Das Volk und seine Verfassung

Zur Kulturhermeneutik des liberalen Konstitutionalismus: USA und Kanada

Inaugural-Dissertation in der Philosophischen Fakultät I (Philosophie, Geschichte und Sozialwissenschaften) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

vorgelegt von

Benjamin Vauteck

aus

Säckingen (jetzt Bad Säckingen)

D 29 Tag der mündlichen Prüfung: 25.10.2004

Dekan: Universitätsprofessor Dr. Sefik Alp Bahadir Erstgutachter: Universitätsprofessor Dr. Jürgen Gebhardt Zweitgutachter: Universitätsprofessor Dr. Clemens Kauffmann Vorwort

Für kritische Bemerkungen, anregende Diskussionen und zahlreiche Hilfestellungen danke ich dem Betreuer dieser Arbeit, Prof. Dr. Jürgen Gebhardt, der mich auch davon überzeugt hat, die Arbeit (nach fast 1200 Tagen) endlich abzugeben. Bei den Teil- nehmern seines Oberseminars möchte ich mich für zahlreiche Anmerkungen zu mei- ner Arbeit bedanken. Für Kritik und weiterführende Anregungen danke ich Prof. Dr. Rainer-Olaf Schultze in Augsburg samt Oberseminar, Prof. Dr. Roland Sturm und PD Dr. Heinrich Pehle hier in Erlangen samt zugehörigem Oberseminar, PD Dr. Martin Thunert sowie Prof. Dr. Clemens Kauffmann. Prof. Will Kymlicka in Kanada dan- ke ich für die sehr ausführliche Besprechung meiner Thesen und für die Ermöglichung meines Aufenthaltes als visiting fellow an der Queen’s University in Kingston/, der vom DAAD und der Bayrischen Amerika Akademie finanziell unterstützt wurde. Den Teilnehmern des Graduiertenkollegs »Kulturhermeneutik im Zeichen von Diffe- renz und Transdifferenz«, in dessen Rahmen ich drei Jahre lang in den Genuß eines Stipendium der DFG gelangt bin, gilt auch mein Dank. Ansonsten gilt mein Dank mei- nen Korrekturlesern Gabriele Busse, Marcus Döbert, Martin Hampl, Britta Kalscheuer, Dr. Alfredo Märker, Fabian Wenzel und Jutta Stamer, der ich auch für eine Diskussion der wesentlichen Thesen dieser Arbeit danken möchte. Matthias Damm verdanke ich es, daß ich diese Arbeit mit LATEX und jurabib schreiben konnte. Last not least gilt mein besonderer Dank für Korrekturlesen und auch so manches andere meiner lieben Barbara Vetter.

Erlangen, im Juni 2004 Benjamin Vauteck

Inhaltsverzeichnis

0 Einleitung: Eine Verfassung, ein Volk? Die kanadische Erfahrung mit deep diversity vor dem Hintergrund des US-amerikanischen Konstitutionalismus 9

1 Die Verfassung als Verfassung eines Volkes: Zur Kulturhermeneu- tik des US-amerikanischen Konstitutionalismus 17 1.1 Die Verfassung der USA als Verfassung eines multikulturellen Volkes 18 1.1.1 Die Genese des Volkes aus der Verfassung: Bill of Rights, Volks- souveränität und die konstitutive Rolle der Verfassung als sym- bolisches Ordnungszentrum ...... 18 1.1.2 Die Genese der Verfassung aus dem Volk: ethnische und kul- turelle Grundlagen des US-amerikanischen Konstitutionalismus 22 1.1.3 Der Ausschluß von deep diversity aus der Verfassungsidee . . 27 1.2 Liberale Theorie in den USA als Theorie einer multikulturellen Ge- sellschaft ...... 31

2 Verfassung für das Volk: die Erfindung Kanadas durch britischen Konstitutionalismus 39 2.1 Zwischen Anerkennung und Verdrängung von deep diversity: Die Ver- fassungen von 1763, 1774 und 1791 ...... 41 2.2 Britischer Liberalismus und das Problem der deep diversity ...... 46 2.2.1 Offenlegung der kulturellen Voraussetzungen des Liberalis- mus: Lord Durhams Report ...... 46 2.2.2 Der Nationalstaat als Voraussetzung für eine liberale Ordnung: Liberalismus und Nation bei J. S. Mill ...... 52 2.2.3 Der multinationale Staat als liberales Ideal: die politische Theo- rie Lord Actons ...... 53 2.3 Anerkennung von deep diversity im Rahmen einer instrumentellen Ver- fassung: der kanadische Konstitutionalismus von 1867 ...... 56 2.3.1 Anerkennung von deep diversity durch eine Verfassung briti- schen Typs: der British North America Act ...... 60 2.3.2 Der British North America Act als instrumentelle Verfassung . 66

5 2.3.3 Die Föderalismustheorie der Gründungsväter I: John A. Mac- donald und George Brown ...... 67 2.3.4 Die Föderalismustheorie der Gründungsväter II: George-Étienne Cartier ...... 69 2.4 Von 1867 bis zur Herausforderung der kanadischen Verfassungsord- nung durch die »Stille Revolution« in Quebec ...... 71

3 Die Erfindung des Volkes durch seine Verfassung: Die Verfassungs- vision Pierre Elliott Trudeaus als Synthese zwischen britisch-kana- dischem und US-amerikanischem Konstitutionalismus 81 3.1 Trudeaus frühe verfassungskonservative Position: Die Verfassung als empirisch ausgerichtetes Regelwerk ...... 86 3.1.1 Die Krise nach 1867 als Folge der Nichteinhaltung der Verfas- sung ...... 89 3.1.2 Nation und Individuum in Trudeaus liberaler Kulturhermeneutik 97 3.2 Trudeaus Quebecpolitik im Zeichen von Bill of Rights und Volkssou- veränität ...... 100 3.2.1 Nation building durch die Integration von Sprachrechten in ei- ne Bill of Rights ...... 105 3.2.2 Die Erfindung des Volkes durch Volkssouveränität und Verfas- sungssymbolismus ...... 115 3.2.3 Primat der Grundrechte oder der Volkssouveränität? Trudeau und der kanadische Supreme Court ...... 120 3.2.4 Multikulturalismus als nation building: Über die besondere Rolle des Multikulturalismus in Trudeaus Verfassungsvision . 124 3.2.5 Eine argumentative Lücke in Trudeaus liberaler Verfassungs- vision: Bilingualismus zwischen normativer und realpolitischer Begründung ...... 129 3.3 Trudeaus Ureinwohnerpolitik zwischen individuellen und kollektiven Rechten ...... 133 3.3.1 Ersetzung kollektiver durch individuelle Rechte: Das White Paper von 1969 ...... 138 3.3.2 Widerstand der Ureinwohner gegen das White Paper und die Wiederkehr kollektiver Rechte in der Verfassung von 1982 . . 142

4 Verfassung ohne Volk: Reaktionen auf Trudeaus Verfassungsvisi- on in Kanada 149 4.1 Liberaler Nationalismus als Paradox?: Stéphane Dion über Trudeaus liberale Grundrechtsvision ...... 154

6 4.2 La fin d’un rêve canadien? Volkssouveränität als Legitimation für die Unabhängigkeit Quebecs: Guy Laforests Lockesches Argument . . . 159 4.3 Symbolische Verfassung und politische Realität: Die Kritik Kevin J. Christianos an Trudeaus Verfassungsvision ...... 162 4.4 Das White Paper als Diskreditierung des liberalen Konstitutionalis- mus: Die Auswirkungen von Trudeaus Verfassungspolitik auf kultu- relle Konstruktionsprozesse bei Ureinwohnern ...... 166

5 Die Verfassung der Völker: Will Kymlickas Argument für nationa- le Minderheitenrechte auf der Grundlage des US-amerikanischen liberalen Mainstreams 175 5.1 Kymlickas Argument für kollektive Rechte von nationalen Minderhei- ten auf der Grundlage der Prinzipien des Liberalismus ...... 177 5.1.1 Die nationale Kultur als Basis für den freedom of choice . . . 178 5.1.2 Die nationale Kultur als wichtiger Bezugspunkt der personalen Identität ...... 181 5.1.3 Die beiden Grundzüge von Kymlickas Argument für kollekti- ve Rechte ...... 188 5.1.4 Kymlickas Argument für kollektive Rechte für nationale Min- derheiten im Rahmen von John Rawls A Theory of Justice . . 190 5.1.5 Die normative Differenzierung zwischen Einwanderergruppen und nationalen Minderheiten ...... 194 5.1.6 Das Problem des Konfliktes zwischen individuellen und kol- lektiven Rechten und der Toleranz illiberaler Minderheiten . . 196 5.2 Kymlicka und Trudeaus Kanada ...... 201 5.2.1 Kymlicka über Trudeaus Quebecpolitik: Multinational federa- lism und liberale Grundrechtsvision ...... 203 5.2.2 Unterschiede zwischen Kymlickas Kanadabild und dem des US-amerikanischen liberalen Mainstreams am Beispiel des Ka- nadabildes Charles F. Dorans ...... 210 5.2.3 Das White Paper als Ausdruck des liberalen Mainstreams: Kym- lickas Kritik an Trudeaus Ureinwohnerpolitik ...... 214

6 Fazit und Schlußfolgerungen: der kanadische Konstitutionalismus als Lehrfeld und Bereicherung für den US-amerikanischen? 221

Literaturverzeichnis 233

7

0 Einleitung: Eine Verfassung, ein Volk? Die kanadische Erfahrung mit deep diversity vor dem Hintergrund des US-amerikanischen Konstitutionalismus

[...] [L]’innovation institutionnelle se fait sous la houlette des puissances victorieuses, en fait les Etats-Unis. Yves Mény (1993, 16)

America is a world power, but does it have the strength to understand itself? Bruce Ackerman (1991, 3)

»The American constitutional style«, so schreibt der bedeutende kanadische Konstitu- tionalismusforscher Peter Russell, has been the most pervasive form of constitutionalism in the modern world. In- deed, the basic form of the American Constitution, together with its underlying political theory, is comparable in its global influence to that of Roman law many centuries ago. (Russell 1993, 9)

Diese Rolle des US-amerikanischen Konstitutionalismus und der sie begleitenden politischen Theorie bringt es mit sich, daß dieser inzwischen häufig als einzig mögliche Form des liberalen Konstitutionalismus angesehen wird. Er wird dann häufig fast wie selbstverständlich auch auf Länder übertragen, die andere kulturelle Voraussetzungen als die USA haben. George Schöpflin etwa stellt fest, daß [t]he current prestige and power of the United States and its inclination to re- gard its own values and practices as the axiom of best-practice and, maybe, sole model, [...] has led it–not necessarily consciously–to impose its ideas and insti- tutional forms on very different political cultures. (Schöpflin 2001, 111)

Ziel dieser Arbeit ist es, durch einen Vergleich der US-amerikanischen mit der ka- nadischen Verfassungsidee zur Erörterung der kulturhermeneutischen Grundlagen des US-amerikanischen, aber auch des kanadischen und des liberalen Konstitutionalismus generell beizutragen.1 Der Vergleich mit dem kanadischen Beispiel ist für diese Ziel- 1Um den kanadischen Konstitutionalismus, der ja ebenfalls ein amerikanischer ist, von dem der USA zu unterscheiden werde ich im folgenden vom US-amerikanischen Konstitutionalismus sprechen, wenn von der Verfassungsidee der USA die Rede ist.

9 setzung besonders geeignet, weil dadurch eine bedeutsame, aber nur sehr selten unter- suchte und beachtete kulturhermeneutische Kontingenz des US-amerikanischen Kons- titutionalismus herausgearbeitet und problematisiert werden kann: daß nämlich dieser Konstitutionalismus ganz wesentlich von der Annahme geprägt ist, daß die Verfas- sung die Verfassung eines Volkes ist. In der Unabhängigkeitserklärung ist von »we the people« und nicht etwa von »we the peoples« die Rede. Daß dies auch anders und umstritten sein könnte, ist nicht Teil des Erfahrungsbestandes der US-amerikanischen Geschichte, zumindest nicht der jüngeren. Die USA sind zwar stark von kultureller und ethnischer Heterogenität geprägt und die Fiktion des melting pots wurde durch Multikulturalismus herausgefordert. Multikulturalismus in seinen verschiedenen Aus- prägungen wurde und wird – v. a. von konservativer Seite – als Herausforderung ange- sehen, als eine Bedrohung nationaler Einheit. Kulturelle und ethnische Gruppen rekla- mierten zwar, daß sich die Nation ändern müsse, proklamierten damit aber nicht einen konkurrierenden Minderheitennationalismus. Die nationale Einheit der USA wurde und wird nicht herausgefordert. Kanada ist ein hervorragender Beispielfall für ein Land, in dem keinesfalls voraus- gesetzt werden kann, daß es ein kanadisches Volk gibt. Wie auch in den USA konnten in Kanada zwar Forderungen kultureller und ethnischer Gruppen im Rahmen einer Multikulturalismuspolitik gut integriert werden. Kanada war sogar das erste Land der Welt, in dem 1971 ein Multikulturalismus-Gesetz erlassen wurde. In Kanada tritt aber noch eine kulturelle Konfliktlage hinzu, welche über die Dimension des in den USA bekannten Multikulturalismus hinausreicht und diesem sozusagen vorausgeht. Diese soll im folgenden als deep diversity bezeichnet werden.2 Eine deep diversity ist ein Konflikt zwischen ethnischen oder kulturellen Gruppen, welche Integration grundsätzlich in Frage stellen, sich als ein eigenes Volk betrachten und für sich das Recht in Anspruch nehmen, auf einem eigenen, nach außen abgegrenz- ten Territorium die Kontrolle über politische und soziale Institutionen zu erhalten. Es geht ihnen nicht wie multikulturellen Gruppen nur darum, kulturelle Verschiedenheit in der Öffentlichkeit zeigen zu dürfen und im privaten Rahmen nicht gestört zu werden, sondern vielmehr darum, Öffentlichkeit in einem sehr weitreichenden Sinne gestalten zu können. Ihr Ziel ist nicht Anerkennung innerhalb einer Gesellschaft, sondern Aner- kennung als Gesellschaft. Das ist in Kanada bei den Quebeckern und den Ureinwohnern3 der Fall. Quebec betrachtet sich als société distincte mit speziellen Rechten im Föderalismus und der

2Dieser Begriff wurde u. a. von Charles Taylor (1996) und von Carens (2000, 177) in die kanadische Debatte eingeführt. 3Im Text verwende ich durchgehend die Bezeichnung »Ureinwohner« für diejenigen Bewohner Ka- nadas, deren Vorfahren sich schon vor der Zeit der europäischen Einwanderung und Kolonialisierung in Kanada aufgehalten haben. Darunter fallen auch Mischlinge, die sogenannten Métis, sowie die Inuit, die Bewohner Nordkanadas, die früher v. a. auch mit dem Namen »Eskimo« bezeichnet wurden.

10 Bestimmung über Art und Umfang von Einwanderern, bei Ureinwohnergruppen äu- ßert sich dies dadurch, daß sie ein grundsätzliches Recht auf Selbstbestimmung und Selbstregierung auf eigenen Territorien für sich einfordern und auch klare Kontrolle über Aufenthalts- und Statusrechte auf Reservaten fordern. Sowohl bei Quebeckern als auch bei den Ureinwohnern gibt es das Bewußtsein, daß sie auf einem Territorium zuerst dagewesen waren, ihnen gehört und sie deshalb darauf nicht wie Einwanderer behandelt werden. Sie betrachten sich als ein eigenes Staatsvolk mit entsprechenden Rechten. Dies wurde durch die Terminologie des Nationalismus aktiviert durch po- litische Eliten: die frankophone Nation in Quebec und auch Ureinwohner-Nationen können als imagined communities (Anderson 1998) begriffen werden, die auf invented traditions (Hobsbawn 1992) aufbauen. Dies sind zwar soziale Konstruktionen, nichts- destotrotz aber politisch sehr wirkungsmächtig. Das frankophone Quebec betrachtete sich schon seit dem frühen 19. Jahrhundert als Nation in Abgrenzung zum anglopho- nen Kanada und erreichte es, in Kanada eine an ethnischen Kriterien ausgerichtete föderale Ordnung durchzusetzen; das Parlament der Provinz Quebec wurde nicht zu- fällig assemblée nationale genannt. Ureinwohner erlebten seit den 1960er Jahre einen Nationalisierungsprozeß, bei dem sie sich in der strategischen Allianz der »first nati- ons« zusammenfanden und ihre Forderungen ins politische System Kanadas einbrach- ten. Es wird auf das Recht von Nationen auf eine eigene Verfassung und das Recht auf Separation behauptet. Mitte der 1960er Jahren entwickelte sich in Québec eine nationale Massenbewegung, welche 1976 sogar eine separatistische Partei in Québec an die Macht brachte. Die politische Führung dieser Partei, der Parti Québécois, be- trachtete die kanadische Provinz Quebec als Heimstatt einer frankophonen Nation mit dem Recht einer umfassenden Kultur- Wirtschafts- und Außenpolitik. Ab den 1990er Jahren konnte sich mit dem Bloc Québécois auch eine separatistische Partei im Bun- desparlament in etablieren. Nach den Wahlen 1993 war sie sogar stärkste Op- positionspartei und damit Her Majesty’s Official Opposition. 1980 und 1995 initiierten die Separatisten in Quebec zwei Unabhängigkeitsreferenden, von denen das letzte nur sehr knapp scheiterte. Minderheitennationalismen konkurrierten mit dem kanadischen Nationalismus und stellten die Einheit der kanadischen Nation in Frage. Die mit dieser komplexen Situation zusammenhängenden Fragen wirkten sich um- fangreich auf den liberalen Konstitutionalismus in Kanada aus. Zwischen 1763 und 1982 wurden dort sechs Verfassungen implementiert, welche durch den Versuch ge- prägt waren, deep diversity in die Verfassungsordnung zu integrieren; zwei geschei- terte Verfassungsreformvorschläge von 1987 und 1992, welche die Stellung Quebecs und der Ureinwohner klären sollten, dominierten die politische Tagesordnung in Ka- nada in den letzten zwei Jahrzehnten. Obwohl diese Verfassungen und die vielen sie begleitenden Debatten oftmals einen tragikomischen Charakter hatten und als »con- stitutional psychodramas« (Simpson 2000, 122), »constitutional odyssey« oder sogar

11 als eine »constitutional soap opera« (Russell 1993, x) bezeichnet wurden, so zeugen sie doch von einem hohen intellektuellen Niveau. Peter Russell (1993, 27) hat sie als eine »brilliant debate« bezeichnet. Die kanadischen Verfassungsdebatten bieten eine profunde Auseinandersetzung mit dem Problemgebiet der deep diversity, aus der man viel über kulturhermeneutische Grundlagen des liberalen Konstitutionalismus lernen kann und in der eine größere Bandbreite liberalen Denkens sichtbar wird als in den USA. Auf der einen Seite liefern die kanadischen Verfassungsdebatten eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Minderheitennationalismus im Rahmen des abstrakte Prinzipien ablehnenden britisch geprägten Konstitutionalismus. Es ist hier eine neue, dezidiert mit der Verfassung der USA konkurrierende Form des libera- len Konstitutionalismus entstanden. Erstmals in der westlichen Verfassungsgeschichte wurden durch eine Verfassung Sprachrechte implementiert. Föderalismus wurde nicht nur als Garant individueller Rechte und guten Regierens begriffen, sondern weiterent- wickelt, um die deep diversity austarieren zu können. Bedeutende liberale Denker wie Lord Durham, J. S. Mill und Lord Acton begleiteten diese Debatten oder wurden durch sie inspiriert und entwickelten heute weitgehend vergessene Theorien über Liberalis- mus und Nationalismus. Auf der anderen Seite wurden dabei aber auch wesentliche Elemente des US-ameri- kanischen in den kanadischen Konstitutionalismus mit aufgenommen und verhandelt und auf die Problematik der deep diversity bezogen. Die Verfassungspolitik, welche die Regierungen Pierre Elliott Trudeaus ab 1968 im Rahmen einer theoretisch fundier- ten Ideenpolitik verfolgte, importierte Kernideen des US-amerikanischen Konstitutio- nalismus wie Volkssouveränität und die Bill of Rights nach Kanada und integrierte diese in die kanadische Verfassungskultur; in einem Regierungsdokument von 1978 wurde dies als »synthesis« bezeichnet (Canada 1978, 5). Mittels der Kernprinzipien der US-amerikanischen Verfassung versuchte Trudeau, nation-building zu betreiben. Er hatte die Hoffnung, daß mittels der symbolischen Wirkung einer Verfassung, welche allen Kanadiern die gleichen Grundrechte garantiert und das kanadische Volk als Sou- verän etabliert, die deep diversity in Kanada überwunden werden könnte. Diese Politik war dabei mit unterschiedlichen Fragestellungen konfrontiert: die Konflikte mit Que- bec orientierten sich eher an innerzivilisatorischen Differenzen, während die Urein- wohnerfrage auch interzivilisatorische Fragestellungen aufwarf. Ab Mitte der 1980er Jahre entwickelte sich in der politischen Theorie Kanadas eine breite Debatte, die die kanadische Problemlage mit Bezug auf wesentliche Fragestellungen des US-amerika- nischen liberalen Mainstreams und ohne Rückgriff auf kommunitaristische Thesen be- handelte. Durch Will Kymlicka wurde eine umfassende politische Theorie entwickelt, welche das Phänomen deep diversity strikt im Rahmen der Prinzipien des US-amerika-

12 nischen liberalen Mainstreams diskutiert. Er behandelt die Frage von nationalen Min- derheitenrechten im Rahmen von John Rawls A Theory of Justice. Solch eine Debatte hat es in den USA nie gegeben. Welche Rechte stehen nationalen Minderheiten zu? Wie kann man eine Sezession verhindern und welchen Preis wäre man dafür zu bezahlen bereit? Wie verhalten sich individuelle Rechte zu kollektiven Rechten in einem Szenario konkurrierender Nationenbildungsprojekte? Welche Stel- lung kommt nationalen Minderheiten im Rahmen einer föderalen Ordnung zu? Fragen wie diese wurden in den USA nie umfassend erörtert und waren niemals zentraler Gegenstand der Verfassungsdebatte. Daß es eine solche Debatte dort nicht gegeben hat macht sich darin bemerkbar, wie schwer sich die USA mit nation building, der »inescapable responsibility of the world’s only superpower« (RAND 2003, xv), und Verfassungsgebung in Ländern tun, in denen sie zur Zeit involviert sind, wie etwa in Afghanistan, dem Irak und Bosnien. Die kanadische Verfassungsdebatte kann keine Lösungsmechanismen für solche Konflikte aufzeigen. In Kanada gibt es nicht so starke Spannungen wie etwa im Irak oder im ehemaligen Jugoslawien.4 Aber sie zeigt zumindest einerseits Alternativen li- beralen Denkens und Anstöße zu weiterführenden Reflektionen auf. Sie liefert mit der Verfassungspolitik Trudeaus eine konkrete alternative Verfassungsidee zu den USA, die dieser ähnelt, aber auf deep diversity ausgerichtet ist. Will Kymlicka versucht ei- ne politische Theorie zu entwickelt, welche im Rahmen des US-amerikanischen li- beralen Mainstreams Antworten auf das Problem der deep diversity geben kann. Die kanadische Verfassungsdebatte kann als eine Art Ergänzung der US-amerikanischen Federalist Papers begriffen werden, welche grundlegende Ansatzpunkte für einen Er- weiterung und Wandel des liberalen Konstitutionalismus bietet. Man kann dort auch sehen, mit welchen spezifischen Schwierigkeiten man bei der Übertragung der US- amerikanischen Verfassungsidee auf ein Land mit deep diversity zu rechten hätte.5

4In Kanada gab es zwar auch gewalttätige Aktionen – 1970 etwa tötete die FLQ (Front pour la libération du Québec den Arbeitsminister Quebecs – es kam aber niemals zu einem Genozid oder der Tötung tausender Menschen. 5Erfahrungen über Interaktion zwischen Multikulturalismus und deep diversity in einer liberalen Demokratie wurden freilich nicht nur in Kanada gesammelt. Kanada wurde wegen seines komplexen kulturellen Szenarios zwar als »statistical outlier« (Laczko 1994) bezeichnet. Kanada ist aber kein so starker »statistical outlier« was kulturelle Heterogenität angeht. In Westeuropa etwa finden sich ähnliche Fragestellungen. Sie reichen von einem meist freundschaftlichem, aber im Rahmen des Föderalismus ter- ritorial und auch staatlich klar anerkanntem Nebeneinander verschiedener sich über Sprache definierender Gesellschaften wie in der Schweiz, bis hin zu einer friedlichen Animosität der sich ebenfalls hauptsäch- lich über Sprache definierenden flämischen und wallonischen Gesellschaft in Belgien. In vielen Ländern zeigen sich unterschiedliche Ausprägungen von deep diversity nebeneinander, wie etwa in Frankreich, Spanien und Großbritannien. Neben Forderungen nach Regionalisierung (z. B. in der Provence, in Kata- lonien und in Schottland) treten hier auch schwerwiegendere Konflikte (z. B. in Korsika, im Baskenland oder in Nordirland). Es gab hier unterschiedliche Antworten auf die kulturelle Heterogenität. Aber in diesen Ländern wurden die Konflikte nicht so ausführlich analysiert wie in Kanada. In der Schweiz etwa fand die Anpassung zu einem Zeitpunkt statt, als die nationale Bewegung noch nicht wirksam war – das dort wirkende Szenario ist damit untypisch für viele Szenarien auf der Welt, wo der Nationalismus eine

13 Der Arbeit liegt die systematische Überlegung zugrunde, daß Verfassungen eine symbolische und instrumentelle Dimension besitzen, die konstitutiv aufeinander bezo- gen sind. Ich folge dabei einem von u. a. Jürgen Gebhardt (1995, 1999a, 1999b, 2001), Hans-Ulrich Gumbrecht (2001) und Karl-Siegbert Rehberg (2001, 1994) vertretenen Forschungsansatz. Unter der instrumentellen Dimension einer Verfassung verstehe ich demnach denjenigen Teil einer Verfassung, der das Regelwerk des politischen Systems festlegt. Unter der symbolischen Komponente der Verfassung verstehe ich die grund- legenden politischen Leitideen einer Verfassung, welche nicht nur auf die Regelung des politischen Alltagsgeschäftes ausgerichtet sind, sondern auch die gesellschaftliche Wirklichkeit transzendieren.In den Worten Jürgen Gebhardts artikuliert die Verfassung als Symbol die »Ordnungs- und Sinngehalte der politischen Kultur« (Gebhardt 1995, 9). Symbolizität bedeutet dabei, daß die politische Wirklichkeit durch eine politische Symbolik transzendiert wird, die Symbole aber gleichzeitig auch eine Ordnungslei- stung in der politischen Wirklichkeit erbringen. Ich folge hier Rehberg, der darauf aufmerksam macht, daß »Symbole [...] nicht nur Anzeichen des Metaphysischen und Außeralltäglichen [sind], sondern [...] eben diesen Alltag selbst [strukturieren].« (Reh- berg 1994, 62) In Deutschland wird der Begriff des Symbolischen häufig negativ bewertet und mit Irrationalismus und Mystizismus, mit dem Gegenteil rationalen Regierens in Verbin- dung gebracht (vgl. Gebhardt 2001, 586). In dieser Arbeit soll gezeigt werden, daß das Verständnis von Symbolizität für zeitgenössische Verfassungspolitik sehr nützlich ist.

Die Arbeit untergliedert sich in fünf Kapitel: Im ersten Kapitel wird anhand eines Überblicks über die US-amerikanische Verfas- sungsgeschichte und wesentlicher Schriften zeitgenössischer US-amerikanischer poli- tischer Theorie herausgearbeitet, daß innerhalb des US-amerikanischen Konstitutiona- lismus das Phänomen der deep diversity entweder ausgeblendet oder als gefährlich und illiberal kritisiert wird. Es wird herausgearbeitet, daß die Grundrechte und die Volks- souveränität als symbolische Leitideen auf die Einheit des amerikanischen Volkes an- gelegt sind und damit eine Kulturhermeneutik verankern, die trotz Multikulturalismus die Einheit des amerikanischen Volkes immer schon voraussetzt. Im zweiten Kapitel wird dann in vergleichender Perspektive zu den USA erörtert, welche Lösungsansätze in Kanada entwickelt wurden, um eine deep diversity in ei- ne liberale Verfassungsordnung zu integrieren. Es wird dabei wieder auf die in Ver- gessenheit geratene Debatte innerhalb der britischen liberalen Theorie über Liberalis- ganz wesentliche Bedeutung hat. In Großbritannien und Frankreich sind Minderheitennationalismen peri- pher. Sie haben es nie vermocht, die Verfassungsgebung zu beeinflussen. Es gibt hier auch keine Debatte, welche spezifisch im Kontext der US-amerikanischen Verfassungsidee stattgefunden hat. Zudem gibt es in Kanada mit der Ureinwohnerfrage eine Konfliktdimension, welche die Frage interzivilisatorischen Kontaktes berührt.

14 mus und Nationalismus aufmerksam gemacht, welche durch das kanadische Verfas- sungsproblem inspiriert worden war. Ich zeige, daß in dieser Debatte weitaus grundle- gender über kulturelle Voraussetzungen des Liberalismus reflektiert wurde, als das in der zeitgenössischen US-amerikanischen liberalen Theorie der Fall ist. Der britisch- kanadische Konstitutionalismus von 1867 wird als ein Konstitutionalismus begriffen, welcher die politische Realität der deep diversity im Rahmen einer instrumentellen Verfassung zu integrieren versuchte, ohne große Leitideen zu kennen und die Einheit eines kanadischen Volkes symbolisch zu verankern und zum Teil einer liberalen Kul- turhermeneutik zu machen. Im dritten Kapitel wird dann die Verfassungspolitik der Regierungen Trudeau de- tailliert dargestellt. Sein Verfassungsprojekt wird als der Versuch betrachtet, die kana- dische Nation durch eine auf US-amerikanischen Elementen ruhenden Verfassungs- symbolizität neu zu erfinden. In diesem Kapitel wird auch die Ureinwohnerfrage in Kanada dargestellt, welche mit Trudeau Teil der Verfassungspolitik in Kanada wur- de. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zur Quebec-Politik werden herausgearbeitet und für eine Gesamteinschätzung der Verfassungspolitik Trudeaus nutzbar gemacht. Es wird dabei keinesfalls vorausgesetzt, daß Trudeau Kanada amerikanisieren wollte. Ganz im Gegenteil betone ich, daß seine Politik in Kontinuität zum im britischen Ver- fassungsdenken wurzelnden kanadischen Konstitutionalismus steht; Bezüge in seinen politischen Schriften zum britischen Liberalismus und dessen Vermischung mit US- amerikanischem Gedankengut werden herausgearbeitet. Die Perspektive richtet sich hauptsächlich auf die Frage, wie Trudeau Elemente des US-amerikanischen Konsti- tutionalismus in den kanadischen Konstitutionalismus integrierte. Besonders hebe ich darauf ab, daß Trudeau einen Verfassungssymbolismus entwickelte, der über Leitideen von Grundrechten, Bilingualismus und Volkssouveränität das kanadische Volk einen wollte.Strukturelle Schwächen, die aus dieser Synthese herrühren, werden in diesem Kapitel auch herausgearbeitet. Im vierten Kapitel werden dann Reaktionen auf Trudeaus Verfassungsprojekt in Kanada analysiert. Die kanadische Debatte nach 1982 liefert reichhaltiges Material, welche auf wesentliche Probleme bei der Übertragung US-amerikanischen Konstitu- tionalismus auf Länder mit deep diversity aussagen könnte. Anhand einiger zentraler Thesen von bedeutenden Vertretern der politischen Theorie aus Quebec wird illustriert, wie Elemente des US-amerikanischen Konstitutionalismus durch Minderheitennatio- nalismen für ihre eigenen Zwecke verwendet werden können. Anhand einer Analyse von normativen Dilemmata bei kanadischen Ureinwohnern wird gezeigt, auf welche normativen Probleme Elemente des US-amerikanischen Konstitutionalismus im Um- gang mit nicht-westlichen Kulturen stoßen können. Offene Fragestellungen und Problemlagen werden im fünften Kapitel auf die poli- tische Theorie Will Kymlickas bezogen. Kymlicka soll als ein Neuerer US-amerika-

15 nischer politischer Theorie verstanden werden, welcher den grundlegenden theoreti- schen Rahmen zwar nicht verläßt, aber diesen wieder auf das Problemfeld der deep diversity erweitert.Ich erörtere, ob dies einen besseren Lösungsansatz für die Problem- lage in Kanada bieten könnte, als er bisher in Kanada entwickelt wurde. In einem abschließenden Kapitel wird dann der Versuch unternommen, ausgehend von den Ergebnissen dieser Arbeit auf Probleme der Übertragung des US-amerika- nischen Konstitutionalismus auf Länder, die von einer deep diversity geprägt sind, hinzuweisen.

16 1 Die Verfassung als Verfassung eines Volkes: Zur Kulturhermeneutik des US-amerikanischen Konstitutionalismus

A strong sense of the value and blessings of union induced the people, at a very early period, to insti- tute a federal government to preserve and perpetu- ate it. The Federalist Papers (Hamilton, Madison und Jay 1999, 7)

Als Land mit vielen Einwanderern und großen regionalen Unterschieden werden die USA häufig als eine Art Paradebeispiel für ein Land mit einer ausgeprägten kulturel- len Heterogenität begriffen. Die These, daß gerade in den USA ein Element kultureller Diversivität, das in vielen anderen Ländern der Welt eine große Rolle spielt, von kei- ner oder nur einer sehr untergeordneten Bedeutung ist, scheint zunächst unverständlich oder zumindest merkwürdig zu sein. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, daß aber trotz Diskussion über Heterogenität in den USA die Einheit der Nation niemals grund- sätzlich in Frage gestellt worden ist und daß der US-amerikanische Konstitutionalis- mus sowie die politische Theorie der USA nicht über das Problem der deep diversity reflektieren. Im ersten Abschnitt (1.1) werde ich zunächst herausarbeiten, daß in der Geschichte der USA kulturelle Heterogenität nur im Sinne des Multikulturalismus auftrat und die Verfassungsdebatte daher nur auf Multikulturalismus hin ausgerichtet war und deep diversity aus der Verfassungsidee ausgeschlossen worden war. Danach werde ich anhand einiger maßgeblicher Autoren zeigen, wie sich dies auf die liberale Theorie in den USA ausgewirkt hat (Abschnitt 1.2).

1.1 Die Verfassung der USA als Verfassung eines multikulturellen Volkes

1.1.1 Die Genese des Volkes aus der Verfassung: Bill of Rights, Volkssouveränität und die konstitutive Rolle der Verfassung als symbolisches Ordnungszentrum

Der US-amerikanische Konstitutionalismus ist nur teilweise eine Neuschöpfung. Er hat sich aus Ideen der englischen Verfassungstradition, dem liberalen Gedankengut

17 Lockescher Prägung, der Montesquieueschen Lehre von der Gewaltenteilung und der common sense-Philosophie der schottischen Aufklärung herausentwickelt. Er kann, vereinfachend gesprochen, durch drei eng miteinander zusammenhängende Eigen- schaften charakterisiert werden: kodifizierte und unveräußerliche individuelle Grund- rechte, Volkssouveränität und eine hohe symbolische Bedeutung der Verfassung für das politische Gemeinwesen. Die Idee unveräußerlicher individueller Grundrechte lag schon der Unabhängig- keitserklärung von 1776 zugrunde; über die Präambel und über die 1791 auf Druck der Anti-Federalists an die Verfassung angefügten Bill of Rights gingen diese Rechte direkt in den schriftlich fixierten Verfassungskorpus ein. Die Bill of Rights ist höchstes Gesetz und bindet auch das Parlament. Die Institutionen der USA, ihre föderale Ordnung und die darin verwirklichten checks and balances sind letztlich alle auf den Schutz indivi- dueller Rechte hin angelegt, wenn auch viele Bevölkerungsgruppen, hauptsächlich die Schwarzen, über eine lange Zeit hinweg davon ausgeschlossen waren (vgl. Vorländer 1999, 39ff). Daß sich die staatliche Ordnung auf das Volk gründet und politische Gewalt sich von der Souveränität des Volkes ableitet war ebenfalls von Anfang an Bestandteil der US-amerikanischen Verfassungsidee. Das Volk hatte die Verfassung freilich nicht selbst geschrieben; die Verfassung war ja hinter verschlossenen Türen in Philadel- phia ausgehandelt worden. Wenn die Verfassungsväter von »we the people« sprachen, dann bedienten sie sich dieser Terminologie hauptsächlich deshalb, um die Unabhän- gigkeitserklärung und die Loslösung von Großbritannien rechtfertigen zu können; als Gruppe von Großgrundbesitzern und Spekulanten waren sie keinesfalls daran interes- siert gewesen, politische Macht direkt auf das Volk zu gründen und etwa allen Bürgern das Wahlrecht zu geben. Man fürchtete sich eher vor demokratischen Exzessen. Einer großen Gruppe von Menschen – etwa Frauen, Schwarze und auch den meisten weißen Männern – blieben politische Partizipationsrechte über eine lange Zeit verwehrt. Auch konnte zu der Zeit, als sich die USA für unabhängig erklärten, kaum von einem US- amerikanischen Volk gesprochen werden. Ein großer Teil der Bevölkerung war mit der Unabhängigkeitserklärung nicht einverstanden gewesen und akzeptierte auch nicht die neue Verfassung. Ungefähr ein Drittel der Bewohner der damaligen USA verließen das Land im Zuge der Revolution, meist in Richtung der britischen Kolonien in Nordame- rika. Daß die USA überhaupt ein Volk hatten war eine Fiktion der Verfassungsväter gewesen, eine Erfindung, die aber erfolgreich und wirkungsmächtig war. »[...] [T]he point is«, so schreibt Peter Russell, »that the invention worked. It produced a coherent and popular foundation myth, a myth that gained credibility after a civil war and the democratic evolution of the country.« (Russell 1993, 8) Neben individuellen Rechten mit Ewigkeitsgarantie und Volkssouveränität ist die Verfassung der USA auch dadurch charakterisiert, daß sie nicht nur die Regeln für das

18 Institutionengefüge der Republik festlegt, also lediglich eine instrumentelle Funktion hätte. Eine instrumentelle Funktion hat sie auch: Der größte Teil der Verfassung ist sogar der Regelung der politischen Institutionen gewidmet, also des Parlamentes, des Präsidenten und des Supreme Courts. Der Verfassung der USA kommt darüber hinaus aber auch eine weitere Funktion zu: Sie ist ein Symbol dafür, was das Volk als politi- sches Gemeinwesen überhaupt erst ausmacht. Die in der Präambel der Verfassung, der Bill of Rights, den Worten der Gründungsväter und der Unabhängigkeitserklärung fest- gelegten und zum Ausdruck kommenden Verfassungsprinzipien sind eine Leitidee, in der die politischen Ideen von individuellen Rechten und Volkssouveränität in systema- tischer Art und Weise miteinander verknüpft und in eine höhere Ordnung eingebunden werden. Die Verfassung begreift das Volk als eine Wertegemeinschaft, die sich auf eine höhere Rechtsordnung, eine »already established order of things«,1 namentlich indivi- duelle Rechte, beruft. Wenn es in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt, daß »[w]e hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty, and the pursuit of Happiness«, dann wird damit das Volk, das »we«, als die Gemeinschaft derer angelegt, welche »Life«, »Liberty« und »Happiness« als prinzipi- ell ewig gültige, Raum und Zeit transzendierende Werte anerkennen. Die Verfassung, so Jürgen Gebhardt, gibt damit überhaupt erst der »gesellschaftlichen Existenz trans- personalen Sinn und transhistorische Wahrheit« und läßt »die Gesellschaftsglieder ihre Gesellschaft als ein Gemeinschaftsunternehmen erleben [...].« (Gebhardt 1995, 14). In den USA ist es die Verfassung, die dem Land einen »gemeinsame[n] identitätsstiften- den Sinn« (Gebhardt 1995, 13) gibt. Die Verfassung ist damit in ihrer Symbolizität nicht nur Ausdruck und Bezugspunkt für die Nation, sondern sie konstituiert diese auch. Die Idee der gesellschaftlichen Einheit und der amerikanischen Nation ist in der Verfassung angelegt und wird durch die Verfassungsdebatte verstärkt. In Rückgriff auf Gumbrecht ist die Verfassung der USA Präsenzkultur: nicht nur Ausdruck politischer Wirklichkeit, sondern sie ist dieser auch vorgängig. Die Verfassung war nicht von Anfang an Symbol für das politische Gemeinwesen in den USA. Dies sieht man daran, daß der Schutzgarant der Werte der Verfassung, der Supreme Court, 1789 noch keineswegs das war, was er heute ist. Er war zwar als fester Bestandteil des gewaltenteiligen instrumentellen Institutionengefüges ange- legt worden. Im Vergleich mit den beiden anderen Gewalten, der Exekutive und der Legislative, kam ihm aber nur eine untergeordnete Rolle zu. Er konnte nicht damit rechnen, daß seinen Entscheidungen von der Legislative und der Exekutive Geltung verschafft werden würde; beide Institutionen hatten anfangs mehr Autorität inne. Die Legislative verfügte über die Staatskasse, und es war die Exekutive, welche über die Macht und die Mittel verfügte, Ordnung herzustellen. Die Gründungsväter selbst hat-

1Corwin, zitiert in Gebhardt (1995, 10).

