Fremdenverkehr vor dem Zweiten Weltkrieg

Oliver Kersten und Hasso Spode

touristische Reise schließlich zu einem litisch eingeleitete Entprivilegisierung Heilbäder und Kurorte 51%, auf die 356 festen Bestandteil der Lebensgestaltung des Reisens wird mit dem Durchbruch Klein- und Mittelstädte 12% und auf in den Industrieländern. des Massentourismus in den 1960er Jah- die 57 Großstädte 23%. Auf der Karte ren weitgehend Wirklichkeit. Zugleich nicht enthalten sind die kleineren Phasen des Reisens hat sich die Quote der Auslandsreisen Fremdenverkehrsorte und Sommerfri- In dem sozialen und räumlichen Aus- stark erhöht. schen. Mit Ausnahme einiger Seebäder breitungs- und zugleich Wandlungspro- fehlen somit auch jene Orte, die zu die- zess von Reisegewohnheiten lassen sich Fremdenverkehr vor dem sem Zeitpunkt zumeist von der NS-Frei- grob folgende Phasen unterscheiden: Zweiten Weltkrieg zeitorganisation „Kraft durch Freude“ In der ins 19. Jh. reichenden Entste- Die Karte ᕢ zeigt die wichtigsten (KdF) beschickt wurden. Zum einen be- hungsphase stellt die touristische Reise Fremdenverkehrsorte in Deutschland vorzugte KdF touristisch unerschlossene eine durch Vermögen finanzierte, im kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Erfasst Gebiete, zum anderen das gerade „heim Lebenslauf seltene und entsprechend sind alle Orte, die mindestens 100.000 ins Reich“ geholte Österreich. KdF war Familienurlaub auf Rügen 1911 herausgehobene Unternehmung dar. Übernachtungen gemeldet hatten. Die der größte Reiseveranstalter der Welt; Die Quote der Auslandsreisen war Masse des touristischen Reiseverkehrs zwischen 1934 und 1939 wurden hoch, ihre absolute Zahl, wie die aller entfiel dabei auf die See- und Kurbäder 7,4 Mio. Urlaubs- und 38 Mio. Kurzrei- Tourismus – die scheinbar zweckfreie touristischer Reisen, gering. In der lan- (durchschnittliche Aufenthaltsdauer 13 sen verkauft. Hauptmotiv des NS-Re- Vergnügungsreise – ist ein historisch gen, noch weiter unterteilbaren Aus- bzw. 9 Tage), wobei die ersteren über- gimes war hierbei die Gewinnung der recht junges Phänomen. In ihn flossen breitungs- und Formierungsphase bis zur wiegend Touristen i.e.S. beherbergten, Loyalität der Arbeiterschaft. Die ver- sowohl ältere Reiseformen, wie die Pil- Mitte des 20. Jhs. wird Reisen zu einem während letztere häufig aus medizini- kündete „Brechung des bürgerlichen ger- Bäderreise, als auch der uni- in den Jahresturnus eingebetteten Frei- schen Gründen aufgesucht wurden. Die Reiseprivilegs“ blieb zwar im Ansatz verselle Kontrast von Fest und Alltag zeitverhalten. Die soziale Exklusivität oft fließenden Grenzen zwischen Ver- stecken, doch immerhin erreichte KdF ein. Doch bildet er eine Struktur eige- lockert sich schrittweise, touristische gnügungs- und Heilaufenthalt sind sta- eine Quote von einem Zehntel am Ge- nen Rechts. Seine Ursprünge sind in Institutionen und Infrastrukturen wie tistisch nicht erfassbar. In der Gruppe samttourismus und machte in breiten, der Verzeitlichung des Denkens und Verkehrsvereine, Reisebüros, Hotelle- der Klein- und Mittelstädte sowie der vom Tourismus sonst weithin ausge- Fühlens im 18. Jh. zu suchen, in grund- rie, Verkehrswege etc. werden auf- und Großstädte (durchschnittliche Aufent- schlossenen Schichten die Idee des Rei- legenden Veränderungen und Ambiva- ausgebaut, und ein Set touristischer haltsdauer jeweils 3 Tage) überwog der sens nachhaltig populär. Generell för- lenzen der Auffassung von Natur und Praktiken verfestigt sich. Der Urlaubs- Geschäftsreiseverkehr, doch waren etli- derte das NS-Regime den Tourismus Geschichte, die mit der Herausbildung reise werden dabei nun zweckrationale che dieser Städte, wie Heidelberg, ganz stärker als seine Vorgänger. der Moderne im Zusammenhang stehen: Begründungen zugewiesen: so diene sie auf Besichtigungstourismus eingestellt. 60 Jahre später liegt der Reiseverkehr Während die Aufklärung den Fort- der Erholung, auch der Bildung und Dieser spielte auch in einigen Groß- zahlenmäßig auf einem deutlich höhe- schritt als das Ende der Unmündigkeit Völkerverständigung. Die jährliche Rei- städten eine wichtige Rolle, wie in Ber- ren Niveau, obwohl auffällt, dass die feierte, sahen andere, wie Rousseau, se wird im Bürgertum zur Selbstver- lin – mit 2,1 Mio. Gästen und 4,9 Mio. meisten 1938/39 populären Ferienorte hierin im Gegenteil einen Verlust an ständlichkeit. Überwiegend, zumal nach Übernachtungen der Spitzenreiter. auch heute noch viel frequentiert wer- Natur und Freiheit. Die frühromanti- dem Ersten Weltkrieg, liegen die Desti- Die Reichsstatistik, auf der die Karte den. In Südwestfalen, Rheinland-Pfalz sche Zivilisationskritik entwickelte ei- nationen im Inland: im Alpenraum, in basiert, registrierte für 1938/39 insge- oder Ostbayern sowie im Umkreis von nen „touristischen Blick“ auf vermeint- den Mittelgebirgen, an Nord- und Ost- samt 29 Mio. Anmeldungen und Ballungsgebieten sind zahlreiche Orte lich authentische Landschaften und see sowie in Städten. 118 Mio. Übernachtungen, darunter hinzugekommen, die den Wert von Kulturen, der bis heute Motivation und In die zweite Hälfte des 20. Jhs. fällt 2,2 bzw. 7,5 Mio. Auslandsgäste (ein- 100.000 Übernachtungen übersteigen. Verhalten der Touristen mit prägt. Zu- schließlich die Durchsetzungs- und Kon- schl. Ostmark und Sudetengau). Von Dabei ist zu berücksichtigen, dass heute nächst auf kleine, adelig-bildungsbür- solidierungsphase: Die bereits zuvor wirt- den Übernachtungen entfielen auf die etwa zwei Drittel aller Urlaubsreisen ins gerliche Eliten beschränkt, wurde die schaftlich, technisch und dann auch po- 125 erfassten Seebäder 14%, auf die 768 Ausland führen.ͷ

