2010 festzuschreiben. Dabei muss auch die der DDR-Wohnungspolitik korrigieren. Die Mangel- Altschuldenproblematik der Wohnungsunternehmen, un- wirtschaft hatte zur Folge, dass nur noch schnell mit abhängig von der jetzigen Regelung bis 2013, weitere minimalem Aufwand Plattenbausiedlungen an den Beachtung finden. Stadträndern hochgezogen wurden. Stadtkerne und in- (B) nerstädtische Wohnbebauung wurden dem Verfall preis- Ich hoffe auf konstruktive und zielführende Beratun- (D) gegeben. Das ist ein Grund dafür, warum das Programm gen in den Ausschüssen. „Stadtumbau Ost“ von Anfang an als „lernendes Pro- gramm“ angelegt wurde. Ernst Kranz (SPD): Die ostdeutsche Wohnungswirt- In den vergangenen Jahren lag der Schwerpunkt auf schaft hatte mit der deutschen Einheit große Herausfor- dem Abriss, was vorrangig von großen Wohnungsunter- derungen zu bewältigen. Die von den Kommunen über- nehmen genutzt wurde, die Plattenbauten zu bewirt- nommenen Wohnungsbestände waren mit Altschulden schaften hatten. Der Abriss wird auch in Zukunft ein belastet und zum Teil sanierungsbedürftig. Arbeits- wichtiger Faktor sein, aber nicht mehr so absolut im marktbedingte Abwanderungen und allgemeiner Bevöl- Vordergrund stehen. kerungsrückgang führten zu überdurchschnittlichen Wohnungsleerständen. Diese Entwicklung war für die Trotzdem sind die strukturellen Probleme zwischen Wohnungsunternehmen nicht vorhersehbar und häufig westdeutschen und ostdeutschen Kommunen bzw. der auch nicht zu beeinflussen, für den Wohnungsmarkt war Wohnungswirtschaft noch zu unterschiedlich, um beide eine solche Situation ebenfalls neu. Programme zusammenzuführen – zu vereinigen. Es bleibt aber für uns das Ziel! Wichtig ist der intensive Erfah- Die Bundesregierung hat deshalb im Jahr 2002 das rungsaustausch, damit sich Fehler nicht wiederholen. Programm „Stadtumbau Ost“ aufgelegt. Im Vorfeld hat die Bundesregierung die Kommission für den woh- Wir wollen das Programm flexibler gestalten, damit nungswirtschaftlichen Strukturwandel, auch Lehmann- eine zielgenaue Gestaltung zwischen Abriss und Aufwer- Grube-Kommission genannt, einberufen, die die Situa- tung möglich ist. Außerdem eröffnen wir den Kommunen tion analysiert und den Handlungsbedarf ermittelt hat. und Wohnungsunternehmen die Möglichkeit, nach Ihrer Die Kommission hat sehr klar die Forderung nach einer spezifischen Situation vor Ort zu handeln. umfassenden Abbruchförderung durch Bund und Land Ein Manko der letzten Jahre waren auch die nicht vor- erhoben. handene Verbindlichkeit der Stadtentwicklungskonzepte und die Beteiligungsverfahren betroffener Akteure. Auch So stellten Bund und Länder im Rahmen des Pro- unter diesem Aspekt werden wir das – ich erwähnte es be- gramms finanzielle Mittel für den Rückbau von Woh- reits – „lernende Programm“ fortentwickeln. nungen bereit; ebenso für die Aufwertung von Stadt- quartieren, wofür die Kommunen einen eigenen Anteil Die aktuelle Evaluierung untermauert, dass die Innen- leisten müssen. Damit konnte die Lösung der Probleme städte mit Aufwertungs- und Umgestaltungskonzepten in Angriff genommen werden, die die Kommunen und Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22949

(A) ihre Wohnungsunternehmen alleine nicht hätten bewälti- durch private Investoren; so konnten die Kommune ent- (C) gen können. Bis Ende 2007 haben sich 390 Kommunen lastet und private Investoren einbezogen werden. In be- mit über 820 Stadtumbaugebieten beteiligt. Inzwischen sonders begründeten Einzelfällen konnte der kommunale hat sich der Wohnungsmarkt sichtbar stabilisiert. Bis Eigenanteil auf mindestens 10 Prozent reduziert werden. Ende 2007 wurden rund 220 000 der 350 000 geplanten Für sanierungsbedürftige innerstädtische Altbauten, die Wohnungen vom Markt genommen. In den Quartieren aus stadtplanerischen und Denkmalschutzgründen nicht ist eine neue Lebensqualität entstanden und die Bevölke- abgerissen werden sollten, wurde eine Soforthilfe einge- rung steht nach anfänglichen Zweifeln zum Abrissvolu- richtet, indem 2005 und 2006 bis zu 3 Prozent, 2007 bis men nun hinter dem Programm. Dies ist das Ergebnis zu 5 Prozent und seit 2008 bis zu 15 Prozent des Förder- sowohl der Gutachter als auch der parallel vom Ministe- volumens des Bundes auch für Sicherungsmaßnahmen rium eingesetzten Lenkungsgruppe, die im Auftrag des an Altbauten ohne kommunalen Eigenanteil verwendet Bundesministeriums das Programm rechtzeitig vor sei- werden können. Damit wird der Altbau vor dem Zerfall nem Ablauf im Jahr 2009 evaluiert haben. Deren Auf- gerettet und Zeit gegeben, um eine geeignete Lösung zu gabe war es, Empfehlungen zu formulieren für die finden. laufende Umsetzung des Programms und dessen Fortset- zung sowie zukünftige