19 ten bezweifelt, ob ein oberstes Gericht überhaupt dazu in der Lage sein könne, sich im Konfliktfall gegen Parlament und Regierung durchsetzen zu können. Für den Supre- me Court war denn auch in der Verfassung keine allgemeine Normenkontrollbefugnis vorgesehen worden (vgl. Vorländer (1999, 49)). Erst nachdem sich gezeigt hatte, daß die Prinzipien der Verfassung das Zusammenleben erleichtern und erfolgreich dauer- haft strukturieren können, entstand das Interesse daran, die Kontinuität der politischen Ordnung zu sichern durch eine vom politischen Tagesgeschäft losgelösten, »objekti- ve« Entscheidungsinstanz. Dem Supreme Court gelang es dann, eine zentrale Rolle im politischen System einzunehmen. Je häufiger seine Richter die Verfassung inter- pretierten, je häufiger sie sich der Terminologie der Verfassung bedienten und sich auf eine als wirklich tragfähig erlebte »already established order of things« beriefen, desto mehr wurde er dadurch selbst sakrosankter Bestandteil der symbolischen Ordnung. Er gewann dadurch quasi automatisch immer mehr an Autorität. Indem er sich nicht nur als Ausleger der symbolischen Ordnung, sondern auch als Teil der Symbolizität der Verfassung selbst etablieren konnte, gelang es ihm, zu weit mehr zu werden als nur einem Bestandteil des instrumentellen Teils der Verfassungsordnung.2 Dies ist ein Charakteristikum, welches vielen Konstitutionalismen gemein ist, wel- che durch die USA beeinflußt wurden. In der Bundesrepublik Deutschland etwa hat die Verfassung auch eine symbolische Bedeutung für das politische Gemeinwesen. Auch hier ist die Verfassung als Leitidee für das politische Gemeinwesen anzusehen: der in Deutschland häufig verwendete Begriff des »Verfassungspatriotismus« bezeichnet eine symbolische Komponente des deutschen Konstitutionalismus. Die symbolische Bedeutung der Verfassung ist dabei allerdings viel stärker an die staatliche Kompo- nente gebunden als in den USA (vgl. Gebhardt 2001, 592) und erwächst eher aus der

2Supreme Court und Verfassung sind eine Symbiose eingegangen: Der Supreme Court profitiert von der Symbolizität der Verfassung und aktiviert diese Symbolizität immer weiter. Der Zugewinn an Autori- tät kann an einigen zentralen Stationen deutlich gemacht werden. Schon 1803 konnte der Supreme Court erstmals mit Erfolg ein Gesetz für verfassungswidrig erklären; es handelte sich um ein Gerichtsorganisa- tionsgesetz zur Bestimmung der Richter des Supreme Courts. Die Macht des Supreme Courts zeigte sich bei der Gesetzgebung des New Deal, wo er die Interessen der Besitzeliten gegen die Pläne der Regierung und gegen einen starken öffentlichen Druck behaupten konnte (die Regierung mußte diese Entscheidung dann umgehen). Die Entscheidung des Supreme Courts von 1954, daß die Verfahrensweise des separate but equal (welche das Gericht durch eine Entscheidung von 1896 selbst initiiert hatte) verfassungswidrig sei und die weitreichenden Konsequenzen, welche diese Entscheidung hatte, markiert den Höhepunkt für die richterliche Kontrollbefugnis in den USA. (Einen Überblick über die wachsende Rolle des Supreme Courts gibt Vorländer (1999, 48ff)). Wie sich das Verhältnis zwischen Supreme Court und den Parlamen- ten, die sich auf Volkssouveränität berufen, ausgestaltet oder ausgestalten sollte ist freilich umstritten. Der bedeutende Verfassungsinterpret Bruce Ackerman etwa setzt der Position derer, welche die Verfas- sung an ewige Grundrechte rückbinden und auch die demokratisch gewählten Institutionen wie Kongreß und Präsident binden wollen (er bezeichnet diese als foundationalists) die Position derer gegenüber, die Verfassung dem Willen des Volkes gegenüber offen halten wollen. Diese Position, die Ackerman als »dualistische« bezeichnet und der er sich selbst auch zurechnet, weist dem Supreme Court die Rolle zu, gesellschaftlichen Wandel nach einer gewissen Zeit nachzuvollziehen und anzuerkennen (vgl. Ackerman 1991, 13 und 303).

20 Anerkennung ihrer Rechtsförmigkeit (vgl. Gebhardt 1999b, 28).3 In Frankreich dage- gen kommt der Verfassung kaum symbolische Bedeutung zu.4

1.1.2 Die Genese der Verfassung aus dem Volk: ethnische und kulturelle Grundlagen des US-amerikanischen Konstitutionalismus

Die große Bedeutung der Verfassung und ihrer Prinzipien für die politische Ordnung und ihr starker formativer Charakter für die Bildung der Nation selbst hat häufig zu der These Anlaß gegeben, als ob die US-amerikanische Nation sich rein auf universel- len Werten gründe und nicht ethnisch-partikularistisch sei. Symbolik der Verfassung ist abstrakt, Bill of Rights und Volkssouveränität transzendieren die konkrete, ethni- sche Wirklichkeit. Besonders drückt sich dies dadurch aus, daß die USA als eine civic nation bezeichnet und von einer ethnic nation unterschieden werden. Diese Unterscheidung ist zwar valide, wenn man sie so versteht, daß die USA (zumindest heutzutage) Einwanderern unterschiedlichster Herkunft Zugang gewähren und einen geringen Integrationsdruck ausüben. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Na- tion nur auf universellen Werten aufbaut. Die Nation hat einen ethnischen Kern. Dies sieht man schon daran, daß die Verfassung auf Englisch geschrieben ist. Aber Ethnizi- tät ist viel umfangreicher als nur Sprache. Im Selbstverständnis der Verfassungsväter und in ihrer politischen Rhetorik waren die USA als eine Nation begriffen worden, die auf bestimmten historischen und auch ethnischen Eigenschaften aufbaute, eine Kon- zeption der Nation, die sich bis heute, wenn auch nicht explizit, so aber doch implizit gehalten hat.

3Daß in der Bundesrepublik Deutschland nach der Wende vom Herbst 1989 das alte Grundgesetz beibehalten wurde und die Diskussionen darüber, eine neue Verfassung für Gesamtdeutschland zu schrei- ben, schnell wieder abebbten, zeugt von der hohen Akzeptanz und hohen symbolischen Bedeutung des Grundgesetzes als deutscher Verfassung. 4Die französische Verfassung ist hauptsächlich eine instrumentelle Verfassung. Sie ist keine idée di- rectrice über Sinn und Zweck des politischen Gemeinwesens (vgl. Gebhardt 1995, 21). In Frankreich ist die Verfassung nur Ausdruck der Nation, welche als grundlegender Einheitsgarant allen Verfassungen vorausgeht und nicht erst durch die Verfassung konstituiert wird. Sie ist nur Ausdruck oder Begleiter- scheinung der Nation, konstituiert diese aber nicht und ist nicht symbolisches Zentrum des politischen Gemeinwesens. Seit 1789 etablierten sich die Souveränität der Nationalversammlung und der Gedanke der uneingeschränkten Volkssouveränität: Es waren die Gesetze der Nationalversammlung als Ausdruck der Souveränität des Volkes, welche die höchste Autorität im französischen Staat darstellten; ein richter- liches Prüfungsrecht oder gar eine vom Parlament unabhängige Verfassungsgerichtsbarkeit, die Gesetze des Parlamentes wirkungsmächtig für verfassungswidrig hätte erklären können, konnte sich hingegen nicht etablieren. In Frankreich hat es deswegen seit 1789 sehr viele verschiedene Verfassungen gegeben hat. Die Verfassungsordnung der V. Republik allerdings bezieht sich wieder ausdrücklich auf die Men- schenrechtserklärung von 1789. Der Conseil Constitutionnel aktivierte auch seit den 1970er Jahren die Grundrechtsidee und legitimierte damit Entscheidungen, welche sich gegen Parlamentsgesetze richteten. Dies führte jedoch nur zu einer unerheblichen Ergänzung des instrumentellen Charakters der Verfassung. So hat man in jüngster Zeit etwa wieder darüber nachgedacht, die Verfassung maßgeblich zu ändern, um die aus einer cohabitation resultierenden Probleme lösen zu können. Für einen Überblick über den französischen Konstitutionalismus vgl. Vorländer (1999, 53ff).

21 Schon in den Federalist Papers, dem wichtigen Verfassungskommentar, wurde das amerikanische Volk in ethnischen Kategorien begriffen und als ein Volk begriffen. Man war froh, dies bei der Verfassungsgebung voraussetzen zu können. Das wird an folgender von John Jay geschriebenen Stelle besonders deutlich:

[...] I have [...] often taken notice that Providence has been pleased to give this one connected country to one united people—a people descended from the same ancestors, speaking the same language, professing the same religion, attached to the same principles of government, very similar in their manners and cus- toms, and who, by their joint counsels, arms, and efforts, fighting side by side throughout a long and bloody war, have nobly established their general liberty and independence. This country and this people seem to have been made for each other, and it appears as if it was the design of Providence that an inherit- ance so proper and convenient for a band of brethren, united to each other by the strongest ties, should never be split into a number of unsocial, jealous, and alien sovereignties. Similar sentiments have hitherto prevailed among all orders and denominations of men among us. To all general purposes we have uniformly been one people; each individual citizen everywhere enjoying the same national rights, privileges, and protection. As a nation we have made peace and war; as a nation we have vanquished our common enemies; as a nation we have formed alliances, and made treaties, and entered into various compacts and conventions with foreign states. (Hamilton, Madison und Jay 1999, Artikel 2, 6f)

Das war natürlich auch nur eine Fiktion gewesen, welche die gesellschaftliche Zu- sammensetzung zu Zeiten der amerikanischen Revolution nicht exakt widerspiegelte. Das Volk war nicht so einig, auch nicht nachdem sich die Revolution durchgesetzt hat- te. Aber diese Fiktion war glaubhaft und entsprach auch im wesentlichen der gesell- schaftlichen Wirklichkeit in den USA: die meisten Einwanderer kamen tatsächlich aus Großbritannien; sie wollten zwar in der neuen Welt nicht die alte Gesellschaftsstruktur Großbritanniens wiedererrichten und waren sich auch nicht immer darüber einig, wie der neue Staat regiert werden sollte. Die Verfassung machte deshalb Aussagen über individuelle Rechte und Volkssouveränität, legte ein symbolisches Konzept vor, um die Nation zu einen. Die Verfassung brauchte dies aber nicht auf ethnisch-kulturellem Gebiet zu tun: denn die Einwanderer betrachteten sich immer noch als Briten und be- trachteten sich als Mitglieder einer britischen Siedlergesellschaft in Nordamerika. In seinem De la Démocratie en Amérique, der zweifellos besten Analyse der Gesellschaft der USA in den 1830er Jahren, stellte Alexis de Tocqueville fest, daß sich die Einwan- derer in vielen Punkten unterschieden: »leur but n’était pas le même,« so schrieb er, »et ils se gouvernaient d’après les principes divers.« Er wies aber darauf hin, daß al- le sich als Engländer verstanden, ihren politischen Horizont von dort mitnahmen, die Problemstellungen Englands kannten, kurz in einem englischen historischen Bezugs- feld lebten. Die gemeinsame Sprache ist dabei besonders wichtig: »peut-être le plus fort et le plus durable [lien] qui puisse unir les hommes. Tous les émigrants parlaient la même langue; ils étaient tous enfants d’un même peuple.« (Tocqueville 1963, 36f)

22 »The United States of America has had a dominant language since its formation: that language is English [...].« (Sagarin und Kelly 1985, 20) Diese Verbindung hielt sich auch nachdem die USA zum Einwandererland großen Stils wurden. Ein gemeinsames historisches Bezugsfeld, die gleiche Sprache und ge- teilte politische Prinzipien bildeten den Kern für die US-amerikanische Nation. Zu- nächst waren die USA ethnisch ausgesprochen exklusiv; eine lange Zeit über erhielten Einwanderer, die sich kulturell stark von den britischen Siedlern unterschieden, et- wa Einwanderer aus Süd- und Osteuropa, keine Bürgerrechte und waren deshalb auch nicht richtige Mitglieder des Volkes. Als später Einwanderer auch aus solchen Gebie- ten der Erde zu Bürgern werden konnten wurden dies aber an die Bedingung geknüpft, die englische Sprache zu lernen und sich dem way of life der übrigen Amerikaner anzupassen. Diese Öffnung zeugt zwar von der großen Bedeutung universalistischer Werte der Verfassung, aber sie ging nur insofern, daß der Zugang und die Assimilation in die britisch geprägte Gesellschaftsordnung ermöglicht wurde. Italienern wurde als Menschen die Möglichkeit gegeben, Teil der britischen Siedlerkolonie zu werden, aber nur, wenn sie damit ihre kulturellen Unterschieden entsagten. Dies drückte sich in in der Ideologie des melting pot aus, der keine Vermischung verschiedener Kulturen war, sondern eine Erweiterung des Kerns der Siedlerkolonie. Durch den ethnic revival seit den 1960er Jahren und den Multikulturalismus wur- de zwar die Ideologie des melting pot herausgefordert und kulturelle Heterogenität betont. Die Herausforderungen, die sich mit der Bewegung des ethnic revival verban- den, lösten zwar die Befürchtung aus, daß diese die nationale Einheit unterminieren könnten. Dies erwies sich jedoch als unbegründet. Daraus entwickelte sich jedoch keine deep diversity. Einwanderergruppen verlangten zwar, ihre ethnische Diversi- vität in der amerikanischen Gesellschaft beibehalten und zeigen zu dürfen, es wur- de aber nie die nationale Einheit der USA in Frage gestellt. Die USA sollten zwar zu einer salad bowl werden, aber eben zu einer. Die ethnischen Verteilungskämp- fe in den USA waren Verteilungskämpfe zwischen Menschen, die sich als Amerika- ner ansahen, zwar als »Bindestrich-Amerikaner«, jedoch immer als Amerikaner. Es ging um Verteilungskämpfe zwischen Mitgliedern verschiedener Gruppierungen in- nerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft, zwischen Latein-Amerikanern, Deutsch- Amerikanern und Anglo-Amerikanern. Es kam aber nicht zu einem Verteilungskampf um Gesellschaft. Assimilation sollte lediglich durch Integration ersetzt werden: Glei- che Rechte für alle, oder das Recht, Differenz in einer amerikanischen Gesellschaft bewahren zu dürfen.5

5Bruce Ackerman bringt dies in besonders optimistischer Weise zum Ausdruck. Die USA sei, so Ackerman, inzwischen ein »pluralist bazaar« (Ackerman 1991, 309) geworden, welcher nicht die Einheit der USA gefährdet, sondern diese ganz im Gegenteil bereichert und damit weiter festigt. Die verschie- denen Gruppen sind, so Ackerman, noch deutlich auf ein gemeinsames Zentrum bezogen: »we are not merely members of a race, religion, class, religion, industry«, so Ackerman. »We are also citizens of the

23 Der ethnic revival stellte die Gültigkeit der Verfassung nicht in Frage. Er berief sich auf sie. Er knüpfte an die religiöse Toleranz an. In den Worten von Nathan Glazer die Theorie des salutary neglect (Glazer 1975, 25) oder des benign neutrality (Gla- zer 1983, 124). Dieser Theorie zufolge wird ethnische Diversivität genauso wie re- ligiöse Diversivität behandelt. Genau wie sich der Staat in religiösen Dingen neutral verhält, Religionsausübung aber in der Privatsphäre zuläßt, so soll sich der Staat auch bei ethnischen Fragen neutral verhalten und nur sichern, daß ethnische Identität in der Privatsphäre ausgelebt werden kann. »Ethnische Rechte« wie auch »religiöse Rechte« gibt es nur durch ein Diskriminierungsverbot, welches ein individuell wahrgenomme- nes Abwehrrecht ist. Es gibt kein Kollektivsubjekt und Forderung nach kollektiven Rechten kommen nicht vor. Genau wie Kirchen keine kollektiven Rechte als Kirche, sondern nur ihre Mitglieder ein individuelles Recht auf Nichtdiskriminierung als An- gehöriger einer Religionsgemeinschaft haben, so haben auch ethnische Gruppen keine kollektiven Rechte, sondern nur deren Mitglieder gewisse individuelle Abwehrrechte. Und über diese individuellen Rechte werden die Mitglieder der verschiedenen ethni- schen Gruppen wieder in die individualrechtlich ausgerichtete Verfassung integriert. Auch die Bewegung des ethnic revival spricht damit – wie auch der gesamte Multikul- turalismus – letztlich die Sprache der Verfassung. Der Multikulturalismus spricht die Sprache der Verfassung aber nicht nur in dem Sinn, als daß er die Verfassung als normatives Ordnungszentrum anerkennt und sich zu ihren abstrakten Werten bekennt. Er verwendet die Sprache der Verfassung noch in einem weiteren Sinn: er spricht nämlich die englische Sprache. Dies bleibt aus dem Mythos des melting pot übrig. Der Multikulturalismus hat zwar die Theorie des benign neutrality durchgesetzt. Er fordert aber nicht einen vollständigen benign neutrality. Die Umsetzung und de facto Förderung der englischen Sprache und die damit ver- bundene kulturelle Ausrichtung des Staates wird akzeptiert. Minderheitenliteraturen sollen zwar auf dem Lehrplan an Schulen und Universitäten stehen, aber es ist ent- weder amerikanische Minderheitenliteratur oder sie wird in englischen Übersetzungen gelesen. Man akzeptiert auch, daß öffentliche Schulen sich am christlichen Kalender orientieren, also immer Sonntags geschlossen sind. Man verlangt nur, den melting pot weniger rigide zu gestalten. Man stellt aber nicht in Frage oder bemerkt gar nicht, daß die Gesellschaft der USA auch einen ethnischen Kern hat. Er stellt nicht in Frage, daß die USA eine Gesellschaft haben.

United States–concerned with the rights of all Americans and the permanent interests of the entire com- munity.« (Ackerman 1991, 310) Aber damit betont Ackerman auch, daß die USA immer noch ein Volk sind: er spricht von »the [sic] pluralist bazaar« Ackerman 1991, 309. Der deutsche Verfassungstheore- tiker Hans Vorländer sieht in der Multikulturalität der USA ebenfalls keine Gefährdung für die Einheit des Landes. Der Symbolismus der US-amerikanischen Verfassung wurde für ihn sogar »zum Fundament einer ethnisch und kulturell heterogenen Einwanderergesellschaft« (Vorländer 1999, 61), kursiv nicht im Original.

24 Auch sonst blieb die Idee einer Nation bestehen. Sie überlebte auch andere Her- ausforderungen. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung in den 1950er und 1960er Jah- ren war einmal von radikalen Kreisen in der Schwarzenbewegung diskutiert worden, einen Staat nur für Schwarze zu fordern und diesen vom Rest der USA zu separieren. Aber dies ebbte rasch ab, wohl auch deshalb, daß die Schwarzen keine konkurrieren- de Ethnie hatten. Die Bürgerrechtsbewegung war auf Inklusion in die amerikanische Gesellschaft hin angelegt und nicht auf Separation; sie war ja gerade gegen ein sepa- rate but equal. Sie forderte zwar eine Umbewertung der amerikanischen Geschichte, stellte aber diese nicht in Frage: man bekannte sich dazu, Amerikaner zu sein, die englische Sprache zu sprechen und bezog sich in politischen Reden (etwa Martin Lu- ther King) immer auf die Ideale und Mythen der US-amerikanischen Geschichte. Die Bürgerrechtsbewegung forderte lediglich, daß bisher ausgeschlossene Bevölkerungs- teile als gleichberechtigte Amerikaner akzeptiert werden. Sie forderte noch nicht ein- mal, die Verfassung zu verändern, sondern die Prinzipien der Verfassung auch auf den schwarzen Bevölkerungsteil anzuwenden und die Schwarzen zu gleichberechtig- ten Amerikanern zu machen. Individuelle Rechte wurden betont und kein Kollektiv- subjekt aufgestellt. Es war sogar der Supreme Court selbst gewesen, der 1954 die Bür- gerrechtsbewegung bekräftigte und anstieß, indem er die Verfahrensweise des separa- te but equal (welche der Supreme Court 1896 selbst eingeführt und legitimiert hatte) für verfassungswidrig erklärte. Die wesentlichen mit der Bürgerrechtsbewegung ver- bundenen Reformgesetzgebungen wurden vom Supreme Court als verfassungsgemäß ausgezeichnet: sowohl der Civil Rights Act von 1964 als auch die Maßnahmen, die mit affirmative action verbunden waren. Bürgerrechtsgruppen beriefen sich auf die Verfas- sung und die Urteile des Supreme Courts. Im Zuge der Bürgerrechtsbewegung wurde der Supreme Court und sein higher law making und damit die Verfassung als ganzes gestärkt (vgl. Ackerman 1991, 22). Auch dort, wo es Spannungen gab, wurde niemals in Frage gestellt, daß es ein ame- rikanisches Volk gibt, welches eine Verfassung hat. Das Volk mag sich zwar uneins sein, aber es wurde nie bezweifelt, daß es ein Volk ist. Obwohl viele Maßnahmen um- stritten waren, so verwirklichten sie für die Mehrheit der US-Amerikaner überhaupt erst den Geist der Verfassung von 1789. Die Verfassung diente als Bezugspunkt der Veränderung, wurde dadurch aber gleichzeitig als gemeinsames ordnendes Zentrum der einen US-amerikanischen Gesellschaft bestärkt. Sie bestärkte zwar den abstrakten Gehalt der Nation, aber sie stellte den Zusammenhalt nicht in Frage und stellte auch die ethnische Grundlage nicht in Frage. Mit der Bürgerrechtsbewegung und mit dem Multikulturalismus wurde die Nation ironischerweise abstrakter, indem damit aber die ethnische Komponente nicht herausgefordert wurde und die Verfassung als Einheits- garant gestärkt wurde, wurde damit auch die ethnische Komponente: nämlich eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames historisches Bezugsfeld gestärkt. Verfas-

25 sung und Ethnizität sind eine Symbiose eingegangen, die beide bestärkte. Das fällt aber heutzutage nicht mehr auf: die ethnische Komponente ist so selbstverständlich, daß sie stark hinter die abstrakte Komponente zurückgetreten ist.

1.1.3 Der Ausschluß von deep diversity aus der Verfassungsidee

Daß der Symbolismus der Verfassung implizit von der Idee der Einheit der Nation aus- geht, kann man auch daran erkennen, daß die Herausforderung der Einheit der Nation als Angriff auf die Verfassung wahrgenommen wurde und man versuchte, bestehende deep diversities zu unterdrücken. Eine ehemals bestehende frankophone Gesellschaft in Louisiana wurde zur Integration gebracht. Es war eine lange Zeit über französisch als offizielle Sprache in Louisiana akzeptiert gewesen und im Parlament und in Re- gierung gesprochen worden. Es war aber zu erkennen, daß ein großes Interesse daran bestand, Englisch durchzusetzen: im Bund wurde Französisch nie akzeptiert. Die Ab- geordneten aus Louisiana hatten im Repräsentantenhaus und im Senat Englisch zu sprechen. Aggressive Maßnahmen in Louisiana gegen die frankophone Gruppe unter- blieben, da diese sich ohnehin freiwillig anpaßte - Englisch war die dominante Wirt- schaftssprache. In anderen Staaten wurde härter gegen Französisch vorgegangen. In Rhode Island etwa gelang es der Bewegung der Nativists Anfang des 20. Jahrhunderts Englisch an Schulen als Unterrichtssprache durchzusetzen, die bisher französischspra- chig gewesen waren (vgl. Simpson 2000, 132). Die Tatsache, daß einmal darüber diskutiert wurde, Deutsch zur offiziellen Spra- che in Pennsylvania zu machen ist heute nur noch ein historisches Kuriosum. Im 19. Jahrhundert war dieses aber als große Herausforderung angesehen worden. Benjamin Franklin etwa warnte davor, daß es zu schwerwiegenden Konflikten kommen könne, wenn man territorial konzentrierte Einwanderung zulasse.6 Nach der Eroberung großer Teile Mexikos wurde zwar im Vertrag von Guadalupe Hidalgo von 1848 das Recht der Mexikaner in den eroberten Gebieten auf ihr Eigen- tum gesichert und ihnen die Wahl zwischen einer mexikanischen und US-amerikani- schen Staatsbürgerschaft gelassen, eine mexikanische Nation oder mexikanische Ge- sellschaft mit Gruppenrechten wurde in den USA aber nicht zugelassen.7 Das Thema wurde auch nicht so wichtig, da Mexikaner argumentieren zwar mit dem Argument kultureller Gerechtigkeit zwischen Gruppen, sie sind dabei aber auf die Restaurierung privater Eigentumsrechte ausgewiesen, auf einen bestimmten kulturellen Status, der sie durchaus von Einwanderern unterscheidet, nicht auf die Herstellung einer sepa- raten mexikanischen Nation innerhalb der USA (vgl. Tsosie 2000, 1646.) Heute ist dies jedoch anders, da jetzt von spanischsprachiger Seite eine Bedrohung aufkommt:

6Für eine Diskussion der Thesen Franklins siehe Glazer (1975, 12)). 7Für eine Diskussion der Mexikaner und heute noch bestehender Rechtsforderungen derselben siehe Tsosie 2000, 1625ff.

26 Entwicklungen im Süden der USA, in Kalifornien und Florida, wo die Zahl der Hispa- nics stark zunimmt und die Integrationsbereitschaft abnimmt. Hispanics sehen sich häufig nicht als Einwanderer, sondern als Nachfahren der spanischen Kolonialisten, die durch die USA erobert wurden. Hispanics haben eigene Radio- und Fernsehstatio- nen und fordern häufig, Spanisch als offizielle Sprache in Parlament, Verwaltung und Schulen anzuerkennen. Es gibt Prognosen, die damit rechnen, daß um 2050 50% der Bevölkerung in Kalifornien spanischsprachig sein wird. Da die Verfassung Kaliforni- ens Volksentscheide vorsieht, mit denen die offizielle Sprache Kaliforniens geändert werden könnte, könnte diese demographische Verschiebung rasch erhebliche Auswir- kungen haben. Das wird nicht begrüßt, sondern als große Bedrohung angesehen. Das neue Buch von Huntington. Hier zeigt sich der ethnische Charakter der US-amerika- nischen Gesellschaft und auch der Verfassungsidee. Man hütete sich auch davor, Staaten in die USA aufzunehmen, welche die Grund- lage für eine konkurrierende Gesellschaft und damit für eine deep diversity innerhalb der USA legen könnten. Die Tatsache, daß das spanischsprachige Puerto Rico kein Bundesstaat der USA geworden ist und Puerto Ricaner erst dann zu US-Bürgern mit allen Rechten werden, wenn sie Puerto Rico verlassen und sich in den USA mit ihrer englischsprachigen Mehrheit niederlassen, illustriert dies deutlich. Puerto Rico hat den Status eines commonwealth, eines Territoriums das zwar Teil der USA ist, aber kein Bundesstaat und auf das die Verfassung aber nicht vollständig Anwendung findet. Der Sonderstatus Puerto Ricos resultiert aus der Akkomodierung einer Gesellschaft, die als inkompatibel mit den USA erlebt wird und außerhalb der Debatten in den USA bleibt: Puerto Rico wird als »distinct political and cultural society« (Aleinikoff 1994, 16) von der Gesellschaft der USA unterschieden. Früher wurde Puerto Rico für zu unzivilisiert gehalten, um US-amerikanische Institutionen beherbergen zu können (vgl. Aleinikoff 1994, 25), deutlich wird heute die Sprachenfrage. Konservative Republikaner im Kon- greß haben schon ausdrücklich darauf hingewiesen, daß eine Aufnahme Puerto Ricos als Bundesstaat wegen der in Puerto Rico geltenden Zweisprachigkeit schwierig wäre (vgl. Aleinikoff 1994, 42). Es bleibt außerhalb. Über eine Aufnahme Puerto Ricos als 51. Bundesstaat wird nicht nachgedacht und es gibt kaum verfassungstheoretische Ar- beiten über Puerto Rico (vgl. Aleinikoff 1994, 15). Früher gab es mit Guam und den Philippinen noch weitere Territorien, die einen ähnlichen Status wie Puerto Rico heute hatten (vgl. Aleinikoff 1994, 26): auch sie wurden nicht aufgenommen. Hawaii wurde erst dann als Bundesstaat in die USA aufgenommen, nachdem es eine mehrheitlich englischsprachige Bevölkerung hatte.8 Föderalismus war in den USA nicht auf nationale Minderheiten ausgerichtet, nützte der Mehrheit und integrierte die ethnische Nation. Der Föderalismus verstärkte ironi-

8Für einen Überblick über die Rechte von nationalen Minderheiten in den USA siehe O’Brien (1987) und Ball (1989).

27 scherweise die Idee einer US-amerikanischen Nation. In den Federalist Papers wurde der Föderalismus in seiner Funktion für die Abwendung der Gefahr der Tyrannei be- trachtet. Föderalismus war eingerichtet worden, um factions zu verhindern, welche Konflikte ökonomischer, agrarischer und industriellem Konflikt innerhalb der einen US-amerikanischen Gesellschaft, nicht aber Konflikte zwischen Gesellschaften mit unterschiedlichem kulturellen oder sprachlichen Hintergrund. Nationale Minderhei- ten erhielten vom Bund immer mehr Unterstützung als von den verschiedenen Bun- desstaaten; der Bund schützte die Ureinwohner stärker als die Staaten, welche unter stärkerem Druck der Siedler und der konkreten Verhältnisse standen. Der Trend in den USA ist: Bundesstaaten akzeptieren Zentralisierung, während die Territorien nationa- ler Minderheiten, Ureinwohner, Puerto Rico weiter dezentralisiert werden. Dies heißt nicht, daß deep diversities immer bekämpft worden wären. Bei Fällen, die nicht bedrohlich erschienen wurden sie außen vor gelassen. Hutterern und Amish etwa leben bis heute auf klar abgegrenzten Territorien, welche diese Gruppen bei ihrer Ein- wanderung in die USA ausgehandelt hatten. Sie haben eigene Schulen und politische Institutionen. Sie verstanden sich bei ihrer Übersiedlung nach Amerika nicht primär als Einwanderer, sondern v. a. als Kolonialisten, die eine eigene Gesellschaft aufbau- en wollten. Dies ist jedoch ein nur sehr peripheres Phänomen. Sie stellen jedoch keine Verfassungsfragen und verwenden auch nicht die Terminologie des Nationalismus; nur selten werden sie für die US-amerikanischen Gerichte zum Problem, und dann nur auf der Ebene unterer Gerichte (vgl. Kymlicka 1995, 41). Ureinwohner in den USA machten sich zwar deutlicher bemerkbar, vor allem seit der Red-Power-Bewegung in den 1960er Jahren. Sie wollen als eigene Nationen an- erkannt werden. Als solche werden sie in den USA auch de facto anerkannt. Diese Nationen sind aber so peripher und die sie betreffenden politischen Regelungen haben einen so exotischen Ausnahmecharakter, daß dies kaum jemals umfassend wahrge- nommen wird. In der Verfassung tauchen Ureinwohner nur in Artikel 1, Sektion 8 auf. Dieser Artikel anerkennt sie jedoch nicht als Nationen, sondern gibt dem Kon- greß das exklusive Recht, mit Ureinwohner Handel zu treiben. Der Artikel verweist damit die Ureinwohner eher in eine Position außerhalb der Verfassungsordnung und der Gesellschaft der USA. Es wurden Reservate bewilligt, aber kein Status als eigener Staat. Manchmal dringen Fragestellungen nach außen, etwa die Frage von individu- ellen Rechten innerhalb von Ureinwohnergruppen oder Konflikte zwischen kollekti- ven Rechten für Ureinwohner und individuellen Rechten für US-Amerikaner, etwa das Recht der Freizügigkeit. Solche Fragen werden jedoch nie als Verfassungsfragen im eigentlichen Sinn betrachtet. Mit ihren territorialen Forderungen konnten Urein- wohner zwar Erfolge in Gerichtsprozessen erzielen; sie konnten aber niemals auf die Ebene des Föderalismus vordringen und etwa durchsetzen, eigene Bundesstaaten zu etablieren. Es war immer so, daß die US-amerikanische Politik die Ureinwohner über-

28 formte und nicht umgekehrt. Chaudhuri 1985, 32 stellt fest, daß Ureinwohnerpolitik in den USA nur eine »sideshow in a larger American drama« gewesen sei und Ureinwoh- nerpolitik kaum systematisch in das politische System der USA eingegliedert wurde (Chaudhuri 1985, 31). Die Ureinwohnerfrage war nicht Teil der Verfassungspolitik, sondern wurde hauptsächlich durch Statuten des Kongresses geregelt (vgl. Chaudhuri 1985, 17ff). 9 Ureinwohner werden häufig als Teil des ethnic revival betrachtet, was jedoch keinesfalls immer deren Selbstbild entspricht. Zwar verstehen sich Ureinwoh- ner, v. a. solche, die in amerikanischen Städten leben, auch als Teil multikultureller Bewegungen. Ureinwohnergruppen fordern jedoch eigene Territorien, eigene Rechts- systeme, eigene politische Institutionen und auch eine eigene Staatlichkeit. Hans-Ulrich Gumbrecht stellte fest, daß »[i]n presence-cultures, any change is per- ceived as a lack of order (or even as a symptom of disorder) [...].« (Gumbrecht 2001, 72. Dies betrifft insbesondere deep diversity. Unterscheidung zwischen Multikultura- lismus und deep diversity wird getroffen, Multikulturalismus anerkannt, deep diversity ausgeschlossen, zumindest in der Verfassung.10

9Eine gute Diskussion über die Stellung der Ureinwohnerrechte in den USA als Sonderrecht neben der Verfassung findet sich auch bei Tsosie 2000, 1619ff. Die Sonderstellung der Ureinwohnerrechte rührt auch daher, daß diese streckenweise nach der Eroberung großer Teile Mexikos in Form mexikanischen Rechts in die USA integriert wurden (vgl. Tsosie 2000, 1637). Für einen guten Überblick über die Urein- wohner der USA und ihre Stellung innerhalb der Verfassung der USA siehe auch Cornell (1988) und Resnik (1989). 10Nicht nur in den USA ist deep diversity fremd. Das ist auch in Deutschland so, dessen Verfassung in sehr vielen Punkten US-amerikanisch ist. Auch in Deutschland gibt es eine deep diversity, die in ihrer In- tensität und Ausrichtung zwar anders ausgerichtet ist, aber auch zu Irritationen führt und Fragen aufwirft. Damit meine ich nicht die Spannungen zwischen West- und Ostdeutschland, welche kaum den Charakter einer deep diversity haben. Ich meine das freundschaftliche Nebeneinander der deutschen Mehrheitsge- sellschaft mit Dänen und Sorben, die eigene Gesellschaften mit einem schwach ausgebildeten territorialen Bewußtsein bilden. Diese Gruppen werden von der Bundesrepublik Deutschland als Gesellschaften mit eigenen Institutionen anerkannt. Sie haben zwar keine eigenen Regierungen, haben aber eine Reihe von bemerkenswerten Ausnahmeregelungen für sich durchgesetzt. So gibt es dänische und sorbische Schulen, Schleswig-Holstein hat eine Ausnahmeregelung für dänische Parteien. Die Anerkennung hat historische Ursachen und ist nicht richtig und stimmig in die Normen der Verfassung integriert. Dies zeigt ein Zei- tungsinterview vom 27. Juni 2002, welches die Süddeutsche Zeitung mit Otto Schily über die Stellung der Dänen und Sorben in Deutschland führte. In diesem Interview begrüßte Schily Rechte für Sorben und Dänen: »Wir haben autochthone Minderheiten [...]. Die sollen gefördert werden. Und da gibt es ja eine beachtliche Erfolgsbilanz.« Die Süddeutsche Zeitung wollte wissen, warum diese Gruppen nicht wie Einwanderergruppen behandelt und über weitaus mehr Rechte verfügen als die viel größere Gruppe der Türken in Deutschland. Diese dürfen zwar Läden auf Türkisch beschriften, türkische Zeitungen heraus- bringen und verkaufen. Sie haben aber nicht das Recht auf türkischen Schulunterricht an öffentlichen Schulen, auf eine spezielle Förderung ihrer Kultur. Sie haben auch keine speziellen politischen Rechte. Die Süddeutsche Zeitung sah darin einen Widerspruch. Schily konnte diesen auch kaum ausräumen und nur ein realpolitisches Argument anführen: »Minderheitenschutz heißt doch nicht, daß wir neue Minder- heiten fördern müssen und daß jemand, der hierher kommt, eine Minderheit bilden kann. [...] Nein, nein. Integration hat die Einbeziehung in den deutschen Kulturraum zum Ziel. Da können wir nicht noch alle möglichen Sprachen fördern. Das führte doch zu einem völligen Chaos.« Er wendet sich dagegen, »daß sich eine homogene Minderheit entwickelt, deren erste Sprache Türkisch ist.« Er wendete sich dagegen, Parallelgesellschaften zu fördern, hält also am Bild einer deutschen Gesellschaft fest. Warum aber man gerade Sorben und Dänen spezielle Rechte gewähren könne und nicht Türken konnte er nicht auf dem Hintergrund der Verfassungsnormen begründen. Schily verwendet auch die Begriffe Assimilation und Integration unklar. Jürgen Gebhardt hat deshalb ganz recht, wenn er an Jürgen Habermas Konzeption des

29 1.2 Liberale Theorie in den USA als Theorie einer multikulturellen Gesellschaft

We are all multiculturalists now. Nathan Glazer (1997)

Die US-amerikanische Verfassung prägte die liberale Theorie in den USA erheblich. Die politische Theorie John Rawls, die den Ausgangspunkt für einen Großteil der De- batten in den USA darstellt, ist etwa deutlich von Grundvoraussetzungen der Verfas- sungsidee in den USA geprägt worden. Wie Horst Mewes herausgearbeitet hat, ist sein Werk Reflektion und Ausdruck US-amerikanischer Verfassungskultur. Es han- delt sich, so Mewes, bei Rawls politischer Theorie um »hoch-abstrakte, idealisieren- de Begriffskompositionen«, welche von den »›self-evident truths‹ der amerikanischen Verfassungstradition und einer von breitem Konsensus getragenen politischen Kultur abgeleitet oder begründet werden.« (Mewes 1999, 55) Rawls betreibt, so Mewes, eine »Soziologie der amerikanischen politischen Tradition« (Mewes 1999, 55), eine »Er- klärung der Grundbegriffe der empirisch vorhandenen liberalen politischen Kultur und ihres historisch gewachsenen, realen Grundkonsenses.« (Mewes 1999, 56).11 Wie sehr diese Einschätzung Mewes zutreffend ist zeigt sich daran, daß Rawls die Grundannahme des US-amerikanischen Konstitutionalismus, daß die Verfassung die Verfassung eines Volkes ist, übernommen hat. Wie auch in der Verfassungsdebatte, so wird auch in der liberalen politischen Theorie deep diversity ausgeblendet. In A Theory of Justice macht er sogar selbst deutlich darauf aufmerksam, daß Beziehun- gen zwischen Gesellschaften nicht Gegenstand seiner Betrachtungen sind. »I shall be satisfied« so schreibt er, »if it is possible to formulate a reasonable conception of ju- stice for the basic structure of society conceived for the time being as a closed system isolated from other societies« (Rawls 1971, 8) Rawls kennt eine »notion of society as a social union of social unions« (Rawls 1971, 565), aber das sind nicht mehrere Gesellschaften, sondern nur eine. Daß Rawls von einer Gesellschaft wird auch in sei- ner Konzeption von der ursprünglichen Entscheidungssituation, dem veil of ignorance, deutlich. Rawls spricht in diesem Zusammenhang von Gesellschaft nie im Plural, son- dern stets nur im Singular: »Among the essential features of this situation« so schreibt er, »is that no one knows his place in society, his class position or social status, nor

Verfassungspatriotismus kritisiert, daß dieser die Funktion abstrakter Gehalte des Konstitutionalismus überbetone und die kulturelle Situiertheit des Konstitutionalismus unterschätze (vgl. Gebhardt 1999a, 10f). 11Mit dieser Charakterisierung seines Werkes wäre Rawls nicht unzufrieden gewesen. Er selbst hat Eine Theorie der Gerechtigkeit nie als Universaltheorie bezeichnet. Dies deutet schon der Titel Eine Theorie der Gerechtigkeit (und nicht etwa The Theory of Justice) an. Ich behaupte übrigens nicht, daß Rawls Theory den Gerechtigkeits-Konsens der US-amerikanischen Gesellschaft ausdrückt, sondern nur, daß sie ganz erheblich durch die US-amerikanische Gesellschaft geprägt ist.

