GETEILTE FRONTSTADT

Der Mauerbau, so dramatisch er für die Berliner war, hatte für die westlichen Verbündeten keine große Bedeutung. „Besser als ein Krieg“

Mauerbau an der Zimmerstraße, 1961

110 SPIEGEL GESCHICHTE 5 | 2012 Von DIETMAR PIEPER Kennedy, ein Bruder des Präsidenten, nedy deutete den Mauerbau als „Nieder - Kränze nieder. lage des kommunistischen Systems“ – ie Freiheit, die Ida Siek - Der Mauerbau war ein Schock für die was sicherlich stimmte, ihn aber zu mann sich wünscht, be - Berliner. Willy Brandt, Regierender Bür - nichts verpflichtete. Der weltpolitische ginnt gleich vor ihrer germeister im Westteil der Stadt und Status quo, ein Gleichgewicht des Schre - Haustür. Aber die Haus - Kanzlerkandidat der SPD, war am Wo - ckens zwischen Sowjetunion und USA, Dtür ist nun zugenagelt. chenende 12./13. August als Wahlkämp - zählte mehr als die menschlichen Dra - Eine gute Woche ist es her, da kamen fer unterwegs. Nach einer großen Kund - men in . Solange die dort statio - Uniformierte und riegelten die Grenze gebung in Nürnberg reiste er mit dem nierten Amerikaner, Briten und Franzo - ab. Sie rollten Stacheldraht aus, stellten Nachtzug weiter Richtung Kiel. Um fünf sen weiterhin unbehindert die Grenz - Betonpfeiler auf, und seither patrouillie - Uhr morgens erhielt er von einem übergänge passieren durften, hatte sich ren sie Tag und Nacht. Der 13. August Schlafwagenschaffner die Nachricht, aus Washingtoner Sicht nichts Entschei - 1961 ist der Beginn einer neuen Zeitrech - was gerade in Berlin passierte. In seinen dendes geändert. nung, ein Schnitt im Leben vieler hun - Memoiren schrieb Brandt in aller Offen - Im internen Kreis ließ Kennedy sogar derttausend Menschen in Berlin. heit: „Wir waren schrecklich schlecht Erleichterung darüber erkennen, dass In der Bernauer Straße verläuft die vorbereitet.“ der Osten von einem direkten Vorstoß Grenze direkt an den Fassaden der Mit einem solchen Verzweiflungsakt gegen den freien Teil der Stadt – und da - Mietshäuser auf der Südseite. Die Be - der DDR-Regierung, die ein für alle Mal mit gegen die Rechte der drei westlichen wohner leben im Stadtbezirk Mit - Siegermächte – abgesehen hatte: te, sowjetischer Sektor. Betreten „Eine Mauer ist verdammt noch können sie ihre Häuser nur vom mal besser als ein Krieg.“ aus, der zum französi - schen Sektor gehört. Die monströse Sperranlage, wohnt im drit - die immer weiter ausgebaut wur - ten Stock der Bernauer Straße 46. de, blieb 28 Jahre lang ein Teil der Sie ist alleinstehend, 58 Jahre alt, speziellen Berliner Normalität. ihre Schwester lebt ein paar Am Anfang kam es noch zu hand - Ecken weiter im Westen. Bisher greiflichen Attacken: Junge Leute hatte der Kalte Krieg, der verübten eine Reihe von Spreng - Deutschland spaltet und die Welt stoffanschlägen gegen die Mauer in Atem hält, die beiden Frauen und fühlten sich dabei von ihrem nicht an alltäglichen Besuchen ge - Regierenden Bürgermeister er - hindert. Jetzt ist das anders. Am mutigt, der öffentlich erklärte: 21. August verbarrikadieren Ar - „Unsere Polizei denkt wie die Be - beiter die Tür, ein neuer Zugang völkerung. Sie ist zum Schutze zum Haus führt über den Hof. der Ordnung in West-Berlin, aber nicht zum Schutz der Mauer da.“ Früh am nächsten Morgen Bald aber musste der von Brandt beschließt Ida Siekmann, das zu geführte Senat seine Linie ändern tun, was manche Nachbarn in der und die Grenze besser sichern. Bernauer Straße schon vor ihr ge - Die West-Alliierten hatten Druck tan haben. Verzweifelt wirft sie gemacht – die andere Seite sollte Bettzeug und andere Habseligkei - nicht provoziert werden, keine ten aus dem Fenster, und noch ehe Eskalation im Kalten Krieg. West-Berliner Feuerwehrleute Der einzige konkrete Protest, mit einem Sprungtuch zur Stelle der jahrelang anhielt, war der S- sind, stürzt sie sich hinterher. „Die In der Bernauer Straße versucht eine alte Frau, Bahn-Boykott. In der ganzen Blutlache wurde mit Sand abge - in den Westen zu fliehen. Stadt fuhren die Züge unter Regie deckt“, heißt es in einem Bericht der Deutschen Reichsbahn, die der DDR-Volkspolizei. Ida Siekmann die massenhafte Abwanderung aus ihrem im sowjetischen Sektor residierte; so hat - ) . stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Machtbereich beenden wollte, hatte kein ten es 1945 die Siegermächte entschie - R (