Handlungsfelder und spezifische Für die stadtumbaubedingte Anpassung der sozialen Schwerpunkte des Programms für die Fortsetzung aufzu- und technischen Infrastruktur hat der Bund für die Pro- zeigen. Laut Lenkungsgruppe hat die Anzahl leer- grammjahre 2006 und 2007 zusätzlich je 20 Millionen stehender Wohnungen kontinuierlich abgenommen, die Euro zur Verfügung gestellt. Für das Jahr 2008 wurden wirtschaftliche Situation der Wohnungsunternehmen hat 15 Millionen Euro und für das Jahr 2009 werden 10 Mil- sich spürbar verbessert und indirekt hat sich dadurch lionen Euro für diesen Zweck bereitgestellt. auch die wirtschaftliche Situation privater Einzeleigen- Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung die Ab- tümer verbessert. rissfrist bei der Altschuldenhilfe verlängert hat. Für die Zur Verbesserung der Gesamtsituation hat auch die bereits genehmigten Anträge sollten die Gebäude ur- Investitionszulage zur Modernisierung innerstädtischer sprünglich bis Ende 2010 abgerissen werden. Diese Frist Altbauquartiere in den Jahren 2002 bis 2004 beigetra- wird nun bis zum 31. Dezember 2013 verlängert, um den gen; genauso die befristete Befreiung von der Grunder- Unternehmen die erforderliche Zeit einzuräumen. Mit werbsteuer bei Fusionen von Wohnungsunternehmen in Änderung der Altschuldenhilfeverordnung ist jetzt auch den Jahren 2004 bis 2006 sowie die Verankerung des der Abriss von solcher Wohnfläche in die Entlastung mit Stadtumbaus im Baugesetzbuch. Bei der Wohnumfeld- einbezogen worden, die nach dem für die ursprüngliche verbesserung durch Aufwertungsmaßnahmen war es ent- Altschuldenhilfe maßgeblichen Stichtag, dem 1. Januar (B) scheidend, dass die Mittel überwiegend für die Gestal- 1993, erworben wurde. Dabei geht es vor allem um (D) tung des Wohnumfelds und des öffentlichen Raums Fälle, in denen das kommunale Wohnungsunternehmen inklusive der durch Rückbau freigewordenen Flächen im Interesse und im Auftrag der Stadt Immobilien er- und für Maßnahmen der Infrastruktur verwendet wur- worben hat, die entsprechend dem integrierten Stadtent- den. wicklungskonzept abzureißen sind, deren Eigentümer aber hierzu nicht bereit oder in der Lage waren. Die Un- Die Lenkungsgruppe hat weiterhin festgestellt, dass ternehmen erhalten somit mehr Flexibilität bei der An- es in unsanierten Gründerzeitgebieten deutliche Ent- passung ihrer Abrissplanungen an den Stadtumbaube- wicklungsdefizite gibt. Es besteht weiterhin ein gesamt- darf. städtischer Aufwertungsbedarf in den Handlungsfeldern öffentliche Räume, Grün-, Verkehrsflächen und Stadt- In dem vorliegenden Antrag erkennen wir die Erfolge bildpflege; Aufwertungsprozesse benötigen ausreichend des Programms an. Jetzt geht es darum, anhand der Be- Zeit, deshalb ist die Programmfortführung wichtig. Oft standsaufnahme durch die Gutachter und die Lenkungs- fehlen sinnvolle Nachnutzungen oder Investoren, Über- gruppe sich Gedanken zu machen, was noch zu erledi- gangssituationen und Zwischennutzungen stellen ein gen ist, das nicht ohne finanzielle Mittel vom Bund Planungsprinzip dar. bewältigt werden kann. Im Großen und Ganzen halte ich es für sinnvoll, das Programm, so wie es bislang ausge- Die Lenkungsgruppe hat auch diskutiert, inwieweit staltet war, fortzuführen. Dabei sind die Erfahrungen, die eine Zusammenführung der Programme Ost und West gemacht wurden, genauso mit einzubeziehen wie der er- sinnvoll ist, und kam zu dem Ergebnis, dass mit den ho- mittelte weitere Bedarf. So ist das Programm mindestens hen Leerständen aufgrund einst überzogener Wachstums- bis zum Jahr 2016 fortzuführen. Der finanzielle Förder- erwartungen und mit der jahrzehntelang verschleppten rahmen sollte so ausgestaltet werden, dass die genannten Sanierung von Altbauten noch vereinigungsbedingte Aufgaben des für notwendig erachteten Rückbaus von Sonderbedingungen vorhanden sind, die spezieller Re- Wohnungen, der Aufwertung von innerstädtischer Alt- gelungen bedürfen. baustruktur sowie der Pflege des Stadtbildes bewältigt werden können. Wichtig für den Erfolg des Programms war, dass das Programm als „lernendes Programm“ angelegt war, so Die bisherigen Ansätze zur Flexibilisierung des Pro- konnte auf neu entstandene Probleme flexibel reagiert gramms sollten weiter verstärkt werden, um mit regio- werden: Es gab die Möglichkeit, Aufwertungsmittel für nalspezifischen Vorgehensweisen auf die jeweilige örtli- den Rückbau einsetzen zu können. Es gab weiterhin die che Situation eingehen zu können. Ich erachte es als Möglichkeit der Übernahme des kommunalen Anteils sinnvoll, dass eine bedarfsgerechte Quote für die einzel- 22950 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) nen Städte und Kommunen weiter ermöglicht wird. Der