30 does any one know his fortune in the distribution of natural assets and abilities, his intelligence, strength, and the lie [...]« (Rawls 1971, 12, kursiv nicht im Original). Daß es verschiedene Gesellschaften innerhalb eines Staates geben könnte, die eigene Staatlichkeit fordern könnten, bleibt ausgeblendet. Zwar entwickelt Rawls ein Argu- ment gegen die Diskriminierung von Sprechern anderer Sprachen. Dieses Argument führt er jedoch vor dem Hintergrund der Erfahrung des US-amerikanischen Multikul- turalismus (vgl. Rawls 1978, 55). Probleme, die sich aus einer deep diversity ergeben könnten, werden in seiner Theorie der Gerechtigkeit nicht verhandelt. Das ist auch in Rawls Buch Political Liberalism nicht anders. Zwar geht er hier im Unterschied zu Eine Theorie der Gerechtigkeit nicht mehr davon aus, daß unter den Bedingungen einer kulturell heterogenen Gesellschaft noch der Gedanke einer wohl- geordneten Gesellschaft praktikabel ist. Es gebe innerhalb einer Gesellschaft mehrere »comprehensive reasonable doctrines«. Von einem gemeinsamen Wertefundament für eine Gesellschaft auszugehen sei deshalb illusorisch. Lediglich in der politische Sphä- re könne eine »free standing view« mit einem Political Liberalism umgesetzt werden. Der Political Liberalism ist für Rawls kein Kompromiß, sondern Ausdruck einer um- fassenden Konzeption von Gerechtigkeit. Die »most divisive issues« werden in dieser Sphäre nicht mehr verhandelt, und zwar nicht aus realpolitischen Gründen, sondern weil nicht entschieden werden kann, welche Wertordnung die richtige ist. In der poli- tischen Sphäre soll eine Moralordnung nur soweit etabliert werden, wie es notwendig ist, um die Toleranz zwischen den verschiedenen »comprehensive reasonable doctri- nes« zu sichern. Sie soll auch Individuen die Möglichkeit eröffnen, sich von solchen »comprehensive reasonable doctrines« distanzieren zu können. »Justice as fairness«, so Rawls, »affirms political autonomy for all but leaves the weight of ethical auto- nomy to be decided by citizens severally in light of their comprehensive doctrines.« (Rawls 1993, 78) Er distanziert sich damit zwar von einigen Grundannahmen, wie er sie in A Theory of Justice noch vertreten hatte.Der Einfluß der Grundvoraussetzung des US-amerikanischen Konstitutionalismus ist jedoch auch in Political Liberalism klar erkennbar: auch hier geht er von einer Gesellschaft aus. Innerhalb dieser Gesellschaft können sich zwar mehrere »comprehensive reasonable doctrines« tummeln, deren we- sentliche moralische Vorbehalte berücksichtigt werden. Diese werden aber nur im Sin- ne einer benign neutrality berücksichtigt: Die politische Sphäre, die staatliche Sphäre soll von dieser Diversivität unberührt bleiben. Sie soll nur einen neutralen Mittler dar- stellen. Daß ein solcher Political Liberalism verschiedene Gesellschaften integrieren müsse, die jeweils für sich einen eigenen Political Liberalism fordern, und was das für die Institutionen des Political Liberalism heißen könnte, berücksichtigt Rawls nicht. Die Perspektive des Buches liegt nur auf moralischen Konflikten zwischen Gruppen in einer Gesellschaft und deckt damit eine große Vielzahl der Phänomene, über die sich deep diversities äußern, nicht ab. Rawls Political Liberalism ist eine Theorie einer

31 tiefgreifenden moralischen Diversivität – eines, wenn man so will, radikalen Multikul- turalismus – aber keine Theorie der deep diversity. Auch in Rawls letztem Buch, The Law of Peoples, in dem er sich mit Fragen interna- tionaler Kooperation und des Friedens beschäftigt, geht er zwar von einer Interaktion zwischen Völkern aus; diese bestehen für ihn jedoch jeweils aus einer Gesellschaft mit einem »overall scheme of cooperation« (Rawls 1999, 72). Was Rawls zu zeigen versucht, ist, daß sich sowohl liberale wie auch illiberale Staaten auf ein gemeinsames internationales Regime verständigen können, eine wohlgeordnete Society of Peoples (vgl. Rawls 1999, 5). Er setzt dabei aber voraus, daß es sich überall um eine Interakti- on von Staaten handelt, die jeweils aus einer Gesellschaft bestehen. Rawls Society of Peoples ist eine Gesellschaft von Völkern mit jeweils einer Gesellschaft. Kritiker von Rawls machen auf viele Schwachpunkte in seiner Theorie aufmerksam, weisen aber niemals auf die spezifische Kontingenz hin, daß Rawls von einer Gesell- schaft ausgeht. Robert Nozick etwa, der viele der Grundvoraussetzungen Rawls ab- lehnt, geht auch davon aus, daß ein Staat nur eine Gesellschaft umfasse. Zwar kritisiert Nozick, daß Rawls Theory of Justice die Existenz einer Verteilungsgesellschaft anneh- men müsse. Er kritisiert dies aber nicht unter dem Gesichtspunkt, daß die Existenz einer Gesellschaft in einem Staat umstritten sein könnte, sondern unter dem Gesichts- punkt, daß dies individuelle Rechte beschneiden könnte. Die Frage der deep diversity thematisiert Nozick nicht. Auch bei einem anderen bedeutenden Kritiker von Rawls, Michael Walzer, einem Autor, der eher dem kommunitaristischen Lager zugeschrieben werden kann und von dem man daher weitergehende Überlegungen über kulturelle Voraussetzungen libera- ler Demokratie vermuten könnte, findet sich kein Hinweis darauf, daß bei Rawls eine Auseinandersetzung mit Fragestellungen der deep diversity fehlt. In seinem einfluß- reichen Werk Spheres of Justice entwickelt er zwar ein Modell komplexer Gleichheit mit verschiedenen Sphären der Gerechtigkeit. Diese Sphären verortet er aber innerhalb einer Gesellschaft:

[...] [T]he question most likely to arise in the minds of the members of a political community is not, What would rational individuals choose under universalizing conditions of such-and-such a sort? But rather, What would individuals like us choose, who are situated as we are, who share a culture and are determined to go on sharing it? (Walzer 1983, 5; kursiv nicht im Original)

Es ist bemerkenswert, daß in den vielen verschiedenen Sphären der Gerechtigkeit, die Walzer diskutiert, die Frage der Gerechtigkeit zwischen Gesellschaften in einem Staat nicht vorkommt. Die Frage der Mitgliedschaft etwa wird unter der Perspektive des Zugangs zu der einen Gesellschaft diskutiert. Die Frage nationaler Zugehörigkeit wird unter der Perspektive des Ausschlusses bestimmter Individuen diskutiert, nicht unter der Frage mehrerer Nationen in einem Staat. Auch im Abschnitt über territory

32 werden mit deep diversity zusammenhängende Fragestellungen nicht erörtert. In ande- ren Schriften wird deutlich, daß für ihn die USA aus einer Gesellschaft bestehen, die ethnisch neutral sei: »America is still a [sic!] radically unfinished society [...]« (Walzer 1992b, 48) und »The flag and the Pledge are, as it were, all we have.« (Walzer 1992b, 36). Walzer unterscheidet deutlich zwischen einer civic nation und einer ethnic nation. Er spricht von einer »sharp divorce of state and ethnicity« (Walzer 1992a, 100f) in den USA. Der US-amerikanische Staat sei als liberaler Staat ein ethnisch neutraler Staat, der über den Konflikten zwischen ethnischen Gruppen stehe: »The United States is a political nation of cultural nationalities. Citizenship is separated from every sort of par- ticularism: the state is nationally, ethnically, racially, and religiously neutral.« (Walzer 1992b, 9. Siehe auch Walzer (1997)) Auch bei Autoren, die eher soziologischer und ethnologischer Provenienz sind und sich stärker mit kultureller Heterogenität in den USA befassen, bleibt das Phänomen der deep diversity ausgeblendet. So etwa in den sehr einflußreichen Schriften Nathan Glazers. Glazer arbeitet zwar die Kontingenzen, die dem US-amerikanischen Konsti- tutionalismus zugrunde liegen, deutlich heraus. Der US-amerikanische Konstitutiona- lismus, so Glazer, gründe in drei Prinzipien: erstens, daß »the entire world would be allowed to enter the United States«; zweitens, daß »no separate ethnic group was to be allowed to establish an independent polity in the United States«; und drittens, daß »no group [...] would be required to give up its group character and distinctiveness as the price of full entry into the American society and polity.« (Glazer 1975, 5) Glazer zieht daraus aber den Schluß, daß die USA eine Nation sei, die sich völliger ethnischer Neutralität verpflichtet habe: »the United States«, so schreibt er, »has become the first great nation that defines itself not in terms of ethnic origin but in terms of adherence to common rules of citizenship« (Glazer 1975, 7). Seine Theorie reflektiert damit nicht die Konsequenzen, die sich aus der Tatsache ergeben haben, daß die USA Forderun- gen nach einer »independent polity« nicht zuläßt. Glazer reflektiert nicht darüber, daß die USA neben einer civic nation auch eine ethnic nation sind. Sie liefert keine diffe- renzierte Auseinandersetzung mit Problemlagen, die durch deep diversities entstehen können. Mit deep diversity zusammenhängende Probleme werden in den USA häufig nicht nur nicht erörtert, sondern sie werden darüber hinaus in der Regel pauschal in einem sehr negativen Licht dargestellt und als veritable Bedrohung liberaler Ordnungen be- griffen. Dies ist etwa in David Hollingers Buch Postethnic America (Hollinger 1995) der Fall. Hollinger unterscheidet zwischen einer pluralistischen und einer kosmopoliti- schen Form des Multikulturalismus. Den pluralistischen Multikulturalismus charakte- risiert er als einen Multikulturalismus, welcher davon ausgehe, daß kulturelle Gruppen permanent bestehende Entitäten mit klaren Abgrenzungen gegenüber anderen kultu- rellen Gruppen sind: »Pluralism respects inherited boundaries and locates individuals

33 within one or another of a series of ethno-racial groups to be protected and preserved.« (Hollinger 1995, 3) Demgegenüber gebe es eine kosmopolitische Version des Mul- tikulturalismus, welche »promotes multiple identities, emphasizes the dynamic and changing character of many groups, and is responsive to the potential for creating new cultural combinations.« (Hollinger 1995, 3f) Hollinger verteidigt die kosmopolitische Variante des Multikulturalismus und kritisiert die pluralistische Konzeption v. a. des- wegen, weil sie zu stark von starren Grenzziehungen ausgehe und damit Menschen, die sich verschiedenen Kulturen zurechnen, einem Homogenisierungsdruck aussetze. Mit deep diversity zusammenhängende Phänomene, wie etwa die Existenz nationaler Minderheiten, verortet Hollinger grundsätzlich außerhalb der USA. Minderheitenna- tionalismus beschreibt er als eine extreme Version des pluralistischen Multikultura- lismus und kritisiert diesen scharf. Minderheitennationalismen würden sich wie alle Nationalismen auf »ethno-racial solidarities« berufen würden. Den Begriff der »race« verwendet er so, wie im Deutschen der Begriff »Rasse« verwendet wird. Auf die For- derungen solcher nationaler Minderheiten einzugehen würde zu einer Gesetzgebung des separate but equal führen (vgl. Hollinger 1995, 131f). Hollinger engt den Begriff des Nationalismus deutlich ein. Dies kann dadurch er- klärt werden, daß er unter dem Einfluß der Modernisierungshypothese steht, die in den USA v. a. seit dem Zweiten Weltkrieg eine große Verbreitung gefunden hat. Diese auf S.M. Lipset, Karl Deutsch, Daniel Lerner und Lucien Pye zurückgehende Hypothe- se geht davon aus, daß Nationalismus mit Tribalismus und Kollektivismus verbunden ist und individuelle Werte, Offenheit der Gesellschaft, diesem untergeordnet wird.12 Je mehr sich eine Gesellschaft liberalisiert, desto stärker, so die Hypothese, wird das Phänomen des Nationalismus verschwinden. Im Umkehrschluß heißt das: Überall dort, wo sich nationale Bewegungen zeigen, äußern sich tribalistisch orientierte Kollektivis- men, die sich gegen individuelle Rechte richten und somit illiberal sind.Die Moderni- sierungshypothese ist eine Reaktion auf die Erfahrung aggressiver Nationalismen vor und während des Zweiten Weltkrieges (vgl. Claude 1955).

***

Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß die US-amerikanische Verfassung eine ethnische Grundlage hat und diese verstärkt. Ethnizität und Partikularität ist in einer sehr engen Symbiose mit abstrakten Verfassungsprinzipien, und diese bestäti- gen sich gegenseitig. Ethnizität ist deshalb nicht mehr so präsent, da sie sich über die abstrakten Prinzipien ausdrückt. Die Verfassung verbindet sozusagen Ethnos mit Ethos, bietet den Zugang zur fiktiven Schicksalsgemeinschaft britischer Siedler über das Bekenntnis zu ihrer Verfassung. Multikulturelle Phänomene regelt die Verfassung über abstrakte Rechtsprinzipien, weshalb der Eindruck entstehen kann, als ob die Ver-

12Zum Einfluß dieser Autoren auf liberale Denker siehe Ajzenstat (1988, 6).

34 fassung sozusagen über allen kulturellen Faktoren stehe. Diese Rechtsprinzipien sind aber, und das ist das wesentliches Kontextmerkmal des US-amerikanischen Konstitu- tionalismus, auf den Erfahrungsbestand und an die politische Theorie einer ursprüng- lich britischen Siedlerkolonie rückgebunden. Die Verfassung ist nicht ein so revolutio- närer Akt, sie erfindet nicht die Nation, sie ist kein setzender Akt. Die Nation ist der Verfassung vorgängig, die Einheit der Nation gibt es schon vor der Verfassung. Die Verfassung gibt der Nation ihre Werte und formt sie dadurch aus, schafft aber nicht diese Einheit und erfindet damit auch nicht die amerikanische Nation. Sie ist abstrakt, aber auch organisch und keinesfalls ein radikaler, nationenbildender Akt. Sie kann auch schon auf einer funktionierenden Ordnungslogik anknüpfen: der Siedlergemein- schaft und sie liefert eine politische Rhetorik, die gut in die Zeit paßte und historisch erwachsen ist. Die verschiedenen Lebensformen werden somit durchdrungen und da- durch in ein gemeinsames bürgerschaftliches Ethos integriert. Das US-amerikanische Beispiel zeigt, daß auch abstrakte Verfassungsprinzipien an kulturelle Faktoren rück- gebunden sind. Sie entspringen aus dem spezifischen Erfahrungsbestand einer ethnisch klar ausgerichteten Siedlergesellschaft, welche niemals durch eine deep diversity ernst- haft herausgefordert war. Schließt Gedanken von deep diversity aus der symbolischen Ordnung aus. Die politische Theorie verstärkt dies noch. Dies ist mitzubedenken, wenn man von der symbolischen Funktion der Verfassung spricht. Der kanadische Fall, den wir uns im folgenden ansehen werden, zeigt die kultur- hermeneutische Kontingenz der US-amerikanischen Verfassungsidee auf, warnt vor zu einfachen Ansätzen, bietet Denkalternativen, Ausgestaltung einer liberalen Verfas- sung um deep diversity herum, zeigt, was für diffizile Regelungen das braucht, was für eine diffizile Symbolik und was dabei schiefgehen kann. Dies soll jetzt dargestellt werden. Wir werden dazu zunächst einen weiten Sprung zurück in das 18. Jahrhundert machen.

35

2 Verfassung für das Volk: die Erfindung Kanadas durch britischen Konstitutionalismus

[...] [T]he great importance of Canadian historical documents [...] has to do with the fact that this country exhibited the prob- lem of nationality as the United States did not. There was no so- cial cleavage in the United States comparable to that of the »two nations« in British North America. In the case of [...] Canada, observers had to consider equality and nationality together. The Canadian situation forced observers to reflect on that problem of equality and tolerance in ways that the American did not. Janet Ajzenstat (1988, xi) Wesentlicher Bezugspunkt für die Einheit der Nation ist in den USA der Mythos eines zusammen durchgestandenen Unabhängigkeitskrieg gegenüber einer als unterdrücke- risch erlebten Kolonialmacht. Ein solcher Mythos konnte in Kanada nicht entstehen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als die Briten in dem ihnen verbliebenen Teil britisch Nordamerikas die Grundlagen für das spätere Kanada anzulegen begannen, konnte die Situation dort kaum unterschiedlicher aussehen als in den USA. Auf dem Kernge- biet des späteren Kanadas lebten fast ausschließlich Besiegte: französische Siedler der Kolonie Quebec,1 welche während des Siebenjährigen Krieges von britischen Trup- pen nach längerem und blutigem Kampf von Frankreich erobert worden war. Nach der endgültigen Niederlage Frankreichs war Quebec 1763 im Vertrag von Paris an Großbritannien abgetreten und in das britische Kolonialreich eingegliedert worden. Die Beziehung zwischen den französischen Siedlern und den Besetzern sowie den nachrückenden britischen Siedlern war als Folge dieser kriegerischen Auseinanderset- zung von größtem Mißtrauen geprägt. Durch erhebliche kulturelle Unterschiede wurde dieses Mißtrauen noch verstärkt. Nicht nur sprachen Sieger und Besiegte verschiedene Sprachen, sondern Briten und Franzosen hatten verschiedene Landnutzungssysteme und unterschiedliche politische Strukturen. In Quebec war die Nutzung des Landes im sog. Seigneur-System geregelt worden, einem semi-feudalen System, welches 1645 von der französischen Krone eingeführt worden war und auch nach der Eroberung durch die Briten noch weiterbestand. Bei den Briten, die keinen Adel in Nordamerika 1Es handelt sich hier um das Gebiet, welches der französische Entdecker Jacques Cartier ab 1534 während seiner Reisen entlang des St. Lorenz-Stroms für die französische Krone in Anspruch genommen hatte und 1608 durch Samuel de Champlain durch die Gründung des Forts Quebec (»die Stelle, an der der Fluß enger wird«) befestigt worden war. Der Einfachheit halber werde ich die französischsprachigen und im weitesten Sinne französischstämmigen Bewohner der britischen Kolonien in Nordamerika im weiteren als Franzosen oder als Frankokanadier bezeichnen. Ich vertrete damit weder die These, daß es sich dabei um Staatsbürger Frankreichs handelte, noch daß diese sich unbedingt mit Frankreich identifiziert hätten.

37 eingeführt hatten, dominierte freies Unternehmertum (etwa die Hudson Bay Compa- ny). Die Ideen von responsible government und Rechtsstaatlichkeit waren bei den bri- tischen Siedlern dementsprechend weitaus stärker verbreitet als bei den französischen Siedlern. Die starke Stellung der katholischen Kirche in Quebec und ihr großer Ein- fluß auf die katholischen französischen Siedler – die katholische Kirche hatte quasi eine Monopolstellung im Bildungssystem inne – verstärkte diese Unterschiede noch. Briten und Franzosen lebten in verschiedenen Gesellschaften; britisch Nordamerika war von einer deep diversity geprägt. Im folgenden werde ich zeigen, wie die Briten versuchten, für ihre nordamerika- nischen Kolonien angesichts dieser Problemlage eine Verfassungsordnung zu finden, wie sich diese Problemlage auf den britischen liberalen Konstitutionalismus auswirk- te und wie sich dieser deshalb vom US-amerikanischen unterschied. Zunächst gehe ich auf die Verfassungsentwürfe zwischen 1763 und 1791 ein, die von einem unsi- cheren Umgang mit der deep diversity zeugen (Abschnitt 2.1). Danach werde ich die Auswirkungen dieser Verfassungen und die danach folgende Krise für den britischen Liberalismus beschreiben und darlegen, wie kulturelle Kontingenz in dieser Debatte offengelegt wird (Abschnitt 2.2). Dann werde ich die Verfassung von 1867 als einen liberalen Gegenentwurf zur Verfassung der USA darstellen, der kaum symbolische Gehalte enthält und auf die Integration der deep diversity in einem instrumentellen Rahmen abzielte (Abschnitt 2.3). Im Anschluß daran werde ich herausarbeiten, wie dieses System durch sozialen Wandel in Quebec, die sogenannte »Stille Revolution« und die Nationalisierung der deep diversity, in eine Krise geriet. Damit soll auch ge- zeigt werden, daß eine deep diversity als ein wandelbares Konstrukt begriffen werden muß (Abschnitt 2.4).

2.1 Zwischen Anerkennung und Verdrängung von deep diversity: Die Verfassungen von 1763, 1774 und 1791

Großbritannien hatte nie Schwierigkeiten damit gehabt, in seinen nordamerikanischen Kolonien Verfassungen einzurichten. Die Verfassungen in den 13 Kolonien, aus de- nen später die USA werden sollten, waren immer akzeptiert worden und kaum kriti- siert worden, keine dieser Verfassungen mußte je grundlegend geändert werden. Zwar erklärten sich die Kolonien 1776 für unabhängig und proklamierten das Prinzip der Volkssouveränität gegenüber der britischen Krone. Ein schwerwiegendes Verfassungs- problem innerhalb dieser Kolonien hatte es jedoch nie gegeben. Dies zeigt sich daran, daß auch nach 1776 die Grenzen der bestehenden Kolonien respektiert wurden. Die überkommenen Verfassungen waren überall Grundlage für die neue staatliche Ord- nung. Das Problem war nicht die Verfassung, sondern die Souveränität der britischen Krone gewesen.

38 Für Quebec jedoch mußte die britische Krone im kurzen Zeitraum zwischen 1763 – dem Jahr ihres endgültigen Sieges über Frankreich und des Vertrages von Paris – und 1791 nicht weniger als drei Verfassungen einrichten. Diese unterschieden sich erheblich voneinander. Sie zeugen von einer großen Unsicherheit Großbritanniens im Umgang mit der anderen Gesellschaftsstruktur in dieser Provinz. Die Verfassungen pendelten zwischen Assimilation der Franzosen und Nichtbeachtung ihrer spezifischen Lebensweise bis hin zu Anerkennung der französischen Sprache und der katholischen Institutionen. Die Royal Proclamation von 1763 war von dem Gedanken geprägt, englische Insti- tutionen in Quebec durchzusetzen. Englisches Gesetz, englisches Recht sollte in allen Kolonien, also auch in Quebec gelten; die Kolonie sollte so verwaltet werden wie die anderen britischen Besitzungen in Nordamerika auch. In der Royal Proclamation heißt es über die neuen »extensive and valuable acquisitions in America«, daß

so soon as the state and circumstances [...] will admit thereof, they shall, with the Advice and Consent of the Members of our Council, summon and call General Assemblies within the said Governments respectively, in such Manner and Form as is used and directed in those Colonies and Provinces in America which are under our immediate Government; and We have also given Power to the said Governors, with the consent of our Said Councils, and the Representatives of the People, to be summoned as aforesaid, to make, constitute, and ordain Laws, Statutes, and Ordinances for the Public Peace, Welfare and good Government of our said Colonies, and of the People and Inhabitants thereof, as near as may be agreeable to the Laws of England, and under such Regulations and restrictions as are used in other Colonies [...]. (United Kingdom 1763)

Es war jedoch unmöglich, dies in Quebec umzusetzen. Die Einführung englischen Rechts hatte in der Provinz zu chaotischen Zuständen geführt, und die in der Royal Proclamation angekündigte General Assembly wurde nie eingerichtet. Diese Assem- bly hätte nur die britischen Siedler in Quebec repräsentiert und wurde daher von der Mehrheit der Provinz strikt abgelehnt. Der erste Governor der Provinz, James Mur- ray, wies deutlich darauf hin, daß für das fast vollständig römisch-katholische Quebec eine repräsentative Versammlung impraktikabel sei. Er setzte aber trotzdem auf eine Assimilation der katholischen Bevölkerung und setzte einen Beraterstab ein, von dem Katholiken ausgeschlossen waren. Protestantische Schulen und protestantischer Kle- rus wurden während seiner Regierungszeit hingegen gefördert (vgl. Russell 1993, 13). Diese Strategie war jedoch von erheblicher Unsicherheit geprägt und weit von einem klaren Kurs entfernt. Murray machte nämlich auch darauf aufmerksam, daß man die französische Sprache anerkennen müsse, wenn man Einfluß auf die Quebecker erhal- ten wolle. Er bezeichnet diese auch als people, also als ein eigenes Volk mit einer eigenen Gesellschaft. »[C]ertain I am,« schreibt er in einem Brief an die Lords of Tra- de, »[that] unless the Canadians are admitted on Jurys, and are allowed Judges and Lawyers who understand their Language his Majesty will lose the greatest part of this

39 Valuable people.« (Murray 1966, 3) Die Sprache wird damit schon in diesem frühen Stadium als wichtiger Referenzpunkt für die Unterschiede zwischen den beiden Grup- pen erkannt, um den sich die anderen Konflikte herumgruppieren. Murray unterstützte deshalb auch nicht die kleine Gruppe englischer Siedler, denen er sehr skeptisch ge- genüberstand. Niemand war zufrieden. 1766 wurde durch Governor Sir Guy Carleton ein neuer Versuch gestartet, die Bestimmungen der Royal Proclamation umzusetzen. Carleton kam jedoch schnell zu der Auffassung, daß es unmöglich sein würde, eine Assembly einzurichten. Er kam zu dem Schluß, daß die Provinz ihren französischen Charakter vorerst behalten werde.2 Im sog. Quebec Act von 1774 zog man daraus Konsequenzen. Diese Verfassung prä- sentiert sich als »An Act for making more effectual Provision for the Government of the Province of Quebec in North America« (United Kingdom 1774). Die Verfassung spricht selbst von den Schwierigkeiten, auf die bisherige Versuche Großbritanniens stießen, die Provinz zu ordnen. Die Provisionen der Royal Proclamation von 1763, so heißt es im 5. Artikel, »have been found, upon Experience, to be inapplicable to the State and Circumstances of the said Province« (United Kingdom 1774, Artikel). Aus den gemachten Erfahrungen schlußfolgerte man, daß es unmöglich sein würde, die französischsprachigen Quebecker zu assimilieren. Im neuen Gesetzesentwurf war denn auch keine Assimilation mehr vorgesehen. Den Katholiken wurde Religionsfrei- heit und das französische Rechtssystem garantiert, gleichzeitig aber wurde auch die Souveränität der britischen Krone betont. Im Quebec Act heißt es:

And, for the more perfect Security and Ease of the Minds of the Inhabitants of the said Province, it is hereby declared, That his Majesty’s Subjects, professing the Religion of the Church of Rome of and in the said Province of Quebec, may have, hold, and enjoy, the free Exercise of the Religion of the Church of Rome, subject to the King’s Supremacy [...] and that the Clergy of the said Church may hold, receive, and enjoy, their accustomed Dues and Rights, with respect to such Persons only as shall profess the said Religion. (United Kingdom 1774)

Dies war, wie Bliss (1966, 7) feststellt, eine »almost complete reversal of the policy of the Proclamation of 1763« und legte, so Russell (1993, 13), »the foundation of a régime of cultural coexistence for the British and French in Canada.« Der Quebec Act war in der Tat sehr weitreichend und veränderte erheblich die Art und Weise, wie briti- sche Kolonien in Nordamerika regiert wurden. Die weiteren einzelnen Bestimmungen erlaubten es den Katholiken in Quebec öffentliche Ämter zu bekleiden. Der Governor würde nicht von einer gewählten Versammlung beraten, sondern von einem ernann- ten Rat. Das französische Zivilrecht wurde anerkannt und nur das englische criminal law wurde beibehalten. Die französische Sprache und der römisch-katholische Glaube wurden ebenfalls anerkannt, die Katholiken vom Treueeid auf den König als Kopf der

2Für Carletons Position siehe v. a. seine Rede vor dem britischen Unterhaus (in Bliss 1966, 3f).

40 Kirche ausgenommen. Sie mußten zwar dem britischen König ihre Treue schwören; Kirche und Klerus bekamen durch den Quebec Act aber sogar einen größeren Einfluß auf Quebec als sie es unter dem alten französischen System gehabt hatten. Die Briten wollten in die religiöse Sphäre nicht vordringen. Auch das Territorium Quebecs wurde durch die Bestimmungen des Quebec Act erheblich ausgeweitet. Diese Regelungen waren jedoch nur rein praktischer Natur und der direkten Erfah- rung entsprungen; es lag ihnen keine umfassende Theorie zugrunde. Sie waren weniger dadurch motiviert, daß die Briten zu liberalen Prinzipien der Toleranz übergegangen wären. Es lag vielmehr das strategische Interesse zugrunde, etwas gegen die Revolu- tion, die in den 13 Kolonien an der Ostküste auszubrechen drohte, zu tun.Für einige Historiker ist hier aber durchaus ein Prinzip angelegt worden, das für den common- wealth in den nächsten Jahrhunderten grundlegend werden sollte (siehe Russell 1993, 13). Trotz all dieser Zugeständnisse wurden jedoch noch keine representative institu- tions eingerichtet. Trotz der praktischen Natur des Quebec Act und seiner Ausrichtung auf die spezifi- sche Situation in Quebec führte auch dieser zu Problemen. Zum einen gab es Konflikte mit der einfachen Landbevölkerung. Einige Seigneurs verkauften an englische Händ- ler, die sich dann wie landed gentry aufführten und den Zorn der französischen Siedler auf sich zogen. Damit wurde eine Konfliktstruktur angelegt, welche das Land noch sehr lange prägen sollte. Darüber hinaus waren aber auch britische Siedler in Quebec mit den politischen Institutionen in Quebec nicht einverstanden und forderten Refor- men. V.a. war man daran interessiert, daß endlich eine Assembly eingerichtet werde. Dementsprechende Anfragen stellten die Regierung in London vor Probleme, da eine Assembly mit der Verfassung von 1774 nicht vereinbar war. Die Lösung, die gefun- den wurde war, eine neue Verfassung einzurichten und die Provinz zu teilen. Dieses Arrangement wurde im Constitutional Act von 1791 festgelegt. Der Constitutional Act von 1791 ist der Versuch, die Probleme in Quebec über ei- ne territoriale Neuordnung zu lösen. Im Westen der bisherigen Provinz Quebec wurde eine neue Kolonie, Upper Canada (Ursprung des heutigen Ontario), eingerichtet. Im Osten der Kolonie Quebec wurde die neue Kolonie Lower Canada (Ursprung des heu- tigen Quebec) eingerichtet. Das Problem zweier verschiedener Gesellschaften sollte durch eine territoriale Untergliederung gelöst werden. Dies legte die Basis für alles weitere in Kanada. In Upper Canada waren die Briten in der großen Überzahl, in Lower Canada die Franzosen. Zweck dieser Unterteilung war, wie der colonial secretary an- merkte, die »dissensions and animosities« zwischen zwei »classes of men, differing in their prejudices, and perhaps in their interests« zu beseitigen (zitiert in Russell 1993, 13f). Es stellt damit eine Anpassung an deep diversity dar. Die Frage war nur, welche Institutionen in den beiden neuen Territorien eingerichtet werden sollten? Sollte die mehrheitlich von Briten bewohnte Provinz mit englischem

41 Recht und die überwiegend von Franzosen bewohnte Provinz mit den Institutionen von 1774 versehen werden? Man entschied sich dafür, beiden Provinzen die gleichen, bri- tisch geprägten Institutionen zu geben. Der Constitutional Act gewährt den neuen Pro- vinzen von Upper (englisch) und Lower (französisch) Kanada die gleiche Verfassung. Der Constitutional Act sah für beide Provinzen einen Governor und einen Executi- ve und einen Legislative Council vor. Gewählte Legislative Assemblies, auf breiterer Wahlrechtsgrundlage als in England, wurden in Upper und Lower Canada eingerich- tet (vgl. Russell 1993, 14). Es gab auch eine Assembly, die mit einem für die damalige Zeit breiten Wahlrecht ausgestattet war. Die erste Assembly in Lower Canada von 1792 hatte eine französische Mehrheit und bot den Franzosen breiten Raum, ihre Geschicke selbst zu leiten. Bis auf die Veränderung der Regierungsform wurde den Franzosen auch nichts von dem, was ihnen 1774 gewährt worden war, wieder weggenommen. Die Rechte des Quebec Act wurden bestätigt, aber auch auf die Protestanten ausgewei- tet. In Artikel XXXV des Constitutional Act von 1791 heißt es:

The church of Rome in the Province of Quebec might hold, receive, and enjoy their accustomed dues and rights [...] provided [...] that it should be lawful for his Majesty, his heirs or successors, to make such provision out of the rest of the said accustomed dues and rights for the encouragement of the Protestant religion and for the maintenance and support of a Protestant religion and for the maintenance and support of a Protestant clergy within the said Province as he or they should from time to time think necessary and expedient [...]. (United Kingdom 1791)

Auch der Constitution Act konnte die Probleme in Kanada nicht lösen; in den fol- genden Jahrzehnten verschärften sich die Konflikte sogar noch. Sowohl die britischen als auch die französischen Siedler waren mit dieser Verfassung unzufrieden. Die briti- schen Siedler in Upper Canada beklagten das Fehlen eines representative government. In Lower Canada führten die britischen Siedler Klage darüber, daß sie von der franzö- sischen Mehrheit unterdrückt würden; sie unterstützten deshalb die von der britischen Krone eingesetzte Regierung gegen die französische Mehrheit in der Assembly. Die Angst, von den Franzosen majorisiert und unterdrückt zu werden, war dort stärker als der Wunsch nach representative government. Über Jahrzehnte hinweg baute sich die Spannung immer weiter auf. Die Situation eskalierte schließlich, als es 1837 in Lower Canada zu republikanischen Aufständen der sogenannten Rouges um Louis Joseph Papineau kam. Diese erschütterten die Provinz in ihren Grundfesten (vgl. Craig 1963, i f). Der Konflikt in Lower Canada alarmierte London und beschäftigte Regierung und Parlament intensiv. Premierminister Lord Russell entschied schließlich, die beiden ka- nadischen Assemblies aufzuheben. Anfang 1838 wurde ein Gesandter in die beiden Kanadas geschickt und als Governor General und Lord High commissioner mit quasi diktatorischen Kompetenzen eingesetzt. Ihm wurde der Auftrag gegeben, die Ordnung wiederherzustellen, die Lage in Upper und in Lower Canada zu sondieren und einen Report mit Empfehlungen über das weitere Vorgehen zu schreiben. Dieser Gesandte

42 war John George Lambton, 1st Earl of Durham (1792-1840), im allgemeinen unter dem Namen Lord Durham bekannt. Durham war in Großbritannien eine sehr bedeu- tende Figur; er verkehrte aber auch im Kreis sehr einflußreicher liberaler Politiker und stand in engem Kontakt zu den Premierministern Lord Grey und Lord Russell. Mit John Stuart Mill war er eng befreundet und verkehrte in dessen Kreis. Für den Po- sten als Governor Generals war er jedoch hauptsächlich ausgewählt worden, da er als Rauhbein bekannt war3 und man ihm deshalb am ehesten zutraute, für Ordnung in Ka- nada sorgen zu können (vgl. Couture 1996, 91). Durhams Mission scheiterte jedoch früh.4 Sein Report über die Situation in Kanada jedoch, der Ende Januar 1839 publi- ziert wurde,übte nicht nur einen nachhaltigen Einfluß auf die britische Regierung aus, sondern auch auf das liberale Denken in Großbritannien im 19. Jahrhundert überhaupt. Der Report hat zwar bei weitem nicht die Qualität von Alexandre de Tocquevilles Be- schreibung der Gesellschaft der USA, ist aber interessant, da er einen Staat aufzeigt, in dem zwei Gesellschaften miteinander im Konflikt stehen. Mit Durhams Report be- ginnt die systematische Auseinandersetzung mit dem Problem, wie verschiedene Ge- sellschaften in eine liberale Verfassung integriert werden können. J. S. Mill sollte sich an dieser Debatte beteiligen; in Großbritannien bildete Lord Acton dann einen Gegen- pol zu deren Auffassungen.

2.2 Britischer Liberalismus und das Problem der deep diversity

2.2.1 Offenlegung der kulturellen Voraussetzungen des Liberalismus: Lord Durhams Report

Als sich Lord Durham im Frühjahr 1837 nach Kanada eingeschifft hatte, war er noch davon ausgegangen, daß den Aufständen in Lower Canada ein Konflikt zugrundelie- ge, wie er ihm auch aus Europa bekannt war: ein Konflikt zwischen einem Volk, das mehr Mitbestimmungsrechte verlangte und einer Exekutive, die auf ihren prärogati- ven Rechten bestand. Er hatte einen »dispute analogous to those with which history and experience have made us so familiar in Europe« erwartet, »a dispute between a people demanding an extension of popular privileges« auf der einen Seite und »an executive [...] defending the powers which it conceived necessary for the maintenance of order« auf der anderen Seite (Durham 1963, 22). Nachdem er sich jedoch mit der

3Als radikaler Whig setzte er sich für die Ausweitung des Wahlrechts ein, weshalb er auch als »Ra- dical Jack« bekannt war. 1830 war Durham zum Lord Privy Seal in Greys Kabinett ernannt worden. Diplomatische Missionen in Rußland, Österreich und Preußen waren ebenfalls Stationen in Durhams Karriere; von 1835 bis 1837 war er Botschafter in Rußland. 4Der Nachfolger von Premierminister Lord Russell, Lord Melbourne, rief ihn schon Ende 1838 nach nur wenigen Monaten Aufenthalt in Kanada nach London zurück. Melbourne hatte Durhams Aktionen, die im wesentlichen nur darin bestanden, eine breite Amnestie zu verhängen und 24 Rädelsführer zu bestrafen, für zu milde gehalten. Er war auch damit unzufrieden gewesen, daß es Durham nicht gelungen war, die Unruhen schnell in den Griff zu bekommen.

43 Situation in Kanada vertraut gemacht hatte, war er zu der Schlußfolgerung gelangt, daß den Konflikten ein »far deeper and more efficient cause« zugrunde liege. Ursache der Konflikte sei nicht Uneinigkeit über politische Prinzipien, sondern ein »national feud«, eine »deadly animosity« zwischen Engländern und Franzosen (Durham 1963, 22f). Die Problematik in Lower Canada beschrieb er in folgenden vielzitierten Worten:

I expected to find a contest between a government and a people: I found two na- tions warring in the bosom of a single state: I found a struggle, not of principles, but of races; and I perceived that it would be idle to attempt any amelioration of laws or institutions until we could first succeed in terminating the deadly animos- ity that now separates the inhabitants of Lower Canada into the hostile divisions of French and English. (Durham 1963, 22f)

Unter dem Begriff race verstand Durham nicht das, was zumeist unter dem deut- schen Begriff Rasse verstanden wird. Der Begriff race hat für Durham, wie auch sonst zumeist im englischen Sprachgebrauch, keine biologistischen Konotationen. Unter ei- ner race versteht er im wesentlichen eine Sprachgruppe; unter der »English race« be- greift er z. B. nur die Gruppe von Menschen, welche die englische Sprache sprechen.5 In der Sprache sah er die Grundlage für eine Gesellschaftsordnung. Den Konflikt be- schrieb er in einer Art und Weise, daß man den Begriff der deep diversity darauf an- wenden kann. Er sieht darin nicht wie aus Europa bekannt einen Konflikt innerhalb einer Gesellschaft. Den Konflikt zwischen Engländern und Franzosen begriff er als Konflikt zwischen zwei Gesellschaften, die Kontrolle über die öffentliche Sphäre ha- ben wollen und dies auf einem eigenen Territorium, also als das, was ich als deep diversity bezeichnet habe. Durham beschrieb diesen Konflikt nicht als einen Konflikt zwischen zwei ethnischen Gruppen, die Gleichberechtigung innerhalb eines Staates und einer Gesellschaft verlangen. Die Franzosen betrachteten Lower Canada als »pa- trimony of their own race« und erwarteten, daß sich neuankommende Siedler sich an ihrer Kultur anpaßten. Sie sähen Lower Canada nicht an als »a country to be settled, but as one already settled«. Anstatt gemäß dem »American spirit« Einwanderer will- kommen zu heißen »their primary care was [...] to guard the interests and feeling of the present race of inhabitants [...].« (Durham 1963, 37f) Durhams Report ist deutlich anzumerken, daß er diese Situation als etwas begriff, das er aus Europa nicht gewohnt war. Er betonte, für wie merkwürdig er als Euro- päer diese Situation in Kanada erlebt habe. »Our happy immunity from any feelings

5»I apply this to all who speak the English language«, so schrieb er (Durham 1963, 149). Die Thesen von Richard J. F. Day (2000, 108f), der Durhams Report in die Nähe rassistischer oder biologistischer Theorien rückt, sind nicht haltbar. Solche Theorien waren in Kanada im 19. Jahrhundert auch generell nicht verbreitet. Ob jemand der britischen oder der französischen Bevölkerungsgruppe in Kanada zuge- rechnet wurde richtete sich in Kanada fast immer nach der vom Individuum bevorzugten Sprache. Auch der damals noch recht neue Begriff der Nation hatte keine biologistischen Konotationen, er sah darin, wie viele Liberale seiner Zeit (wir werden darauf noch zu sprechen kommen), vor allem eine Sprachgemein- schaft.

44 of national hostility«, so schrieb er, mache es nur schwer nachvollziehbar, wie eine »difference of language, of laws, and of manners« zu solchen Gegensätzen zwischen Bewohnern ein und desselben Staates führen könnten (Durham 1963, 23). Die poli- tische Handlungslogik, die sich im Parlament Lower Canadas wegen des Konfliktes zwischen Engländern und Franzosen ergeben hatte, sei in Europa unbekannt: »when we look to the objects of each party, the analogy to our own politics seems to be lost, if not actually reversed« (Durham 1963, 26). Die französische Mehrheit im Parlament hätte zwar nach vertrautem Muster ihre Rechte gegenüber der Regierung eingefordert. Dies aber nicht zu dem Ziel, um Beteiligung zu erhalten und etwa responsible govern- ment durchzusetzen, sondern ganz im Gegenteil, um eine »liberal and enlightened mo- vement« der Provinz zu verhindern; »the French«, so schrieb er, »appear to have used their democratic arms for conservative purposes« (Durham 1963, 26), um die über- kommenen Gesellschaftsstrukturen und ihre »antiquated laws« (Durham 1963, 27) zu schützen. Die Engländer, obwohl eigentlich an repräsentativen Institutionen interes- siert, seien dazu gezwungen worden, zur Regierung zu halten und ihren eigentlichen Interessen zurückzustellen; genau wie die Franzosen hätten sie sich nicht um rationale und sachliche Politik, sondern dem Kampf der races gewidmet. Für die Lösung des Konfliktes zwischen den beiden races schied für Durham ein Weg grundsätzlich aus: das französische Element in Kanada anzuerkennen. Er hielt die Frankokanadier für kulturell so rückständig, daß sie niemals die fortschrittliche briti- sche Regierungsform annehmen und aufrechterhalten könnten. Im französischsprachi- gen Teil Kanadas habe während der französischen Besetzung über eine so lange Zeit hinweg ein »ill-organized, unimproving and repressive despotism« geherrscht. Aus den Frankokanadiern sei infolgedessen ein »uninstructed, inactive, [and] unprogres- sive people« (Durham 1963, 27) geworden. Sie seien ein Volk »with no history and no literature« (Durham 1963, 150). Die Gesellschaftsstrukturen, in denen die Fran- kokanadier leben, seien mit dem progressiven liberalen britischen Regierungssystem unvereinbar; den Frankokanadiern mangele es am »spirit of American progress« (Dur- ham 1963, 60), den es in Nordamerika nur in der englisch geprägten Kultur gebe: And ist this French Canadian nationality one which [...] we ought to strive to perpetuate, even if it were possible? I know of no national distinctions marking and constituting a more hopeless inferiority. [...] It is to elevate [...] [the French Canadians] from that inferiority that I desire to give to the [...] [them] our English character. (Durham 1963, 149)

Der Quebec Act von 1774 und der Constitution Act von 1791, in denen man den Franzosen Rechte gegeben hatten, waren für Durham schwere politische Fehler. Über die Idee, aus Lower Canada einen französischen Staat mit britischen repräsentativen Institutionen zu machen, äußert er sich klar ablehnend: [...] [I]n the state of mind in which I have described the French Canadian popula- tion, as not only know being, but as likely for a long time to remain, the trusting

45 them with an entire control over this Province would be, in fact, only facilitating a rebellion. Lower Canada must be governed now, as it must be hereafter, by an English population [...]. (Durham 1963, 151f)

Eine Regierung der Provinz durch Engländer durfte für den Whig Durham aber nicht wie bisher eine Minderheitenherrschaft sein. Dies widersprach seinen politischen An- sichten, die an representative government und an der Gleichheit aller Bürger orientiert waren. Repräsentative Institutionen und der damit verbundene gesellschaftliche Fort- schritt müßten auch in Lower Canada ermöglicht werden. Er war der Auffassung, daß die Einführung repräsentativer Institutionen auch notwendig sein würde, um die Ko- lonie gegenüber dem republikanischen Nachbarn im Süden, den USA, die er als Land von »progress and prosperity« (Durham 1963, 129) bezeichnete, festigen zu können. Wie nun aber eine Assimilation der Franzosen mit der Einrichtung fortschrittlicher und repräsentativer Institutionen verbinden? Durhams Lösung war, das frankophone Ele- ment durch die Etablierung repräsentativer Institutionen zu assimilieren. Die Provin- zen Lower und Upper Canada sollten vereinigt werden und dort britische Institutionen durchgesetzt werden. Ein vereinigtes Kanada hätte eine knappe numerische Mehrheit einer »loyal and English population« (Durham 1963, 154); dies würde die Spannungen mildern und mittelfristig, so seine Hoffnung, dazu führen, daß die Franzosen die Aus- sichtslosigkeit eines Konfliktes der races, bei dem sie dann ständig unterliegen wür- den, einsehen und dann allmählich in das britische Lager überwechseln würden. Das Angebot gleicher, freier und progressiver Institutionen würde die Franzosen mittelfri- stig davon überzeugen, in das britische Lage überzuwechseln und sich in eine neue britisch-kanadische Nation zu integrieren. Dieser Wandel müsse behutsam eingeleitet werden, »[w]ithout effecting the change so rapidly or so roughly as to shock the fee- lings and trample on the welface [sic] of the existing generation« (Durham 1963, 146). Er bezieht sich auf das Vorbild der Assimilation der Franzosen in Louisiana. Louisiana ist für Durham ein Musterfall für die Lösung eines Konfliktes der races im Rahmen einer liberalen Ordnung. Er beschreibt, wie die Franzosen sanft zur Assimilation be- wegt worden waren, ohne ihnen Rechte genommen zu haben, wie die »confusion daily arising in the administration of the English and French system of law« durch eine Ge- setzesänderung beigelegt worden, die auf einem frei erzielten Kompromiß gegründet habe, Ergebnis der »political wisdom« unter Sicherung einer »perfectly equal partici- pation in all the benefits of the Government« für beide Gruppen (Durham 1963, 155). Durch eine geschickte Politik der Assimilation durch repräsentative Institutionen hoff- te Durham sozusagen, zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu können. Zum einen könnte man so fortschrittliche Prinzipien umsetzen, ohne davon eine Gruppe von Men- schen ausnehmen zu müssen. Zum anderen könnte man dadurch den Konflikt zwischen den beiden races beseitigen; die neue Regelung müßte den Franzosen, so seine Speku- lation, mehr das Gefühl geben, etwas hinzugewonnen denn etwas verloren zu haben.