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T Als erste Mauertote geht sie in die Ge - führender Politiker im Westen ernsthaft den. Für die DDR wurde der Betrieb im S B

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) schichte ein. Im Westen der Stadt und gerechnet. Entsprechend unentschlossen Westteil der Stadt zu einer steten Devi - . L (

D auch in der Bundesrepublik ist die Em - fielen die Reaktionen aus. „Die Mauer senquelle: Die Billetts waren zwar billig L I B

N pörung gewaltig. Zahlreiche Politiker, muss weg“ wurde zu einer rhetorischen (die Einzelfahrt kostete 20 Pfennig), I E T

S darunter der Bundesminister für gesamt - Floskel, aus der nichts folgte. Es war „eine mussten aber in harter Währung bezahlt L L U

/ deutsche Fragen, nehmen eine Woche peinliche Mischung aus ohnmächtiger werden.

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D danach an der Trauerfeier teil. Vor ei - Wut und impotenter Protestiererei“, Nach dem Mauerbau boykottierten N A

X nem Mahnmal, das bald am Ort des Un - räumte Brandt rückblickend ein. die meisten West-Berliner das Verkehrs - E L A glücks in der Bernauer Straße steht, le - Mehr als auf die nur eingeschränkt mittel aus dem Osten. „Der S-Bahn-Fah - Z T A

H gen unter anderem Kanzler Konrad souveräne Bundesrepublik kam es nun rer bezahlt den Stacheldraht!“ und „Kei - C E Z

C Adenauer und US-Justizminister Robert auf den US-Präsidenten an. John F. Ken - nen Pfennig mehr für Ulbricht!“ lauteten

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schriften anzugucken, aber alles unter Monströses dem Siegel der Verschwiegenheit, denn wenn man erwischt wurde, konnte das Bollwerk den Arbeitsplatz kosten. Führungsstelle Grenzanlage Silvester haben sich mal im Übermut ein (Beobachtungsturm) in Berlin um 1975 paar Kollegen vom Nordbahnhof rüber - getraut, denn gleich hinter den Gleisen ist ja das Drei-Mädel-Haus, und dort war Hinterlandmauer ein großes Fest, während die Kollegen hier Flächen- in ihrem Bahnhof hockten. Sie hatten aber sperren kein Geld, doch das machte nichts, sie sind nämlich freigehalten worden – von den Nutten, die dort verkehrten. Warn- Eine der S-Bahn-Linien sowie zwei schild U-Bahn-Strecken führten auf ihrem West- Ost- Weg von einer West-Station zur nächs - Berlin Berlin ten unter östlichem Gebiet hindurch. Die dort liegenden Haltestellen wurden Lichttrasse Erdbunker nach dem Mauerbau zu Geisterbahnhö - (zwei Personen) Grenz- fen, in denen DDR-Grenztruppen unter Hundelaufanlage signalzaun fahlem Kunstlicht patrouillierten. Kolonnen- Die Empfindungen vieler Ost-Berli - weg ner hielt der Schriftsteller Günter de Kontrollstreifen aus Sand Bruyn fest: „Wenn man unter dem Stra - Grenz- vorderes Kfz-Sperrgraben ßenpflaster in Fünf-Minuten-Abständen streifen Sperrelement die U-Bahnen von Westen nach Westen rasseln hörte, musste man irgendwann populäre Parolen. Die Anzahl der tägli - trotzdem beneidet, weil wir in den Wes - einmal aufhören zu denken: Ach, wer chen Fahrgäste sank schlagartig von fast ten konnten.“ In Kinds Erinnerungen doch da mitfahren könnte, nach Tegel einer halben Million auf weniger als hun - scheint ein farbiges, wenig bekanntes oder Neukölln. Um eingesperrt über - derttausend. Obwohl der Senat zügig Stückchen Stadtgeschichte auf: haupt leben zu können, musste man so dafür sorgte, dass zusätzliche Buslinien Von der Reichsbahn gab es zehn D-Mark zu leben versuchen, als gäbe es die Ab - parallel zu den Bahnstrecken den Betrieb im Monat, damit wir auf Montage in sperrung nicht.“ aufnahmen, wurden die Fahrten für viele West-Berlin wenigstens mal auf eine Toi - Mit preußischer Gründlichkeit zer - Boykotteure mühsamer. Immerhin füg - lette gehen oder uns mal ’ne Brause kaufen schnitt das kommunistische Regime die ten sie der DDR eine kleine Niederlage konnten. Gewiss, mancher hat die Mög - Verbindungen zwischen den beiden zu: Die Deviseneinnahmen der Reichs - lichkeit, sich auf dem Transitgelände be - Stadthälften. Bald war der Polizeifern - bahn sanken von jährlich 36 auf 7 Millio - wegen zu können, auch genutzt, um mal schreiber die einzige intakte Kommuni - nen D-Mark – zu wenig, um auch nur zum Zoo zu fahren und sich ein paar Zeit - kationslinie über die Grenze hinweg. die Kosten zu decken. Der klamme Staat musste das Defizit ausgleichen.