Rückstellungen, und zwar aufgrund ihrer Zuständigkeit (C) Verteilungsschlüssel ist stärker problemorientiert festzu- zusammen mit den Finanzministerien der Länder, oder legen. Neben den bisherigen Kriterien Wohnungsbestand auch eine bessere Verzahnung der Förderprogramme der und Einwohner sind Indikatoren zu verwenden, die die KfW mit den Förderinstrumenten der Stadtentwicklung Bevölkerungsentwicklung in geeigneter Weise abbilden. – insbesondere gilt dies für das KfW-Wohneigentums- Dabei ist stets die gesamte regionale Entwicklung mit programm und das Wohnraummodernisierungspro- einzubeziehen. Die Stadtumbauziele sind im Rahmen ei- gramm sowie für die energetische Sanierung – und ner überörtlichen Kooperation abzustimmen und in den schließlich die Möglichkeit der Mobilisierung von priva- Planungen verbindlich zu berücksichtigen. Es ist ein ge- tem Kapital über neue Finanzierungsinstrumente für den eigneter Weg zu finden, den immer noch großen Nach- Stadtumbau. holbedarf bei der Sanierung innerstädtischer Altbauquar- tiere zu bewältigen. Ziel muss es sein, die Identität der Darüber hinaus fordern wir von den Ländern einen Gesamtstadt aufzuwerten. Das erhöht nicht nur die Bericht über die Durchführung der Maßnahmen. In die- Standortqualität für die Bewohner, sondern gibt auch der sem Bericht sollen nicht nur die besonders positiven Bei- Wirtschaft wichtige Impulse. spiele der Zusammenarbeit im Rahmen des Stadtumbaus geschildert werden, sondern auch angegeben werden, wo Die Fördermittel sind möglichst effizient einzusetzen. die Hürden liegen. Für das Jahr 2012 empfehlen wir der Die Kommunen sind anzuhalten, ein gut durchdachtes Bundesregierung, einen Zwischenbericht vorzulegen, Umbaumanagement zu schaffen. Die „Transferstelle damit das Programm gegebenenfalls korrigiert werden Stadtumbau Ost“ sollte dies auch weiterhin aufmerksam kann. Und rechtzeitig vor Ablauf des Programms, also begleiten. Die „Experimentierklausel“, die die Über- im Jahr 2015, sollte wiederum eine Evaluierung durch- nahme des kommunalen Anteils durch Dritte erlaubt, geführt werden, um Bilanz zu ziehen und das weitere sollte dauerhaft in die Verwaltungsvereinbarung aufge- Vorgehen diskutieren zu können. nommen werden. Neben den Wohnungsunternehmen sind die privaten Investoren künftig in geeigneter Weise Zusammenfassend und abschließend möchte ich sa- stärker mit einzubeziehen. Die Länder sind dazu anzu- gen, das Programm „Stadtumbau Ost“ ist ein Erfolgspro- halten, die Mittel im Rahmen der Wohnungsbauförde- gramm, und dennoch sind in den nächsten Jahren noch rungsprogramme so einzusetzen, dass innerstädtisches viele Aufgaben zu lösen. Ich halte eine Fortsetzung bis Wohneigentum in Neubau und Bestand sowie generatio- 2016 deshalb für notwendig. nengemischte Stadtquartiere gefördert werden und er- gänzend zum Stadtumbau wirken. Joachim Günther (Plauen) (FDP): Wir sprechen heute über das bislang sehr erfolgreiche Bund-Länder- Ein mir besonders wichtiger Punkt ist es, die Verbind- (B) Programm „Stadtumbau Ost“, das seit seiner Einführung (D) lichkeit der Stadtentwicklungskonzepte insgesamt weiter im Jahr 2002 eines der wichtigsten Instrumente der zu stärken, um die Planungssicherheit für alle beteiligten Stadtentwicklungspolitik in den neuen Ländern ist. Da- Akteure, insbesondere auch für die privaten Grundstücks- bei stehen die Innenstadtentwicklung, der bedarfsorien- eigentümer und die Träger der Infrastruktureinrichtun- tierte Umbau, die Aufwertung der Stadtquartiere, aber gen, zu erhöhen. Hierzu müssen die integrierten Stadt- auch immer noch der Wohnungsrückbau im Mittelpunkt entwicklungskonzepte unter Beachtung der dauerhaft einer nachhaltigen Strategie. weiter benötigten Wohnungsbestände und der Entwick- lung der Städte insgesamt weiter fortgeschrieben wer- Die Evaluierung durch das Deutsche Institut für Ur- den. Aufbauend auf dem integrierten Planungsansatz, banistik (Difu) und das Institut für Stadtforschung und der dem Stadtumbau zugrunde gelegt wurde, sind geeig- Strukturpolitik (IfS) bekräftigt, dass sich das Programm nete Beteiligungsverfahren zu finden, um zum einen den „Stadtumbau Ost“ in der Praxis bewährt hat. Dem Bürgerinnen und Bürgern die Rückbaumaßnahmen früh- schließt sich auch die Stellungnahme der Lenkungs- zeitig zu erläutern und zum anderen die unterschiedli- gruppe an, die aus Vertretern von Bund, Ländern, chen Bedürfnisse von Bewohnern, Gewerbetreibenden, Gemeinden, Verbänden, Wohnungsunternehmen und Händlern und anderen im Rahmen des Stadtumbaus stär- Mietorganisationen besteht. Nun gilt es, das Stadtum- ker berücksichtigen zu können. bauprogramm entsprechend der Evaluierungsergebnisse anzupassen, weiterzuentwickeln und die Förderrahmen