46 Für die Lösung des Problems sei es ganz einfach nur nötig, die Prinzipien der briti- schen Verfassung vollständig umzusetzen:

It needs no change in the principles of government, no invention of a new con- stitutional theory, to supply the remedy which would, in my opinion, completely remove the existing political disorders. It needs but to follow out consistently the principles of the British Constitution, and introduce into the Government of these great Colonies those wise provisions, by which alone the working of the representative system can in any country be rendered harmonious and efficient. (Durham 1963, 139)

Wegen der Radikalität seiner Vorschläge wurde Lord Durham in Kanada häufig als problematische Figur betrachtet. Sein Report wurde und wird als naiv bezeichnet und seine Positionen wurden als plumpe kulturimperialistische Strategie verurteilt, die der Situation in Kanada unangemessen gewesen sei. In seinem Kommentar zu Durhams Report von 1963 kritisierte etwa Gerald M. Craig, daß »Durham failed to see that Canadian development would have to be in the other direction: toward mutual respect and tolerance, towards the building of a nation based on a dual culture.« Durham, so Craig, »could not know as clearly in 1839 what we know today, that it is foolhardy and naïve to speak of breaking down the customs of a well-established and organized ethnic and cultural community.« Craig (1963, x). In neuerer kanadischer Forschung versucht man jedoch, Durham wieder zu rehabilitieren und darauf hinzuweisen, daß seine Prinzipien von denen des zeitgenössischen Liberalismus nicht weit entfernt und deshalb durchaus zeitgenössisch und »modern« seien. Janet Ajzenstat schreibt etwa:

When we approach the Report as a text in modern thought, focusing on the ar- guments and assumptions implicit in Durham’s proposals, it becomes apparent that his position on assimilation is not peculiar to his century, his nation, or his class. Rather it is typical of what might be called the »mainstream« of liberal thought. He will be seen, not as a chauvinist, or an English nationalist, but in characteristic liberal fashion, as a universalist. He is indeed one of those liberals who supposes that particular traditions and particular loyalties must be discarded if liberal beliefs are to be disseminated and liberal justice is to prevail. (Ajzenstat 1988, 5)

In der Tat kommt bei Durham, wenn wir seine Polemik und dem Zeitgeist des fort- schrittlichen Whig geschuldeten Charakterisierungen abziehen, wie beim US-ameri- kanischen Mainstream der Trend zur Assimilation heraus, zur Ablehnung einer »deep diversity«; er bezieht sich auf Louisiana. Craig ist zu kanadisch und übersieht, daß dies auch heute noch im wichtigsten liberalen Konstitutionalismus, dem US-amerika- nischen, vorhanden ist, zwar nicht so explizit wie bei Durham, aber dennoch wirkungs- mächtig. Ajzenstat übersieht allerdings, daß Durhams Argumentation im Unterschied zum US-amerikanischen liberalen Mainstream sehr deutlich darüber reflektiert, daß liberaler Konstitutionalismus nicht ethnisch neutral ist, sondern ganz im Gegenteil ei- ne bestimmte Kultur fördern muß. Bei all seinem Universalismus ist Durham auch

47 ausgesprochen partikularistisch: er setzt ja auf die britische Kultur um eine neue, ei- nige Nation in Kanada aufbauen zu können. Durham faßte Assimilation nicht neutral, als Verwirklichung eines abstrakten, liberalen Prinzips, sondern sah in diesem auch ein Instrument zur Herstellung einer kulturellen Ordnung, ohne die Liberalismus nicht funktionieren kann. Er glaubt nicht, daß eine liberale Ordnung irgendwie ethnisch oder kulturell neutral sein könne. Ethnizität sah er nicht nur negativ, sondern auch als positiv notwendig für den Erhalt einer politischen Ordnung. Durham stellt auch fest, daß sich die Regierung auf dem »national feeling« der britischen Siedler in Kanada gründen, der »national character« in Lower Canada »must be that of the British Empire; that of the great race which must, in the lapse of no long period of time, be predominant over the whole North American Continent.« Dieses sei notwendig, um die Regierungsin- stitutionen in Kanada zu kräftigen. »They value the institutions of their country«, so schreibt Durham, »not merely from a sense of the practical advantages which they confer, but from sentiments of national pride« (Durham 1963, 143). Dieses Gefühl könne Kanada gegenüber den USA behaupten. Durham hält es nur dann für möglich, die nördlichen Kolonien gegenüber dem Einfluß der USA abzusichern, wenn man dort eine Nation schafft, eine »nationality of his own« für die Nordamerikanischen Kolo- nien, welche diese »small and unimportant communities into a society having some objects of a national importance« erheben könne, eine Gesellschaft »which they will be unwilling to see absorbed even into one more powerful.« (Durham 1963, 162)

2.2.2 Der Nationalstaat als Voraussetzung für eine liberale Ordnung: Liberalismus und Nation bei J. S. Mill

John Stuart Mill war am politischen Wirken Lord Durhams sehr interessiert. Mill sah in ihm einen Anhänger der radikalen politischen Positionen, denen er selbst anhing. Insbesondere weckte Durhams Kanadareise das Interesse Mills; Durhams Aktivitäten als Governor verfolgte er interessiert und identifizierte sich mit ihnen: »his policy was almost exactly what mine would have been« schreibt er in seiner Autobiography (Mill 1989, 165). Er unterstützte Durhams Sache in Großbritannien publizistisch und würdigte seinen Einsatz für self-government in Kanada (Mill 1989, 165f). Mill vertrat in der Tat eine ähnliche politische Theorie wie Durham. Er reflektiert aber noch deutlicher als diese über die kulturellen Voraussetzungen einer liberalen Ordnung. Wie Durham lehnte er Rechte für nationale Minderheiten aus dem Grund ab, daß eine liberale Ordnung nur dann gelingen könne, wenn ein Staat über genau eine nationale Kultur als Stabilitätsgarant verfüge. Er reflektiert über das reine Verhältnis zwischen Individuum und Staat hinaus und weist darauf hin, daß ein rein institutio- neller Rahmen für das Funktionieren einer liberalen Ordnung noch nicht ausreiche, sondern daß dafür auch eine gewisse kulturelle und sprachliche Homogenität notwen-

48 dig sei. Die politische Kultur, die für das Gelingen einer liberalen Ordnung notwendig sei, könne nicht nur durch die Durchsetzung bestimmter kulturell neutraler Prinzipien erreicht werden. Denn diese Prinzipien seien in ihrer Vermittlung an einen kulturellen Rahmen rückgebunden, in dem sie erst kommuniziert und vermittelt werden können. In seinen Considerations on Representative Government schreibt er:

Free institutions are next to impossible in a country made up of different na- tionalities. Among a people without fellow-feeling, especially if they read and speak different languages, the united public opinion, necessary to the working of representative government, cannot exist. [...] [I]t is in general a necessary con- dition of free institutions, that the boundaries of governments should coincide in the main with those of nationalities. (Mill 1998, 428ff)

Insoweit Mill auf die Bedeutung von Sprache als Basis für Kommunikation und na- tion building abhebt, erinnert seine Theorie an Benedikt Andersons Konzeption der Nation als einer imagined community. Wie auch Anderson begreift Mill eine Nation als eine Gruppe von Menschen, welche die gleiche Sprache sprechen und an so in ein gemeinsame nationale Sphäre integriert werden. Mit Durham teilt Mill die Auffassung, daß nicht jede Kultur dazu geeignet ist, Garant für die Akzeptanz liberaler Institutio- nen zu sein. Nur solche Kulturen können dies leisten, die in ihrem kulturellen Entwick- lungsgrad schon so weit fortgeschritten ist, daß sie für die Prinzipien des Liberalismus mit einer Selbstbestimmung des Individuums als Grundlage dienen können. Im Inter- esse des Fortschritts hielt Mill es daher für notwendig, kleinere und kulturell weniger bedeutende Nationen aufzulösen und ihre Mitglieder möglichst rasch und möglichst vollständig in die kulturell fortschrittliche Nation zu assimilieren. Assimilation liege auch im Interesse der Mitglieder von kleineren, rückständigeren Nationen:

Experience proves, that it is possible for one nationality to merge and be absorbed in another: and when it was originally an inferior and more backward portion of the human race, the absorption is greatly to its advantage. Nobody can suppose that it is not more beneficial to a Breton, or a Basque of French Navarre, to be brought into the current of the ideas and feelings of a highly civilized and cultivated people–to be a member of the French nationality, admitted on equal terms to all the privileges of French citizenship, sharing the advantages of French protection, and the dignity and prestige of French power–than to sulk on his own rocks, the half-savage relic of past times, revolving in his own little mental orbit, without participation or interest in the general movement of the world. (Mill 1998, 431)

Diese eurozentrische Sichtweise übte einen großen Einfluß auf viele Liberale aus und prägte bis heute besonders den Umgang mit autochthonen nichteuropäischen Min- derheiten, wie etwa den nordamerikanischen Ureinwohnern. Es ist dabei aber wichtig, festzustellen, daß Mills Assimilationsargument nicht darauf abzielt, die Eigenständig- keit von nationalen Minderheiten zu negieren, um damit ein kulturneutrales politisches System zu schaffen. Sein Argument zielt vielmehr darauf ab, die Stabilität des liberalen

49 Staates zu garantieren. Diese müsse sich auf die integrierende Kraft einer fortschrittli- chen nationalen Kultur stützen.

2.2.3 Der multinationale Staat als liberales Ideal: die politische Theorie Lord Actons

In Großbritannien blieb J. S. Mills Theorie über Liberalismus und Nationalismus nicht unwidersprochen. John Emerich Edward Dalber, 1st Baron of Acton und Lord Acton (1834-1902), einer der Hauptvertreter der liberalen Strömung in Großbritannien6 war nicht wie Mill der Auffassung, daß eine liberale Ordnung nur dann funktioniere, wenn ein Staat nur eine Nation enthalte. Lord Acton hatte einen sehr internationalen biogra- phischen Hintergrund7 und war davon überzeugt, daß nicht der Nationalstaat, sondern der multinationale Staat das Ideal für eine liberale Ordnung wäre. In seinem Artikel Nationality, zuerst 1862 in The Home and Foreign Review in London erschienen (vgl. Acton 1949, 166), kritisierte er die von »Mr. Mill« und dem »modern liberalism« ver- fochtene »theory of national unity« (Acton 1949, 181). In der Einheit von Nation und Staat sah Lord Acton nicht eine Grundvoraussetzung für das Gelingen einer liberalen Ordnung, sondern eher eine Gefährdung derselben. In einem Staat, in dem Nation und Staat in eins fallen, könne schnell ein minderheiten- feindliches Klima entstehen, das die Rechte der Angehörigen kultureller Minderheiten und der Bürger bedrohe. Der Einzelne werde der Nation in seinen privaten Rechten und auch seiner kulturellen und ethnischen Diversivität unterdrückt. Die »several in- clinations and duties« der Bürger würden leicht dem »higher claim of nationality« untergeordnet, »[which] crushes all natural rights and all established liberties for the purpose of vindicating itself.« (Acton 1949, 183f) Durch die »theory of unity« werde aus der Nation »a source of despotism and revolution« gemacht (Acton 1949, 184). Ac- ton verweist auf das Beispiel der französischen Revolution. Diese habe die Nation zum Primat der politischen Ordnung gemacht. Nation wurde zwar durch die Revolution als ein Abstraktum verstanden, als eine »abstract nationality«. Die »abstract nationality« war keinesfalls ethnisch oder kulturell neutral: sie war an den spezifischen kulturel- len Kontext Frankreichs rückgebunden, einen Kontext, den er als »ethno-logical unit«

6Acton war Historiker und Moralist liberaler Prägung, »the first great modern philosopher of resi- stance to the evil state«, wie die Encyclopaedia Britannica anmerkt. Bis heute bekannt ist er durch sein Bonmot »Power tends to corrupt, and absolute power corrupts absolutely.« (Acton 1949, 364) Wie auch Durham und Mill war er eine wichtige Figur im politischen Leben Großbritanniens und mit vielen der politisch einflußreichsten Personen seiner Zeit bekannt; für kurze Zeit war er als Whig Unterhausabge- ordneter. 7Acton war verwandt mit Adligen aus einer Vielzahl unterschiedlicher Länder; in Neapel war er als Sohn eines englischen Adligen und einer deutschen Mutter aus dem Hochadel, einer gebürtigen Dalberg, geboren worden. Er sprach fließend mehrere Sprachen. Ungewöhnlich für einen englischen Whig war auch sein aktiver Katholizismus, dem er – auch nach der scharfen Kritik des Vatikans an seinen politi- schen Schriften – zeitlebens treu blieb. Sein kosmopolitischer Hintergrund, so Gertrude Himmelfarb, sei »the substance of all his life« gewesen (Himmelfarb 1949, xvii).

50 (Acton 1949, 173) begreift. Angehörige kultureller Minderheiten seien unterdrückt worden und die Gleichschaltung der Provinzen und Untergliederungen haben den Ter- ror der Zentrale erleichtert. Wolle man eine politische Ordnung einrichten, die dem »spirit of English liberty« entspreche, dann müsse nicht die Einheit von Nation und Staat angestrebt werden, sondern möglichst das Nebeneinander verschiedener Sprachen, Kulturen und Natio- nalitäten in einem Staat gefördert werden. Nationalismus sieht Acton positiv, sobald er sich nicht mit der Idee der Kontrolle der anderen sieht. Ursprünglich Widerstand gegen Absolutismus und Willkür der Fürsten. Er bezieht sich auf Polen. Die Koexi- stenz verschiedener Nationen in einem Staat sei ganz direkt förderlich für individuelle Rechte: »Private rights, which are sacrificed to the unity, are preserved by the union of nations.« (Acton 1949, 184) Eine englische »theory of liberty« sehe in der Nation »the bulwark of self-government, and the foremost limit to the excessive power of the State.« Ein pluraler, multinationaler Staat ist Garant für »the highest degree of orga- nization which government is capable of receiving.« Er biete »the greatest variety of intellectual resource.« (Acton 1949, 191). »A State which is incompetent to satisfy dif- ferent races«, so schreibt er, »condemns itself; a State which labours to neutralize, to absorb, or to expel them, destroys its own vitality; a State which does not include them is destitute of the chief basis of self-government.« (Acton 1949, 193) Genau wie bei der religiösen Toleranz sollten auch mehrere Nationen in einem Staat toleriert werden:

The presence of different nations under the same sovereignty is similar in its effect to the independence of the Church in the State. It provides against the servility which flourishes under the shadow of a single authority, by balancing interests, multiplying associations, and giving to the subject the restraint and support of a combined opinion. [...] The co-existence of several nations under the same State is a test, as well as the best security of its freedom. It is also one of the chief instruments of civilisation; and, as such, it is in the natural and providential order, and indicates a state of greater advancement than the national unity which ist the ideal of modern liberalism. The combination of different nations in one State is as necessary a condition of civilised life as the combination of men in society. (Acton 1949, 185f)

Mit Durham und Mill teilte Acton zwar die Auffassung, daß es »rückständigere« und »fortschrittlichere«, weil liberal geprägte, Nationen gebe und daß sich die »rückstän- digen« den »fortschrittlichen« anpassen sollten. Im Gegensatz zu Durham und Mill ist Acton jedoch nicht der Ansicht, daß die rückständigeren Nationen verschwinden soll- ten. Sie sollen vielmehr von den fortschrittlicheren lernen und so an Stärke gewinnen. Er schreibt:

Inferior races are raised by living in political union with races intellectually su- perior. Exhausted and decaying nations are revived by the contact of a younger vitality. Nations in which the elements of organisation and the capacity for gov- ernment have been lost, either through the demoralising influence of despotism,

51 or the disintegrating action of democracy, are restored and educated anew under the discipline of a stronger and less corrupted race. (Acton 1949, 186)

Ein Staat sollte für Acton idealerweise Raum für zwei verschiedene Formen des Nationalismus bieten: zum einen sollte er die Entfaltung verschiedener Nationalitäten ermöglichen, die sich um das kulturelle Bedeutungszentrum her entwickeln, das die races haben. Nation und Staat sind nicht gleichzusetzen; es gibt verschiedene Nationen in einem Staat. Der Begriff der Nation ist nicht gleichbedeutend mit dem Begriff eines Staates. In diesem Sinn spricht er von einer »difference between nationality and the State« (Acton 1949, 188). Darüber hinaus sollte es noch eine staatliche Nationalität geben, welche die Natio- nalität der races transzendiert. Der Staat ist für Acton eine moralische Instanz, die das Zusammenleben der races und ihrer Nationalitäten regelt. Als eine solche Instanz stif- tet der Staat wieder einen eigenen Nationalismus. Dieser ist jedoch nicht Ausdruck einer race, sondern Ausdruck des Miteinander der verschiedenen races. Der Staat ist ein »moral and political being«, das über den races steht. Die im Staat wurzelnde Na- tion sei der einzige Nationalismus, dem politische Loyalität gehöre: »The nationality formed by the State [...] is the only one to which we owe political duties, and it is, therefore, the only one which has political rights.« (Acton 1949, 190) Beispiele für solche Staaten sind für ihn die Schweiz, und – für einen Liberalen des 19. Jahrhunderts sehr ungewöhnlich – Österreich-Ungarn. Wie genau aber ein sol- cher multinationaler Staat verfaßt sein soll erörtert Acton nur insoweit, als daß er für solche Staaten eine föderale Ordnung empfiehlt, welche auf die Fortexistenz und das Zusammenleben mehrer Nationen in einem Staat ausgerichtet sein soll. »[...] [A] great democracy«, so schreibt er, »must either sacrifice self-government to unity, or preserve it by federalism.« (Acton 1949, 173) Was das genauer heißen soll erörtert Acton nicht. Er entwickelte keine Theorie des Föderalismus. Mit seinen Ausführungen beeinflußte Acton zwar nicht direkt die Verfassungsdebat- te in Großbritannien und Kanada. Sie sind jedoch sehr bedeutsam für das Verständnis der weiteren kanadischen Verfassungsdebatte im 19. Jahrhundert und v. a. im 20. Jahr- hundert. Die Verfassungspolitik Trudeaus war durch die politischen Schriften Actons wesentlich inspiriert worden; sie stellen den Schlüssel für das Verständnis von Trude- aus Verfassungsplänen dar.

2.3 Anerkennung von deep diversity im Rahmen einer instrumentellen Verfassung: der kanadische Konstitutionalismus von 1867

Obwohl die Mission Lord Durhams nicht zufriedenstellend verlaufen war, griff die britische Regierung doch einige der Vorschläge aus seinem Report auf, als sie Ende

52 der 1830er Jahre eine neue Verfassung für Upper und Lower Canada ausarbeitete, um die Spannungen zwischen Briten und Franzosen in Lower Canada in den Griff zu bekommen. Ganz wie von Durham empfohlen entschied man sich dazu, Upper und Lower Canada in einer Provinz zu vereinen und die Frankokanadier zu assimilieren. Im Act of Union von 1840 wurden die beiden Provinzen zu einer Provinz Canada mit dem Teil Canada West (dem ehemaligen Upper Canada) und einem Teil Canada East (dem ehemaligen Lower Canada) zusammengeführt. Die neue Provinz erhielt eine Legislative Assembly, in der nur Englisch als Sprache zugelassen war. Rechte und Garantien für die französischen Kanadier, wie sie in den vorangegangenen beiden Verfassungen noch vorgesehen waren, gabe es in der vereinigten Provinz Canada nicht mehr. Für die Assimilation der Frankokanadier erschien der britischen Regierung aber re- presentation by population, wie sie von Durham empfohlen worden war, kein geeig- netes Mittel zu sein. Dafür hielt man die numerische Überlegenheit der Briten über die Franzosen für zu gering. In der vereinten Provinz Canada gab es zwar mehr Briten als Franzosen. Das mehrheitlich französische Canada East hatte aber mehr Einwohner als das britische Canada West und man zweifelte daran, daß die britische Minderheit in Canada East bei relativem Mehrheitswahlrecht genügend Sitze gewinnen würde, um eine Mehrheit für die Briten in der Legislative Assembly sicherstellen zu können. Aus diesem Grund verzichtete man auf representation by population und zog die Wahl- kreise so, daß Canada West und Canada East jeweils gleich viele Sitze erhielten. Man hoffte, auf diesem Wege eine sichere britische Mehrheit in der Legislative Assembly sichern zu können. Schon nach wenigen Monaten stellte sich heraus, daß dieses Wahlsystem nicht den gewünschten Effekt haben würde. In die Legislative Assembly wurden ungefähr gleich viele französische wie britische Abgeordnete hineingewählt. Den französischen Ab- geordneten gelang es von Anfang an, ihre Stimmacht in der Legislative Assembly so geschickt einzusetzen, daß die Rechte der Franzosen in Kanada gesichert wurden. Sie erreichten zum Beispiel sehr rasch, daß die Geschäftsordnung der Legislative Assem- bly geändert und auch Französisch in den Debatten zugelassen werden mußte; 1849 wurden Englisch und Französisch dann zu offiziellen Sprachen in der Legislative As- sembly gemacht. Den französischen Abgeordneten gelang es auch, mit ihrer Stim- macht die Verstellungen der Franzosen durchzusetzen und den Bestand ihrer Institu- tionen und ihrer überkommenen Rechte zu sichern. Nachdem 1842 responsible go- vernment eingeführt worden war erhielten die Frankokanadier auch Einfluß auf die Regierungsbildung. Es entwickelte sich ein Arrangement, das häufig als quasi-föderal oder »consociational« (Ajzenstat 1988, 14) bezeichnet wird. Ministerämter wurden doppelt besetzt, die Ministerien so austariert, daß Franzosen und Briten gleich reprä- sentiert wurden. Hauptstadt war abwechselnd ein Ort im Westen und ein Ort im Osten

53 der Provinz. Man versuchte auch, in der Legislative Assembly doppelte Mehrheiten durchzusetzen (vgl. Ajzenstat 1988, 14). Die ursprüngliche Absicht der britischen Re- gierung war völlig konterkariert worden. Hatte es vorher zwei kanadische Provinzen gegeben, von denen zumindest die eine klar von den Briten dominiert gewesen war, so mußten sie sich jetzt in ganz Kanada mit den Franzosen arrangieren. Über lange Zeit hinweg konnten sich Briten und Franzosen jedoch, trotz aller nach- wievor bestehenden Konflikte, in der Legislative Assembly gut arrangieren; eine Ko- alition zwischen der konservative Partei unter John A. Macdonald, die hauptsächlich von Anglokanadiern gewählt wurde und George-Etienne Cartiers sogenannten Bleus, einer klerikal geprägten Partei der französischstämmigen Kanadier, die auf einer brei- ten Mehrheit in Ostkanada aufbauen konnte, verfügte über eine lange Zeit hinweg über eine stabile Mehrheit. Diese Koalition ruhte auf der Vereinbarkeit der Interessen von anglophoner Wirtschaftselite und katholischer Kirche: die Wirtschaftselite förder- te die katholische Kirche und deren Kontrolle über Frankokanada und erhielt dafür im Gegenzug die Möglichkeit, das Wirtschaftsleben der Provinz, an dem die katholische Kirche nicht sonderlich interessiert war, ungehindert kontrollieren zu können. Ab Ende der 1850er Jahren wurde diese Koalition jedoch immer mehr geschwächt. Die sogenannten Rouges um Antoine Dorion, die sowohl gegen Klerus als auch gegen die sich immer mehr abzeichnende britische Dominanz in der Provinz waren, wurden immer stärker und schwächten Cartiers Bleus. Für Probleme sorgte aber vor allem das starke Anwachsen der radikalen Reform Party um George Brown mit ihrer starken Ba- sis in Canada West. Die Reform Party forderte vehement representation by population und eine Demokratisierung des politischen Systems. Die Einwohnerzahl in Canada West war erheblich angestiegen und lag jetzt erheblich über der in Canada East. Das Arrangement von 1840 begünstigte jetzt ironischerweise die frankophone Minderheit, was die fortschrittlichen Reformkräfte nicht tolerieren wollten. George Brown beklag- te sich wiederholt bitter darüber, daß sich die Briten dem tyrannischen Diktat der rück- ständigen Franzosen beugen müßten. Die Briten, so beklagte er sich, seien die »abject vassals of the French Canadian priesthood«; es gebe eine »long list of important re- forms from which we are debarred by the fiat of Popery« (Brown 1966, 94). Representation by population forderte Brown aber nicht nur aus dem Interesse, das politische System zu demokratisieren, sondern er sah darin unter den veränderten de- mographischen Bedingungen auch, ganz à la Durham, eine Chance, um den wider- spenstigen Franzosen endlich ihren schädlichen politischen Einfluß nehmen und sie endlich assimilieren zu können. »Population is the only true basis for Parliamentary Representation«, schreibt er in einem Brief an seine Anhänger, fügt aber zugleich of- fen hinzu: »but it would swamp the French Canadians, and they will never consent to it« (Brown 1966, 93).

54 Brown hatte Recht damit, daß die Frankokanadier dies nicht akzeptieren würden. George-Étienne Cartier hatte in der Tat ganz andere Ansichten zu diesem Thema als Brown. »Did Upper Canada conquer Lower Canada?« entrüstete er sich und fügte hinzu: »If not by virtue of what right can it ask for representation based on population in the aim of governing us?« (in Bliss 1966, 95) Cartiers Koalitionspartner, John A. Macdonald, der stark auf Mäßigung erpicht war, gelang es immer weniger, die Gegensätze im Parlament zu mildern und die Koalition zusammenzuhalten. Selbst war er auch keinesfalls aus innerster Überzeugung mit Car- tier verbündet, sondern nur aus Gründen der Realpolitik. Dies geht aus einem Brief an seine Anhänger hervor: »So long as the French have 20 votes«, so schreibt er da, »they will be a power, & must be conciliated [...].« (Macdonald 1966, 97). Die Koalition zwischen Macdonald und Cartier war brüchig (für einen generellen Überblick siehe Russell 1993, 17ff). Die folgenden Jahre waren dann von ständigen Regierungskrisen gekennzeichnet; die verschiedenen Parteien blockierten sich gegenseitig. Eine Lösung konnte erst ge- funden werden, als sich George Brown 1864 zu einer Koalition mit seinen bisheri- gen politischen Gegnern Macdonald und Cartier entschied. Dies war im wesentlichen darauf zurückzuführen, daß Brown geheiratet hatte, ein geruhsameres Leben führen wollte (vgl. Creighton 1965, 41) und, wie er vor der Legislative Assembly erklärte, den »chronic, sectional hostility and discord« und die »perpetual Ministerial crises« satt hatte (in Waite 1963, 61). »[I]f a crisis has ever arisen in the political affairs of any country which would justify such a coalition as has taken place,« so sagte er vor dem Parlament, »such a crisis has arrived in the history of Canada.« (in Bliss 1966, 103f) Die neue Koalition einigte sich rasch darauf, daß die Krise nur durch eine neue Verfassung überwunden werden könne. In den Jahren 1865 bis 1866 wurden dann in Quebec und in Charlottetown, einer kleinen Stadt auf Prince Edward Island, eine neue Verfassung ausgehandelt. Man versuchte in dieser Verfassung, responsible go- vernment, representation by population und den Schutz der Frankophonen unter einen Hut zu bringen. Das Ergebnis war eine föderale Verfassung, in der die alte Provinz Canada in zwei Teile gespalten wurde, je einer anglophon und je einem frankophon dominierten Teil und einer Bundesstaat mit zwei offiziellen Sprachen. In die Verhand- lungen wurden noch Abgeordnete aus den Parlamenten der anderen britischen Provin- zen Nordamerikas mit einbezogen. Mit Nova Scotia und New Brunswick, den briti- schen maritimen Provinzen an der Ostküste, wurden man sich einig. Die Verfassung für diese Föderation wurde 1867 durch das britische Parlament verabschiedet als Bri- tish North America Act verabschiedet. Sie war aber die erste Verfassung für britisch Nordamerika, die rein von den Kolonisten selbst geschrieben worden war. Das briti- sche Parlament hatte keine Veränderungen vorgenommen.

55 Im folgenden werde ich darstellen, was bei der Ausarbeitung der Verfassung her- auskam und sie von der Verfassung der USA unterscheiden. Zunächst werde ich die Verfassung als eine Anerkennung von deep diversity im Rahmen einer britischen Ver- fassung darstellen (Abschnitt 2.3.1). Danach werde ich zeigen, daß die Verfassung von 1867 nur wenig symbolische Gehalte hat und als stark instrumentelle Verfassung zu begreifen ist (Abschnitt 2.3.2) der Föderalismustheorie der Gründungsväter sollen Unterschiede zu den USA gezeigt werden. Dabei habe ich zwischen der Föderalismus- theorie Macdonalds und Browns auf der einen und der Cartiers auf der anderen Seite unterschieden. Macdonald und Brown als Vertreter der britisch-kanadischen Sichtwei- se, welche im Föderalismus nur einen pragmatischen Kompromiß sehen (Abschnitt 2.3.3). Danach soll Cartier gezeigt werden. Seine Ansichten werden häufig vernach- lässigt. Sie sind aber sehr interessant, da Cartier die Verfassung weniger als instrumen- telles Regelwerk begreift, sondern auch als eine Vision für eine neue Nation (Abschnitt 2.3.4).

2.3.1 Anerkennung von deep diversity durch eine Verfassung britischen Typs: der British North America Act

Everyone agreed, including the anti-federalists, that the United States was one nation; their disagreement [...] was about the kind of government it should have. Such an assumption was precisely what Canadians could not take for granted in 1867. Vincent LaSelva (1996, 35)

Bruce Ackermann beschreibt die Väter der Verfassung der USA als Männer, die be- gierig darauf waren, ein politisches Wagnis einzugehen und neue politische Ideen aus- zuprobieren:

Whatever else may be said about the Founders, they were hardly content with the Burkean arts of muddling through crises. They were children of the Enlighten- ment, eager to use the best political science of their time to prove to a doubting world that republican self-government was no utopian dream. Otherwise they would never have tried to write a Constitution whose few thousand words con- tained a host of untried ideas and institutions. (Ackerman 1991, 20)

Die Parlamentarier aus britisch Nordamerika, welche in den Jahren 1865 und 1866 in angestrengten Debatten die neue Verfassung für Kanada ausarbeiteten, hatten völlig andere Interessen. Weder hielten sie etwas von Volkssouveränität – bei der Aushand- lung der Verfassung gab es »scarcely a whisper of popular sovereignty« (Russell 1993, 12)8 –, noch glaubten sie daran, die politische Ordnung auf abstrakten Prinzipien, wie etwa life, liberty und pursuit of happiness, gründen zu können. Sie waren an Burke

8Volkssouveränität war für die Verfassungsväter eine »heretical idea« (Russell 1993, 3).

56 geschulte pragmatische Politiker, die mit der Ideenwelt des US-amerikanischen Kons- titutionalismus nur wenig anfangen konnten. Die neue Verfassung war für sie nicht Symbol der Selbstkonstituierung des kanadischen Volkes. George Brown erhoffte sich zwar, daß die neue Verfassung »will lay the foundations deep and strong of a powerful and prosperous people« (in Canada 1865, 87) und »will raise us from the attitude of a number of inconsiderable colonies into a great and powerful people.« (in Canada 1865, 97) Sein Koalitionspartner John A. Macdonald sprach von einer »happy opportunity now offered of founding a great nation« (in Canada 1865, 45). Mit Volkssouveräni- tät und revolutionärer Umgestaltung der politischen Ordnung hatte das aber nichts zu tun. Daran hatten die kanadischen Verfassungsväter kein Interesse. Sie waren »happy colonials« (Russell 1993, 12), die mit ihrer gesellschaftlichen Stellung sehr zufrieden waren und, in den Worten John A. Macdonalds, sich v. a. wünschten, »under the foste- ring care of Great Britain, and our Sovereign Lady, Queen Victoria« (in Canada 1865, 45), ein angenehmes Leben führen zu können. Wenn George Brown den Grund für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung in ei- ner schweren politischen Krise sah, dann war das nicht wie in den Federalist Papers – wo ja auch von einer »crisis« die Rede war (Hamilton, Madison und Jay 1999, 1) – nur eine politische Rhetorik, die darauf abzielte, die alte politischen Ordnung ab- zulehnen und der Notwendigkeit einer neuen politischen Ordnung das Wort zu reden. Von einer Krise sprach er aus einer tief empfundenen Sorge um das Fortbestehen der alten Verfassungsordnung. Er wie auch die anderen Verfassungsväter wollten nicht die Verfassungsordnung und die bestehenden Gesellschaftsstrukturen verändern, sondern diese ganz im Gegenteil bewahren. Durch die Einrichtung einer föderalen kanadischen Union sollten zum einen die französischen Kanadier befriedigt und die Grundlagen für eine friedliche Koexistenz im Rahmen einer Verfassung britischen Typs gelegt wer- den. Zum anderen sollte durch die Zusammenführung der britischen Kolonien in einer großen und starken Föderation verhindert werden, daß britisch Nordamerika von den USA annektiert werden würde. Es ging nur darum, die bestehende Ordnung angesichts neuer konkreter Herausforderungen zu sichern und nicht darum, eine neue Nation auf abstrakten Prinzipien zu gründen und diese von Großbritannien loszulösen, wie dies die Väter der US-amerikanischen Verfassung beabsichtigt hatten. Der kanadische Historiker Donald Creighton brachte den Unterschied der Väter der kanadischen Verfassung von 1867 und der US-amerikanischen Verfassung von 1789 in den folgenden treffenden Worten zum Ausdruck:

[...] [T]he thirty-odd Maritimers and Canadians [...] were a very different people from that other generation of North Americans who had adopted the Declaration of Independence and framed the Articles of Confederation and the Constitution of the United States. [...] They were mid-Victorian British colonials who had grown up in a political system which they valued, and which they had not the slightest intention of trying to change by revolution. For them the favourite polit-

57 ical myths of the Enlightenment did not possess an even quaintly antiquarian interest. They saw no merit in setting out on a highly unreal voyage of discovery for first principles. They would have been sceptical about both the utility and the validity of abstract notions such as the social contract and the natural and inalien- able rights of man. The magic formulae of the American and French Revolutions – »life, liberty, and the pursuit of happiness« and liberty, »property, security, and resistance to oppression« – would have sounded in their ears like irrelevant and questionable rhetoric. As sober Christians, many of them with a strong evan- gelical bias, they were bound to reject firmly the doctrine of the perfectibility of mankind; and the idea that new institutions and fresh surroundings could make new and better men would have seemed childishly presumptuous and unconvin- cing to them, despite their nineteenth-century instinct for vigorous enterprise and their nineteenth-century belief in material progress. (Creighton 1965, 141f)

Die neue kanadische Verfassung, wie sie aus den Verhandlungen hervorging, unter- scheidet sich denn auch deutlich von der Verfassung der USA. Weder ist in ihr das Prinzip der Volkssouveränität angelegt, noch kennt sie große, abstrakte Leitideen. Den Charakter der Verfassung kann man schon daran erkennen, daß ihr keine wohlformu- lierte und inspirierende Präambel vorangestellt ist, in der von einem kanadischen Volk als verfassungsgebender Gewalt oder von großen Leitideen – etwa »Justice«, »Liber- ty« und »general Welfare« wie aus der Präambel der US-amerikanischen Verfassung bekannt – die Rede wäre. In einigen nüchternen einleitenden Bemerkungen wird die Verfassung ganz einfach als ein »An Act for the Union of Canada, Nova Scotia, and New Brunswick, and the Government thereof; and for Purposes connected therewith« angekündigt. Es ist nicht we the people, sondern es sind die »Provinces of Canada, Nova Scotia, and New Brunswick [which] have expressed their Desire to be federally united into One Dominion« und zwar »under the Crown of the United Kingdom of Great Britain and Ireland« und unter einer »Constitution similar in Principle to that of the United Kingdom«. Bei »Principle« dachten die Verfasser der Verfassung nicht an große abstrakte Prinzipien, sondern vielmehr an das konkrete Beispiel der schon existierenden britischen Verfassungsordnung. Die Idee, daß durch ihre Verfassung die abstrakten Grundprinzipien der britischen Verfassung zum ersten Mal realisiert wor- den wären, so wie sie bei den Vätern der US-amerikanischen Verfassung weit verbrei- tet gewesen war, lag den kanadischen Verfassungsvätern völlig fern; sie sahen sich in der Kontinuität der in Großbritannien schon verwirklichten guten Verfassungsordnung. Am Ende der Einleitung der Verfassung heißt es dann auch: »Be it [...] enacted and de- clared by the Queen’s most Excellent Majesty, by and with the Advice and Consent of the Lords Spiritual and Temporal, and Commons, in this present Parliament [das Parlament in Westminster] assembled, and by the Authority of the same [...].« Dem nicht-ontologischen Charakter der einleitenden Bemerkungen zur Verfassung (vgl. Asch und Macklem 1992b, 473) entspricht dann auch der nachfolgende Verfas- sungstext. Es werden darin »in rather sparse and legalistic terms« (Gibbins 1986, 303f) die Grundlagen für die politische Ordnung in Kanada festgelegt. Die kanadische Ver-

58 fassung ist kein systematisch ausgearbeitetes und sich auf das Wesentliche beschrän- kendes Dokument wie die Verfassung der USA, sondern ein umfangreiches und unsy- stematisches Konvolut von konkreten Einzelregelungen. In einer kompliziert formulierten Declaration of Union wird zunächst der födera- le Charakter der kanadischen Union bekräftigt. Die Provinz Canada, wie sie aus dem Act of Union von 1840 hervorgegangen war, wird wieder in zwei eigenständige Provin- zen aufgeteilt: aus dem ehemaligen Upper Canada wind die Provinz Ontario, aus dem ehemaligen Lower Canada die Provinz Quebec. Danach folgen dann nacheinander Be- stimmungen über die Executive Power und die Legislative Power. Hier gibt es keine Innovationen gegenüber der britischen Verfassung: es wurde einfach das überkomme- ne Prinzip von Queen in Parliament Bezug genommen. Wie auch in Großbritannien nach den Reformen von 1832 und 1867 wurden representation by population und re- sponsible government gewährt. Das kanadische Parlament und auch die Parlamente der Provinzen werden gemäß der Verfassung nach relativem Mehrheitswahlrecht in Einerwahlkreisen mit jeweils ungefähr gleich großer Einwohnerzahl gewählt; die Ver- fassung trifft detaillierte Bestimmungen über die Aufteilung der Wahlkreise in allen vier Provinzen. Der vom General Governor, dem Vertreter der britischen Krone in Kanada, ernannte kanadische Premierminister war dem Unterhaus gegenüber verant- wortlich, genau wie die Premierminister der Provinzen den Provinzparlamenten ge- genüber verantwortlich waren (Verfügungen hierzu trifft die Verfassung im Abschnitt Provincial Constitutions). Das Regierungssystem des kanadischen Bundesstaates und seiner Provinzen unterschied sich von dem Großbritanniens nur dadurch, daß anstatt eines House of Lord ein Senat eingerichtet wurde, dessen Mitglieder vom kanadischen Premierminister ernannt werden; dies lag daran, daß es in Kanada keinen Adel gab. Damit waren die politischen Repräsentationsrechte gewährt worden, die im Act of Union von 1840 noch gefehlt hatten. Representation by population war eingeführt wor- den, um die Reform Party um George Brown nachzukommen und um republikanische Bestrebungen in Kanada abzumildern und die Loyalität der Kanadier zur neuen Uni- on zu sichern. Im Gegensatz zum Act of Union anerkannte die Verfassung aber auch umfangreich Rechte für Frankokanadier; representation by population und die Aus- weitung der Föderation auf weitere, mehrheitlich anglophone Provinzen, war nicht dadurch motiviert, das französische Kanada zu majorisieren und zu assimilieren. Den Frankophonen wurden im Rahmen des Föderalismus sehr weitreichende existenzsi- chernde Garantien gegeben. Die französische Sprache erhielt offiziellen Status in der Provinz und ein französisches Schulsystem wurde anerkannt. Der Provinz wurden be- sondere Rechte für die Frankokanadier festzuschreiben: Das Justizsystem in Quebec und die Vorrechte der katholischen Kirche wurden in der Verfassung anerkannt, et- wa so, wie dies im Quebec Act von 1774 und dem Constitution Act von 1791 schon angelegt worden war und das Parlament Quebecs, bezeichnenderweise benannt als As-

59 semblée nationale, hatte im Rahmen des kanadischen Föderalismus Gestaltungsmög- lichkeiten. Im Abschnitt Distribution of Legislative Powers werden die Kompetenzen des Bundesparlamentes von der der Provinzen detailliert unterschieden; die Provin- zen hatten die Möglichkeit zu eigener Steuererhebung und zu eigener Sozialgesetz- gebung und zu einer eigenen Bildungspolitik. Der anglophonen Minderheit Quebecs wurden zwar auch Rechte garantiert. Englisch wurde neben französisch als offizielle Sprache in Quebec etabliert, im Parlament der Provinz und vor Gerichten zugelassen, ebenso wurden englischsprachige Schulen und die Rechte der anglikanischen Kirche in Quebec garantiert. Nach der Verfassung war die Provinz Quebec jedoch de facto die Existenz einer frankophonen Gesellschaft in Kanada anerkannt worden, die neben einer anglophonen weiterexistieren sollte: die Franzosen bekamen Mittel in die Hand, selbst staatlich aktiv zu werden. Sie erhielten die Möglichkeit, mit einer Regierung, die sie mehrheitlich kontrollierten, Öffentlichkeit in einem weitreichenden Sinn selbst zu gestalten. Die Gruppe der Frankophonen verfügte mittels der Provinz Quebec über kol- lektive Rechte. Das Provinzparlament in Quebec wird von einer frankophonen Mehr- heit kontrolliert; die Regierung kann als ein Kollektivsubjekt begriffen werden. Die föderalen Regelungen in der Verfassung die Grundlagen für »self-government rights« der französischen Kanadier (vgl. Morton 1985, 72). Die Provinz Quebec kann als eine Anerkennung von deep diversity verstanden werden. Die Rechte für die frankophonen Kanadier erstreckten sich nicht nur auf die Provinz Quebec. Auf Bundesebene wurde auch französisch als offizielle Sprache im Parlament und vor Bundesgerichten anerkannt. In Artikel 133 der Verfassung heißt es:

Either the English or the French Language may be used by any Person in the Debates of the Houses of the Parliament of Canada and of the Houses of the Legislature of Quebec; and both those Languages shall be used in the respective Records and Journals of those Houses; and either of those Languages may be used by any Person or in any Pleading or Process in or issuing from any Court of Canada established under this Act, and in or from all or any of the Courts of Quebec.