Wenningstedt Zeitraum der Gründung 1855 ³ Gründungsjahre deutscher Seebäder* 1790 - 1800 Westerland DÄNEMARKVidå 1801 - 1820 1855 1821 - 1840 O S T S 1841 - 1860 Wyk auf Föhr 1819 Glücksburg E 1861 - 1880 Flensburg 1872 E 1881 - 1910 Amrum (Nebel, Hiddensee (Kloster-Grieben, Norddorf, Wittdün) Damp 1973 1973 - 1985 1890 Neuendorf, Vitte) 1896 Eckernförde 1830 Übernachtungen 1998 1881 1825 E Baabe 1896 in Tsd. E Eider I I I Laboe Heiligenhafen I I Göhren 1899 S St. Peter und I I 1875 1871 1816 > 1000 I Doberan- D Ording 1877 I Kiel Heiligendamm R I Kellenhusen Dahme 1855 Heringsdorf I 1794 Graal 1820 Lubmin O I 1890 1824 I Müritz 1820 1886 500 - 1000 N Schleswig-I Helgoland Büsum I nal Sierksdorf Grömitz 1813 Warnemünde 1805 Bansin 1890 I -Ka Gr. Plöner 1826 1836 e Neustadt i.H. 1827 I e See 1856 250 - 500 s Kühlungsborn t Pelzerhaken 1906 I Neumünster Haffkrug 1810 Ahlbeck s 1880 I O Timmendorfer Scharbeutz 1830 100 - 250 - 1853 I d Strand 1865 < 100 r Trave- I Stör Mecklenburg-Peene I No Niendorf 1854 münde Boltenhagen Spiekeroog I w Norderney 1802 i.M. 1803 o To