Aufgrund des Erfolgs der bereits früher vorhandenen zu überprüfen. Gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise ergänzenden Instrumente sollte geprüft werden, inwie- kann es wesentlich zur Stabilisierung von Arbeitsplätzen weit und in welchem Rahmen diese aufgelegt werden beitragen. Ich begrüße die Empfehlung der Gutachter können, um den Effekt des Programms „Stadtumbau Ost“ und der Lenkungsgruppe, das Stadtumbauprogramm Ost insbesondere in den Kernproblemen zu erhöhen. Dies als eigenständiges Programm im Bereich der Städte- gilt für die Härtefallregelung nach § 6a Altschuldenhilfe- bauförderung mindestens bis zum Jahr 2016 fortzuset- verordnung sowie für die Investitionszulage für Moder- zen. nisierungsinvestitionen im Altbaubestand. Darüber hi- naus könnten dazu beitragen: eine bessere Information Für die FDP war und ist das Bauen im Bestand sowie der privaten Eigentümer und Investoren über die bereits die Umnutzung leerstehender Gebäude verstärkt förde- vorhandenen Möglichkeiten zur steuerlichen Absetzbar- rungswürdig. Vorhaben wie Abriss und Aufwertung keit sowie das Lösen der steuerlichen Probleme der müssen dabei immer auf ihre Demografiefestigkeit über- Versorgungsunternehmen, wie zum Beispiel der Abzugs- prüft werden. Rückbau ist nach wie vor wichtig, um den fähigkeit von Rückbaumaßnahmen, der Bildung von Wohnungsleerstand nicht wieder ansteigen zu lassen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22951

(A) wobei Wohnungsleerstände inzwischen sowohl in den In vielen Fällen überschneiden sich die Stadterneue- (C) neuen als auch den alten Bundesländern ein regionales rungsprogramme „Allgemeine Städtebauförderung“, Problem sind. Bisher konnte der Leerstand in den Be- „Stadtumbau Ost und West“, „Soziale Stadt“. Sie müs- ständen des DDR-Wohnungsbaus reduziert und das Ent- sen hinsichtlich ihrer Zielsetzung, Zielerreichung und stehen zusätzlicher Leerstände verhindert werden. Aus Umsetzung neu überprüft und sollten zu gegebener Zeit den mittelfristigen Prognosen zur Bevölkerungs- und zu einem modernen Stadt- und Raumentwicklungspro- Haushaltsentwicklung wird jedoch deutlich, dass insge- gramm zusammengefasst werden. Zur Beantragung ei- samt auf dem Wohnungsmarkt ein erneutes Ansteigen ner Förderung durch Mittel des Bundes genügt ein abge- der Leerstände droht, wenn der Rückbau nicht im selben stimmtes Stadt- und/oder Raumentwicklungskonzept, Maße fortgesetzt wird. So begrüße ich die Empfehlung das die lokale Situation und Entwicklungsmöglichkeiten der Gutachter und Lenkungsgruppe – zusätzlich zu den abbildet. Die Förderung erfolgt pauschal, der Einsatz der aus dem bisherigen Stadtumbauprogramm noch offenen Mittel obliegt den Kommunen. Eine Mitfinanzierung der Rückbauzahlen – bis 2016 den Rückbau von weiteren Projekte durch Private ist wünschenswert und kann den 200 000 bis 250 000 Wohnungen aus Mitteln der Städte- kommunalen Eigenanteil ersetzen. – So weit zu unseren bauförderung zu unterstützen. Vorschlägen. Nachdem die bisherigen Stadtumbauprogramme vor allem den Rückbau im Blick hatten, muss nun verstärkt Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Im vorliegenden An- die Aufwertung der städtischen Kerne und Stadtquartiere trag der Koalitionsfraktionen finden sich schon im Titel zum Ziel werden. Bei der Aufwertung der Innenstädte drei Schlüsselwörter. Diese Schlüsselwörter sind „Stadt- und des innerstädtischen Altbaus können mittlerweile umbau Ost“, „Erfolgsprogramm“ und „Fortsetzung“. In sichtbare Erfolge festgestellt werden. Die eingetretenen der Logik der Regierungsfraktionen stellt sich das 2002 Aufwertungseffekte in verschiedenen städtebaulich be- begonnene Programm „Stadtumbau Ost“ als ein Er- deutenden Teilräumen, zu denen auch zukunftsfähige folgsprogramm dar, das sich in der Praxis bewährt habe Plattenbaugebiete zählen, beginnen vielerorts auf das ge- und das in diesem Sinne folgerichtig bis zum Jahr 2016 samte Stadtbild auszustrahlen. Innerstädtische Stadt- fortgesetzt werden solle – wenn auch mit einigen Ände- quartiere durchlaufen eine differenzierte Entwicklung. rungen wie einer stärkeren Flexibilisierung des Trotz erster positiver Effekte besteht weiterer gesamt- Programms, einem stärker problemorientierten Vertei- städtischer Aufwertungs- und Gestaltungsbedarf. lungsschlüssel und einer dauerhaften Aufnahme der „Experimentierklausel“ in die Verwaltungsvereinbarung, Insbesondere der demografische Wandel bedeutet welche die Übernahme des kommunalen Anteils durch eine Herausforderung, aber auch eine Chance für die Dritte erlaubt. Das alles klingt auf den ersten Blick (B) Stadtentwicklung. Eine Fortschreibung der gegenwärti- schlüssig und glatt, sehr glatt sogar. Aber ist es auch