Diese Sprachrechte sind Rechte, die ein Individuum als Mitglied einer bestimmten Gruppe erhält. Sie sind als solche aber noch individuelle Rechte und keine kollekti- ven Rechte: es sind immer nur Individuen, die dies einfordern können und es wird damit nicht einer Gruppe von Menschen ein Recht gegeben. Es handelt sich aber um ein individuelles Recht, das weitreichender ist als individuelle Rechte, wie sie aus der US-amerikanischen Verfassung bekannt sind. Die Verfassung der USA kennt bei kulturellen Fragestellungen nur ein Diskriminierungsverbot. Niemand darf wegen eth- nischer oder religiöser Zugehörigkeit benachteiligt worden. Hier liegt jedoch nicht nur ein Diskriminierungsverbot vor, sondern das Recht, anders behandeln zu werden, weil man Mitglied einer kulturellen Gruppe ist. F. L. Morton bezeichnet es als ein »special

60 legal status« und unterscheidet dies von einem Recht auf »non-discrimination«, wie es sie auch die US-amerikanische Verfassung kennt (Morton 1985, 71f). Wenn auch diese individuellen Rechte eine wesentliche Idee für Kanada darstell- ten, so waren sie damit noch keine Leitidee. Die Sprachrechte sind direkte Reaktion auf die politische Realität, sollen Frankokanada anpassen, aber nur, um im Parlament keine Krise zu erhalten und zu sichern, daß es in Quebec keine Unruhen gibt. Die Sprachrechte haben keine prominente Rolle in der Verfassung inne. Die über diese Sprachrechte verankerten individuellen Rechte sind keine prinzipiell ewigen, transzen- denten Rechte wie die individuellen Rechte der US-amerikanischen Bill of Rights. Die Sprachrechte sind ein Set an Ausnahmeregelungen, die keinesfalls den Charakter einer systematischen Bill of Rights haben. Der Abschnitt, in dem sie stehen ist Teil IX der Verfassung, der mit »Miscellaneous Provisions« benannt ist. »The Fathers of Confederation«, so Peter Russell (1993, 26), »expressed absolutely no interest in a bill of abstract natural rights«. Wie gering die Rolle war kann man auch daran se- hen, daß in der Verfassungsordnung das Prinzip der Parlamentssouveränität nirgends eingeschränkt wurde und auch überhaupt kein oberstes Gericht, kein Supreme Court eingerichtet worden war, der diese individuellen Rechte hätte durchsetzen können.

2.3.2 Der British North America Act als instrumentelle Verfassung

Die Abwesenheit von großen Leitideen zeigt, daß die kanadische Verfassung von 1867 im Unterschied zur US-amerikanischen Verfassung eine Verfassung ist, deren instru- mentelle Dimension ihre symbolische bei weitem überwiegt. Als Teil der britischen Verfassungsordnung hatte die Verfassung natürlich auch symbolischen Gehalte. Die kanadische Verfassung ist Produkt britischer Verfassungskunst und bezieht ihre Legi- timation über die überkommene britische Verfassung. Der symbolische Teil der Verfas- sung findet sich in der britischen Verfassung, von der die kanadischen Verfassung ja ein Teil ist (vgl. Gibbins 1986, 303f). Aber Großbritannien war weit weg. Die Verfassung von 1867 könnte man als eine »Anhängselverfassung« bezeichnen, eine Verfassung, die kaum eigenständig ist und ihre symbolische Kraft aus der Ferne bezieht, die des- halb abgeschwächt ist. Für die Frankokanadier, die sich nicht als Briten sahen, war die Wirkung der britischen Verfassung noch geringer. Als Dokument für Kanada, als kana- disches Dokument hatte die Verfassung von 1867 kaum eine symbolische Bedeutung und kann vielleicht als extreme Ausprägung einer instrumentellen Verfassung begrif- fen werden. Sie hat nicht die Doppelfunktion der US-amerikanischen Verfassung inne. Sie gibt weder dem Volk eine transzendentale Richtschnur vor, noch ist sie überhaupt die Verfassung eines Volkes. Sie ist allenfalls Verfassung für das Volk. Sie erfindet zwar ein Volk, dies jedoch nur als Staatsvolk. Sie ist nicht darauf hin angelegt worden, mit ihren Regelungen das Volk zu durchdringen und es auf ein Wertefundament hin

61 auszurichten. Die Verfassung sollte weniger etwas erschaffen, sondern das Vorhande- ne anerkennen. Die individuellen Rechte als Sprachrechte sind nur ein Kompromiß, nichts mehr: sie bilden nicht das Fundament für eine neue kanadische Nation. Hans-Ulrich Gumbrecht unterscheidet im Zusammenhang von instrumenteller und symbolischer Verfassung zwischen einer repräsentativen (representative) und einer re- präsentativen (re-presentative) Funktion der Verfassung. Repräsentativ ist eine Verfas- sung insoweit, wie sie auf die politische Wirklichkeit bezogen ist und diese widerspie- gelt. Re-präsentativ ist sie, insofern sie selbst einen neuen Entwurf für eine politische Ordnung entwirft und damit die politische Realität transzendiert. Die kanadische Ver- fassung von 1867 leistet, in Gumbrechts Terminologie, eine representation und nicht eine re-presentation: sie bildet zwar die politische Wirklichkeit ab, versucht damit aber weniger, die politische Wirklichkeit zu transzendieren und zum Kern einer neuen poli- tischen Ordnung zu werden. In dieser representation ist die kanadische Verfassung von 1867 aber wesentlich inklusiver als die US-amerikanische Verfassung. Sie schließt das Phänomen der deep diversity nicht aus: sie macht Sprache zum Thema, wird in Eng- lisch und Französisch publiziert und hat in beiden Sprachen Gültigkeit, kennt einen ethnisch ausgerichteten Föderalismus.

2.3.3 Die Föderalismustheorie der Gründungsväter I: John A. Macdonald und George Brown

Föderalismus war in den USA sehr eng mit dem Kern der Leitidee der Verfassung verknüpft: nämlich die Rechte des Individuums zu schützen und eine faction, der Zu- sammenrottung von »a number of citizens [...] who are united and actuated by some common impulse of passion, or of interest, adverse to the rights of other citizens«, zu verhindern (Hamilton, Madison und Jay 1999, Artikel 10). Das föderale, oder das republikanische Prinzip, wie es in den Federalist Papers heißt, könne eine solche Zu- sammenrottung vermeiden. John A. Macdonald und George Brown dachten ganz anders über Föderalismus. Fö- deralismus war für sie überhaupt kein gutes Prinzip staatlicher Ordnung, ganz im Ge- genteil. John A. Macdonald etwa war eigentlich für eine legislative union eingetreten, für einen Zentralstaat, der nicht in mehrere Territorien mit jeweils eigener Staatlich- keit und Regierung untergliedert werden sollte. Föderalismus assoziierte er unter dem Eindruck der Ereignisse in den USA, wo gerade der Bürgerkrieg seinem Ende zuneig- te, mit Anarchie und Zerfall. Er nutzte jede Gelegenheit, um deutlich zu machen, daß Föderalismus für ihn nicht mehr war als ein schmerzlicher Kompromiß, der dazu not- wendig sei, um die Spannungen zwischen Briten und Franzosen in Kanada lösen zu können. In einer Rede vor der Legislative Assembly brachte er seine Ansichten auf den Punkt:

62 I have again and again stated in the House, that, if practicable, I thought a Le- gislative Union would be preferable. (Hear, hear.) I have always contended that if we could agree to have one government and one parliament, legislating for the whole of these peoples, it would be the best, the cheapest, the most vigorous, and the strongest system of government we could adopt. (Hear, hear). But, on looking at the subject in the Conference, and discussing the matter as we did, most unreservedly, and with a desire to arrive at a satisfactory conclusion, we found that such a system was impracticable. In the first place, it would not meet the assent of the people of Lower Canada, because they felt that in their peculiar position–being in a minority, with a different language, nationality and religion from the majority,–in the case of a junction with the other provinces, their institu- tions and their laws might be assailed, and their ancestral associations, on which they prided themselves, attacked and prejudiced; it was found that any proposi- tion which involved the absorption of the individuality of Lower Canada–if I may use the expression–would not be received with favor by her people. (in Canada 1865, 29, kursiv nicht im Original)

Macdonald spricht von »peoples« und nicht von einem Canadian people, anerkennt also deren Existenz und ist hier auch ganz als pragmatischer, empirisch ausgerichteter Politiker. Föderalismus war für Macdonald nichts weiter als ein notwendiges Mittel, um ein Land mit zwei miteinander konkurrierenden Gesellschaftsordnungen zusam- menhalten zu können. Er war für ihn lediglich ein praktischer Kompromiß, der wegen der ganz besonderen konkreten historischen Bedingungen in Kanada eingegangen wer- den mußte und nicht, um der schwankenden Natur des Menschen und seiner Neigung zur faction zu verhindern. Macdonald war weit davon entfernt, im Föderalismus das zu sehen, als was im 10. Artikel der Federalist Papers dargestellt wurde: eine sittliche Kraft, um zu verhindern, daß die Rechte rechtschaffener Bürger durch den common impulse of passion anderer Bürger verletzt werden. Solche Probleme konnten für ihn auch durch die überkommene und bewährte britische Verfassung gelöst werden. Das Problem der faction sah Macdonald unter einer ganz anderen Perspektive als die Fe- deralists. Für ihn ist eine faction nicht »a division of the society into different interests and parties« (Hamilton, Madison und Jay 1999, Artikel 10). Fände Macdonald gut: er denkt hier an Parteienstreit und Geschacher im Unterhaus. Seine Erfahrung war auch nicht geprägt von einer faction innerhalb einer Gesellschaft, sondern die ganz konkret vorliegende faction zwischen Gesellschaften, wie in Kanada. Klug wie er als Realpo- litiker war hütete er sich freilich davor, die Franzosen als eine faction zu bezeichnen – »call [...] [the French Canadians] a faction, and they [...] [become] factious« (Bliss 1966, 97) hatte er einmal in einem Brief einem seiner Anhänger anvertraut – aber er machte nie einen Hehl daraus, daß es im Föderalismus nur darum ging, mit den Fran- zosen fertigzuwerden, den Kampf zwischen den Gesellschaften zu verhindern. Dazu war der Föderalismus da und zu nichts anderem. George Brown dachte ähnlich. Föderalismus war für ihn nichts mehr eine »reme- dial measure«, nicht um einer schwankenden Natur des Menschen entgegenzuwirken,

63 sondern hauptsächlich, um damit endlich representation by population umsetzen zu können, die »injustice of which Upper Canada has complained in financial matters« (Canada 1865, 92), den »sectional discord between Lower and Upper Canada« (Cana- da 1865, 96) .

2.3.4 Die Föderalismustheorie der Gründungsväter II: George-Étienne Cartier

Der Führer der Bleus, George-Étienne Cartier, wird in kanadischen Darstellungen zur Verfassungsdebatte häufig vernachlässigt. John A. Macdonald gilt als die bedeutendste Figur. In der Analyse Donald Creightons und vieler anderer kommt Cartier kaum vor, alle werden als Briten bezeichnet. Dies ist schade, da er sich in einigen Punkten dem Trend widersetzt und eine anders tarierte Föderalismuspolitik innehat. Wie auch Macdonald und Brown ist für Cartier Föderalismus eine Regelung, die dem Zusammenleben der Briten und Franzosen dient. Er ist für ihn ein Kompromiß. Aber er verband mit Föderalismus weit mehr als Macdonald und Brown: war Föde- ralismus für diese eher Garant dafür, daß die Briten außerhalb Quebecs tun konnten, was sie wollten und war bei ihnen bei der Idee des kanadischen Volkes Frankokanada eher außen vor, so war der Föderalismus für Cartier eine Zukunftsvison, ein faszi- nierendes Experiment, welches auch über den konkreten kanadischen Kontext hinaus Vorbildcharakter haben könnte und auch die politische Wirklichkeit in Kanada ver- bessern könne. Die neue Verfassung war für ihn mehr als nur eine Kompromißlösung. Mehrere races durch eine föderale Ordnung in einem Land zusammenzufassen war für ihn nicht mit dem Makel eines notwendigen realpolitischen Kompromisses behaftet, sondern ganz im Gegenteil die Erfindung einer neuen, an sich wertvollen politischen Ordnungslogik. Die Behauptung, daß eine »great nation« nicht aus mehreren races bestehen könne hielt er für »futile and worthless in the extreme« (Canada 1865, 60). Denn »great nations«, so Cartier, entstehen nicht aus der Homogenität, sondern ge- rade aus dem Nebeneinander verschiedener races. Das sah er aber auch in einer sehr realitätsbezogenen Art und Weise. Vor dem Parlament sagte er:

The idea of unity of races was utopian–it was impossible. Distinctions of this kind would always exist. Dissimilarity, in fact, appeared to be the order of the physical world and the moral world, as well as in the political world. [...] In our own Federation we should have Catholic and Protestant, English, French, Irish and Scotch, and each by his efforts and his success would increase the prosperity and glory of the new Confederacy. (Hear, hear.) [...] We could not do away with the diversity of races. We could not legislate for the disappearance of the French Canadians from American soil, but British and French Canadians alike could appreciate and understand their position relative to each other. They were placed like great families beside each other, and their contact produced a healthy spirit of emulation. It was a benefit rather than otherwise that we had a diversity of races. (Canada 1865, 60)

64 Das ist an der empirischen Wirklichkeit ausgerichtet. Dies ähnelt auffällig der Posi- tion Lord Actons. Wie auch Lord Acton geht Cartier nicht davon aus, daß das Neben- einander verschiedener races liberale Institutionen behindere, sondern ganz im Gegen- teil diese befördere. Wie auch Acton spricht er auch von einer »political nationality«; vom neuen Kanada spricht Cartier als von einer »political nationality with which neit- her the national origin, nor the religion of any individual, would interfere.« (Canada 1865, 60) Er bestimmt dabei genauer als Acton, was darunter zu verstehen ist. Po- litical Nationality ist keine neutrale Sphäre, eine Sphäre abstrakter Gemeinsamkeiten darstellt, sondern das gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener Gesellschaftssy- stem und Gesellschaftsentwürfe meint: die »political nationality« ist für Cartier Aus- tauschsphäre zweier unterschiedlicher Gesellschaften, aber als solche kulturell nicht neutral. Es geht zwar um Kooperation, diese findet aber unter der Bedingung statt, daß Kanada ein Verband, eine Kooperation verschiedener gesellschaftlicher Ordnungen ist. Dieser Austauschort hat eine gewisse normative, auf die Wahrung verschiedener Ge- sellschaftssysteme ausgerichtete normative Grundstruktur. Diese Grundstruktur ist der Föderalismus. Die »political nationality« ist rückgebunden an die föderale Ordnung, welche für Cartier eine Stabilisierung des frankophonen Faktors und der frankophonen Gesellschaft darstellt, für deren Erhalt sich Cartier ja einsetzt. Cartiers Föderalismus- theorie ist, wie Samuel LaSelva (1996, xii) ganz zurecht feststellt ein »exercise in the difficult art of separation«. Samuel LaSelva hält Cartiers Beitrag für die Föderalismustheorie für so gewichtig, daß er ihn sogar mit Madison vergleicht. Cartier habe für die spezifischen Bedingungen Kanadas das geschaffen habe, was Madison mit dem zehnten Artikel der Federalist Pa- pers für die USA geleistet hat und der Idee der kanadischen Föderation mehr Gewicht verlieh als Macdonald und Brown.

Madison’s theory [...] presupposes the nation and simply addresses the issue of the kind of government it should have. In contrast, Cartier had to demonstrate not only that federalism was desirable, but also that a Canadian nation could ex- ist. Moreover, he had to confront such issues amid reminders of the war of races, a problem unknown to Madison. Cartier’s solution was to articulate a federalist theory based mainly on the twin ideas of multiple identities and political nation- ality. In his understanding, Canada was to be a nation in which multiple identities and multiple loyalties could flourish within the framework of a common political nationality. Far from presupposing the nation, federalism created it. (LaSelva 1996, xi f)

2.4 Von 1867 bis zur Herausforderung der kanadischen Verfassungsordnung durch die »Stille Revolution« in Quebec

In den Jahren nach 1867 entspannte sich die politische Situation in Kanada zunächst. Die von John A. Macdonald geführte konservative Partei, welche in den Jahrzehn-

65 ten nach der Verabschiedung der Verfassung die Regierungsgeschäfte bestimmte, war darum bemüht, den Interessen des französische Elements in Kanada entgegenzukom- men und die besonderen Rechte Frankokanadas zu wahren und durchzusetzen. Nicht nur akzeptierte sie die politische Autonomie Quebecs, sondern setzte sich ferner auch dafür ein, daß auch außerhalb Quebecs Rechte für französische Kanadier anerkannt wurden. Die Verfassung von Manitoba, welches 1870 als fünfte Provinz Kanada bei- getreten war, hatte z. B. auf Betreiben des Bundes den Frankokanadiern, die in die- ser Provinz relativ zahlreich lebten, den Zugang zu französischen Schulen garantiert und der katholischen Kirche ähnliche Rechte gegeben wie in Quebec; Französisch war auch als offizielle Sprache in der Provinz eingeführt worden. Das französische Element schien als gleichberechtigter Bestandteil Kanadas akzeptiert worden zu sein. Daß aber die britische Mehrheit in Kanada das französische Element keinesfalls als gleichberechtigt anerkennen wollte, zeigte sich jedoch schon relativ bald. Frankoka- nadiern gelang es kaum, Anstellung in Institutionen des Bundes zu finden; sie waren dort stark unterrepräsentiert. Im Parlament und besonders im Kabinett dominierte die englische Sprache. Nach außen hin gab sich Kanada als britisch geprägter Staat: Kana- das Diplomaten sprachen bevorzugt englisch und die kanadische Flagge enthielt einen Union Jack. Die Dominanz der Anglokanadier wurde 1890 während der sogenannten Manitoba School Crisis besonders deutlich. Die anglokanadische Mehrheit in Manitoba schaff- te in diesem Jahr die vom Bund diktierten Schutzgarantien für Frankokanadier ab und schloß die von der katholischen Kirche geleiteten französischsprachigen Schulen; man hatte die Rechte für die französischen Bewohner der Provinz als lästig empfunden. Trotz heftiger Proteste intervenierte der Bund nicht (vgl. Russell 1993, 37ff). Die Ang- lokanadier in der Bundesregierung weigerten sich, das französische Element in Kanada weiter zu unterstützen, da sie nicht riskieren wollten, die Unterstützung eines großen Teils ihrer Wählerschaft, welche den Frankokanadiern ohnehin noch nie wohlgeson- nen gegenübergestanden hatte, zu verlieren. Der föderale Charakter der kanadischen Union wurde in der anglophonen Presse häufig als unsinnig bezeichnet (vgl. Bliss 1966, 195). Das frankokanadische Element in der Regierung war zu schwach, um die Regierung zu einer Intervention zu bewegen. Es kam zu einer Regierungskrise, welche noch im gleichen Jahr zum Fall der konservativen Regierung führte. Das System des Ausgleichs mit den Frankokanadiern, welches Macdonald konzipiert hatte, war unter dem Druck der Ereignisse zerbrochen. Diese Niederlage verdeutlichte dem französischen Kanada, daß es sich im Zwei- felsfall auch bei wesentlichen Fragestellungen dem Willen der Mehrheit unterzuord- nen hatte und sich nicht auf Verfassungsgarantien verlassen konnte. Dies führte auf

66 Seiten der Frankokanadier zu großer Verbitterung und Skepsis; der Graben zwischen Frankokanada und dem Rest des Landes verbreiterte sich wieder.9 Die Situation in Quebec blieb jedoch trotz dieser Probleme stabil. Der Unmut der Frankokanadier schlug nicht in eine breite Protestbewegung um. Sie zogen sich unter dem Druck der Verhältnisse nach Quebec zurück und begnügten sich mit den Rechten, die ihnen für diese Provinz zugesichert waren. Man versuchte, die Rechte der Provinz Quebec zu stärken und damit den Machtverlust im Bund auszugleichen.10 1896 konn- te Wilfried Laurier mit deutlicher Unterstützung aus Quebec die Wahlen zum kanadi- schen Unterhaus mit einer Wahlplattform gewinnen, die stark auf die Stärkung der Pro- vinzen in Fragen vos Kultur, Bildung und Sprachrechten setzte und für den Rückzug des Bundes aus diesem Politikfeld eintrat. In Quebec konnten Parteien die Wahlen zur Assemblée nationale gewinnen, welche die Wahrung des klerikalen Milieus in Quebec und die Abgrenzung der Provinz gegenüber dem Rest des Landes befürworteten. Die Provinz wurde zumeist durch ein Regime aus Klerus und anglophoner Wirtschaftse- lite regiert, welche ein großes Interesse daran hatte, den status quo zu wahren, und sich gegenseitig unterstützten. Während der beiden Weltkriege erschütterte zwar eine sogenannte Conscription Crisis Kanada. Die Frankokanadier waren nicht dazu bereit, an der Seite der Briten in den Krieg zu ziehen. 1918 war im Parlament Quebecs so- gar darüber debattiert worden, ob man nicht die kanadische Föderation verlassen wol- le. Während des Zweiten Weltkrieges war es zu ähnlichen Debatten gekommen (vgl. Bliss 1966, 245ff). Aber auch dies konnte die Verfassungsordnung in Kanada nicht nachhaltig erschüttern. Die politische Ordnung in Quebec blieb stabil. In den 1930er, 1940er und 1950er Jahren wurde Quebec durch die Union Nationale unter Mauri- ce Duplessis dominiert, welches die alte Koalition zwischen Klerus und anglophoner Wirtschaftselite unterstützte und perfektionierte. Duplessis kanalisierte das Ressenti- ment der Frankokanadier gegenüber dem Rest des Landes in einen Nationalismus, der nicht separatistisch war, sondern der auf die Wahrung eines ländlich-bodenständigen Milieus in Quebec hinwirkte und bereit war, dafür die Dominanz der anglophonen Ka- nadier im Bund und die Kontrolle der Wirtschaft und Technologie Quebecs durch die anglophone Minderheit in Quebec hinzunehmen.

9Der englische Schriftsteller Rupert Brooke, der 1914 eine Kanadareise unternommen hatte, berich- tete etwa erstaunt über eine »complete separateness of the two races« (in Bliss 1966, 235). 10Das war eine Entwicklung, die von Kritikern der Verfassung von 1867, sozusagen den kanadi- schen Anti-Federalists, vorausgesehen worden war. Christopher Dunkin, ein Abgeordneter aus Canada East und etwa hatte in einer Rede vor der Legislative Assembly davor gewarnt, daß dann, wenn sich die Frankokanadier im Parlament in einer Minderheit befänden sie sich in ihre eigene Provinz zurückziehen würden (vgl. Canada 1865, 510). Auch Joseph Perrault, Abgeordneter für die Rouges, hob auf das Argu- ment ab, daß die Franzosen in diesem neuen Kanada numerisch weitaus unterlegen wären und deshalb dazu gezwungen wären »to [...] carry on a constant contest for the defence and preservation of our politi- cal rights and of our liberty« (Canada 1865, 599f). Joseph Howe aus Nova Scotia, einer der erbittertsten Gegner der Confederation, hatte in einem Pamphlet 1866 davor gewarnt, daß in einer Föderation, in der die Franzosen in der Minderheit seien, aber doch so stark, um nicht assimiliert werden zu können, die politische Ordnung schwächen müsse (vgl. Howe 1966, 125.

67 Die kanadische Verfassungsordnung wurde erst dann grundlegend herausgefordert, als sich in Quebec die gesellschaftliche Struktur so veränderte, daß der status quo nicht mehr haltbar war. Dies hing zusammen mit der Entstehung einer Industriear- beiterschaft in Quebec. Schon seit den 1890 Jahren war im größeren Stil Industrien in Quebec angesiedelt worden. Viele Franko-Quebecker, die zuvor in der Landwirtschaft beschäftigt waren, zogen in die Städte; nach dem Zweiten Weltkrieg war die Grup- pe der in der Industrie beschäftigten weitaus größer als die der in der Landwirtschaft beschäftigten. Quebec als ländliche und bodenständigen Provinz, als Vorreiter für die katholische Mission in Nordamerika, gab es hauptsächlich noch in der Vorstellungs- welt der Regierung und der katholischen Kirche. Da die Regierung und auch die ka- tholische Kirche sich kaum um die soziale Lage der Arbeiter kümmerte entfremdeten sie sich immer mehr vom Regime. In den 1940er und 1950er erschütterten zahlreiche Industriearbeiterstreiks die Provinz. Das Regime wurde auch von der frankophonen, gut ausgebildeten Mittelschicht, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den großen Städten entstanden war, nicht mehr akzep- tiert. Sie war mit der Dominanz der Anglokanadier in der Wirtschaft, in der sie hinein- drängte, nicht einverstanden und konnte sich auch mit dem Weltbild, wie es durch die katholische Kirche in Quebec vermittelt wurde, nicht mehr identifizieren. Die fran- zösische Mittelschicht verbündete sich mit den streikenden Arbeitern und versorgte sie mit einem radikalen politischen Programm. Intellektuelle aus Quebec machten das Bündnis zwischen der britischen Wirtschaftselite und der katholischen Kirche für die soziale Lage der Arbeiter und für die Unterdrückung der französischen Quebecker all- gemein verantwortlich. Sie forderten eine Gleichberechtigung der Frankokanadier und eine moderne und integrative Wirtschaftspolitik in Quebec. Die Koalition zwischen Industriearbeitern und französischer Mittelschicht legte die Grundlage für einen politischen Machtwechsel in Quebec. Bei den Wahlen zur Assem- blée nationale im Jahr 1960 gewann die liberale Partei Quebecs. Ihr Vorsitzender, Jean Lesage, wurde Premierminister Quebecs. Die Liberalen hatten ihren Wahlkampf unter dem Motto maître chez nous geführt und sich die Gleichberechtigung der Franzosen in Quebec und die Stärkung eines französisch dominierten Quebecs innerhalb der ka- nadischen Union zum Ziel gesetzt. Nach dem Wahlsieg wurde dies auch energisch betrieben. Zunächst wurde ein umfassendes Modernisierungsprogramm initiiert. Der Einfluß der katholischen Kirche auf das Bildungssystem wurde radikal eingeschränkt und die Säkularisierung des öffentlichen Sektors vorangetrieben und der Bildungssek- tor stark ausgebaut. Frankokanadier wurden gefördert. Dies führte nach nur wenigen Jahren zu einer vollkommenen Veränderung in Quebec: von einer ehemals an Famili- enwerten ausgerichteten französischen Gesellschaft, die an der Wahrung traditioneller Lebensformen orientiert gewesen war, war eine moderne, auf soziale Entwicklung,

68 Individualismus und wirtschaftliche Erfolge ausgerichtete Gesellschaft geworden.11 Man begann, von einer »Stillen Revolution« (Révolution tranquille oder Quiet Revo- lution) zu sprechen. Der bedeutende kanadische politische Philosoph und Kulturkritiker George Grant, das kanadische Pendant zu Oswald Spengler (Martin Thunert), befürchtete, daß dieser neue Nationalismus nicht nur das Ende der Spezifität Quebecs mit sich bringen, son- dern auch die Besonderheit Kanadas gegenüber den USA beseitigen würde. In Quebec sah er einen positiven Gegenentwurf zum an individualistischen Werten orientierten protestantischen kapitalistischen anglophonen Gesellschaft Nordamerikas. Die Gesell- schaft Quebecs war für ihn definiert als eine »in which the right of the common good restrains the freedom of the individual« (Grant 1988, 76). Langfristig, so seine The- se, würde die »Stille Revolution« nur darauf hinauslaufen, daß ganz Kanada von den USA aufgesogen werden würde. Was Quebec vom Rest Kanadas und auch vom Rest Nordamerikas unterscheide sei ein »moral heart« (Grant 1988, 83). Mit ihrem Angriff auf das katholische Weltbild drohen die Liberalen in Quebec dieses zu zerstören. Spra- che als einziges Differenzierungsmerkmal, so Grant, könne nicht ausreichend sein, um eine eigene Gesellschaft zu konstituieren und gegenüber anderen abzugrenzen (vgl. Grant 1988, 79). Er glaubte nicht daran, daß Frankokanada unter den Bedingungen dieses gesellschaftlichen Wandels als eigene Gesellschaft überleben könne. Der neue Nationalismus konnte sich für ihn nur selbst untergraben. Grants Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht, zumindest nicht insofern, als die »Stille Revolution« die Assimilation der spezifischen, französischen Gesellschaft in Quebec nach sich gezogen hätte. Ganz im Gegenteil: die Liberalisierung der Provinz und der Wertewandel reduzierte zwar die kulturellen Unterschiede zum Rest Kana- das und Nordamerikas, schwächte jedoch nicht die Orientierung der Quebecker an ihrer Gesellschaft. Je weiter die Stille Revolution fortschritt und je erfolgreicher die Wirtschaftspolitik war, desto selbstbewußter wurden die Quebecker. Die Unterschiede in den Werten, die ihre Gesellschaftsordnung vom Rest Kanadas unterschieden hatte, wurde durch die französische Sprache als Bezugspunkt und Differenzierungsmerkmal ersetzt. Sie begannen jetzt als frankophone Nation zu begreifen, welche nordamerika- nische Werte hat und mit den Nordamerikanern konkurrieren kann. Sie wurden sich bewußt, daß nicht von den Anglokanadiern und ihrer Kompetenz abhängig waren. Sie stellten in Frage, ob der anglokanadisch dominierte Bund für Frankokanadier noch zumutbar sein. Die Unabhängigkeit wurde nachgedacht. Laxer und Laxer sprechen vom Übergang eines passiven »old nationalism« zu einem aktiven »new nationalism« (Laxer und Laxer 1977, 17ff).

11Zur Angleichung der Werte nach der Stillen Revolution siehe Taylor (1991, 53f und 58f) Thunert (1992, 20ff). Webber (1994, 50) stellt sogar eine höhere Zustimmung zu Werten des Individualismus bei Frankokanadiern als bei Anglokanadiern fest.

69 Ausdruck dieses »new nationalism« war auch das Aufkommen separatistischer Ten- denzen. 1967 wurde durch René Lévesque, einem ehemaligen Minister aus dem Ka- binett Lesages, eine separatistische Partei gegründet, die Parti Québécois. Sie sah in Quebec viel mehr als nur eine kanadische Provinz: Quebec war für sie der Staat eines eigenen Volkes, der Québécois, welches auf dem Territorium Quebecs, seinem eigenen Territorium, ein Recht auf Selbstregierung und Souveränität habe mit dem grundsätzli- chen Recht, sich selbständig machen. Hauptanliegen der Nationalisten war, das Über- leben einer frankophonen Gesellschaft in Nordamerika zu sichern. Hauptanliegen war der Schutz der französischen Sprache vor dem Englischen. Diese Fragestellung wurde dringend, da im Zuge der »Stillen Revolution« die Geburtenrate stark zurückgegangen war und der Anteil Quebecs an der Gesamtbevölkerung Kanadas ständig zurückging. Da sich Einwanderer nach Quebec meist dazu entschieden, nur Englisch zu lernen und ihre Kinder in englischsprachige Schulen zu schicken, wurde dieses Problem noch verschärft. Die Nationalisten fürchteten, daß die Frankokanadier mittelfristig zur Min- derheit in Quebec werden könnten; vor allem fürchtete man, daß in Montréal, der größten Stadt Quebecs und der zweitgrößten frankophonen Stadt der Welt Englisch zur Mehrheitssprache werden könnte (vgl. Dion 1992). Nachdem die Parti Québécois 1976 die Wahlen zur Assemblée nationale in Que- bec gewinnen konnte und Lévesque Premierminister geworden war war Sprachpolitik das erste Politikfeld, auf dem die neue Regierung tätig wurde. Mit dem sogenannten Bill 101 machte man Französisch zur alleinigen offiziellen Sprache Quebecs. Der Ge- brauch des Englischen sollte in Quebec stark eingeschränkt werden; Eltern durften von nun an ihre Kinder nur dann noch auf eine englischsprachige Schule schicken, wenn sie selbst eine solche besucht hatten. Dieses Gesetz wurde nicht nur von den Anglokanadiern in Quebec scharf abgelehnt, sondern beunruhigte auch das restliche anglophone Kanada. Spätestens nachdem die Parti Québécois 1980 ein Unabhängig- keitsreferendum in Quebec durchsetzen konnte wurde dem Rest Kanadas bewußt, daß die Einheit der kanadischen Union ernstlich bedroht war.

***

Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß sich liberaler Konstitutionalismus in Kanada in einem wesentlichen Punkt anders entwickelt hat als in den USA: In den kanadischen Verfassungsdebatten seit 1763 wurde sich intensiv mit der Frage ausein- andergesetzt, wie eine deep diversity in eine liberale Verfassungsordnung integriert werden kann. Die vier Verfassungen, die Großbritannien zwischen 1763 und 1840 etablierte, zeu- gen noch von einem unsicheren Umgang mit deep diversity. In der Royal Proclama- tion von 1763 noch weitgehend ignoriert, anerkannte man die Franzosen im Quebec Act von 1774 und im Constitution Act von 1791; durch den Act of Union von 1840

70 versuchte man, sie zu assimilieren. Der British North America Act von 1867 war dann aber wesentlich darauf ausgerichtet, das französische Element in Kanada nachhaltig anzuerkennen. Die kanadische Verfassung von 1867 kann als eine umfangreiche Ad- aption des liberalen Konstitutionalismus an Problemlagen interpretiert werden, die aus einer deep diversity herrühren. Das Regelwerk der Verfassung, die durch sie imple- mentierten Rechtsgarantien und die durch sie angelegte föderale Ordnung, sind ein- deutig an Fragestellungen orientiert, wie sie sich durch die in Kanada vorhandene deep diversity ergeben haben. Individuelle Rechte sind nicht nur wie in der Verfas- sung der USA kulturneutral formulierte Abwehrrechte. Sie kommen in der Verfassung von 1867 überhaupt nur in Bezug auf die spezifische kulturelle Situation in Kanada vor, nämlich als Rechte für die anglophonen und die frankophonen Kanadier. Im Ge- gensatz zum Föderalismus US-amerikanischen Typs ist der kanadische Föderalismus nicht nur territorial-administrativ ausgerichtet, sondern hat auch die Funktion, eine de- ep diversity anzuerkennen. Der durch die Verfassung in Kanada eingerichtete Födera- lismus diente dem Zweck, die besondere Gesellschaftsordnung in Quebec anzuerken- nen und in die kanadische Verfassungsordnung zu integrieren. Durch die Etablierung Quebecs als mehrheitlich französischer Provinz wurde ein Kollektivsubjekt zugelas- sen, daß von einer anderen Gesellschaft kontrolliert werden konnte. Vincent LaSelva kommt zu dem Schluß, daß durch die Verfassung von 1867 ein neues Ordnungsmo- dell geschaffen wurde, welches über das US-amerikanische hinausreicht und ein neues Modell darstellt:

Confederation both recognized deep diversities and attempted to sustain a Cana- dian political nationality. In this way, the Fathers created a nation that differed from the American model and avoided the complex tragedy implicitly described by Lord Durham. (LaSelva 1996, 12)

Die Verfassung von 1867 war nicht als transzendente Ordnung angelegt worden. Sie ist das Werk pragmatischer und realitätsbezogener Politiker, das die politischen und ge- sellschaftlichen Realitäten in Kanada im Rahmen einer liberalen Verfassungsordnung anzuerkennen suchten. Sie schufen eine Verfassung, die das Vorhandene anzuerkennen und pragmatisch zu regeln, nicht aber zu überwinden suchte. Ihre Kulturhermeneutik ging dabei nicht von der These aus, daß es ein Volk der Kanadier gebe und die Verfas- sung Ausdruck und konstitutiv desselben sei. Da sie sich nicht für Volkssouveränität interessierten ließen sie diese Frage offen und unbeantwortet. Die kanadische Problemlage prägte die liberale politische Theorie in Großbritan- nien im 19. Jahrhundert. Unter dem Einfluß der Ereignisse in Kanada entstand eine liberale Theorie, die sich vom zeitgenössischen US-amerikanischen liberalen Main- stream deutlich unterscheidet. Lord Durham wurde durch die Probleme in Lower Ca- nada dazu angeregt, über die kulturellen Grundlagen des Liberalismus zu reflektieren. J. S. Mill wurde durch Durham beeinflußt. Lord Acton reagierte auf Mill und grenzte

71 sich von dessen Positionen ab. Die Autoren bieten eine Theorie für die deep diversity. In Grundzügen arbeiten sie heraus, wie man mit einem ethnisch-territorial verankerten Konflikt mit nationalen Minderheiten umgehen sollte. Sie unterscheiden sich vom zeit- genössischen liberalen Mainstream nicht in prinzipieller Art und Weise, sondern viel- mehr dadurch, daß sie die Prinzipien desselben offenlegen. Sie würden der Theorie der benign neutrality ablehnend gegenüberstehen. Sie haben eine andere Kulturhermeneu- tik. Sie würden die Forderung Nathan Glazers, daß ein liberaler Staat keine bestimmte (nationale) Kultur fördern dürfe für unrealistisch halten. Allen gemeinsam ist, daß der Begriff der Nation ethnisch aufgeladen wird und von der Theorie des Staates getrennt wird. Durhams und Mills politische Schriften sind von der Idee geprägt, daß ein libe- raler Staat durch die freiwillige Assimilation in die Kultur der Mehrheitsgesellschaft (oder kulturell fortschrittlichsten Gesellschaft) geschehen sollte, so wie dies auch der Kulturhermeneutik der benign neutrality entspricht. Lord Actons political nationalism anerkennt zum einen nationale Grenzziehungen, bringt diese aber gleichzeitig auch ins fließen. Er ist kulturell verankert und fördert Sprache und Kultur von Minderhei- tennationalismen staatlich, bringt diese aber gleichzeitig in einen Austauschprozeß mit anderen nationalen Kulturen. Es entsteht eine Sphäre ständigen Austausches, die starre Grenzziehungen unterläuft, durch seine Garantien aber auch einen status quo sichert und daran interessiert ist, nationale Minderheiten zu fördern. Es ist nicht Abschluß und Homogenisierung, die für Lord Acton Nationen am Leben erhalten, sondern gerade der Austausch zwischen Nationen. Lord Durham, J. S. Mill und Lord Acton empfehlen dabei freilich unterschiedliche Dinge. Lord Durham und J. S. Mill kommen zu dem Schluß, daß eine liberale Ordnung an ein kulturell-ethnisches Umfeld geknüpft sein muß. Lord Acton dagegen glaubte nicht, daß eine liberale Ordnung sich nur in einem Staat realisieren läßt, in dem es nur eine Gesellschaft, eine Sprache, eine Kultur und eine Nation gibt. Für Lord Acton ist das Nebeneinander verschiedener Nationen in einem Staat nicht Bedrohung, sondern sogar Garant liberaler Ordnung. Wie auch Lord Durham und Mill wollte Acton dar- auf aufmerksam machen, daß Liberalismus und Nationalismus keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig bedingen. Er setzt dabei die Vielheit von Nationen in einem Staat aber in einen engen Bezug zur liberalen Idee des Pluralismus, dem Schutz vor Ty- rannei. Er stellt sie damit auch in Verbindung zu einem Kernprinzip des Liberalismus: dem Schutz individueller Rechte. Er weist auf die Notwendigkeit einer föderalen Ord- nung hin, die nationale Minderheiten und damit deep diversity grundsätzlich normativ anerkennt. Lord Durham und J. S. Mill stimmen in ihrer normativen Orientierung und mit ihrer Kulturhermeneutik insoweit mit dem zeitgenössischen liberalen Mainstreams überein als sie davon ausgehen, daß in einem liberalen Staat nationale Minderheiten nicht speziell staatlich anerkannt werden sollten. Lord Acton entwickelte hingegen ei- ne völlig neue Position, welche die Erkenntnisse der beiden ersten Theorien aufnahm,

72 aber über diese hinausgehend eine alternative Zukunftsvision entwickelte. Interessan- terweise zog Lord Acton zwar Parallelen zwischen einer Anerkennung des Multina- tionalismus und religiöser Toleranz, gelangte davon ausgehend jedoch nicht wie der US-amerikanische liberale Mainstream zu der Auffassung, daß ein liberaler Staat eth- nisch neutral sein müsse. Actons political nationalism anerkennt die Notwendigkeit, daß ein liberaler Staat verschiedene Sprachen und Kulturen fördern müsse. Die politischen Auffassungen der Väter der Verfassung von 1867 lassen sich diesen Positionen zuordnen. Alle hatten sie die Empfehlungen abgelehnt, welche Lord Dur- ham in seinem Report gemacht hatte. Sie taten dies aber aus unterschiedlichen Grün- den. Macdonald und Brown lehnten sie ab, da sie nicht daran glaubten, daß das fran- zösische Element in Kanada assimiliert werden könnte; wegen realpolitischer Zwänge waren sie von der Idee einer legislative union und eines kanadischen Zentralstaats ab- gerückt. John A. Macdonald stand einer föderalen Ordnung skeptisch gegenüber. Car- tier sah dagegen in der neuen kanadischen Verfassungsordnung auch die Vision eines Staates zweier Nationen. Seine Position erinnert an die Lord Actons. Frankokanadier, die, soweit sie die neue Verfassungsordnung unterstützten, der Position Cartiers anhin- gen, neigten dazu, die Verfassung von 1867 als einen Pakt zweier gleichberechtigter Gründungsnationen zu betrachten; dies wird in Kanada als compact theory bezeich- net. Anglokanadier, welche sich zum Großteil dem Lager Browns und Macdonalds zurechneten, hingen eher der Theorie der federal union an. Kanada war gemäß dieser Theorie zwar ein Staat mit gewissen Sondergarantien für die frankophone Minderheit, diese Sondergarantien wurden jedoch nicht als ein fundamentaler Grundkompromiß oder gar eine raison d’être für Kanada betrachtet.