Langeoog 1809 Wangerooge Lübeck n ll I r Kumme- e 1797 1830 1804 Trave a n

W s

Juist Cuxhaven I rower e 1840 1816 I Schweriner See

HolsteinI See Baltrum Carolinensiel I Vorpommern I Schwerin

1876 1983 I Neubrandenburg r Bremerhaven HamburgI e Borkum k Wilhelmshaven I c

1850 Hamburg I e U I Müritz Sude Elde

Oste E I Plauer l I be See 0 25 5075 100 km

NiedersachsenHam.-Harburg I I I * Seebäder, deren Gründungsjahr nicht ermittelt

© Institut für Länderkunde, Leipzig 2000 Autor: H.Spode I werden konnte, sind nicht dargestellt. Maßstab 1: 2250000 I

22 Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland – Freizeit und Tourismus · Tourismus vor dem Zweiten Weltkrieg Westerland

Wyk auf Gebiet der heutigen Bundesrepublik Föhr

Wiek Amrum Hidden- T see Saßnitz S Prerow Zingst Binz S E E E O Göhren E Sankt Peter-Ording S Kiel Stralsund R D N O Malente Warne- N o r d m a r k münde Graal-Müritz Grömitz Zinnowitz Büsum Rostock Lubmin Kühlungsborn Bansin Scharbeutz Heringsdorf Timmendorfer Niendorf Ahlbeck Strand Bolten- Lübeck hagen LangeoogSpiekeroogWangerooge Bad Bramstedt Kumme- Norderney rower Juist Schweriner Cuxhaven See Borkum See Wangerland M e c k l e n b u r g Mölln Schwerin Wilhelms- Bremerhaven HAMBURG O s t - haven Butja- Müritz dingen Elde Plauer P o m m e r n f r i e s - See Jez. Miedwie U n t e r w e s e r - (Madüsee) l a n d Bad Zwischenahn Elb Bremen e Lychen Templin

Bad Bevensen We se etze) I r N

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I J a d e æ B e r l i n Note Haren (Ems) Aller Oder u n d arta (Warthe) l W

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I e I in Rehburg- e W e s e r b e r g l a n d I Aller Havel Loccum L BERLIN D I I I o I I I r t I I I I I S I m I I I I I I I I p I I I I I I I re I I I I I I I Potsdam e u I I I I I I I I I I I I M l- Kanal n I i I I I I I HANNOVERI I tte I d I I I I I l e Plauer I l I v - I I I I I I E I Bad a I m I I I I I I I I I I I n I See I I I I Ha s Nenndorf d I - M I e I ittellandkanal k I b B r a n d e n b u r g - I I l Bad Braun- a I E K n I I I Oeyn- al a schweig I W n hausen ese Od a ra I r l Bad I Magdeburg

W e s t - I Rothenfelde Bad I Salzuflen

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e I . I I -K Herzberg I I I I e K u r h e s s e n am Harz I ern Ellrich DUISBURG I I ein-H h Leine I R DORTMUND Göttingen I Bad Sachsa Mülheim Ruhr Halle/Saale a. d. Ruhr Bochum Mulde ) ESSEN Bad as Willingen Kassel a DÜSSEL- (Upland) Frankenhausen Leipzig (M DORF Wuppertal Bad Sooden- se Mede- Allendorf Spree Görlitz u Schmallen- bach S a c h s e n e Bad Kösen r M berg Winterberg te Bad Wildungen ls Fu Bad Sulza E Dresden ld ße a ei Rathen R h e i n - Erfurt W KÖLN Eisenach Weimar Bad Jonsdorf Jena Gottleuba Bad Schandau Friedrich- l a n d W roda Aachen erra T h ü r i n g e n Chemnitz Bärenburg Bad Bad Finsterbergen le Bonn Salzungen Liebenstein Bad Saa Königswinter Oberhof Blankenburg Zwickau Bad Godesberg n Bad Honnef h a Schwarz-