Die Geschichte des Berliner Nah - verkehrs in den Zeiten der Mauer ist reich an Kuriositäten. Der langjährige S- Bahn-Chef Friedrich Kittlaus durfte auch nach der Grenzsperrung seinen Wohn - sitz im Westen behalten. Ein Chauffeur fuhr ihn täglich bis zu seiner Pensionie - rung 1973 im Dienstwagen zu seinem Ost- Berliner Arbeitsplatz. Kittlaus setzte durch, dass er beim Grenzübertritt nicht kontrolliert werden durfte. Alle anderen S-Bahner benötigten da - gegen für Einsätze im Westen spezielle Ausweise. Einer von denen, die sich um die Instandhaltung der Anlagen küm - merten, war der Schlosser Joachim Kind. Nach der Wiedervereinigung er - zählte er von der „permanenten Über - wachung und Gängelung“ durch die Sta - si und fügte hinzu: „Viele haben uns Grenzübergang „“, 1966

112 SPIEGEL GESCHICHTE 5 | 2012 STEINSTÜCKEN oder über einen Weg zu erreichen, der über östliches Territorium führte. Die West-Exklave Im Zuge der Entspannungspolitik wurde das Leben für die rund 200 Dort, wo heute ein Spielplatz liegt, Einwohner leichter. Ein Gebietsaus - landeten einst US-Hubschrauber. In tausch machte es im August 1972 der Zeit des Kalten Krieges war die möglich, dass ein Straßenkorridor Siedlung Steinstücken eine West- Steinstücken mit Wannsee verband. Berliner Exklave auf dem Gebiet der In die fast vollständig eingemauerte DDR. Das rund 300 mal 400 Meter Siedlung fuhr nun ein Stadtbus – und Kleinbus zwischen Wannsee und große Areal war nur aus der Luft brachte auch neugierige Touristen. Steinstücken für sieben Schüler, 1967