Der Kompromiß von 1867 drohte durch die Herausforderung des zweiten, neuen Na- tionalismus in Quebec zu scheitern, der durch die Stille Revolution aufkam. Die kana- dische Bundesregierung war nicht untätig geblieben und hatte 1965 hatte eine Royal Commission eingesetzt, ein Gremium der besten Sozialwissenschaftler Kanadas, wel- che die Situation analysieren sollte. In ihrem 1967 vorgelegten Bericht stellte sie fest, daß »Canada, without being fully conscious of the fact, is passing through the grea- test crisis in its history.« (Canada 1967, xvii) Es wurde eine Totalreform der Verfas- sung von 1867 erwogen, die jedoch noch im Rahmen der grundsätzlichen Regelwerkes bleiben sollte. Sprachrechte sollten ausgeweitet und durchgesetzt werden. Der politi- schen Programmatik Premierminister Trudeaus, der 1968 ernannt wurde, machte mit einer umfassenden Verfassungsreform Ernst, die so weitreichend war, daß ein neu- er Verfassungstypus entstand. Er bündelte verschiedene Erfahrungen, war jung und dynamisch und die große Hoffnung. Wesentlich an Trudeaus Programm war, die Er- fahrungen der britisch-kanadischen Verfassungsgeschichte mit zentralen Idee des US- amerikanischen Konstitutionalismus zu verbinden, um damit die Einheit Kanadas wie-

73 derherstellen zu können: Sprachrechte als Grundrechte, Volkssouveränität. Die Einheit sollte dadurch hergestellt werden, daß die Verfassung eine symbolische Verfassung werden sollte.

74 3 Die Erfindung des Volkes durch seine Verfassung: Die Verfassungsvision Pierre Elliott Trudeaus als Synthese zwischen britisch-kanadischem und US-amerikanischem Konstitutionalismus

A Constitution is a vision for society, [...] a Constitution [...] is not simply a law. Look at the American Constitu- tion which has lasted over two hundred years. Pierre Elliott Trudeau (1992a, 46ff)

It would be a sin against the spirit, a sin against humanity, if we were to be torn asunder. Pierre Elliott Trudeau (1993, 242)

Es ist sehr viel geschrieben worden über Pierre Elliott Trudeau, von 1968 bis 1984 – mit Ausnahme eines kurzen konservativen Interregnums unter Joe Clark – Premiermi- nister Kanadas. Wie kaum eine andere Person hat er Kanada seine Spuren hinterlassen: Im Dezember 1999 wurde er zum »top Canadian newsmaker of the 20th century« gewählt.1 Das öffentliche Leben in Kanada hatte Trudeau in zweierlei Hinsicht erheblich be- einflußt. Zum einen etablierte er einen völlig neuen politischen Stil in Kanada. Trudeau war nicht wie seine Vorgänger pragmatischer Politiker, der auf kurzfristige politische Kompromisse orientiert war. Seiner Politik lag ein festgefügtes politisches Programm mit weitreichenden Zielen nicht nur in der Verfassungs-, sondern auch in der Sozial- und Wirtschaftspolitik zugrunde, das er teilweise auch gegen erheblichen Widerstand aus den Reihen seiner eigenen Liberals rigoros durchsetzte. Er war der erste kanadi- sche Premierminister, der als Ideenpolitiker bezeichnet werden kann.2 Darüber hinaus hatte er zum anderen auch eine schillernde Persönlichkeit, wel- che dem Klischee des hinterwäldlerischen, phantasielosen und langweiligen kanadi- schen Berufspolitikers erheblich widersprach; er machte in Kanada zeitweilig einen so großen Eindruck, daß man von einer sprach. In den Worten der sonst

1Siehe http://www.canoe.ca/CANOE2000/politics_8.html, Stand September 2003 2»I was fighting to have my ideas triumph, not those of my adversaries« charakterisierte sich Trudeau in seiner Autobiographie (Trudeau 1993, 283). »Make no mistake«, so schrieb er rückblickend, »we were an ideological government - ideological in the sense that we were motivated by an overarching framework of purpose« (Axworthy und Trudeau 1992a, 4). Zu Trudeau als Ideenpolitiker siehe Thunert (1992, 45f)).

75 zurückhaltend formulierenden Encyclopaedia Britannica war Trudeau ein »charming, flamboyant, charismatic, and cosmopolitan leader who brought glamour and excite- ment to Canadian politics while overseeing a number of the most momentous changes in the country in the latter half of the 20th century.« Trudeau war 1919 geboren worden und entstammte einer sehr vermögenden bilin- gualen Montréaler Familie. Seine Mutter stammte aus Schottland, sein Vater, der ein sehr erfolgreicher Unternehmer war, aus Frankreich. In der Familie Trudeau wurde gleichermaßen sowohl Englisch als auch Französisch gesprochen, so daß er mühelos zwischen beiden Sprachen wechseln konnte (vgl. Trudeau 1993, 17).3 Trudeau machte zeitlebens keinen Hehl aus seiner Herkunft und repräsentierte das kosmopolitische und extravagante Leben der Montréaler Oberschicht. Das Geld seiner Familie investierte er in einen zwar kultivierten, aber auch rebellischen und aufwendigen Lebensstil: »He wore a leather coat; he drove a Mercedes sports car; he dated blondes«, so sein Bio- graph Christiano (1994, 87). Sein Leben lang heftete ihm das Image eines Playboys an.4 Trotz seines Images als Playboy war Trudeau aber auch durch seine profunde und sehr weitreichende Bildung bekannt. Er war mit den geistigen Strömungen in Kanada bestens vertraut. In zahlreichen Auslandsaufenthalten hatte er seine Bildung auch weit über den kanadischen Horizont hinaus erweitert. Erste prägende Bildungserlebnisse hatte Trudeau als Jesuitenzögling in Montréal gemacht. Dort hatte er klassische Sprachen erlernt und sich intensiv mit den Werken Jacques Maritains und Emmanuel Mouniers auseinandergesetzt. Deren Philosophie des Personalismus, welche die Autonomie der Person betont, übten einen großen Ein- fluß auf ihn aus (vgl. Trudeau (1993, 40). Aus seiner Zeit im Jesuitenkolleg blieb Tru- deau eine gewisse Spiritualität und Bekenntnis zum katholischen Glauben. Sein Leben lang bezeichnete er sich als gläubiger Katholik, wobei er immer bemüht war, darauf hinzuweisen, daß ihn dies keineswegs devot gemacht habe (vgl. Trudeau 1968h, 96).5

3Trudeau wurde auf den Namen Joseph Philipe Pierre Ives Elliotte getauft, bevorzugte jedoch immer die Kurzform Pierre Elliott (ohne den Buchstaben »e«), um seine Verwurzelung sowohl in der anglopho- nen als auch in der frankophonen Kultur Kanadas anzuzeigen (vgl. American Encyclopedia, New York 1972). 4Auch während seiner Zeit als Premierminister änderte sich sein Lebensstil nicht. Zu seiner Ernen- nung als Premierminister fuhr er 1972 mit seinem Sportwagen. Sein Eheleben mit der fast 30 Jahre jüngeren Margaret Sinclair, die er beim Surfen in der Karibik kennengelernt und 1971 geheiratet hatte, erweckte das Interesse der Öffentlichkeit und des internationalen Jet Sets. Seine Ehe erweckte vor allem durch zahlreiche Krisen und Seitensprünge das Interesse der Öffentlichkeit. Seiner Frau wurden Eska- paden mit Ted Kennedy und den Rolling Stones zugeschrieben (vgl. Vastel 2000, 225). Trudeau selbst wurde unter anderem eine Affäre mit Barbra Streisand nachgesagt. Zur Biographie Trudeaus siehe auch seine schon erwähnte Autobiographie Memoirs von 1993 sowie die Biographie von Christiano (1994). 5Trudeau bezeichnete sich auch als »anti-cléricaliste« (Trudeau 1968a, vi) und er kämpfte auch für die Trennung von Kirche und Staat. Zu seinen religiösen Einstellungen siehe seine Schrift Je suis croyant (Trudeau 1996a).

76 In Montreal als Jurist ausgebildet, wo er sich auf Verfassungsrecht spezialisierte, war Trudeau 1944 kurz als Rechtsanwalt tätig gewesen, hatte dann aber seine Studien als Postgraduierter in Harvard, Paris und an der London School of Economics fortge- setzt. Neben Rechtswissenschaften studierte er an diesen Universitäten auch Polito- logie, Ökonomie und Soziologie, was ihn nach Meinung seines Biographen Saywell (1968, viii) auch zum kompetenten Sozialwissenschaftler werden ließ. An der London School of Economics war er Schüler von Harold J. Laski, der, so Trudeaus Biograph Vastel, aus ihm einen Linksintellektuellen gemacht habe (vgl. Vastel 2000, 59). Tru- deau erwarb u. a. umfangreichere Kenntnisse über das politische Denken von T. H. Green. Er wurde aber auch von Gedanken des Fabianismus beeinflußt. Während sei- ner Pariser Studienzeit beschäftigte sich Trudeau mit französischen Existentialismus, v. a. mit der Philosophie Bergsons (vgl. Trudeau 1993). Vor, während und nach sei- ner Studienzeit hatte Trudeau zahlreiche Reisen im In- und Ausland unternommen.6 1960 erhielt Trudeau eine Professur für Verfassungsrecht an der Université Laval in Montréal. Politisch tätig war Trudeau erstmals in den 1950er Jahren geworden, als er begann, sich in der Gewerkschaftsbewegung Quebecs zu engagieren. Seine damalige politi- sche Position ist zwischen den politischen Fronten einzuordnen, die Quebec zu jener Zeit prägten: er lehnte sowohl das Regime der konservativen Partei unter Duplessis als auch die Politik der liberalen Partei Quebecs ab. Duplessis warf er vor, politische Frei- heit und Wohlstand in Quebec einem oppressiven klerikalen Nationalismus zu opfern. Trudeau setzte sich für die Liberalisierung der Provinz und für eine an sozialistischen Idealen orientierte Sozial- und Wirtschaftspolitik ein. Nach dem Ende des Regimes Duplessis richtete sich seine Kritik aber auch gegen die liberalen Regierungen Lesage. Zwar begrüßte er deren Bemühungen, Quebec zu modernisieren und zu liberalisieren. Er begrüßte auch, daß sich die Liberalen darum bemühten, die französische Sprache zu fördern und den Einfluß des französischen Elementes in Quebec zu vergrößern. Die durch die neue Regierung ab 1962 verfolgte Politik des maître chez nous kritisierte er jedoch scharf. Für ihn stand diese Politik in der Tradition des kleingeistigen und oppressiven Nationalismus Duplessisscher Prägung. Es erfüllte ihn mit Sorge, daß das Klima in der Provinz immer nationalistischer wurde und an den Universitäten offen für Separatismus plädiert wurde (vgl. Trudeau 1977a, 36). In bisweilen sehr polemischen

6Unter dem Vorwand, für eine Dissertation über Marxismus und Christentum zu forschen, hatte Tru- deau etwa nach seiner Studienzeit eine über ein Jahr dauernde Reise als Rucksacktourist unternommen, welche ihn unter großen Gefahren und Abenteuern u.a. in das vom Krieg zerstörte Deutschland, nach Osteuropa, in die Sowjetunion, Palästina, Indien, Südostasien und China führte. Trudeau war einer der wenigen Politiker, welche die Welt schon kannten, bevor sie Staatsmann geworden waren. Von frühester Jugend an hatte er auch ausgiebige einsame Kanutouren im kanadischen Outback unternommen, was er bis in sein hohes Alter hinein beibehielt. Seine Erfahrungen schilderte er anschaulich in seinem Essay L’ascétisme en canot (Trudeau 1996b).

77 Essays in der Zeitschrift cité libre, welche er 1950 mit einigen Freunden gegründet hatte, warnte er vor den Entwicklungen in Quebec. Da er davon überzeugt war, daß eine Verbesserung der Situation in Quebec nur er- reicht werden könnte, wenn sich an der kanadischen Bundespolitik etwas ändere, ent- schied sich Trudeau 1965 dazu, der liberalen Bundespartei Kanadas beizutreten und das Angebot anzunehmen, für die Liberalen bei der kanadischen Unterhauswahl für einen Wahlkreis in Montréal zu kandidieren. Er ging davon aus, daß den separatisti- schen Bestrebungen in Quebec am besten durch eine Erhöhung der Präsenz des franko- kanadischen Elementes auf Bundesebene entgegengewirkt werden könnte. Nachdem Trudeau bei den kanadischen Unterhauswahlen von 1965 einen Parlamentssitz errun- gen hatte, setzte er sich im Unterhaus dafür ein, daß die Rechte der Frankokanadier, wie sie ihnen in der Verfassung von 1867 garantiert worden waren, wieder mehr Be- achtung zu schenken. Trudeau machte in Ottawa sehr schnell Karriere. Noch 1965 wurde er zum Staats- minister ernannt, 1967 zum Justizminister. Als Justizminister wurde er zunächst durch die Legalisierung der Homosexualität und die Liberalisierung des Scheidungsrechts bekannt,7 hatte sich aber zusätzlich auch durch eine Reihe von Initiativen zur Stär- kung des französischen Elementes auf der Bundesebene hervorgetan. Nachdem Tru- deau 1968 Nachfolger von Premierminister Pearson geworden war bezeichnete er es sofort als sein größtes Ziel, Frankokanada für den Bund zurückzugewinnen und die Einheit Kanadas zu stärken. Dies sollte nicht mehr nur durch die Durchsetzung der Bestimmungen der kanadischen Verfassung von 1867 erreicht werden. Trudeau streb- te eine Totalrevision der Verfassung an. Die Stellung Frankokanadas innerhalb der ka- nadischen Union sollte grundsätzlich neu bestimmt werden. Kern seiner Verfassungs- pläne war es, die wesentlichen Prinzipien des US-amerikanischen Konstitutionalismus nach Kanada zu übertragen und somit die Einheit des Landes zu sichern. In diesem Kapitel soll die Verfassungspolitik Trudeaus von ihren Anfängen bis hin zur Verabschiedung der neuen kanadischen Verfassung im Jahr 1982 dargestellt werden. Es soll herausgearbeitet werden, wie Trudeau das britisch-kanadische Ver- fassungserbe mit den wesentlichen Ideen des US-amerikanischen Konstitutionalismus verband und einen neuen liberalen Konstitutionalismus entwickelte, der für das Pro- blem der deep diversity Lösungen vorsah, die sich sowohl vom kanadischen Konsti- tutionalismus von 1867 als auch vom US-amerikanischen Konstitutionalismus unter- scheiden. Zunächst werde ich zeigen, daß Trudeau ursprünglich eine ausgesprochen verfas- sungskonservative Position eingenommen hatte und der Ideenwelt der US-amerikani- schen Verfassung ablehnend gegenüberstand. Die Kenntnis seiner frühen Position zur

7Besonders bekannt wurde Trudeau durch seinen Ausspruch, daß der Staat in den Schlafzimmern der Nation nichts zu suchen habe.

78 Verfassungsfrage ist wichtig, da hier die Grundlagen seiner liberalen Kulturhermeneu- tik offensichtlich werden, die dann später für seine Verfassungspolitik prägend werden sollten (Abschnitt 3.1). Vor diesem Hintergrund soll dann Trudeaus neue Verfassungsvision für Kanada von ihren Anfängen 1967 bis hin zu ihren Auswirkungen auf die Verfassung von 1982 dargestellt werden (Abschnitt 3.2). Gesondert gehe ich danach auf die Stellung der kanadischen Ureinwohner in Trude- aus Verfassungsvision ein. Zum ersten Mal in der kanadischen Geschichte versuchte mit Trudeau ein Premierminister, die Ureinwohner in die kanadische Verfassung zu in- tegrieren. Die Ureinwohnerpolitik wird hier gesondert behandelt, da in ihr zum einen die Grundprinzipien der Verfassungsvision Trudeaus besonders deutlich werden. Zum anderen ist seine Ureinwohnerpolitik auch deshalb interessant, weil hier eine nicht- europäische Kultur in den Konstitutionalismus integriert werden sollte. Für Trudeaus liberale Kulturhermeneutik stellten die Ureinwohner eine besondere Herausforderung dar (Abschnitt 3.3). Bei der Darstellung der Verfassungsvision Trudeaus beziehe ich mich neben den von Trudeaus Regierungen vorgelegten Verfassungsentwürfen und der Verfassung von 1982 hauptsächlich auf die zahlreichen politischen Schriften, mit denen Trudeau seine Verfassungspläne publizistisch vorangetrieben hatte.8

3.1 Trudeaus frühe verfassungskonservative Position: Die Verfassung als empirisch ausgerichtetes Regelwerk

La première loi de la politique, c’est de partir des choses données. Pierre Elliot Trudeau (1968g, 14)

Kennzeichnend für Trudeaus politisches Wirken in der Zeit zwischen 1950 und 1967 war eine große Skepsis davor, die Verfassung von 1867 zu verändern. Trudeau bekann- te sich zu ihr als einem an britischen Prinzipien orientierten Dokument und setzte sich für die durch sie getroffenen Regelungen ein. Die Verfassung war ihm als liberale Ver-

8Mit dieser Analyse wird etliches an der Komplexität des Trudeauschen Denkens ausgeklammert und die Gehalte herausgestellt, die besonders dazu geeignet sind, die Anverwandlung der US-amerikani- schen Verfassungsidee zu beleuchten. Die Position Trudeaus herauszuarbeiten ist nicht ganz einfach, da sich in ihm ein Wissenschaftler und politischer Essayist mit einem Politiker, der praktische Kompromisse schließen mußte, vereint. Vincent LaSelva (1996, 66) spricht etwa von vier verschiedenen Trudeaus. Es ist nicht immer möglich, Trudeaus den jeweiligen politischen Umständen Kanadas angepaßten strategi- schen Überlegungen von seinen »eigentlichen« Gedanken zu trennen. Um seine »eigentliche« Ideenpoli- tik einigermaßen verläßlich fassen zu können, habe ich mich auf eine Analyse der politischen Schriften und Regierungsdokumente konzentriert, die aus einer Zeit stammen, in der Trudeau eindeutig die politi- sche Initiative hatte — sei es als polemisch angreifender Autor oder als Politiker. Dies umfaßt zunächst seine politischen Schriften zwischen 1950 und 1968 und die ersten Verfassungsentwürfe der Regierung Trudeau zwischen 1969 und 1981.

79 fassung Garant gegen die Rückständigkeit Quebecs und die Kollektivierungsversuche des Regimes Duplessis und als Trägerin des fortschrittlichen englischen Geistes Ga- rantie für individuelle Rechte in Quebec. Sie bot für ihn auch die Lösung der tiefgrei- fenden Konflikte zwischen dem anglophonen und dem frankophonen Teil Kanadas, indem sie die drängenden Fragen der Zeit aufgenommen und durch ein realistisches Programm des nation building zu integrieren versucht hatte:

[...] [I]n a technical sense [. . . ] Canada, like every other nation, was not born in a vacuum, but had to recognize the historical as well as all other data which surrounded its birth. I suppose we can safely assume that the men who drew up the terms of the Canadian federal compromise had heard something of the ideology of nationalism which had been spreading revolutions for seventy-five years. It is likely too that they knew about the Civil War in the United States, the rebellions of 1837-8 in Canada, the Annexation Manifesto, and the unsatisfactory results of double majorities. Certainly they assessed the centrifugal forces that the constitution would have to overcome if the Canadian state was to be a durable one: first, the linguistic and other cultural differences between the two major founding groups, and secondly the attraction of regionalisms, which were not likely to decrease in a country the size of Canada. (Trudeau 1968c, 197)

Dies verrät deutlich den sehr instrumentalistisch eingefärbten Verfassungsbegriff, den Trudeau zu jener Zeit hatte. Für ihn war die Verfassung von 1867 nichts mehr als ein ausgesprochen gelungener pragmatischer Versuch, die Probleme Kanadas an- zugehen und einer Lösung zuzuführen. Er glaubte nicht an große, abstrakte politische Prinzipien, wie sie in der Verfassung der USA angelegt sind, schon gar nicht daran, daß sich damit die spezifischen und mannigfachen Probleme, mit denen Kanada kon- frontiert war, lösen lassen könnten. Weder befürwortete er eine Bill of Rights, noch Volkssouveränität. Self-government und representative government bedeuteten für ihn keinesfalls, daß das Volk souverän ist. Souveränität war für ihn nicht Sache des Volkes, sondern Sache von Regierungen. Der kanadische Föderalismus trenne, wie er lobend anmerkte, »l’exercice de la souveraineté entre les divers ordres de gouvernement, et ne décerne à aucun d’eux les pleins pouvoirs sur [sic!] les citoyens« (Trudeau 1968a, VIII). Von der Idee einer Bill of Rights nach US-amerikanischen Vorbild findet sich in den frühen Schriften Trudeaus ebenfalls nichts. Die Artikel aus den Jahren zwischen 1950 und 1967, in denen sich Trudeau mit der politischen Situation in Kanada aus- einandersetzte, betonen zwar an vielen Stellen die Rechte des Individuums gegenüber dem Staat und gegenüber ethnischen und nationalen Gruppen. Was man tun könne, um individuelle Rechte zu verteidigen, ist der zentrale Gegenstand seiner Analysen und seiner Argumentationen. Hauptsächlicher Referenzpunkt für seine Argumente sind in diesen Artikeln aber keinesfalls die USA und US-amerikanische politische Denker. Trudeau sieht sich eher in der Tradition britischer liberaler Denker: Er zitiert Acton und Durham und es ist für ihn die britische Verfassungsidee, mit der man am ehesten individuelle Rechte schützen könne. Die in der britischen Verfassungsidee und im bri-

80 tischen Liberalismus verwurzelte Idee individueller Rechte, moduliert durch das Su- premat des Parlamentes, hielt er dem grundrechtsfixierten US-amerikanischen Kons- titutionalismus für überlegen. Wie auch die Väter der Verfassung von 1867 war er ein Freund pragmatischen Regierens. Seine Präferenz für die überkommene britische Verfassungsidee und seine Skepsis gegenüber der US-amerikanischen Verfassungsidee werden an folgender Stelle aus einem seiner Artikel aus den frühen 1960er Jahren ganz besonders deutlich:

[. . . ] I am inclined to believe that the authors of the Canadian federation arrived at as wise a compromise and drew up as sensible a constitution as any group of men anywhere could have done. Reading that document today, one is struck by its absence of principles, ideals, or other frills; even the regional safeguards and minority guarantees are pragmatically presented, here and there, rather than proclaimed as a thrilling bill of rights. It has been said that the binding force of the United States of America was the idea of liberty, and certainly none of the relevant constitutional documents let us forget it. By comparison, the Canadian nation seems founded on the common sense of empirical politicians who had wanted to establish some law and order over a disjoined half-continent. (Trudeau 1968c, 197)

An der ungewöhnlichen Kleinschreibung »bill of rights« ist deutlich zu erkennen, für wie gering er die Bedeutung einer Grundrechtscharter zu jener Zeit achtete.9 So- wohl die im British North America Act festgelegten Sprachrechte als auch den durch diese Verfassung implementierten Föderalismus hielt Trudeau für instrumentelle Re- gelungen, die prinzipiell hervorragend dafür geeignet waren, den Konflikt zwischen den anglophonen und frankophonen Kanadiern zu begegnen. Die Sprachrechte, wie sie in Artikel 133 des British North America Act angelegt sind, waren für Trudeau Ausdruck einer klugen Anpassung an die konkreten Begeben- heiten in Kanada. Er betrachtete die Sprachrechte aus einer realpolitischen Perspekti- ve: sie sind für ihn Reaktion auf die Tatsache, daß Frankokanada Kanada zerbrechen könnte, wenn man seinen Wünschen nicht entgegenkommt. »En termes de real poli- tik«, so schrieb er, »ce qui fait l’égalité de l’anglais et du français au Canada, c’est que chacun des deux groupes linguistiques a le pouvoir réel de défaire le pays.« (Trudeau 1968g, 38) An den Sprachrechten lobte er besonders, daß sie nicht als kollektive Rech- te, sondern als individuelle Rechte formuliert sind. Die Initiative bleibe somit beim Individuum. Die Sprachrechte dienten nur dazu, den Wettkampf zwischen Anglopho- nen und Frankophonen fair zu gestalten und Chancengleichheit zu verwirklichen. Sie vereinten Liberalismus und Individualismus mit dem realpolitisch notwendigen An- erkennen einer kulturellen Diversivität (vgl. Trudeau 1968g, 54). Mit dem Verzicht

9Die Kleinschreibung »bill of rights« findet sich auch noch an anderer Stelle, im 1961 erschienen Artikel The Practice and Theory of Federalism, in welchem Trudeau sich auch ähnlich positiv über den British North America Act äußert (Trudeau 1968j, 149).

81 auf kollektive Rechte werde verhindert, daß Sprache und Kultur »an sich« gefördert werden und eine sterile »hothouse culture« entstehe (vgl. Trudeau 1968g, 28f). Ähnlich positiv würdigte er den durch die Verfassung angelegten Föderalismus. Tru- deau sah in der föderalen Ordnung Kanadas zwar nicht so sehr einen Gegenentwurf zur föderalen Ordnung der USA, wie es die kanadischen Gründungsväter getan hatten. Föderalismus war für ihn eine politische Organisationsform, die ausgezeichnet dafür geeignet ist, »counterweights« (Trudeau 1968d, xiii) zu schaffen und damit der Gefahr vorzubeugen, daß individuelle Rechte verletzt werden. Den Föderalismus der USA lobte er als einen wertvollen Beitrag zum Schutz individueller Rechte im Rahmen der checks and balances. In der Verfassung von 1867 sah er eine gelungene Mischung zwischen dem britischen Parlamentarismus und der amerikanischen Demokratie (vgl. Trudeau 1968a, ix). Sein Verständnis des Föderalismus war jedoch nicht so sehr grund- rechtsfixiert wie in den USA. Er hob stark auf die Funktion des kanadischen Födera- lismus ab, für eine Balance zwischen anglophonen und frankophonen Kanadiern zu sorgen. Er äußerte sich positiv darüber, daß es mit Quebec eine Provinz in Kanada gibt, in der die Frankophonen eine Mehrheit stellen (vgl. Trudeau 1968j, 131). Er sah diese Anerkennung aber in einem engen Zusammenhang mit der Realisierung eines guten Regierens und damit der Verwirklichung einer liberalen Gesellschaftsordnung: die Bedeutung der Provinz Quebec bestehe hauptsächlich darin, daß in ihr die fran- kophonen Kanadier self-government erlernen können. Der kanadische Föderalismus etablierte für ihn keine höhere Ordnung. Zwar sah er in ihm ein »outil génial pour façonner la civilisation de demain« (Trudeau 1968e, 187f) und eine Alternative zu den USA. »Mieux que le melting-pot américain,« so schreibt er, »le Canada peut servir d’exemple à tous ces nouveaux Etats africains et asiatiques [. . . ] qui devront apprend- re à gouverner dans la justice et la liberté leurs populations polyethniques.« (Trudeau 1968e, 187f) Aber der kanadische Föderalismus bleibt für ihn auf die konkrete Er- fahrungswelt bezogen, er ist eine »expérience formidable« (Trudeau 1968e, 187f) und zwar sowohl für die Anglo- als auch die Frankokanadier. Zusammenfassend zog er folgenden Schluß:

En substance [. . . ] la Constitution canadienne créait un pays où les Canadiens français pouvaient rivaliser à chance à peu près égale avec les Canadiens anglais; les uns comme les autres étaient invités à considérer l’ensemble du territoire canadien comme leur patrie et leur champ d’activité. (Trudeau 1968g, 54f)

Im folgenden werde ich zunächst zeigen, worin Trudeau die Gründe für die kana- dische Verfassungskrise sah (Abschnitt 3.1.1). Danach werde ich auf die spezifische Kulturhermeneutik eingehen, wie sie aus seiner Verfassungsinterpretation hervorgeht (Abschnitt 3.1.2).

82 3.1.1 Die Krise nach 1867 als Folge der Nichteinhaltung der Verfassung

Die Krise in Kanada lag für Trudeau nicht an der Fehlerhaftigkeit der Verfassung von 1867, sondern ganz im Gegenteil daran, daß man sich nicht an die durch sie getroffe- nen Bestimmungen gehalten habe. Kanada sei von den anglophonen Kanadiern als ein ethnisch exklusiver national state (vgl. Trudeau 1968c) oder, wie es in französischen Schriften Trudeaus heißt, als ein Etat-nation (vgl. Trudeau 1968e) betrachtet und die Verfassung dadurch untergraben worden. Den Versuch der Anglokanadier, einen ge- samtkanadischen Nationalismus mit britischer Symbolik, also einen britischen natio- nal state gegen das frankophone Kanada aufzubauen, habe das Land in einem »emotio- nal sop« ertränkt (Trudeau 1968c, 200), welcher die Existenz eines Drittels der Nation sträflich verdrängt habe. Frankokanadier seien über eine lange Zeit hinweg nicht als gleichberechtigte Kanadier behandelt worden. Um seine Kritik und die weitreichenden Implikationen, welche er daraus zieht, ganz verstehen zu können, aber auch, um seine eigene Positionen besser kritisieren zu können, müssen wir uns kurz einen Überblick über die verschiedenen Nationenbegriffe Trudeaus verschaffen. Das Wort »Nation« habe, so Trudeau, ursprünglich überhaupt keine ethnischen Ko- notationen gehabt. Es sei damit ursprünglich einfach das Gebiet bezeichnet worden, das von einem Monarchen beherrscht war; die Nation umfaßte einfach die Gruppe von Menschen, die auf dem Territorium eines Staates lebte, unabhängig von deren Sprache oder Herkunft. Er nennt eine solche Nation deshalb territorial state. Das ent- scheidende Merkmal, welches eine Gruppe von Menschen zu einer Nation machte, war ausschließlich der Tatsache geschuldet, daß sie derselben Staatlichkeit unterlagen. Die geographische Grenze des Herrschaftsanspruchs eines Monarchen oder Fürsten definierte die Bevölkerung und damit eine Nation. Es war nicht die Bevölkerung, die entschied, von welchen Staaten sie regiert sein wollte, sondern es waren die Monar- chen, welche durch Kriege oder durch politische Arrangements die Gebiete der Staa- ten festlegten (vgl. Trudeau 1968c, 183). In der politischen Theorie des 17. und 18. Jahrhunderts wurden, so Trudeau, lange Zeit Territorium und Staat und die daraus re- sultierenden Völkerschaften als gegebene Daten akzeptiert und nicht weiter auf ihre Legitimität hin hinterfragt. Es wurde nur darüber diskutiert, wie in territorial states regiert werden sollten, nicht aber darüber, welche Bevölkerung in welchem Staat le- ben sollte. Die politischen Theorien von John Locke und Jean-Jacques Rousseau sind für ihn Ausdruck dieses Denkens. »Their philosophies«, so schrieb er, »were mainly concerned with discovering the foundations of authority over a given territory and the sources of obedience of a given population.« (Trudeau 1968c, 183) Die Glorious Re- volution in England stellte z. B. nicht die Legitimität der englischen Staatlichkeit und des Gebietes, auf welches sie sich erstreckte, in Frage, sondern nur die Legitimität der Regierung des englischen Staates.

83 Nach dem Zusammenbruch der Monarchien oder der Demokratisierung derselben ging dann aus dem territorial state der nation state hervor. Dieser wurde, so Trudeau, nun nicht mehr durch die Grenzen eines Staates konstituiert, sondern vielmehr durch eine Gruppe von Menschen, die als souveräne Körperschaft selbst einen Staat und ein Territorium kontrollierte. Die Nation konstituierte sich nicht mehr durch Territorium, sondern durch den Willen des Volkes zur Zusammengehörigkeit, zu einer gemeinsa- men Staatlichkeit und zu einem gemeinsamen Territorium. Als ein Beispiel für den Übergang von einem territorial state zu einem nation state nennt Trudeau die USA gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Die Entwicklungen in den USA nach 1776, so be- hauptet er, waren nicht nur insofern revolutionär, als dadurch die Regierung eines be- stehenden territorial state durch eine andere, bessere Regierung ersetzt werden sollte. Sie waren dies auch deshalb, da im revolutionären Prozeß eine Bevölkerung ihre Zu- gehörigkeit zu einem territorial state, wie er durch die britische Monarchie definiert worden war, überhaupt verneinte. Die Unabhängigkeitserklärung der USA bringt eine solche Aufkündigung der Gefolgschaft zum Ausdruck. Die Theorie des government by consent selbst habe dadurch eine radikal neue Bedeutung erhalten:

Since sovereignty belonged to the people, it appeared to follow that any given body of people could at will transfer their allegiance from one existing state to another, or indeed to a completely new state of their own creation. In other words, the consent of the population was required not merely for a social con- tract, which was to be the foundation of civil society, or for a choice of respons- ible rulers, which was the essence of self-government; consent was also required for adherence to one territorial state rather than to another [. . . ]. (Trudeau 1968c, 184)

Die Idee des nation state entsprang für Trudeau quasi aus einem spill over aus der Theorie des Sozialvertrages. Der Übergang vom territorial state zum nation state konnte aus drei Gründen in den USA besonders leicht erfolgen: erstens habe sich hier die Idee der Legitimierung der Regierungsgewalt über Konsens früh durchgesetzt, zweitens sei die Bevölkerung einem modernen Zentralstaat untergeordnet gewesen, dessen Zentrum weit entfernt war, und drittens sei ein einigermaßen klar abgegrenztes Territorium vorhanden gewesen, welches der neuen Staatlichkeit als Grundlage dienen konnte (vgl. Trudeau 1968c, 184). Der national state, den Trudeau als so schädlich ansieht, ist nun erst die Entwick- lungsstufe, die zeitlich dem nation state folgt und in diesen eine ethnische Komponente einführt; er ist ein nation state, dem noch ein »ethnic flavour« (Trudeau 1968c, 185) hinzugefügt wurde. Der Übergang vom nation state zum national state sei sehr leicht erfolgt, da es dem nation state an Prinzipien mangele, an die sich ein Zusammengehö- rigkeitsgefühl binden könnte. Der nation state sei als bloße Willensgemeinschaft ab- strakt und es fehle ihm an konkreten, auch gesellschaftlich und historisch verankerten Bezugspunkten; es sei naheliegend, diese Leerstelle durch Ethnizität, durch Sprache,

84 Sitten und Gebräuche auszufüllen. Genau dies sei dann durch die Philosophie Johann Gottlieb Fichtes geleistet worden; die nationale Bewegung im deutschen Sprachraum war dann weltweit Beispiel und Vorbild für die Entstehung neuer national states (vgl. Trudeau 1968c, 186). Für Trudeau ist der Begriff »Nation« übrigens auch völlig ohne Staatlichkeit und nur in Bezug auf Ethnizität denkbar, »as when we speak of the Scottish nation, or the Jewish nation«. Er bezeichnet diese als eine nation in the sociological sense (Trudeau 1968c, 188). Häufig meint Trudeau eine solche nation in the sociological sense wenn er von einem people oder peuple spricht; auch die Begriffe ethnic group oder ethno- cultural group verwendet er meist in diesem Sinne. Nations in the sociological sense begriff er hauptsächlich als Sprachgruppen. Wenn eine nation in the sociological sense einen Staat erhält und kontrolliert entsteht ein national state. Damit ergeben sich vier Nationenbegriffe, die sich im folgendem Schaubild wie folgt systematisieren lassen:

Volk »besitzt« einen Staat ja nein Volk konsti- ja National state, Etat- Nation in the socio- tuiert sich nation logical sense (people, über ethni- ethnic group) sche Kriteri- nein Nation state Territorial state (Nati- en on als Herrschaftsver- band)

Unter den Begriffen Etat-nation und national state verstand Trudeau das Gleiche; die Terminologie seiner auf englisch publizierten Texte stimmte nicht immer mit der seiner französischen Texte überein. Den national state oder Etat-nation lehnte Trudeau im wesentlichen aus zwei Gründen ab: Zum einen aus ganz grundsätzlichen philoso- phischen Erwägungen. »[J]’estime erronée sur le plan philosophique«, so schrieb er, »une définition de l’Etat fondée essentiellement sur des attributs ethniques: un tel Etat se dirige inévitablement vers l’intolérance« (Trudeau 1968g, 37). Wie auch Acton war Trudeau davon überzeugt, daß ein liberaler Staat nicht eine, sondern möglichst meh- rere Nationen umfassen und sich nicht zum Werkzeug einer einzigen machen sollte. In vielen seiner Artikel beruft er sich auf die wesentlichen politischen Thesen Actons und zitiert umfangreich aus dessen Schriften (vgl. v. a. Trudeau 1968e, 188). Zum anderen lehnte Trudeau den national state aber auch aus realpolitischen und strategischen Erwägungen ab: In einem Land wie Kanada, in dem zwei ethnische Gruppen fest verwurzelt sind und die Ideologie des Nationalismus präsent ist, könne ein solches Projekt nur scheitern. »Les jeux sont faits au Canada: il y a deux grou-

85 pes ethniques et linguistiques; chacun est trop fort, trop bien enraciné dans le passé et trop bien appuyé sur une culture-mère, pour pouvoir écraser l’autre.« (Trudeau 1968e, 187) Da die Franzosen zu stark waren konnte das Projekt der Briten, aus Kanada einen englischen Staat zu machen, langfristig nur in die Krise führen. Die rein britische Sym- bolik zeigende kanadische Flagge, die Exekution von Louis Riel (einem radikalen Kämpfer für die Sache Frankokanadas) und die auch auf Frankokanada ausgeweite- te Wehrpflicht während des Burenkrieges und während der beiden Weltkriege habe nur eine nationalistische Gegenreaktion bei den Frankophonen hervorgebracht (vgl. Trudeau 1968g, 11 und 55). Durch den Versuch, aus Kanada eine britischen national state zu machen seien die Frankokanadier dazu gezwungen worden, die dem britischen national state die Idee eines eigenen Etat-nation auf dem Territorium Quebecs entge- genzusetzen: »Counter-nationalist movements arose which quite logically argued that if Canada was to be the nation-state [i.e. national state] of the English-speaking Cana- dians, Quebec should be the nation-state of the French Canadians.« (Trudeau 1968c, 200) Es sei ein schwerer Fehler gewesen, daß es der anglophon dominierte Bund ver- säumt hatte, bei der Manitoba School Crisis und bei der später erfolgten Beschneidung der Rechte von Frankophonen in Ontario und New Brunswick sich für die Interessen der frankophonen Bürger einzusetzen und Bundesgesetze gegen die mehrheitlich an- glophonen Provinzen durchzusetzen (vgl. Trudeau 1968c, 199). Er kritisiert auch die extreme Unterrepräsentation frankophoner Kanadier bei der Bundesverwaltung und im Parlament (vgl. Trudeau 1968k, 117f). Die große Leistung der Verfassung von 1867 lag für Trudeau darin, daß sie Kana- da nicht als national state konzipiert habe, aber auch nicht versucht habe, die schon existierenden (und nicht mehr wegzudenkenden) Nationalismen zu unterdrücken. Die Lösung, welche die Verfassungsväter gefunden hatten, ist für ihn sehr elegant: man habe einfach den ethnischen Nationalismus von Staatlichkeit getrennt und Anglo- und Frankokanada jeweils nur als nations in the sociological sense anerkannt. Der Bri- tish North America Act etablierte, so Trudeau, einen multinationalen Staat, einen »Etat multi-national« , welcher der »idée martiale et auto-destructive d’Etat-nation« vorge- beugt habe und durch die »idée civilisatrice du pluralisme polyethnique« ersetzt habe (Trudeau 1968e, 174). Unter pluralisme polyethnique verstand er nicht Multikultura- lismus – zu diesem sollte er sich erst wenige Jahre später bekennen –, sondern nations in the sociological sense. Die Bezeichnung »Etat multi-national« ist etwas unglücklich gewählt, da man sie dahingehend mißverstehen könnte, als ob er in der Verfassungs- ordnung von 1867 eine Art Bündnis zwischen zwei Etat-nations sehen würde, welche relativ getrennt voneinander wären. Dem ist aber nicht so. Für Trudeau ist Kanada nach der Verfassung von 1867 ein Land, das zwar mehrere Nationen enthält, in seiner Staat- lichkeit aber nicht auf die self-determination einer Nation festgelegt ist, sondern nur seinen Bürgern bestimmte kulturelle Garantien gibt. Der kanadische Staat von 1867

86 ist für ihn national in der Weise, wie ein nation state oder auch ein territorial state national ist; er enthält zwar ethnische Nationen – nations in the sociological sense –, beruht aber nicht auf ihnen.10 Cartier habe einen solchen Etat multi-national realisie- ren wollen (vgl. Trudeau 1968e, 174). Das Kanada der Verfassung ist für Trudeau aber hauptsächlich Verwirklichung der politischen Theorie Lord Actons. Es waren für Trudeau nicht nur die anglophonen Kanadier, welche an der Krise in Kanada schuld waren. Die Frankokanadier hätten die Möglichkeiten, wie sie in der Verfassung von 1867 für sie gegeben waren, nicht genutzt. Der multinationale Staat, wie er durch die Verfassung von 1867 angelegt worden war, »a été, et reste, possible pour les Canadiens français« (Trudeau 1968e, 174). Man habe es aber vorgezogen, sich zurückzuziehen, anstatt sich dem Liberalismus zu öffnen und die eigene Positi- on in Gesamtkanada zu befördern und den multinationalen Staat einzufordern. Politik sei völlig einem regressiven nationalen Überlebenskampf untergeordnet und die Ide- en von Freiheit, Demokratie und der Entfaltung des Individuums einem geschlossenen Kollektivismus untergeordnet worden. Dies habe zu einen Niedergang der moralischen Standards geführt: »their civic sense was corrupted and they became political immo- ralists.« (Trudeau 1968k, 108) Trudeaus Ausführungen über das frankophone Kanada erinnern an die Darlegungen Lord Durhams; ihn zitiert er auch. Lord Durham habe, so Trudeau, ganz zu Recht fest- gestellt, daß der Rebellion in Lower Canada nicht ein Konflikt zwischen Regierung und Volk zugrunde gelegen habe, sondern ein Konflikt zwischen zwei Nationen (Trudeau 1968k, 105ff). Während sich etwa die britischen Siedler in Kanada in der Rebellion unter Mackenzie 1791 für das politisch fortschrittliche Recht auf self-government ein- gesetzt hätten, seien die Anhänger Papineaus in der Rebellion von 1837 hauptsächlich nur daran interessiert gewesen, self-determination zu erhalten. Kontrolle der Regie- rung sei für sie kein Akt des politischen Fortschritts gewesen, sondern nur Mittel zum Zweck, um die alten, ethnisch-national ausgerichteten Strukturen erhalten zu können: »They had but one desire–to survive as a nation; and it had become apparent that par- liamentary government might turn out to be a useful tool for that purpose.« (Trudeau 1968k, 105) Das Regime Duplessis war für Trudeau die Fortsetzung und nichts als die Per- fektionierung dieses rückständigen Nationalismus; er bezeichnete es als ein Regime von »political immoralists«. Er geißelte die Politik von Duplessis als »monolithisme idéologique« (Trudeau 1970a, 11f) und »doctrine clérico-nationale« (Trudeau 1970a, 20) und brachte diese mit einem oppressiven und rückständigen ethnisch-kulturellem

10Es war für Trudeau sehr wichtig, die nation in the sociological sense vom national state zu unter- scheiden. In dem Band The Essential Trudeau, der 1998 herausgegeben wurde und Trudeaus politische Äußerungen der letzten Jahrzehnte zusammenfaßt, fügte er mehrere Kommentare an, die auf diesen Un- terschied hinwiesen. Er hat Äußerungen über Nation in seinen Reden dort kursiv setzen lassen, wenn er die ethnische Komponente meinte.