so? (D) gen Entwicklung bedeutet, dass die Gesamtbevölkerung Wenden wir uns noch einmal den bereits erwähnten bis zum Jahr 2050 auf circa 68,5 Millionen sinkt. Drei Schlüsselwörtern im vorliegenden Antrag zu, und gehen von vier deutschen Kreisstädten werden bereits im Jahr wir ans Entschlüsseln. Dazu habe ich jetzt ein paar Fra- 2020 weniger Einwohner zählen als heute. Noch stärker gen: Stimmt die generelle Beschreibung des „Stadtum- fällt die Entwicklung außerhalb der Städte aus. Zugleich bau Ost“ als Erfolgsprogramm überhaupt? Sollte es wie verschiebt sich bis zum Jahr 2050 die Relation der im bisher fortgesetzt werden? Oder braucht es deutliche Än- Arbeitsleben stehenden Bevölkerung zwischen 20- und derungen? Und vor allem frage ich: Erfolg für wen? 64- zu den über 65-Jährigen dramatisch. Der Anteil von 20- bis 64-Jährigen an der Gesamtbevölkerung wird Ziel des zunächst für den Zeitraum 2002 bis 2009 an- dann nur noch 60 Prozent, der Anteil der über 65-Jähri- gelegten Stadtumbauprogramms Ost war es, die Attrak- gen hingegen bereits über 30 Prozent betragen. In tivität der Städte in den neuen Bundesländern zu erhöhen diesem Zusammenhang wird es eine große Herausforde- und das damalige Überangebot an Wohnraum durch den rung sein, vor allem altersgerechtes Wohnen zu garantie- Abriss von 350 000 Wohnungen zu reduzieren – euphe- ren. mistisch als „Rückbau“ bezeichnet. Vor dem Hinter- grund rückläufiger Bevölkerungszahlen und hoher Leer- Vor allem strukturschwache Städte und Regionen stände sollte die Kombination beider, sich allerdings werden von dieser Entwicklung betroffen sein, wo sich zum Teil widersprechender Ziele die Zukunftsfähigkeit diese Trends durch Abwanderung verstärken. Zugleich der ostdeutschen Städte sichern. werden insbesondere wirtschaftlich starke Regionen weiter wachsen. Die Stadtentwicklungsprogramme müs- Aber schon zu Beginn des Stadtumbauprogramms äu- sen in diesem Sinne angepasst und flexibilisiert werden. ßerten Praktiker die Meinung, dass das, was aus woh- Wachstum und Schrumpfung bedeuten jeweils verschie- nungswirtschaftlicher Sicht sinnvoll ist, sich aus stadt- dene Herausforderungen, die es politisch zu gestalten planerischer Sicht als eine Katastrophe erweisen kann – gilt. Ziel muss es sein, die Zentren zu stärken, schrump- und umgekehrt. Zur Frage nach dem Erfolg des Pro- fende Städte zu stabilisieren und generell die Attraktivi- gramms gehört also auch die Frage, ob und, wenn ja, wie tät städtischen Wohnens und Arbeitens und damit die un- dieser dem Programm von Anfang an innewohnende ter den Bedingungen des demografischen Wandels aus Zielkonflikt gelöst wurde. Denn natürlich kann Abriss ökologischen, ökonomischen und sozialen Gründen auch eine Chance sein, wenn er sich denn einem sinnvol- sinnvolle und notwendige Reurbanisierung zu erleich- len gesamtstädtischen Leitbild unter- oder besser in ein tern. solches einordnet. Unter „sinnvoll“ verstehe ich in die- 22952 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) sem Zusammenhang das Nutzen sich bietender Chancen – Insgesamt gesehen kann der Stadtumbau Ost nur dann (C) so zum Beispiel die Chance, die freiwerdende Fläche am als eine Erfolgsgeschichte gelesen werden, wenn Zu- Stadtrand der Natur zurückzugeben, die jetzt verklei- kunft nicht allein aus dem Abriss gewonnen werden soll. nerte Stadt überirdisch als Stadt der kurzen Wege zu or- Es geht vielmehr um positive und für die Einwohnerin- ganisieren und unterirdisch auch die technische Infra- nen und Einwohner nachvollziehbare Perspektiven ihrer struktur zurückzubauen. Das verringert letztlich die jeweiligen Heimatstadt. Es geht um strategische gesamt- finanziellen Belastungen ihrer Bewohnerinnen und Be- städtische Entscheidungen. Es geht um das Gestalten wohner. und um das Erhalten und Schaffen von Identität. Und es geht nicht zuletzt um das Thema Altschuldenentlastung. Zudem darf man bei der Betrachtung des Stadtum- In diesem Zusammenhang nehmen wir die Formulierung baus Ost und bei seiner Bewertung die große Dimension des vorliegenden Antrags sehr aufmerksam zur Kennt- der Herausforderung nicht vergessen: Fast ein Drittel der nis, wonach die Bundesregierung auch aufgefordert Kommunen, die sich an diesem Programm beteiligen, wird, zu prüfen, „ob eine neue Antragstellung ähnlich hatten es mit einem gesamtstädtischen Wohnungsleer- der Härtefallregelung nach § 6 a Altschuldenhilfeverord- stand von mehr als 15 Prozent zu tun. In 37 Städten stan- nung für eine befristete Zeit erforderlich und finanzier- den sogar mehr als 20 Prozent, also ein Fünftel, aller bar ist“. An dieser Stelle möchte ich natürlich daran erin- Wohnungen leer. Und obwohl inzwischen insgesamt nern, dass meine Fraktion gerade