Die erste Öffnung für die Berliner, 28 Territorium zu behandeln, das keines - ßenminister der Großen Koalition, an Monate nach dem Mauerbau, gab den falls zur Bundesrepublik Deutschland die Spitze der Regierung. Als Kanzler Weg nur in eine Richtung frei. Das soge - gehörte. der ersten sozial-liberalen Koalition setz - nannte Passierscheinabkommen ermög - Das Gezerre führte zum Beispiel te er nun die Politik des „Wandels durch lichte es den Bewohnern des Westteils, dazu, dass Bedienstete der ostdeutschen Annäherung“ konsequent fort, die er ge - vom 19. Dezember 1963 bis zum folgen - Post die Passierscheinanträge im Westen meinsam mit dem strategischen Kopf den 5. Januar Verwandte im Osten tage - entgegennahmen, die Dokumente aber Egon Bahr bereits im Rathaus Schöne - weise zu besuchen. jenseits der Mauer bearbeitet werden berg begonnen hatte. mussten. Die Westler duldeten keine Wie wertvoll die damalige Erfahrung Der Ansturm war gewaltig. Vor konsularische Tätigkeit des Ostens auf für den Kanzler und seinen Staatssekre - den zwölf Ausgabestellen standen die ihrem Gebiet. Dass die angeblichen Post - tär war, machte Bahr später in seinen Menschen oft viele Stunden lang in der ler durchweg Stasi-Leute waren, störte Memoiren deutlich: „In der Nuss-Schale winterlichen Kälte an, um einen Passier - dagegen nicht weiter. ist die ganze Philosophie der Ostpolitik schein zu bekommen. Am Ende zählten Ein großes Ärgernis für die DDR-Spit - bei den Passierscheinen erprobt worden.“ die Behörden mehr als 1,2 Millionen Be - ze waren Bundestagssitzungen in West- suche. Als Urheber der weihnachtlichen Berlin: BRD-Volksvertreter hatten an Eine deutliche Erleichterung für Familienfreude ließ sich der DDR- der Spree nichts zu suchen, befanden West-Berliner und Bundesbürger gelang Staatsratsvorsitzende in die kommunistischen Staatsführer, un - 1971, als auf der Grundlage des Vier - den Ost-Medien feiern. Die Grenzer terstützt vom großen Bruder in Moskau. mächte-Abkommens der Reiseverkehr zeigten sich bei der Abfertigung betont Die Bonner Politiker hielten an ihrem verbindlich geregelt wurde. Das von korrekt, manchmal geradezu höflich. Anspruch auf Berlin fest. Am 7. April Bahr ausgehandelte Transitabkommen Häufig waren es zwei Welten, die bei 1965 tagten die Abgeordneten in der beendete die Schikanen auf den Verbin - diesen Besuchen aufeinanderprallten. Kongresshalle im Tiergarten. Der Osten dungswegen in die Bundesrepublik; ein Der Dichter Uwe Kolbe hat die Szenerie zeigte sich empört, von einer „gefährli - separates Abkommen zwischen dem als Kind in der Nähe des Grenzüber - chen Provokation“ war die Rede. So - Rathaus Schöneberg und der DDR sorg - gangs Bornholmer Straße beobachtet: wjets und NVA-Truppen hielten west - te dafür, dass West-Berliner 30 Tage im „West-Autos rollten über die Brücke. Die lich von Berlin Manöver ab, was als Vor - Jahr ohne weitere Begründung in den Familie holte die West-Oma ab. Ihre glat - wand diente, den Transitverkehr auf der Osten reisen durften. te Bräune, das blondierte Haar, die helle Autobahn nach Helmstedt zu lähmen. An der Berliner Mauer handelte das Kleidung, sie bestätigten die Unwirklich - Über die Kongresshalle hinweg donner - Regime allerdings weiterhin unbeugsam keit all dessen, was jenseits der Brücke ten MiG-Kampfjets im Tiefflug, durch - und gnadenlos. Bis zum Zusammen - lag. So sah keine hiesige Oma aus. So sah brachen die Schallmauer und feuerten bruch der DDR starben noch zahlreiche überhaupt keine Oma aus.“ Übungsmunition ab. Es war die letzte Menschen, die zu fliehen versuchten. Bis 1966 vereinbarten die feindlichen Plenarsitzung des Bundestags in Berlin Letztes Opfer des Schießbefehls ist Nachbarn drei weitere Passierscheinab - vor der Wiedervereinigung. , der am 5. Februar 1989 kommen, die Verhandlungen waren je - Eine Nummer kleiner fiel das Spekta - um Mitternacht versucht, von ) .

R des Mal äußerst zäh. Die größten Pro - kel vier Jahre später aus. Am 5. März 1969 nach Neukölln zu gelangen. Ein Grenz - (

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P bleme bereiteten gewöhnlich Statusfra - tagte in der Berliner Ostpreußenhalle auf soldat trifft den 20-Jährigen mitten ins D

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E gen – in der deutsch-deutschen Politik dem Messegelände die Bundesversamm - Herz. Nur neun Monate danach feiert C N A I jener Jahre gab es kaum etwas Wichti - lung. Während Gustav Heinemann zum Berlin die legendäre Nacht des Mauer - L L A - geres. neuen Staatsoberhaupt gewählt wurde, falls. E R U

T Die westliche Seite achtete peinlich legten DDR-Truppen und Sowjets zwar C I P

; genau darauf, dass nichts, auch kein die Transitstrecken lahm, aber die MiG- ) . L

( Video:

S Briefkopf, keine Anrede und kein Ver - Jets blieben auf dem Boden. I

B Vom Mauerbau zum R

O handlungsort, als völkerrechtliche An - Die Wahl des Sozialdemokraten Hei - Mauerfall C

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N erkennung des DDR-Regimes gedeutet nemann erwies sich als Vorspiel des Bon -

N Für Smartphone-Benutzer: Bildcode scannen, A

M werden konnte. Dem Osten war es be - ner Machtwechsels. Ein halbes Jahr da - etwa mit der App „Scanlife“. T T E

B sonders wichtig, West-Berlin als eigenes nach rückte Willy Brandt, bis dahin Au - http://www.spiegel.de/app52012mauer

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