87 Tribalismus und Nationalismus in Verbindung, welcher der Idee individueller Rechte und sozialer Gerechtigkeit diametral entgegengesetzt sei. Demokratie und individuel- le Rechte wurden, so kritisierte er, den Interessen des Klerus untergeordnet, welcher engstirnig auf die Wahrung eines kollektivistischen und anti-modernen, anti-liberalen Weltbildes drängte (vgl. Trudeau 1968k, 112ff). Wirtschaft und Fortschritt habe man den anglophonen Kreisen überlassen. Das Regime sei dabei so erfolgreich, daß selbst die besten Zeitungen sich wenig für »civil liberties« und noch weniger für Demokratie interessierten. Quebec stehe weit hinter dem restlichen Kanada zurück: »In 1958«, so schrieb er, »French Canadians must begin to learn democracy from scratch.« (Trudeau 1968k, 114).11 Die Rückwärtsgewandtheit und politische Unmoralität des Régimes Duplessis setz- ten sich für Trudeau auch während der Stillen Revolution fort. Lesages Nationalis- mus, der auf die Stärkung des französischen Elementes, auf soziale Reformen und die Nationalisierung der Provinz abzielte, wertete er als Fortführung der Duplessis- schen Strategie der Abgrenzung Quebecs von Fortschritt und Liberalisierung. Es gehe den Nationalisten gar nicht um den Schutz der französischen Sprache, sondern um die Ethnisierung und Ausgrenzung und um Karriereinteressen der Intellektuellen und Politiker. Diese, so Trudeau, würden die Sprachenfrage nur als Vehikel benutzen, um ihre eigene Karriere zu befördern und um die eigenen politischen Ansichten, die näm- lich sehr weit im rechten Lager anzusiedeln seien, zu vertuschen. In Quebec habe sich nach der Stillen Revolution überhaupt nichts geändert: »[. . . ] [L]es temps n’ont guère changé« (Trudeau 1968a, x), stellte er resignierend fest. Trudeau geißelte den Nationalismus der liberalen Reformer in Quebec sehr hart in einem bekannt gewordenen Artikel, der im April 1962 in cité libre erschienen war: La nouvelle trahison des clercs. Er spielte mit diesem Titel auf Julien Bendas große Abrechnung mit den Intellektuellen Frankreichs, La trahison des clercs, an; er zitierte Benda auch in der Einleitung des Artikels. Wie Benda an den Intellektuellen Frank- reichs kritisiert hatte, daß diese ewig gültige Ideen von Wahrheit und Gerechtigkeit wegen politischer Ziele verraten und angesichts der Bedrohung durch den deutschen Faschismus versagt hätten, so brandmarkt auch Trudeau die nationalistischen Intel- lektuellen Quebecs als Verräter an der Sache von Liberalismus, Freiheit und Demo- kratie. Diese gerierten sich zwar als progressiv und linksorientiert, wollten unter dem Vorwand von Reformen jedoch nur individuelle Rechte zugunsten kollektiver Rechte aufgeben, um für sich selbst auf Kosten anderer Positionen und Einfluß in einem neu- en, unabhängigen Quebec sichern zu können. Unvermeidlicherweise werde auch der Linksnationalist, der im Staat den Ausdruck einer ethnischen Gruppe sieht, individuel-

11Über Duplessis entsetzte sich Trudeau noch in seinen 1993 publizierten Memoiren (vgl. v. a. Tru- deau 1993, 61f).

88 le Rechte unterdrücken. Das nationalistische Quebec laufe Gefahr, zu einem totalitären Regime zu werden (vgl. v. a. Trudeau 1968e, 178). Noch schärfer kritisierte Trudeau die Linksnationalisten in seinem 1964 – also zwei Jahre nach Beginn der neuen Politik in Quebec – erschienenen Artikel Les séparati- stes: des contre-révolutionnaires. Die »liberalen« Nationalisten hätten, so schreibt er darin, einen »Wigwam-Komplex«, eine Angst vor den neuen Entwicklungen im 20. Jahrhundert. Sie seien hauptsächlich Kleinbürger, die sich zwar marxistisch und so- zialistisch gerierten, dabei aber nur auf den Vorteil achteten, den sie als Mitglieder der ethnischen Mehrheit in Quebec für sich ziehen könnten. Er rückte sie sogar in die Nähe des Nationalsozialismus; der Artikel schließt mit den Worten: »Le séparatis- me, une révolution? Mon oeil. Une contre-révolution; la contre-révolution nationale- socialiste.« (Trudeau 1968i, 227) Die Analyse Trudeaus unterschied sich – ganz abgesehen von ihrer Polemik – er- heblich von der George Grants. Was Trudeau an der Stillen Revolution bemängelt, ist nicht, daß sie alles verändert habe, sondern daß sich in Quebec wesentliche Din- ge Unter der Perspektive Trudeaus wäre George Grants Sorge um den Katholizismus zwar berechtigt, nicht aber seine Sorge, daß Quebec in den nordamerikanischen »Ein- heitsbrei« anglo-amerikanischer Kultur untergehen könnte. An die Stelle des kleri- kal geprägten Korporatismus tritt für Trudeau die Ethnonationalisierung. Eine liberale Ordnung ist mit kollektiven Rechten für Nationen nicht vereinbar. Seine Einstellung erinnert an die Modernisierungshypothese, wie sich auch vom US-amerikanischen li- beralen Mainstream verwendet wird (wenn dies auch nur auf die Verbindung von Na- tionalismus und Staatlichkeit zutrifft – inspiriert durch Acton hatte Trudeau ja nichts gegen die nation in the sociological sense). Wie auch die Modernisierungstheoretiker sieht er im Nationalismus ein Überbleibsel einer vergangenen, parochialen, geschlos- sene Gesellschaft. Sie ist daher illiberal. Dieser Interpretation des Nationalismus blieb Trudeau sein Leben lang treu. Claude Couture spricht von einer »interprétation cano- nique« (Couture 1996, 51).

Die Probleme in Kanada würden sich, so Trudeau, dann lösen lassen, wenn sowohl Anglo- als auch Frankokanadier ihre Ressentiments überwinden und das Angebot der Verfassung von 1867 zur friedlichen Zusammenarbeit nutzen würden. Was fehle, sei Wille zur Zusammenarbeit. Da die Nation, und hier bezieht sich Trudeau auf Ernest Renan, zu einem großen Teil eine Willensgemeinschaft sei,12 können auch mehrere Nationen, wenn bei ihnen nur der Wille dazu vorhanden sei, friedlich zusammenleben. Die Grundlage für eine solche Zusammenarbeit konnte für ihn nicht eine gesamtkana-

12»[...] [M]ore than language and culture, more than history and geography, even more than force and power,« so schrieb er, »the foundation of the nation is will.« (Trudeau 1968c, 187) Trudeau zitierte Renan an vielen Stellen (z.B. Trudeau 1968c, 191 ...) und (LaSelva 1996, 85).

89 dische Nationalität sein. Das könne nicht funktionieren, da dies nur die emotionalen Gehalte der britisch-kanadischen und frankokanadischen Nationalismen wecken wür- de und daher kontraproduktiv sei: »Any expenditure of emotional appeal (flags, pro- fessions of faith, calls to dignity, expressions of brotherly love)«, so schrieb er, »will only serve to justify similar appeals at the regional level, where they are just as like- ly to be effective.« Die Grundlage für den Zusammenhalt der kanadischen Föderation »cannot be emotion but must be reason.« (Trudeau 1968c, 203) Er ging davon aus, daß»cold, unemotional rationality can still save the ship.« (Trudeau 1968c, 203) »Unemotional rationality« ist für Trudeau ein Gegenbegriff zu den »frills« der Ver- fassung der USA. Erst nachdem er feststellte, daß diese »unemotional rationality« nicht ausreichen würde, um die Einheit Kanadas zu sichern, begannen sich seine An- sichten zu ändern. Bevor ich darauf zu sprechen komme sollen zunächst noch die Grundlagen für Trudeaus liberale Kulturhermeneutik dargelegt werden.

3.1.2 Nation und Individuum in Trudeaus liberaler Kulturhermeneutik

Da Trudeau den Kurs der nationalistischen Regierungen in Quebec so überaus heftig und polemisch kritisierte, entstand in Kanada häufig der Eindruck, als ob er kulturellen Gruppen gleichgültig gegenüberstehe und gegen den Erhalt einer frankokanadischen Nation in Kanada gewesen sei. Er wurde häufig als »English-Canada’s best friend« (so etwa Grant 1985) bezeichnet, der die spezifischen Bedürfnisse der Frankokanadi- er als Angehörige einer kulturellen Minderheitengruppe nicht berücksichtigt und die Frankokanadier an die Anglokanadier verraten habe. Seiner liberalen Gesellschafts- theorie wurde oft Atomismus und Insensibilität gegenüber den Belangen von kulturel- len Gruppen vorgeworfen; beispielhaft sei hier Peter Russells Standardwerk über die kanadische Verfassungsgeschichte zitiert:

[Trudeau’s liberal] ideology’s insistence on the primacy of individual rights was blind to the individual’s need for cultural security and respect, a need which may be particularly acute for those who feel their minority culture is threatened with extinction by a dominant culture. (Russell 1993, 80f)

Nach den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, daß diese Kritik, wie sie häufig an Anhängern liberaler Theorie geäußert wird, auf Pierre Elliott Trudeau keinesfalls zutrifft. Er hatte sich nicht nur intensiv mit kulturellen Fragestellungen auseinandergesetzt, sondern auch empfohlen, eine frankokanadische Nation in Kana- da anzuerkennen. Der multinationale Staat war für ihn nicht illiberal. Als Anhänger der politischen Theorie Lord Actons begrüßte er sogar das Faktum, daß es in Kanada zwei Nationen gab. Anerkennend sprach er von der frankokanadische Nation als einer der beiden founding groups der kanadischen Föderation (Trudeau 1968c, 197). Gegen Nation und Nationalismus hatte Trudeau nur soweit etwas einzuwenden, wie sie zu

90 Trägern staatlicher Ordnung gemacht werden sollten, so wie es die Nationalisten in Quebec anstrebten. Der erste Satz aus La nouvelle trahison des clercs lautet: »Ce n’est pas l’idée de nation qui est rétrograde, c’est l’idée que la nation doive nécessairement être souveraine.« (Trudeau 1968e, 161). In La nouvelle trahison des clercs schrieb er: »Si, dans ma conception, la nation était une anti-valeur, je ne me serait pas donné tant de mal à dénoncer une orientation qui conduit la nation canadienne-française à sa ruine.« (Trudeau 1968e, 186) Im Zusammenhang mit einer frankokanadischen Nation als nation in the sociologi- cal sense sprach er ganz wie Acton von der »superiority of the multinational society« (Trudeau 1998, 144). Für Trudeau war die Anerkennung einer frankokanadische Na- tion nicht nur deshalb notwendig, um das Funktionieren einer liberalen Ordnung in Kanada zu befördern. Darüber hinaus war er aber auch der Auffassung, daß das natio- nale Umfeld für die Entwicklung der Individuums eine maßgebliche Rolle spiele und für Frankokanadier die Anerkennung einer frankokanadischen Nation sehr bedeutsam sei. In seinem Artikel La nouvelle trahison des clercs reflektierte er über die Bedeu- tung der Nation für die individuelle Entwicklung. Seine Gedanken hinzu weisen über Lord Acton, Lord Durham und J. S. Mill hinaus und sind von der Philosophie des Personalismus beeinflußt: La nation est porteuse de valeurs certaines: un héritage culturel, des traditions communes, une conscience communautaire, une continuité historique, un en- semble des moeurs, toutes choses qui contribuent – au stage présent de l’évo- lution de l’humanité – au développement de la personnalité. Certes ces valeurs sont plus privées que publiques, plus introverties qu’extroverties, plus instinc- tives et sauvages qu’intelligentes et civilisées, plus narcissiques et passionnées que généreuses et raisonnées. Elle tiennent à un stade transitoire de l’histoire du monde. Mais elles sont là aujourd’hui, probablement utiles, et à tout événement conçues comme indispensables par toutes les collectivités nationales. (Trudeau 1968e, 186)

Dies war natürlich durchdrungen von Trudeaus Skepsis gegenüber dem Nationalis- mus und zeugt auch davon, daß er die Nation nur für eine vorübergehende Konstrukti- on hielt. Die Art und Weise, wie er über die spezielle Bedeutung der Provinz Quebec innerhalb der kanadischen Föderation sprach, läßt jedoch erkennen, daß er nicht davon ausging, daß Individuen ohne ein kulturelles Bezugsfeld leben können, wie es zur Zeit durch die Nation hergestellt werde. Die Provinz Quebec hatte für ihn die bedeuten- de Funktion, eine spezifische französisch geprägte Gesellschaftsordnung in Kanada aufrechtzuerhalten, und zwar nicht nur vorübergehend, sondern auch langfristig. In seinem Artikel Le Québec et le problème constitutionnel schrieb er zum Beispiel, daß »le Québec [...] aura toujours à accorder une attention et une protection particulières aux valeurs auxquelles tient la majorité de ses citoyens.« (Trudeau 1968g, 9, kursiv nicht im Original) Kanada sah er als Refugium für frankophone Bürger, damit die- se nicht in der »masse anglo-saxonne« in Nordamerika untergehen (Trudeau 1968e,

91 189). »Le citoyen du Québec, surtout s’il est francophone,« so schreibt er, »n’a rien à gagner sur le plan de la personnalité ou de la maturité politique en se laissant assimi- ler totalement dans un macrocosme continental ou semi-continental.« Es sei »du point de vue de l’équilibre psychique que de la responsabilité démocratique« unvermeidlich »de fortifier les attaches locales et de préserver des Etats régionaux le plus possible à l’échelle humaine.« (Trudeau 1968g, 45)

3.2 Trudeaus Quebecpolitik im Zeichen von Bill of Rights und Volkssouveränität

Amateur revolutionaries could do worse than take some advice from the professionals who declared Independ- ence on July 4, 1776. Pierre Elliott Trudeau (1996d, 216)

In den ersten Jahren als Politiker hatte Trudeau seine verfassungskonservativen Auf- fassungen beibehalten. Er hatte in seiner Funktion als Justizminister den damaligen Premierminister Lester Pearson sogar davor gewarnt, die Verfassung von 1867 zu än- dern. Dies würde nur eine »can of worms« (Trudeau 1993, 229) öffnen und den Pro- vinzen die Gelegenheit geben, mehr Rechte für sich in Anspruch zu nehmen. Als die Regierungen der kanadischen Provinzen dann 1967 allerdings Überlegungen über eine Verfassungsreform anstellten, begann er, seine Auffassungen über die Verfassungsfra- ge zu revidieren. Um dieses Politikfeld nicht für die Bundespolitik zu verlieren, ließ er sich dann doch vom — wie er sich selbst ausdrückt — »virus of constitutionitis« (Trudeau 1996c, 260) anstecken. Sein Sinneswandel hatte aber auch noch andere, grundsätzlichere Ursachen. Ihm waren Zweifel gekommen, ob die mit der Quebec-Frage zusammenhängenden Proble- me sich wirklich im Rahmen der Verfassung von 1867 und der durch sie eingerichteten politischen Institutionen würden lösen lassen.13 Dies wird erstmals in der Rede deutlich, welche Trudeau am 4. September 1967 vor der Canadian Bar Association hielt. Um die Probleme in Kanada lösen zu können, so der Tenor der Rede, müsse sich die Verfassung in anderer Weise als bisher den Bedürfnissen der frankophonen Kanadier öffnen. Dies drückte sich einmal einfach in der Forderung aus, den in der Verfassung angelegten Bilingualismus zu stärken:

[. . . ] [T]here are rights of special importance to Canada arising [. . . ] from the fact that this country is founded on two distinct linguistic groups. While lan- guage is the basic instrument for preserving and developing the cultural integrity of a people, the language provisions of the British North America Act are very

13In seinen Memoiren schrieb Trudeau: »My answer was always that the British system works for Britain, but we are not a unitary state like Great Britain an we have a lot of minorities.« (Trudeau 1993, 308

92 limited. I believe that we require a broader definition and more extensive guaran- tees in the matter of recognition of the two official languages. The right to learn and to use either of the two official languages should be recognized. Without this, we cannot assure every Canadian of an equal opportunity to participate in the political, cultural, economic, and social life of this country. I venture to say that, if we are able to reach agreement on this vital aspect of the over-all problem, we will have found a solution to a basic issue facing Canada today. A constitutional change recognizing broader rights with respect to the two official languages would add a new dimension to Confederation. (Trudeau 1968b, 56)

In seiner Rede bekannte er sich zwar noch immer zu den wesentlichen Prinzipien der Verfassung von 1867, aber es war deutlich, daß sich seine Ansichten zu ändern began- nen und er einer Veränderung der Verfassung nicht mehr ablehnend gegenüberstand. Er sagte, daß »I do not accord an absolute and eternal value to the political structures or the constitutional forms of states« und führte weiter aus, daß »[w]ith the exception of a certain number of basic principles that must be safeguarded, such as liberty and democracy, the rest ought to be adapted to the circumstances of history, to traditions, to geography, to cultures and to civilizations.« (Trudeau 1968b, 53) Damit wahrte Trudeau noch die Terminologie des überkommenen britisch-kanadi- schen Konstitutionalismus. Seine Rede enthält jedoch auch Passagen, welche in eine ganz andere Richtung weisen. Es wird an zahlreichen Stellen der Rede deutlich, daß er die Idee abstrakter, transzendenter und prinzipiell unveräußerlicher Rechte jetzt mehr Wert beimaß als zuvor. Mit seiner Forderung, »broader rights« anzuerkennen, meinte er weit mehr als nur die Verabschiedung eines weiteren statute law, wie etwa kanadi- sche Bill of Rights von 1960, das Mehrheitsbeschlüssen des Parlamentes untergeordnet gewesen wäre. Die liberale Partei Kanadas hatte im Grundrechtsschutz bisher nur ein lästiges Politikhindernis gesehen (vgl. Russell 1993, 31-33 und Thunert 1992, 55f). Trudeau dagegen stellte nun fest: »[w]e must recognize that the constitution is the country’s fundamental law, the law on which our entire judicial system is based« (Tru- deau 1968b, 52), und: »I am thinking of a Bill of Rights [Großbuchstaben!] that will be so designed as to limit the exercise of all governmental power, federal and provin- cial.« (Trudeau 1968b, 57).14 Die Sprachrechte, wie sie in der Verfassung von 1867 verankert worden waren, sollten, wie Trudeau in seiner Rede weiter ausführte, in die- se Grundrechtscharta integriert werden. Der Bill of Rights von 1960 warf er nicht nur vor, daß sie keine wirklich grundlegende Charter individueller Rechte gewesen sei, sondern auch, daß sie keine Sprachrechte enthielt. Kernbestandteil einer neuen Verfas- sungspolitik solle es sein, die Idee der Anerkennung kultureller Diversivität und deren Sicherung über individuelle Rechte zu einem auch gegen das Parlament einklagbaren Recht zu machen. Sprachrechte sollten in eine feste Bill of Rights integriert werden, die dem Zugriff des Parlamentes entzogen ist. Dem Parlament sollte das Interpretati-

14Für ähnliche Ansichten über die Bill of Rights und die Unvollkommenheit der Bill of Rights von 1960 siehe Trudeau (1977b, 560f).

93 onsmonopol über die Verfassung entzogen werden und so verhindert werden, daß eine Verletzung der Rechte der Frankokanadier, wie sie etwa in Manitoba geschehen war, sich nicht wiederholen könne. Mit einer so gestalteten Bill of Rights, so hoffte er, »we will be testing – and, hopefully, establishing – the unity of Canada.« (Trudeau 1968b, 54) Trudeaus Ansichten zur Verfassung hatten sich unter dem Einfluß der US-ameri- kanischen Verfassungsidee gewandelt, mit der er sich seit 1966 hatte er sich intensiv auseinandergesetzt hatte. Er war zu dem Schluß gekommen, daß die Bill of Rights in den USA die Einheit des Landes und die Position des Bundes gestärkt habe. Es hatte ihn beeindruckt, daß die im 14. Amendment gesicherten Grundrechte durch ihre ei- ne einheitsstiftende und integrierende Kraft offensichtlich ein Gegenmittel gegen die zentrifugalen Kräfte des Föderalismus darstellen konnten. Individuelle Grundrechte in eine Charter zu integrieren, so hoffte er, würde einen ähnlichen integrierenden Effekt auch für das föderale System in Kanada erzielen können (vgl. Thunert 1992, 57). Ver- fassung sollte für ihn jetzt nicht mehr möglichst nur ein praktischer Kompromiß sein; er sah für sie jetzt eine zentrale Position im politischen System vor. Dies wird an einem Kommentar deutlich, den Trudeau während seiner Rede vor der Canadian Bar Asso- ciation über einen (gescheiterten) Verfassungreformvorschlag machte, der von Fulton und Favreau, zwei kanadischen Regierungsbeamten, vorgelegt worden war und der darauf abgezielt hatte, im Rahmen der bestehenden Verfassung die Quebec-Frage zu lösen. Trudeau hielt dies nicht mehr für möglich. Er sagte:

If the Fulton-Favreau formula [of constitutional reform] [...] has failed, it is prob- ably because what was sought was unanimous agreement on the technical details rather than on the substance. Today, we are beginning with the substance. We say to all Canadians, from all provinces: let us first agree on the basic freedoms, on the fundamental rights that we wish to guarantee. After that, we will deal with the mechanism. (Trudeau 1968b, 59)

Der Kontrast zwischen dem 1964 geäußerten Lob einer »absence of principles« und dem Interesse an der »substance« der Verfassung und daran, die politische Ordnung auf »basic freedoms« zu gründen, ist auffällig. Lehnte Trudeau noch 1964 eine »thril- ling bill of rights« ab, so befürwortet er 1967 »fundamental rights«. Verwendete er 1964 noch die Kleinschreibung »bill of rights«, so spricht er jetzt von einer »Bill of Rights«. In nur drei Jahren hatte sich Trudeaus Verfassungsidee wesentlich gewandelt. Sie ist jetzt nicht mehr nur vom instrumentellen Verfassungsverständnis den kanadi- schen Konstitutionalismus von 1867 inspiriert, sondern hatte sich am US-amerikani- schen Beispiel orientiert. Bei der Verfassungskonferenz in Ottawa vom 5. bis zum 7. Februar 1968, an dem Trudeau noch als kanadischer Justizminister teilnahm, stellte er dann seine verfas- sungspolitische Position zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit vor. Während

94 der Konferenz setzte er sich dafür ein, daß in Kanada eine Charter of Human Rights verabschiedet werden sollte. Der Einfluß des US-amerikanischen Vorbildes machte er dabei explizit. Die USA hätten »one of the great legal systems of the world«, was vor allem am Grundrechtsschutz durch die Verfassung liege (Trudeau 1972, 90). Auf der Konferenz wurde auch deutlich, daß Trudeau das Prinzip der Volkssouve- ränität in Kanada einführen wollte. Er argumentierte, daß mit der Idee eines souve- ränen kanadischen Volkes die Blockade des kanadischen Föderalismus durchbrochen werden könne. Die Probleme in Kanada rührten daher, daß sich die verschiedenen staatlichen Ebenen, der Bund und die Provinzen, ständig gegenseitig blockiert hätten. Ständig habe es Konflikte zwischen denjenigen gegeben, die für mehr Rechte des Bun- des und denjenigen, die für mehr Rechte der Provinzen waren. Diese Diskussion um Machtfragen innerhalb des Föderalismus habe nichts ergeben und war zu technisch. Mit Volkssouveränität könne man von der Regierungsfixiertheit loskommen und neu- es, hoffnungsvolleres Terrain betreten:

I ask you to consider a new approach. An approach which deals first and foremost with the people of Canada. [. . . ] [W]e here today have the opportunity of starting to build a new constitutional structure for Canada; one which is strong because its backbone is composed of human beings secure in their individual liberty and confident of the protection of their fundamental values.15 (Trudeau 1972, 94)

Mit dem Prinzip einer Bill of Rights und Volkssouveränität waren zwei zentrale Elemente des US-amerikanischen Konstitutionalismus in die Verfassungsidee gelangt. Sie sollten ihn nie mehr loslassen und seine Verfassungspolitik als Premierminister und damit die kanadische Verfassungspolitik der nächsten Jahrzehnte prägen. Wie Trudeau die durch die US-amerikanische Verfassungsidee vermittelte, wie er sie in Kanada mit Hilfe seiner liberalen Kulturhermeneutik kontextualisierte und wie er die symbolischen Gehalte seiner neuen Verfassung für nation building in Kanada nutzbar zu machen versuchte, soll im folgenden dargestellt werden. Zunächst soll gezeigt werden, wie Trudeau die Idee individueller Rechte durch Sprachrechte für Englisch und Französisch, der Prinzipien der Verfassung von 1867, erweiterte (Abschnitt 3.2.1), um dann darzulegen, wie Trudeau Volkssouveränität in dieses nation building integrierte und die Verfassung als symbolischer Ausdruck eines neuen Kanadas konzipierte (Abschnitt 3.2.2). Trudeaus Verhältnis zum kanadischen Supreme Court werde ich danach behandeln. Es läßt sich daran zeigen, wie Trudeau über das Verhältnis von Volkssouveränität und den Grundrechten dachte und wie er sei- ne eigene Rolle im politischen System Kanadas sah (Abschnitt 3.2.3). Danach werde ich darlegen, welche Rolle Multikulturalismus in Trudeaus Verfassungsvision spielte

15Die Monarchie abzuschaffen und aus Kanada eine Republik zu machen befürwortete Trudeau je- doch nicht. In einem Interview mit der CBC lehnte er dies klar ab. Kanada würde sich damit nur das Problem einhandeln, ein Staatsoberhaupt wählen zu müssen (vgl. Trudeau 1972, 96).

95 und wie sich Multikulturalismuspolitik von der US-amerikanischen unterschied (Ab- schnitt 3.2.4). Abschließend sollen dann noch Spannungen und Widersprüche in Tru- deaus liberaler Verfassungsvision herausgearbeitet werden (Abschnitt 3.2.5).

96 Quelle: Jackson und Jackson (1998); kopfstehend: Trudeau

3.2.1 Nation building durch die Integration von Sprachrechten in eine Bill of Rights

A country is something that is built every day out of cer- tain basic shared values. Trudeau 1993, 366

Nach dem Amtsantritt Trudeaus hatte seine Regierung zunächst noch keine umfassen- de Position zur Verfassungsfrage vorgelegt. Dies erfolgte erst im Positionspapier The Constitution and the People of Canada, welches die kanadische Regierung 1969 unter Trudeaus Namen publizierte. Die Verfassung von 1867 sollte, wie es darin heißt, einem »general and comprehensive review« (Canada 1969a, 2) und einer »systematic, logi- cal, and complete examination« (Canada 1969a, 46) unterzogen werden. Ausgehend

97 davon wurde ein umfassender Vorschlag für eine Veränderung und Neuausrichtung der kanadischen Verfassungsordnung unterbreitet. Daß die Regierung sich vom überkommenen britisch-kanadischen Konstitutionalis- mus zu lösen begann ist an keiner Stelle in The Constitution and the People of Canada zu übersehen. Schon an den Überlegungen zur Struktur und zum Aufbau, welcher die neue Verfassung haben sollte, läßt sich dies erkennen. Die neue Verfassung soll nicht mehr ein Dokument mit relativ unsystematisch aneinandergereihten Einzelregelungen sein, sondern ein systematisches und klar aufgebautes Dokument. »A sound constituti- on«, so heißt es in den einleitenden Bemerkungen zu The Constitution and the People of Canada, »is a finely balanced instrument whose parts must be carefully interrela- ted.« (Canada 1969a, 2) Die kanadische Verfassung solle zukünftig aus zwei Teilen bestehen, die beide deutlich voneinander zu unterscheiden und dann aufeinander zu beziehen seien: einen Teil, in dem Regelungen über die »institutions of the central and provincial governments« getroffen werden und einen Teil, in dem die »subjects which are fundamental to the whole of the Constitution [...] and [...] on which the Constitution should be based« festgelegt sind (Canada 1969a, 46). Der Kern des grundlegenden Teils der Verfassung sollte eine Grundrechtscharta sein, in der den Kanadiern fundamental rights garantiert werden. Der Entwurf für diese Grundrechtscharter, wie er in The Constitution and the People of Canada präsentiert wurde, erinnert an die Grundrechtscharter der USA. Es finden sich hier die Lockeani- schen Formulierungen aus der US-amerikanischen Verfassung in nur leicht abgewan- delter Form wieder. Ähnlich wie in der von Jefferson geschriebenen Unabhängigkeits- erklärung, in welcher »life, liberty, and the pursuit of happiness« verbrieft werden, des fünften Amendment der Verfassung, wo Personen ein »due process of law« garantiert wird und des 14. Amendment, welcher die »equal protection of the laws« verspricht, wird in The Constitution and the People of Canada »the right of the individual to life, and liberty and security of the person, and the right not to be deprived thereof except by due process of law« verbürgt und »the right of the individual to the enjoyment of property, and the right not to be deprived thereof except according to law«; es findet sich darin auch »the right of the individual to the equal protection of the law« (Canada 1969a, 52). Die aus der US-amerikanischen Verfassung bekannten Rechte des habeas corpus sind ebenfalls Teil des Entwurfes (vgl. Canada 1969a, 54). Mit diesen Formulierungen erinnert The Constitution and the People of Canada zwar auch an die kanadische Bill of Rights von 1960. Die Grundrechtscharter sollte aber nicht nur einfaches Gesetz sein, sondern »a rule by which the making of laws is governed.« (Canada 1969a, 18) Das überkommene Prinzip der Parlamentssouverä- nität sollte wesentlich eingeschränkt werden und die Regierungen auf Bundes- und Provinzebene sollten an die Grundrechtscharter gebunden sein: Die Grundrechte sind

98 als eine »limitation on [...] all governments within Canada« (Canada 1969a, 16) zu verstehen. Diese ewig gültigen Rechte sollten den Kern für den kanadischen Grundkonsens darstellen. Mit der Grundrechtscharter wollte die kanadische Regierung nicht nur ih- ren »belief in the inherent rationality of man, and in his right to live his life with dignity and freedom« (Canada 1969a, 20) ausdrücken, sondern werden ganz beson- ders auf das kanadische Volk rückbezogen und für nation building nutzbar gemacht. Die Grundrechte sind die »ties of nationhood, the bonds which unite Canadians« (Ca- nada 1969a, 10), ein »statement of common purpose [...] essential to all Canadians« (Canada 1969a, 16) und »goals of the people of Canada. By their very expression, we will increase the sense of unity in our country.« (Canada 1969a, 14) Für diesen »sense of unity« sollten in die Grundrechtscharta auch Sprachrechte in- tegriert werden, um das französische Element in Kanada in das Projekt des nation building zu integrieren. Die Bedeutung, die Trudeau Sprachrechten für die Einheit Kanadas zumaß, war schon durch den Official Languages Act offensichtlich geworden, den er nur kurze Zeit, nachdem er im April 1968 Premierminister geworden war, in Auftrag gegeben hatte. In diesem Gesetz waren eigentlich nur die Prinzipien des British North Ameri- ca Act bezüglich der Sprachrechte auf Bundesebene nochmals bekräftigt worden und Englisch und Französisch zu Sprachen in Kabinett und Regierung gemacht worden. In seinem Statement on the Introduction of the Official Languages Bill hatte Trudeau aber vor dem kanadischen Unterhaus klargestellt, daß dieses Gesetz eine umfassende »reflection of the nature of this country as a whole« sei und »a conscious choice we are making about our future« (in Canada 1968, 1481). In The Constitution and the People of Canada wurden diese Sprachrechte dann sehr eng in die vorgeschlagene neue Grundrechtscharta für Kanada integriert. Zu den objec- tives of federation solle es zukünftig gehören »[t]o protect basic human rights which shall include linguistic rights« (Canada 1969a, 8 und 48). Jeder Kanadier sollte die Möglichkeit haben »of expressing oneself in the official language of his choice«, denn dies sei »basic to all of our people.« (Canada 1969a, 14) Die Vorschläge über die Sprachrechte nehmen in The Constitution and the People of Canada den meisten Raum ein. Es wird »the right of the individual« zur Verwendung der englischen oder der französischen Sprache im Bundes- und in den Provinzparla- menten garantiert.16 Die Macht der Parlamente sollte bei Sprachrechten wie auch bei

16Für die Provinzen New Brunswick, Quebec und Ontario, für Provinzen, in denen die englische oder französische Sprachgruppe mindestens zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen oder in Provinzen, in denen das Parlament Englisch und Französisch zu offiziellen Sprachen erklärt haben, haben Individuen auch das Recht in beiden Sprachen Parlamentsprotokolle einzusehen, vor höheren Gerichten in einer der beiden Sprachen gehört zu werden, oder in einer der beiden Sprachen mit der Regierung zu kommunizie- ren.

99 den anderen Grundrechten beschnitten werden. Die geplante Charter sollte das Bun- desparlament und die Provinzparlamente binden und festlegen, daß es den Gerichten unterliege, Inkompatibilitäten zwischen Parlamentsgesetzen und der Verfassung fest- zustellen und zu ahnden. Besonders sollte die Macht der Provinzparlamente beschnit- ten werden. Den Provinzen sollte zwar eine gewisse Gestaltungsmöglichkeit bleiben. Diese sollte sich jedoch auf die konkrete Festlegung bestimmter Details beschränken, wie etwa der Einrichtung bilingualer Distrikte. Die Provinzen sollten nicht mehr die Möglichkeit haben, Sprachgesetze eigenhändig außer Kraft setzen zu können (vgl. Ca- nada 1969a, 58).17 Damit sollten die Frankokanadier von ihrem sicheren Platz in der kanadischen Union überzeugt werden. Die Sprachrechte wurden in The Constitution and the People of Canada auf den Kern des Liberalismus bezogen. Sprache sei notwendig für »the creation, the preserva- tion, of a society in which the fulfilment of the individual is a primary goal« (Canada 1969a, 20) und wird als ein wesentliches Regierungsziel betrachtet. Weiter heißt es, daß eine Regierung »must embrace all aspects of individual development–economic, social and cultural–and it must apply to all Canadians.« (Canada 1969a, 8) Das war als grundlegende Reflektion über den Liberalismus überhaupt gemeint. Die folgende Äußerung Trudeaus über den Charakter liberaler Philosophie vor der Liberal Policy Conference in Ottawa 1970 verdeutlicht dies:

The liberal philosophy sets the highest value on the freedom of the individual, by which we mean the total individual, the individual as a member of a society to which he is inextricably bound by his way of life, and by community of interest and culture. (zitiert in Trudeau 1998, 4)

Dies war, wie Trudeau selbst sagte (vgl. Trudeau 1998, 4), vor dem Hintergrund der Philosophie des Personalismus zu verstehen, der Philosophie Maritains und Mouniers, die auf ihn zeitlebens einen großen Einfluß ausübten. Personalismus war für Trudeau eine reichere und umfassendere Form des Liberalismus, welche besser auf die Komple- xität und Vielgestaltigkeit des menschlichen Lebens ausgerichtet war als der liberale Mainstream seiner Zeit, den er als einen atomistischen »absolute liberalism« (Tru- deau 1993, 40) ablehnte (vgl. auch Trudeau 1998, 5). Personalismus faszinierte ihn, weil er sowohl das Primat individueller Rechte vor kollektiven Rechten anerkannte als auch die Bezogenheit des Individuums auf sein soziales und kulturelles Umfeld be- rücksichtigte. Nach der Lehre Maritains und Mouniers sei die Person, so schreibt er anerkennend, »the individual enriched with a social conscience, integrated into the life of the communities around him and the economic context of his time«, was Personen »the means to exercise their freedom of choice« gebe (Trudeau 1993, 40).

17Die Charter sollte in nichts die Rechte der Parlamente ausweiten; nur wenn das Bundesparlament den Kriegszustand erklärt hat, können Grundrechte durch einen War Measures Act außer Kraft gesetzt werden (vgl. Canada 1969a, 60).