erst einen Antrag zur mehr als 250 000 Wohnungen abgerissen wurden, wurde Entschuldung der ostdeutschen Wohnungsunternehmen bisher lediglich ein weiteres Anwachsen des Leerstandes eingebracht hat, dem Sie, meine Damen und Herren von verhindert – womit wir wieder bei der Frage nach dem der Koalition, im Laufe des parlamentarischen Verfah- Erfolg wären. Denn der Erfolg des Stadtumbaupro- rens gern noch zustimmen können. gramms Ost – was ja nicht ohne Grund so und nicht etwa „Abrissprogramm Ost“ heißt – kann nicht allein quanti- Auch wenn wir nicht in allen Fragen unbedingt einer tativ und an wohnungswirtschaftlichen Kennzahlen Meinung mit dem Bundesverband deutscher Wohnungs- orientiert gemessen werden, sondern es ist vor allem und Immobilienunternehmen, GdW, sind, teilen wir aus- nach den qualitativen Ergebnissen gleich in doppelter drücklich dessen Auffassung, dass die entscheidende Hinsicht nach dem Platz des Menschen in diesem Pro- Flankierung einer Neuauflage des Programms eine ab- gramm zu fragen: Wie wurden und werden die Einwoh- schließende Regelung der Altschulden der Wohnungs- nerinnen und Einwohner in die Vorbereitung und Reali- unternehmen sein müsse. Ohne eine Streichung der Alt- sierung des Stadtumbaus Ost einbezogen? Werden auch schulden bei Abriss der damit belasteten Wohnungen die gehört, die letztlich in und mit den Resultaten leben würden die Wohnungsunternehmen nur in seltenen Aus- werden? Und: Haben sich die Standortfaktoren verbes- nahmefällen in der Lage sein, sich weiter am Stadtum- (B) sert? Was hat sich für die Menschen, für die Bewohne- bau zu beteiligen. Die mögliche Folge aus GdW-Sicht: (D) rinnen und Bewohner, für die Mieterinnen und Mieter, Das gewünschte neue Stadtumbauprogramm könnte konkret getan? Wie lebt es sich in den umgebauten Städ- seine Wirkung nicht entfalten, und ganze Wohnquartiere ten in den neuen Bundesländern? würden sowohl baulich als auch sozial erodieren. Insgesamt gesehen erweist sich die qualitative Bewer- Alles in allem bedeutet Erfolg im Stadtumbau Ost, tung in der Praxis als schwierig, aber dennoch machen solche Städte zu entwickeln, deren kommunale Struktu- auch aus linker Sicht eine Reihe überzeugender Stadt- ren funktionieren und in denen man gern bleiben will. umbauten wie in der Lutherstadt Wittenberg, in Cottbus, Das ist das wohl wichtigste Kriterium für die Bewertung in Güstrow und Schwerin oder auch in Schwedt an der des Stadtumbauprogramms. Und daher kann die Haupt- Oder Mut und lassen an den Erfolg des Programms glau- frage auch nur lauten: Ist es mit diesem Programm ge- ben. So hat sich gerade Dagmar Enkelmann, Erste Parla- lungen, Zukunft für die beteiligten Städte zu organisie- mentarische Geschäftsführerin unserer Bundestagsfrak- ren? tion, bei einer mehrstündigen Visite in Schwedt von den positiven Seiten des Stadtumbaus Ost überzeugen kön- Aus unserer Sicht, aus Sicht der Bundestagsfraktion nen. Frau Dr. Enkelmann fügte hinzu: Angesichts des Die Linke, sollte das Programm „Stadtumbau Ost“ wie demografischen Wandels und eines anhaltenden Weg- beantragt als eigenständiger Bereich der Städtebauförde- zugs unter anderem aus Schwedt bleibt die Aufgabe, den rung auch über das Jahr 2009 hinaus und mindestens bis Stadtumbau finanziell zu fördern, aktuell. Kommunale 2016 fortgesetzt werden. Gerade im Interesse der Zu- Wohnungsgesellschaften beziehungsweise -genossen- kunftsfähigkeit ostdeutscher Städte, gleichsam im Inte- schaften allein wären damit überfordert. resse urbaner Landschaften, sollte mehr als bisher Wert auf die menschliche und soziale Dimension dieses Um- Unsere Vorschläge resultieren aber nicht nur aus Stu- baus gelegt werden. Im Sinne des auch von den Antrag- dienreisen, sondern sind vor allem das Ergebnis intensi- stellern hervorgehobenen „lernenden Programms“ ist ver Diskussionen auf drei Stadtumbaukonferenzen, die immer wieder nach der Aufwertung der städtischen die Fraktion Die Linke in dieser Legislaturperiode in Quartiere zu fragen, statt lediglich Abrisszahlen zusam- zwei ostdeutschen Städten – Bitterfeld und Eisenhütten- menzuzählen. stadt – sowie in Essen durchgeführt hat. Alle drei haben bestätigt, dass Stadtumbau nicht nur als wohnungs- Aus unserer Sicht darf bei aller Bedeutung finanziel- wirtschaftliche Aufgabe gesehen werden kann, sondern ler Fragen nicht allein das Geld die künftige Entwick- als gesamtgesellschaftliche Herausforderung verstanden lung der Städte in Ostdeutschland bestimmen. Erste und behandelt werden muss. Priorität müssen vielmehr die Ansprüche, Bedürfnisse Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009 22953