L Schlema Bad Neuenahr Bad Salzschlirf burg Sitzendorf M. r Ober- Übernachtungen pro Jahr ue wiesenthal Plauen ka 1 mm² = 75000 Übernachtungen R h e i n - ic w (Eger) Z øe Koblenz Bad Ems Bad Nauheim h 8268011 Bad Bad Bad Elster O 5000000 Nassau Homburg Our R Labe (Elbe) el h König- Brückenau 2000000 Mos e FRANK- i stein Bad Orb 1000000 n Wies- FURT/M. Bad Kissingen 500000 Bad Bertrich ( Be 200000 a ra Bischofsgrün k un 90014 un ) Sûre baden Main ero M a i n B Seebad 1938 M Bayreuth Sa Rüdes- Mainz a überwiegende Motivation: touris- u Bernkastel- i e Darmstadt n

r Kues heim Bad Kreuznach tisch, AufenthaltsdauerSázava Ø: 13 Würzburg Tage Trier Bad Münster am Stein Heilbad und Kurort 1938 überwiegende Motivation: medi- N ü r n b e r g u n d zinisch, Aufenthaltsdauer Ø: 9 Mann- Tage

S S a a r - a heim Klein- und Mittelstadt 1938 ar Bad Vltava Bad L N überwiegende Motivation: Ge- Dürkheim u e Mergent- Nürnberg c schäftsreisež oder Besichtigung, k heim n

a Rothenburg ic r Aufenthaltsdauer Ø: 3 Tage Saarbrücken Heidelberg o. d. Tauber e

p f a l z Bad Rappenau (Moldau) Großstadt 1938 N o r d b a y e r n überwiegende Motivation: Ge- lle se schäftsreise oder Besichtigung, o M Aufenthaltsdauer Ø: 3 Tage Schwäbisch Altmühl Hall Regensburg Städte nach der Einwohner- Karlsruhe Boden- 1998 zahl 1996 mais versetzte Darstellung bei glei- e r W ü r t t e m b e r g - r chen oder geringeren Übernach- a S tungszahlen als 1938 I Herrenalb MÜNCHENI I über 1000000 Schömberg I I Baden- I I I I I I I I I I I I D I 500000I I bis 1000000 DORTMUND I I I I I Bad STUTTGART o I I I I I I u n I I I Liebenzell a I I rne au Rhin n a Landesfremdenverkehrs- C al a I Baden o Isar u Magdeburg. de la M 250000 bis 500000 Wildbad D I Passau H a r z verband (ohne Grenzen) Rostock 100000 bis 250000 Baiersbronn 1938 Griesbach Gütersloh Freudenstadt 50000 bis 100000 kar Lech im ec Rottal M N M ü n c h e n Bad Birnbach Stendal o s unter 50000 Grenzen e l le Ulm Augsburg u n d Bad Füssing Bernkastel-Kues Ortsname 1998 B a d e n H o h e n - Inn Staatsgrenze seit 1990 Bad Neuenahr Ortsname 1938 in Eschbronn S ü d - b a y e r n Ländergrenze 1937 e h Königsfeld z o l l e r n aône R Bingen MÜNCHEN Salzach Regierungsbezirksgrenze S Freiburg im Bad Wörishofen Am- 1937 mer- Starn- Breisgau Bad Dürrheim En see ber- Attersee ns Bad ger Hinterzarten Jller Krozingen See Chiemsee Deutschland 1937 Baden- Inzell Bad Tölz Ruh- weiler St. Blasien Überlingen Bad Wiessee pol- Konstanz ding Bad Reichenhall Höchen- Friedrichs- I Saône Todtmoos s Schliersee schwand hafen Mittelberg a r Berchtesgaden Reiche- B Kochel od Füssen a. See Kiefers- nau en Lindau Ober- Reit im Winkl Autor: H.Spode se Rottach- felden e Ober- ammergau Kreuth Egern Schönau am staufen Garmisch- Königssee Pfronten Krün s ub Fischen im Hindelang Do are Inn A Allgäu Grainau Mittenwald Partenkirchen 025 5075 100 km Oberstdorf © Institut für Länderkunde, Leipzig 2000 Salzach h Zürichsee c Maßstab 1: 2750000 Rhein Le 23 Grenzüberschreitende Kooperationsräume