(A) und Lebensgewohnheiten der Menschen, der Einwohne- zierungsmöglichkeiten spielten eine geringere Rolle, (C) rinnen und Einwohner, haben. Von einem Erfolg des weil bestimmte Vorgaben (zum Beispiel der zu hohe Ko- Programms kann dann gesprochen werden, wenn solche finanzierungsanteil der Kommunen) nicht praxistauglich Meinungen zu hören sind wie aus Cottbus, wo sich eine waren und erst durch die Erfahrungen vor Ort im Rah- Vertreterin des Mieterbundes folgendermaßen über den men der jährlich mit den Ländern ausgehandelten Ver- Stadtumbau in Cottbus-Sachsendorf äußerte: Die Men- waltungsvereinbarungen angepasst werden mussten. Das schen, die hier wohnen, wollen nicht mehr weg, weil sie war und ist der Vorteil eines „lernenden“ Programms, sich wohlfühlen. und ich wünschte mir, dass wir auch bei anderen Pro- grammen und Gesetzen diesen „lernenden“ Charakter Im Übrigen sind sinkende Einwohnerzahlen und da- stärken würden. her leerstehende Wohnungen schon längst kein allein ostdeutsches Problem mehr. Nach Expertenangaben Eines ist jedoch Fakt, und daran wird auch die Verlän- dürfte spätestens in zwei Jahrzehnten jede zweite deut- gerung des Programms bis 2016 nichts ändern: Der sche Stadt mit sinkenden Einwohnerzahlen konfrontiert Leerstandsdruck wird hoch bleiben, möglicherweise sein. Daher erscheint es auch aus unserer Sicht durchaus werden der demografische Wandel und der weitere Zu- angebracht, beide Programme, „Stadtumbau Ost“ und wachs an Wohngebäuden den Bedarf an Rückbaumaß- „Stadtumbau West“, weiterzuentwickeln. Genügend Er- nahmen sogar noch erhöhen. Trotz dieser Erkenntnisse fahrungen aus den neuen Bundesländern, Erfolgsge- fördert Schwarz-Rot weiterhin den Wohnungsneubau schichten und solche, die erst noch zum Erfolg geführt auf der grünen Wiese durch Eigenheimbau, sprich werden müssen, bringt Ostdeutschland mit. Und hier Wohnriester. Und Kommunen leisten sich einen ruinösen gibt es einmal die Chance, dass der Osten Vorreiter für Wettbewerb um Zuzüge, indem Wohngebiete und billige den Westen sein kann. Baugrundstücke in direkter Nachbarschaft, Stichwort: „Speckgürtel“, miteinander konkurrieren. Dies alles ge- schieht mit Steuergeldern, die andererseits dann auch in Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es ist die Hand genommen werden, wenn die dadurch indu- schon ein Kreuz mit dieser Großen Koalition. Einerseits zierten Leerstände später vom Markt bereinigt werden. müsste sie ja angesichts ihrer satten Mehrheit im Bun- Das ist doch der Wahnsinn im Quadrat! Und ich will die destag vor Kraft und Energie strotzen und die Republik Probleme des ungebremsten Flächenverbrauchs und der durcheinanderwirbeln. Aber davon kann bei Schwarz- immer geringeren Tragfähigkeit öffentlicher Infrastruk- Rot keine Rede sein: Beide Körperhälften bewegen sich tureinrichtungen hier überhaupt nicht ansprechen. schon lange nicht mehr synchron zu- und miteinander. Und das führt bekanntermaßen zu dem Stillstand, den Der Leerstand wird in Ostdeutschland unser ständiger (B) wir schon seit vielen Monaten erleben und erleiden müs- Begleiter und auch eine stete Erinnerung an unser Hand- (D) sen. lungsversagen sein. Er wird uns viel mehr Geld kosten, als wir es heute auszusprechen wagen, und er wird uns Und der betrifft auch das wichtige Thema „Stadtum- daher in den kommenden Jahren zwingend neue Lösun- bau Ost“. Um der Legendenbildung vorzubeugen: Ich gen abverlangen. Spätestens zu Beginn der nächsten brauche nicht zu betonen, dass meine Fraktion dieses Förderperiode 2009 bis 2016 muss nämlich geklärt wer- Programm entscheidend mit initiiert und geprägt hat. den, wie eine Regulierung des Wohnungsmarktes in Wir haben uns immer dazu bekannt, dass das Programm schrumpfenden Regionen ohne überbordende Staatsin- auch über das Jahr 2009 verlängert werden muss. Aber tervention und den übermäßigen Einsatz von Steuergel- das bedeutet nicht, dass wir allem zustimmen, was zum dern machbar ist. Beispiel diese Koalition zum „Stadtumbau Ost“ zu sagen hat bzw. zu tun gedenkt. So frage ich mich, warum neun Was Schwarz-Rot in diesem Zusammenhang immer Monate seit der Evaluierung vergehen mussten, bevor wieder verschweigt, ist die Tatsache, dass die Mittel des wir uns wieder mit diesem Thema im Ausschuss be- „Stadtumbaus Ost“ zu einem großen Teil aus den über- schäftigen. Und ich frage mich des Weiteren, warum der proportionalen Leistungen des Bundes aus dem Korb II heute debattierte Antrag es wieder einmal erst fünf Mi- des Solidarpakts II stammen. Das heißt, die Bundes- nuten vor der Angst als Zusatzpunkt – und dazu noch als regierung und die Große Koalition bejubeln sich für die Protokollrede – auf die Tagesordnung geschafft hat. Fortführung des Programms, aber sie verwenden Mittel, die für die Herstellung einer nachhaltigen und selbststän- Als die Lehmann-Grube-Kommission 2001 ihre Zah- digen wirtschaftlichen Entwicklung in Ostdeutschland len über die Wohnungsleerstände in Ostdeutschland prä- vorgesehen waren. Das Geld ist zu schade, um hausge- sentierte, herrschte blankes Entsetzen, denn eine derartig machte Fehlentwicklungen auf dem Wohnungsmarkt zu katastrophale Situation hatte niemand erwartet. Insofern korrigieren. Wie stellen Sie sich das eigentlich nach dem war es auch richtig, die Schwerpunkte in den ersten Jah- Auslaufen des Solidarpaktes im Jahre 2019 vor, und wie ren dort zu setzen, wo die Not am größten war. Das wa- passt das mit einer rigiden Sparpolitik zusammen, die ren die Leerstände der großen kommunalen und genos- spätestens nach dem Überstehen der aktuellen Wirt- senschaftlichen Wohnungsgesellschaften, die kurz vor schafts- und Finanzkrise keinen Haushalt ungeschoren dem wirtschaftlichen Ende standen. Dabei kamen natür- davonkommen lassen wird? lich einige Aspekte wie zum Beispiel die Aufwertung „unter die Räder“, die zwar von Anfang an im Pro- Wir müssen uns also der Frage stellen: Was kann ab gramm angelegt waren und die für meine Fraktion min- 2016 eigentlich noch der Staat und was müssen die destens genauso wichtig waren und sind. Diese Finan- Eigentümer, das heißt kommunale, genossenschaftliche 22954 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 211. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 19. März 2009

(A) und freie Wohnungsbaugesellschaften und private nerationengerecht gestalten müssen. Dafür müssen die (C) Wohngebäudeeigentümer aus eigener Kraft leisten? Ge- Aufwertungsmittel verwendet werden, denn es nützt uns rade die letztgenannte Gruppe ist mein großes Sorgen- nicht, wenn wir damit schön sanierten Leerstand in Alt- kind und war häufig Leidtragende im bisherigen bauquartieren schaffen. Die Lebensbedingungen insbe- Prozess, da sie häufig nicht einmal die benötigten Eigen- sondere für die schwächeren Stadtbewohner wie Kinder mittel zur Verfügung hatte, um am „Stadtumbau Ost“ und Alte müssen daher signifikant verbessert und die At- teilzunehmen. Die starken kommunalen und genossen- traktivität der Klein-, Mittel- und Großstädte erhöht wer- schaftlichen Akteure betrieben zudem zum Teil ihre den. Wir brauchen daher endlich den Paradigmenwech- Leerstandspolitik ohne Rücksicht auf die privaten Eigen- sel weg von der autofreundlichen hin zur menschen- und tümer, sodass in einigen Städten zum Teil absurd perfo- bürgerfreundlichen Stadt. Ansonsten werden wir schnell rierte Straßenzüge und Quartiere entstanden sind. an die Grenzen der Aufwertung stoßen, denn diese kann Eigentlich hätte eine bessere Abstimmung zwischen den nur unter Beachtung aller Teilaspekte einer lebenswerten Betroffenen im Rahmen von integrierten Stadtentwick- Stadt erfolgreich sein. lungsplänen solche Fehlentwicklung ausschließen müs- sen. Unsere Beobachtung war und ist jedoch, dass es Zu guter Letzt möchte ich noch auf das Dauerthema zwar Stadtentwicklungspläne gab und gibt, aber dass „Altschuldenhilfe“ im „Stadtumbau Ost“ eingehen. Wir sich viele Akteure nicht danach richten bzw. nicht da- werden uns auch mit den gut gemeinten Vorschlägen aus nach gerichtet haben. Diese Missachtung der eigenen dem Antrag der Großen Koalition dieses ewige Ärgernis Planung und die mangelhafte Partizipation der Betroffe- nicht vom Hals schaffen. Der grundsätzliche Webfehler nen hat in vielen Orten zu Recht zu Protesten und erheb- aus dem Einigungsvertrag bleibt erhalten und die beste- lichen Konflikten geführt, die auch dadurch nicht gelöst henden Rest-Altschulden werden durch Zins und Zinses- werden konnten, dass das Verhältnis zwischen Abriss zins schon dafür sorgen, dass sie ein Dauerthema blei- und Aufwertung deutlich zugunsten der Aufwertung ver- ben. Hier fehlt einfach der Mut aufseiten der Großen schoben wurde. Denn damit bleiben die Probleme des künftigen Leerstandes ungelöst. Koalition, einzugestehen, dass nur ein radikaler und ein- maliger schmerzhafter Schnitt dazu führen kann, dass Der „Stadtumbau Ost“ könnte allerdings durch die ge- diese überflüssige Belastung ein für allemal der Vergan- stärkte Aufwertungskomponente eine wirkliche Chance genheit angehört. Ohne eine dauerhafte Klärung der Alt- sein, den ökologischen und klimagerechten Umbau der schuldenproblematik wird es keine eigenwirtschaftliche ostdeutschen Städte zu befördern. Nur lebenswerte Lösung der Leerstandsproblematik geben. Daher werden Städte werden in Zukunft eine Überlebenschance haben, Bund und Länder immer wieder dafür in die Verantwor- und das heißt auch, dass wir sie demografiefest und ge- tung gezogen. Und das wird uns noch viel Geld kosten. (B) (D)

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