100 Die Grundlagen der neuen Verfassungspolitik erklärte Trudeau auch in einem 1970 erschienenen Artikel, Les Droits de l’homme et la suprématie parlementaire. Hier wur- den die Prinzipien aus The Constitution and the People of Canada nochmals deutlich, sowohl die besondere Rolle der Grundrechte als auch der Sprachrechte. In diesem Ar- tikel unterscheidet er zwischen »certains droits ou certaines libertés considérés comme essentiels à la vie des Canadiens«, die er als »droits fondamentaux« bezeichnet, und anderen Rechten, die »par déduction, seront considérés comme moins vitaux.« Die »droits fondamentaux« unterscheiden sich in »droits politiques«, »droits juridiques«, »le droit non-discriminatoire ou égalitaire« und eben auch »droits linguistiques« (Tru- deau 1970b, 9). Damit soll die Nation neu gegründet werden als »[u]n pays qui soit uni d’un océan à l’autre parce que ses citoyens, où qu’ils vivent, sont sûrs de leurs droits individuels.« (Trudeau 1970b, 14). Neben Überlegungen zu den Sprachrechten finden sich in diesem Artikel auch Be- trachtungen über das Verhältnis von Grundrechtscharter und Parlamentssouveränität. Trudeau stellte fest, daß eine solche Grundrechtscharter nicht mehr mit der überkom- menen, aus dem britischen Konstitutionalismus stammenden Idee des Supremats der Parlamente kompatibel ist. Dies sei für Kanada aber unproblematisch, da er in Kanada nie so stark verwurzelt gewesen sei, als daß man sich nicht von einigen seiner Grund- prinzipien verabschieden könne. Die kanadischen Parlamente hätten ohnehin keinen Zugriff auf die Verfassung gehabt, da dies dem britischen Parlament vorbehalten war. Die Idee der Gewaltenteilung im Föderalismus habe die Macht der Parlamente oh- nehin schon beschränkt. Außerdem sei auch in Großbritannien die Souveränität des Parlamentes schon beschränkt worden, etwa nach dem Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft (vgl. Trudeau 1970b, 8) Die Idee der fundamentalen Si- cherung der Grundrechte widerspreche den Prinzipien der britischen Verfassungsidee nicht so stark, wie häufig angenommen werde. Durch den Beitritt zur EG und als Rats- mitglied habe Großbritannien das Prinzip des Primats fundamentaler Menschenrechte anerkannt (vgl. Trudeau 1970b, 10. Die Grundrechtscharta legitimierte Trudeau in diesem Artikel auch unabhängig von der Sprachenfrage in Kanada als notwendige Neuerung. In Kanada seien die Men- schenrechte nicht so gut gesichert sind, wie man immer glaube – »nous ne devons pas surestimer notre grandeur morale« (Trudeau 1970b, 11) –, weshalb es nicht schaden könne, auch in Kanada eine Charter einzurichten. Hier bezieht er sich dann ganz ex- plizit auf die USA als Vorbild. In den USA seien Grundrechte zwar auch nicht perfekt geschützt, aber die USA hätten ein großartiges Justizsystem, von dem man in Kana- da lernen könne: »Nous ne devrions pas nous sentir gênés dans notre désir naturel d’emprunter, de ce système ou d’un autre, des méthodes qui pourraient en certains cas être meilleures que les nôtres.« (Trudeau 1970b, 12)

101 Das Verfassungsreformwerk Trudeaus wäre 1971 fast verabschiedet worden, schei- terte jedoch am Widerstand Quebecs. 1972 hätte Trudeau fast die Unterhauswahlen verloren und war auf die Unterstützung eines Koalitionspartners angewiesen, der in der Frage der Behandlung Frankokanadas andere Auffassungen hatte als Trudeau. In den folgenden Jahren mußte sich Trudeau mit der Sozial- und Wirtschaftspolitik be- schäftigen. Einen neuen Anlauf gab es dann 1978 mit dem von Trudeau geschriebenen und herausgegebenen Regierungspapier A Time for Action. Die Idee einer Grundrechtscharter wurde darin wieder aufgenommen und vorge- schlagen, diese in Kanada einzuführen. Wieder ist deutlich zu erkennen, daß damit die Einheit Kanadas hergestellt werden sollte: »[T]he renewal of the Canadian fede- ration«, so heißt es da, »requires that all of us, as Canadians, vigorously reaffirm our desire to live together, our adhesion to the values on which the very existence of our country is based« (Canada 1978, 19). Interessant ist dieses Papier aber vor allem deshalb, da hier der Einfluß der USA auf die Grundrechtsvision besonders deutlich wird. Trudeau verankerte seine Verfassungs- vision im nordamerikanischen Kontext. Im Papier heißt es zwar »Such is the adven- ture of Canada. It has no analogy and no precedent.« (Canada 1978, 1), aber Trudeau machte auch deutlich darauf aufmerksam, daß die Werte und Normen, welche einer neuen kanadischen Verfassung und einer Grundrechtscharta zugrunde liegen sollten, zu einem großen Teil von außen importiert worden waren. Dabei wurde der Einfluß der USA gesondert genannt. »We [...] share«, heißt es da zunächst, »with the societies from which we originally came or with which we interact, such as the United States, universal values, and others which are more particular.« (Canada 1978, 5) Ein paar Zeilen weiter heißt es dann: »Our spirit is North American. We all believe in the pre- eminence and fundamental freedoms of the individual citizen, in equal opportunity for all, in democratic values and respect for the rule of law.« (Canada 1978, 6) Stolz wur- de zwar von einem eigenständigen »Canadian model« (Canada 1978, 5) gesprochen, von einer »Canadian Charter [of Human Rights] for Canadian circumstances« (Tru- deau 1972, 90) und einer »Charte canadienne des Droits de l’Homme [...] qui se devait d’être adaptée au contexte canadien.« (Trudeau 1970b, 12) Dies schließt an eine Idee an, die Trudeau schon in seinen früheren Schriften entwickelt hatte: daß der kanadi- sche Konstitutionalismus, der kulturelle Diversivität fördere, eine bessere Alternative zum US-amerikanischen mit der ihm zugrundeliegenden Idee des »Schmelztiegels« sei. Nach 1968 war für ihn das kanadische Modell jedoch weniger ein Gegenentwurf, als vielmehr eine originelle Ergänzung zum US-amerikanischen Konstitutionalismus. Von seinem neuen Konstitutionalismus sprach er als von einer stimmigen Synthese aus den Werten der Bill of Rights und den aus der kanadischen Verfassung von 1867 stammenden kulturellen Rechten, die einen neuen, ganz eigenen Verfassungstypus er- schaffen habe: »[...] [T]he synthesis which we have made of these values is highly

102 original: with the passage of time and the required adaption of distinctive realities, these values have acquired specific Canadian characteristics.« (Canada 1978, 5). 1979 führte Trudeau mit seiner Verfassungsinitiative Wahlkampf und verlor prompt die Unterhauswahlen. Nach einem überwältigenden Wahlsieg 1980 stand Trudeau, wie Alan Cairns anmerkt, der mächtigsten kanadischen Regierung seit dem Zweiten Welt- krieg vor (vgl. Cairns 1991, 102) und konnte endlich 1982 seine neue Verfassung in großen Teilen auch gegen beträchtlichen Widerstand durchsetzen. Wesentlicher Bestandteil dieser Verfassung war dann eine Canadian Charter of Rights and Freedoms. Wie in den bisherigen Entwürfen erinnert dies an die Bill of Rights der USA. In den Abschnitten über Fundamental Freedoms und Democratic Rights werden Glaubens- und Gewissensfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäuße- rung und zur Versammlung sowie demokratische Rechte etabliert. In einem Abschnitt über Mobility Rights wird einem jeden Kanadier Freizügigkeit innerhalb des Landes garantiert. In den Legal Rights findet sich die Formulierung: »Everyone has the right to life, liberty and security of the person and the right not to be deprived thereof except in accordance with the principles of fundamental justice.« (Canada 1981, Artikel 7). Ein umfassendes Diskriminierungsverbot findet sich in Artikel 15. Es heißt dort, in ähnlicher Weise wie im 14. Amendment der Verfassung der USA, daß »every indivi- dual is equal before and under the law and has the right to the equal protection and equal benefit of the law without discrimination«. Unter das Diskriminierungsverbot fallen Diskriminierungen »based on race, national or ethnic origin, religion, sex, age or mental or physical disability.« Diese Rechte sind grundlegende Rechte. Es wird in der Verfassung klargemacht, daß »The Constitution of Canada is the supreme law of Canada, and any law that is inconsistent with the provisions of the Constitution is, to the extent of the inconsistency, of no force or effect.« (Artikel 52 (1)). Die Sprachrechte haben eine prominente Rolle in der Charter: die Regelungen über die Official Languages of Canada und die Minority Language Education Rights neh- men ungefähr ein Drittel der gesamten Charter ein. Detailliert wurden hier Regelungen über die Rechte der Individuen auf die Verwendung der Sprache getroffen. Bezüglich der Sprache heißt es z. B. daß »Everyone has the right to use English or French in any debates and other proceedings of Parliament.« (Artikel 17, Sektion 1) Über die Sprache bei Gerichtsprozessen heißt es, daß »[e]ither English or French may be used by any person in, or in any pleading in or process issuing from, any court established by Parliament.« (Artikel 17, Sektion 1) Ferner wird festgelegt, daß »[a]ny member of the public in Canada has the right to communicate with, and to receive available services from, any head or central office of an institution of the Parliament or govern- ment of Canada in English or French [. . . ].« (Artikel 20, Sektion 1). Alle diese Rechte sind klar als individuelle Rechte eingeführt. Auch die Minority Language Educatio- nal Rights werden von der Charter klar als individuelle Rechte eingeführt, wenn diese

103 auch indirekt für die eigenen Kinder wahrgenommen werden. In einer komplizierten Regelung, die hier ganz zitiert sei, heißt es im Artikel 23:

(1) Citizens of Canada, (a) whose first language learned and still understood is that of the English or French linguistic minority population of the province in which they reside, or (b) who have received their primary school instruction in Canada in English or French and reside in a province where the language in which they received that instruction is the language of the English or French linguistic minority population of the province, have the right to have their chil- dren receive primary and secondary school instruction in that language in that province. (2) Citizens of Canada of whom any child has received or is receiving primary or secondary school instruction in English or French in Canada, have the right to have all their children receive primary and secondary school instruction in the same language. (3) The rights of citizens of Canada under subsections (1) and (2) to have ther children receive primary and secondary school instruction in the language of the English and French linguistic minority population of a province. (a) applies wherever in the province the number of children of citizens who have such a right is sufficient to warrant the provision to them out of public funds of minority language instruction; and (b) includes, where the number of those children so warrants, the right to have them receive that instruction in minority language educational facilities provided out of public funds.

Wie aus den Formulierungen hervorgeht waren die Sprachrechte in der Verfassung von 1982 als individuelle Rechte und nicht als kollektive Rechte angelegt. Trudeau wollte damit nur die Rechte von Individuen anerkennen, sich einer der beiden offizi- ellen Sprachen zu bedienen. Die Sprachrechtsgesetzgebung der Parti Québécois, die nur Französisch als offizielle Sprache in Quebec anerkennen wollte, war für Trudeau mit seiner Sprachpolitik nicht nur deshalb verschieden, da hier der Status der engli- schen Sprache nicht anerkannt werden sollte. In der Sprachpolitik Quebecs wurde für ihn auch ein ganz anderes Rechtsprinzip implementiert, das unter liberaler Perspektive abzulehnen sei, nämlich kollektive Rechte. Über die sogenannte Bill 22, welches Fran- zösisch zur alleinigen offiziellen Sprache in der Provinz Quebec machte, sagte er: »I philosophically disliked it« (Trudeau 1993, 235). Er habe zwar nichts gegen Sprach- gesetze einzuwenden, die die Verwendung des Französischen beförderten – »these are good laws«, so schrieb er (Trudeau 1993, 235). Aber in dem Moment, in dem man Menschen dazu zwinge, eine Sprache zu sprechen und die dazugehörige Kultur zu för- dern, widerspreche dies den Prinzipien von Liberalismus und Freiheit.Nationalisten wie die Separatisten in Quebec, so sein Vorwurf, glaubten nicht an das Primat indivi- dueller Rechte. Sie würden Kultur und Nation nicht als Entwicklungsrahmen für Indi- viduen begreifen, sondern vielmehr als Selbstzweck. Sie glauben, daß die Menschheit in verschiedene Gruppen zerfalle und daß »individuals who compose the group are shaped by, and cannot be understood apart from, the group«. Für Nationalisten sei nicht die Entwicklung und Freiheit des Individuums in einer kulturellen Umgebung

104 das Hauptinteresse. Für sie sei die »maintenance of the group or national identity« das dominierende Prinzip der Politik (Axworthy und Trudeau 1992b, 11). Liberalismus, der durch »individualism, self-definition and choice« (Axworthy und Trudeau 1992b, 11) definiert sei, könne mit solch einem Ordnungsentwurf nicht in Einklang gebracht werden. Liberalismus gehe zwar von einer Einbettung des Individuums in seine kultu- relle Umgebung aus. Dies dürfe aber nicht auf Kosten der Wahlfreiheit gehen:

Liberals do not deny the value of group identity or cultural diversity–we extol them. Freedom of association is a right of citizens in any liberal state. But we refuse to make this value pre-eminent, because it is only one good out of many. In different times and on different issues, citizens will identify with their local neighbourhood, their city, their trade union, their professional association, their ethnic group, their province, their country or humankind as a whole. [...] Liberals [. . . ] agree with nationalists on the virtue of identity. A person must enjoy the freedom to be different than others. To make an informed judgment about the qualities of the good life, citizens should have the opportunity to benefit from a rich cultural diversity. We disagree that society should be based on this principle alone, however, and in fact any state so constituted would be sowing the seeds of its own destruction. (Axworthy und Trudeau 1992b, 12f)

Seine Sprachpolitik sah Trudeau als Ausdruck des »purest liberalism«, der ganz auf »fundamental, inalienable rights« ausgerichtet sei und das Individuum vor dem Zu- griff von »any collectivity (nation, ethnic group, religious group or other)« schütze (Trudeau 1992b, 407f). Der Verfassung von 1982 liege ein rein individualrechtliches Konzept zugrunde; »the Charter«, so schrieb er, »always seeks to define rights ex- clusively as belonging to a person rather than a collectivity« (Trudeau 1992b, 409). Für seinen engen Mitarbeiter Thomas Axworthy war Trudeau Anhänger des liberalen »mainstream of political thought« (Axworthy 1986, 15); Trudeau selbst bezeichnete sich als Anhänger eines »middle-of-the-road liberalism« (Trudeau 1993, 200). Trudeau war auch darum bemüht, seinen Liberalismusbegriff im US-amerikani- schen Konstitutionalismus zu verorten. Die Verfassung der USA war für ihn para- digmatischer Ausdruck des Liberalismus überhaupt: »No one is subject in his funda- mental rights to the state: that is liberalism - which says the individual in the exercise of his fundamental rights precedes the state, and all individuals are equal - that’s the American Constitution.« (Trudeau 1992a, 57) Grundrechte transzendieren Zeit und Ort. Sein Personalismus paßt zur US-amerikanischen Verfassungsvision. »To use Ma- ritain’s phrase«, so schrieb er,

[...] [all members of a civil society] are »human personalities,« they are beings of a moral order–that is, free and equal among themselves, each having absolute dignity and infinite value. As such, they transcend the accidents of place and time, and partake in the essence of universal Humanity. They are therefore not coercible by any ancestral tradition, being vassals neither to their race, nor to their religion, nor to their condition of birth, nor to their collective history. It follows that only the individual is the possessor of rights. (Trudeau 1992b, 407f)

105 Wegen der Sprachrechte sind die Verfassungsentwürfe der Regierungen Trudeau und auch die schließlich 1982 verabschiedete Verfassung zwar nicht so elegant und auch deutlich umfangreicher als die Verfassung der USA. Es wurden darin jedoch nicht mehr einfach Regelungen über die politischen Institutionen und Ausnahmeregelungen aneinandergereiht. Sie ist nicht mehr hauptsächlich eine instrumentelle Verfassung wie der British North America Act. Sie kann vielmehr, wie auch die Verfassung der USA, als eine symbolische Verfassung bezeichnet werden. Die Grundrechte mit Ewigkeits- garantie sowie die darin eingefügten Sprachrechte werden in einer systematischen Art und Weise als transzendente Rechte präsentiert. Sie nehmen einen prominenten Teil in der Verfassung ein und sind deutlich als Rechte einer höheren Kategorie gekenn- zeichnet. Sie können als idée directrice verstanden werden. Die Grundrechtscharter soll zum Ausdruck bringen, daß Kanada ein Staat ist, der auf der Grundlage von in- dividuellen Rechten ruht und die kulturelle Diversivität eines anglophonen und eines frankophonen Elementes anerkennt. Die Grundrechtscharter legt damit sozusagen das Wesen Kanadas und der kanadischen Nation fest und verschafft ihr transzendente Gül- tigkeit. Der kanadische Politologe Alan C. Cairns hat ganz recht, wenn er feststellt, daß die Charter von 1982 nicht nur eine Ergänzung des Konstitutionalismus in Kana- da gewesen sei, sondern eine »profound, wrenching transformation«. Die Charter, so Cairns, »elevates the constitution as a whole to a level of symbolic and practical si- gnificance far surpassing its previous status as an instrument of governance.« (Cairns 1991, 179)

3.2.2 Die Erfindung des Volkes durch Volkssouveränität und Verfassungssymbolismus

Der neue kanadische Konstitutionalismus, wie er von Trudeau und seinen Regierungen konzipiert worden war, unterscheidet sich erheblich vom britisch-kanadischen Kons- titutionalismus von 1867. Der Unterschied liegt jedoch nicht nur in der prominenten Rolle, die Grundrechte jetzt spielen sollten. Er versuchte auch, dies mit der Idee der Volkssouveränität zu verknüpfen und dies für sein Projekt des nation building nutzbar zu machen. Dabei entstand ein einzigartige Verbindung aus Grundrechtsvision und Volkssouveränität, mit der ein kanadisches Volk konstituiert werden sollte. Beim Positionspapier von 1969, The Constitution and the People of Canada, deu- tet dies der Titel schon an. Es heißt darin, daß es das erste Ziel sein müsse, daß »the community we have created in Canada is of a kind and a character which is consistent with the essential values and traditions of our people« und daß in Kanada »the ulti- mate sovereignty [...] is to be found in the people which comprise it.« (Canada 1969a, 6) In allen Verfassungsentwürfen seiner Regierungen sowie in den Schriften, welche diese begleiteten oder erklärten, werden die Grundrechte und die Verfassung eng auf

106 Volkssouveränität bezogen. Die Grundrechtscharta bezeichnete Trudeau des Öfteren als people’s package und die Verfassung von 1982 als people’s constitution (Trudeau 1993, 302). Trudeau scheute sich dabei auch nicht, sich hierbei auf das US-amerikani- sche Vorbild explizit zu beziehen. In seinem Buch The Values of a schrieb er:

In the grand tradition of the 1789 Declaration of the Rights of Man and the Cit- izen and the 1791 Bill of Rights of the United States of America, [the Canadian Charter of Rights and Freedoms] implicitly established the primacy of the indi- vidual over the state and all government institutions, and in so doing, recognized that all sovereignty resides in the people. (Provincial charters of rights cannot have this effect because they are simply laws and can be abrogated at any time merely through further legislation.) In this respect, the Canadian Charter was a new beginning for the Canadian nation: it sought to strengthen the country’s unity by basing the sovereignty of the Canadian people on a set of values common to all, and in particular on the notion of equality among all Canadians. (Trudeau 1992b, 407)

Die Verfassung war für Trudeau jedoch mehr als ein Neubeginn für die kanadische Nation. Im kanadischen Kontext mußte für ihn Verfassung weit mehr leisten als nur auszudrücken, auf welche Werte und Ziele sich die Nation beruft. Sie mußte auch bestimmen und ausdrücken, was die kanadische Nation überhaupt erst zu einer Nation macht. Dies wird am Beispiel der Entwürfe für eine neue Präambel, welche während seiner Regierungszeit entwickelt worden waren, besonders deutlich. Trudeau war es sehr wichtig, daß die neue Verfassung eine wohlformulierte Präam- bel erhalten sollte. Diese sollte die wesentlichen Ziele der Verfassungsordnung zum Ausdruck bringen. Er bedauerte es, daß der Verfassung von 1867 eine solche Präambel fehle: »[...] [i]ts spirit is not described and its nature and objectives are not specified«, heißt es in A Time for Action von 1978 über den British North America Act (Canada 1978, 20). Die Sprache des British North America Act sei »obscure and anachronistic« und ihr Stil »plodding and uninspiring«. Es fehle ihr ein »Statement of Aims« (Canada 1978, 20). Die neue Verfassung brauche eine inspirierendere Präambel, um ihrer neuen Rolle gerecht werden zu können. Der Präambel kommt es dabei v. a. zu, im Vorfeld zu bestimmen, was die kanadische Nation überhaupt zu einer Nation macht. Schon in The Constitution and the People of Canada ist zu lesen:

The first element in Canada’s Constitution [...] should be a statement–a pream- ble–on the objectives of the federation. The basic role of the Constitution is, of course, to define the system of law and of government which shall prevail in Canada. But before doing this, the Constitution must express the purpose of Canadians in having become and resolving to remain associated together in a single country, and it must express as far as this is possible in a constitution what kind of country Canadians want, what values they cherish, and what objectives they seek. To no inconsiderable degree this is a matter of reflecting in the Con- stitution what kind of nation Canada is: a free people in a free society; a country

107 characterized by rich diversity, in linguistic communities, cultural heritages, and regional identities [...]. (Canada 1969a, 4f, kursiv nicht im Original)

In A Time for Action von 1978 wurden diese Gedanken wieder aufgenommen. Man brauche, heißt es da, ein »Statement of Aims [...] which would reflect the understan- ding of what Canada means to all of us – native peoples, members of our two great linguistic communities, and people of many lands and cultures who have chosen to ma- ke Canada their home.« (Canada 1978, 22)18 Die spezielle Bedeutung der Präambel wurde auch deutlich im Entwurf für eine Präambel für die neue Verfassung, welchen Trudeau am 10. Juni 1980 im kanadischen Unterhaus vorstellte. Diese Präambel sollte wie folgt lauten:

We, the people of Canada, proudly proclaim that we are and shall always be, with the help of God, a free and self-governing people. Born of a meeting of the English and French presence on North American soil which had long been the home of our native peoples, and enriched by the contri- bution of millions of people from the four corners of the earth, we have chosen to create a life together which transcends the differences of blood relationships, language and religion, and willingly accept the experience of sharing our wealth and cultures, while respecting our diversity. (Canada 1980, 1977, kursiv nicht im Original)

Die kanadische Nation wird hier als eine Willensgemeinschaft im Renanschen Sinne eingeführt. Sie ist nichts gegebenes, das selbstverständlich schon vor der Verfassungs- gebung vorausgesetzt werden könnte. Es geht hier nicht nur darum, daß sich eine Nati- on eine Verfassung gibt, aber auch darum, daß sich Menschen dazu entschließen, sich eine Verfassung zu geben und deshalb zu einer Nation werden. Anders als in den USA wird hier die Existenz einer Nation nicht schon einfach vorausgesetzt, sondern die Frage der Einheit selbst zum Gegenstand der Verfassung gemacht. Die Formulierung »we, the people« am Anfang der Entwurfes erinnert natürlich stark an den Anfang der Präambel zur US-amerikanischen Verfassung. Die Präambel der Verfassung der USA lautet bekanntermaßen:

We the people of the United States, in Order to form a more perfect Union, establish Justice, insure domestic Tranquility, provide for the common defence, promote the general Welfare, and secure the Blessings of Liberty to ourselves and our Posterity, do ordain and establish this CONSTITUTION for the United States of America.

Dieses We the people hält sich nicht mit der Frage auf, was es überhaupt zu einem Volkmacht. Es geht ihm nur darum, eine »more perfect Union« zu errichten. Es wendet sich gleich der Frage zu, was es tun will, welchen Rechten es sich verpflichtet sieht.

18Auf die Rolle der Ureinwohner in Trudeaus Projekt des nation building wollen wir später noch zu sprechen kommen.

108 We, the people of Canada (oder Nous, le peuple du Canada, wie es in der französi- schen Version heißt (Trudeau 1989c, 88)) dagegen kann nicht so schnell verfahren. Es muß zuerst die Frage klären, was es überhaupt zu einem Volk macht. Zuerst heißt es daher, daß »we are and shall always be, with the help of God, a free and self-governing people«. Und danach wird dann gleich die spezifische Natur dieses Volkes bestimmt. In der Präambel der Verfassung der USA wird die Frage, ob es überhaupt ein Volk gibt, nicht thematisiert. Die Verfassung legt die Werte und Normen fest, die sich das Volk gibt. Daß es aber ein Volk vorher schon gibt wird stillschweigend vorausgesetzt. Die kanadische Verfassung dagegen ist nicht nur Ausdruck eines vorher schon vor- handenen Volkes, sondern konstituiert dieses erst. Das Volk wird durch die Verfassung erst erschaffen. Sie hat daher einen höheren Grad an Fiktionalität als die US-amerika- nische Verfassung. In den USA gab es das Volk, wie wir schon gesehen haben, zwar eher in der Rhetorik der Verfassungsväter, aber man konnte schon auf einer politisch erlebten Wirklichkeit aufbauen: die Verfassung hat schon ein Volk, sie hat schon eine Kultur. Sie nimmt auf und bringt zum Ausdruck. Das ist in Kanada nicht der Fall. Das ist ja gerade das Problem, welches Trudeau mit seiner Verfassung zu lösen hoffte. Trudeau weiß, daß Volkssouveränität nicht einfach beliebig vorgeschrieben werden kann. Sein Wahlspruch ist ja, daß das erste Prinzip der Politik sein muß, von Gegeben- heiten auszugehen. Er geht dadurch von Gegebenheiten aus, indem er Bilingualismus als Ausdruck von Heterogenität in die Verfassung integriert. Er weißt, daß Erschaffung einer Volkssouveränität nur geht, wenn die Heterogenität anerkannt wird, v. a. über in- dividuelle Bilingualismus, sozusagen die heterogene Realität, die Diversivität in die Verfassung eingeholt wird. Er hofft, daß dies kompatibel ist mit der Idee gleicher und freier Bürger, daß dies einen gemeinsamen Rechtsrahmen schafft, der Bürger nicht als unterschiedlich erscheinen läßt, daß die Verfassung durch eine klare Präsentation die- ser Bestimmungen nebeneinander und miteinander ein ein gemeinsames kanadisches Volk als Rechts- und Wertegemeinschaft konstituiert und auch allen Mitgliedern ein Sicherheitsgefühl gibt. Dies soll schließlich dann auch real zum Entstehen eines ge- meinsamen Volkes führen und die unterliegenden Probleme in Kanada lösen. Die Verfassung ist nicht nur Ausdruck der Nation, sondern zentraler Agent des nati- on building im ganz realen Sinne überhaupt. Sie vereinigt Fiktion und Realität in enger Weise in sich. Die Verfassung ist eine Art Kitt zwischen Realität und Fiktion und zwar nicht im Sinne eines »cold and unemotional reason«, wie es in den frühen Schriften Trudeaus noch präsent war. Dieser Kitt besteht auch aus Pathos. Dieser Kitt wird durch die Kulturhermeneutik und die liberale Theorie Trudeaus geliefert. Sein Vorschlag eta- bliert eine Ordnung der Dinge, an der die Verfassungshermeneutik nicht mehr vorbei kann. Damit verläßt er die Ebene der Realpolitik und dringt auf ein neues Territorium vor: das der die Wirklichkeit transzendierenden Vision, eine »vision for society«, wie er

109 selbst sagt (Trudeau 1992a, 46). Damit verabschiedete er sich ein gutes Stück weit von einem realpolitischen Politikansatz. Alan Cairns brachte dies gut auf den Punkt:

The Trudeau analysis disagreed fundamentally with the tendency of most Anglo- phone political scientists to accord primacy to society, defined in regional terms, to which a revised constitution was to adapt. For Trudeau, by contrast, the consti- tution was an immense lever that could be employed to reinforce the national di- mension of Canadians’ civic existence and thus strengthen the ultimate resource base of the national government, and allegiant citizenry to Ottawa. (Cairns 1991, 195)

Der Unterschied zur frühen verfassungskonservativen Position ist bemerkenswert. Trudeaus Position hat sich vollkommen gewandelt. In einer späteren Schrift kommt aber auch Skepsis durch: »No nation is eternal. The glue that holds it together, the thing that makes nationhood, is the free will of a sovereign people to live together. The nation exists, not because it has been held together by force or enslaved, but because every part of the nation wants to belong to the whole for a host of social, economic, and historical reasons.« (Trudeau 1998, 176)

In der Verfassung von 1982 wurde Volkssouveränität nicht explizit implementiert. Die Verfassung von 1982 entsprach nicht völlig Trudeaus Verfassungsvision. »On the who- le,« so hatte er geschrieben, »the Constitution Act largely enshrined the values I had been advocating since I wrote my first article in Cité libre in 1950.« Er hatte dem aber noch hinzugefügt: »[. . . ] [But] [i]t was not perfect.« (Trudeau 1993, 328) Es gab eini- ge Abweichungen von seiner Verfassungsvision. Sie gingen auf Kompromisse zurück, welche die Premierminister der kanadischen Provinzen der Bundesregierung abnöti- gen konnten. So setzten etwa die Regierungen der Provinzen durch, daß die neue Verfassung kei- ne umfassende Präambel erhielt, welche die grundlegenden Prinzipien ausdrückte, auf denen Kanada gründete. Es heißt hier lediglich Kanada ist »founded upon princip- les that recognize the supremacy of God and the rule of law.« Die Premierminister der Provinzen fürchteten, daß die Nennung eines kanadischen Volkes die Stellung der Provinzen innerhalb Kanadas schwächen würde. Des weiteren gab die Verfassung den Provinzen ein große Rolle bei möglichen weiteren Verfassungsänderungen. Trudeau hätte lieber eine Regelung gehabt, die ei- ne Volksabstimmung vorsah. Vor allem aber fiel ins Gewicht, daß die Verfassung eine Klausel enthielt, welche die Provinzen dazu ermächtigte, Charterrechte außer Kraft zu setzen. In dieser sogenann- ten notwithstanding clause, dem Artikel 33 der Verfassung, hatten sich die Provinzen das Recht zusichern lassen, mit Mehrheit eines Provinzparlaments eine Ausnahmere- gelung gerade bei den zentralen Fragen der Grundrechtssicherung zu erhalten. Martin Thunert bezeichnete sie als »Grundrechtssuspendierungsklausel« (Thunert 1992, 168).

110 Die Auswirkungen waren in der Tat gravierend: denn dies bedeutete, daß zum einen damit die in der Charter festgelegten Grundrechte außer Kraft gesetzt werden konnten. Die Regierungen Quebecs konnten mit der Mehrheit des Quebecer Provinzparlamentes den Unilingualismus in Quebec beibehalten und weiter ausbauen. Die notwithstanding clause war für Trudeau ein nur schwer akzeptierbarer Kompromiß (vgl. Trudeau 1993, 328). Diese Abweichungen behinderten jedoch nicht die liberale Grundrechtsvision und auch nicht das Prinzip der Volkssouveränität. Beide Gedanken waren fest etabliert und die Verfassung wurde unter dieser Perspektive interpretiert. Die Frage der symbolischen Bedeutung der Verfassung bringt uns zu seiner Ein- stellung zum kanadischen Supreme Court. Diese ist speziell und bringt sowohl die symbolische Bedeutung zum Ausdruck, die er der Verfassung beimaß, aber auch die besondere Rolle, die er dabei spielen wollte.

3.2.3 Primat der Grundrechte oder der Volkssouveränität? Trudeau und der kanadische Supreme Court

Der British North America Act von 1867 hatte kein oberstes Gericht für Kanada vor- gesehen. Erst 1875 war durch ein einfaches Gesetz des kanadischen Unterhauses ein Supreme Court eingerichtet worden. Dieses Gericht sollte über eine lange Zeit über keine wichtige Rolle spielen. Der Privy Council in London war höchste richterliche Instanz geblieben. Der Privy Council konnte auch unter Umgehung des kanadischen Supreme Courts direkt angerufen werden, was auch in den meisten Fällen geschah. Wenn der kanadische Supreme Court doch einmal entschied, dann konnten seine Ur- teile jederzeit ohne größere Umstände in London revidiert oder aufgehoben werden. Die Richter des kanadischen Supreme Courts beschwerten sich darüber, daß man ihre Urteile in London überhaupt nicht lese (vgl. McCormick 2000, 9). 1949 war der Supreme Court zwar aufgewertet und ihm die alleinige Zuständigkeit für Kanada übertragen worden. Aber auch danach hatte er nur eine geringe Bedeutung. Zur Zeit des Amtsantritts Trudeaus war der Supreme Court nur ein »minor player« (McCormick 2000, 1), ein »small and undistinguished body that limited itself to gi- ving short, technical (and, to laypeople, virtually unreadable) decisions« (McCormick 2000, 9). Er war damit keinesfalls das, was der Supreme Court der USA ist. Er war weit davon entfernt, zentrale Auslegungsinstanz in Verfassungsfragen zu sein und eine breite öffentliche Wirkung zu haben. Es braucht nicht zu verwundern, daß Trudeau daran etwas ändern wollte. Für sei- ne Verfassung brauchte er einen starken Supreme Court, der dazu in der Lage wäre, individuelle Rechte vor der Willkür der Parlamente zu schützen. Dem Supreme Court sollte also eine zentrale Rolle im politischen System Kanadas zukommen.

111 Schon in seiner Rede vor der Canadian Bar Association von 1967 war deutlich ge- worden, daß Trudeau darüber nachdachte, den Supreme Court zu stärken. Er hatte im Hinblick auf diesen davon gesprochen, daß die Parlamentssouveränität eingeschränkt und die Rolle der Gerichte gestärkt werden sollte (vgl. Trudeau 1968b, 58). In The Constitution and the People of Canada von 1969 wurde dann der Supreme Court als »final interpreter of the Constitution« bezeichnet (Canada 1969a, 28 und 40) und ge- fordert, daß er einen festen Platz in der Verfassung selbst erhalten sollte. Der Supreme Court sollte nicht mehr nur ein durch das Parlament eingerichtetes Organ sein. Die Existenz des Gerichts an sich und die Ernennung sowie die Amtsdauer seiner Richter sollten durch die Verfassung festgelegt werden (vgl. Canada 1969a, 40). Wie auch der Supreme Court der USA sollte der kanadische nicht an Präzedenzfälle gebunden sein und eine eigene Entscheidungskompetenz erhalten (vgl. Canada 1969a, 82f). In A Ti- me for Action von 1978 wurde der Supreme Court dann sogar als »pillar of our whole system« (Canada 1978, 24) bezeichnet, welcher direkt in der Verfassung verankert und dem Zugriff der Parlamente entzogen werden müsse. Auch hier zeigt sich wieder, wie sehr sich Trudeau von seiner frühen an britischen Standards orientierten verfassungskonservativen Position gelöst hatte. Es waren jetzt nicht mehr so sehr Parlamentsbeschlüsse, sondern Gerichtsentscheidungen, welche die wesentlichen gesellschaftlichen Fragen klären sollten. Der Supreme Court der USA war ganz offensichtlich Vorbild für Trudeau. Einer der wichtigsten Verfassungsjuri- sten Kanadas, Donald Smiley, sprach in seiner Kritik an den Verfassungsplänen der Regierung Trudeau von einem »thinly disguised enthusiasm for the Supreme Court of the United States« (Smiley 1977, 572). Die Bedeutung, welche Trudeau generell einem Supreme Court zumaß, setzte sich jedoch kaum in Respekt für den kanadischen Supreme Court um. Dies wurde beson- ders deutlich, als sich die Provinzen Manitoba, Neufundland und Quebec 1981 mit einer Klage gegen die Verfassungspolitik Trudeaus an den Supreme Court wendeten. Die Premierminister dieser Provinzen hielten den Plan der Bundesregierung, die neue Verfassung ohne Berücksichtigung der Provinzen zu verabschieden und an das briti- sche Parlament zur Verabschiedung weiterzureichen, für verfassungswidrig. Sie stütz- ten sich dabei auf die sogenannte »compact theory«, nach der Kanada auf einem Pakt zwischen den Provinzen gründe, der nur dann verändert werden könne, wenn die Pro- vinzen dem selbst zustimmen. In einem salomonischen Urteil bestätigte der Supreme Court zwar die Legalität des Vorhabens der Bundesregierung, bezweifelte jedoch dessen Legitimität. Ein solches Vorgehen widerspreche dem Geist der Verfassung von 1867. Die Zustimmung einer größeren Anzahl von Provinzen sei für eine Änderung der Verfassung notwendig. Trudeau lehnte dieses Urteil des Supreme Courts in scharfen Worten ab. Die Ent- scheidung des Supreme Courts sah er als Willkürakt an: »they decided blatantly to

112 invent a convention calling for a substantial degree of provincial consent« (Trudeau 1996c, 254) und »blatantly manipulated the evidence before them so as to arrive at the desired result.« (Trudeau 1996c, 256). Die Entscheidung der Gerichtes, so Tru- deau, »fatally tilted the doctrine of Canadian sovereignty away from the people and towards the several governments« (Trudeau 1996c, 251). Als vom kanadischen Volk mehrheitlich gewählter Premierminister sah sich Trudeau im Recht, mit seiner Par- lamentsmehrheit einen neuen Verfassungsentwurf erstellen. Volkssouveränität drück- te sich für Trudeau in Bundesregierung aus, welche er als »the sole governing body empowered to act in the name of all Canadians« bezeichnete (Trudeau 1996c, 250). Provinzpremiers mußten dabei nicht berücksichtigt werden. Zentral für die Existenz Kanadas waren für ihn nicht die Provinzen, sondern die kanadische Nation, das kana- dische Volk. Kanada war für ihn mehr als nur die Summe seiner Teile (vgl. Trudeau 1996c, 250). Trudeau sah sich in der Rolle eines Volkstribuns. Peter Russell verglich Trudeau mit de Gaulle:

Trudeau’s approach was [. . . ] truly Gaullist in nature. By appealing over the heads of provincial politicians directly to the people, he aimed to forge a pop- ular consensus in support of constitutional changes [...]. The reference for Tru- deau[...] [...] was a national community composed of individual Canadians owing their primary allegiance to Canada and its central institutions. In substance and in method he challenged the understanding of Canada as fundamentally federal community. (Russell 1993, 111)

Die Schlußfolgerung, als ob Trudeau den föderalen Charakter der kanadischen Uni- on in Frage stellen wollte, halte ich für übertrieben. Denn die Idee einer Volkssouve- ränität ist mit Föderalismus durchaus vereinbar, wie das US-amerikanische und auch das deutsche Beispiel zeigen. Seine Politik deutet vielmehr darauf hin, daß er dem Su- preme Court keine zu starke Stellung im politischen System Kanadas einräumen woll- te. Trudeau könnte als Anhänger einer dualist position (in dem Sinne, in dem Bruce Ackerman diesen Begriff verwendet) bezeichnet werden. Er ging nicht davon aus, daß das politische Gemeinwesen auf Werten festgelegt werden sollte, die demokratischen Mehrheiten entzogen bleiben sollten. Die Rolle des höchsten Gerichts sah er auch dar- in, demokratische Mehrheitsentscheidungen nachzuvollziehen und in die Auslegung der Verfassung mit einzubeziehen. Diese Erfahrung mit dem Supreme Court bewirkte, daß sich Trudeau nicht dafür ein- setzte, den Supreme Court in der neuen Verfassung zu stärken. Die neue Verfassung räumte ihm keine zentrale Stellung ein. Sie kennt lediglich einen »court of competent jurisdiction«, an den sich jeder wenden könne, »whose rights or freedoms, as guaran- teed by this Charter, have been infringed or denied [...].« (Artikel 24 (1)) In Artikel 1 der Verfassung war sogar ein latenter Parlamentsvorbehalt angelegt worden: »The Canadian Charter of Rights and Freedoms guarantees the rights and freedoms set out in it subject only to such reasonable limits prescribed by law as can be demonstrably

113 justified in a free and democratic society.« Das Gericht bleibt zwar dominant und letz- ter Ausleger (vgl. Axworthy 1986, 19 und Thunert). Der Parlamentsvorbehalt bringt jedoch eine deutliche Skepsis vor einem zu starken Supreme Court zum Ausdruck. Dieser Artikel war von Trudeau bewußt eingefügt worden und ist nicht Resultat eines Kompromisses. Er ist Teil der Vision Trudeaus. Axworthy weist hierauf hin (Axworthy 1986, 19). Der Supreme Court profitierte jedoch von der neuen Verfassung. Das Urteil über Trudeaus Verfassungspläne hatte das Gericht schon in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Die Verlesung des Urteils war im Fernsehen übertragen wor- den ( wenn auch ohne Ton, da ein Richter vor der Übertragung über das Mikrofonkabel gestolpert war (vgl. Russell 1993, 118)). Während den 1980er Jahre wurde der Supre- me Court zum »leading actor« (McCormick 2000, 2) mit einer breiten öffentlichen Wirkung (vgl. McCormick 2000, 166). »Die Fiktion des politischen Eunuchentums der Judikative«, wie Martin Thunert (1992, 252) anmerkt, »hat [...] den letzten Rest ihrer Glaubwürdigkeit – zumindest in Expertenkreisen – verloren.«

3.2.4 Multikulturalismus als nation building: Über die besondere Rolle des Multikulturalismus in Trudeaus Verfassungsvision

Auf die Idee, die Einheit Kanadas durch eine Stärkung des Bilingualismus wieder herzustellen, war Trudeau nicht als erster gekommen. Die Royal Commission on Bi- lingualism and Biculturalism hatte dies schon seit Mitte der 1960er Jahre empfohlen und in ihrem Report detaillierte Vorschläge für die Erneuerung und Erweiterung des Sprachrechtsregimes des British North America Act gemacht. Die Commission war dabei freilich vollkommen im Rahmen des Konstitutionalismus von 1867 geblieben. Nichtsdestotrotz griff Trudeau bei seiner Sprachrechtspolitik – vor allem was techni- sche Details anging – explizit auf diese Vorschläge zurück und integrierte sie in seine Grundrechtsvision.19 Einem zentralen Vorschlag der Royal Commission on Bilingualism and Bicultura- lism, der schon durch ihren Namen angezeigt wird, folgte Trudeau jedoch nicht: Bilin- gualismus mit Bikulturalismus zu verbinden. Bikulturalismus hing für die Commission eng mit Bilingualismus zusammen. Da Sprache eng in eine Kultur eingebettet sei, könne man eine Sprache nur fördern, wenn man auch die dazugehörige Kultur in die Förderungsmaßnahmen mit einbeziehe. Den Begriff »culture« verstand die Commission sehr weitläufig und sah darin »more than intellectual and artistic activity«. Sie verstand darunter »a way of being, thinking, and feeling«, eine »driving force animating a significant group of individuals united by a common tongue, and sharing the same customs, habits, and experiences« (Canada

19Siehe z. B. Canada (1969a, 50), Trudeau (1972, 36) und Trudeau (1989d, 45f).

114 1967, xxxi). Sprache sei dabei die »essential expression of a culture«, welche die »no- tions and modes of expression which are part of a culture« transportiere. Sprache sei zudem »the means by which a cultural group discovers and assimilates new elements originating outside it« (Canada 1967, xxxiv). Um dieser großen Bedeutung der Kultur für den Bilingualismus Rechnung tragen zu können, so führte die Royal Commission aus, müsse der kanadische Staat anerkennen, daß »as there are the two dominant languages, there are two principal cultures« (Cana- da 1967, xxxi). Die Förderung von Kultur sei nicht nur Privatsache. Kultur müsse, um gedeihen zu können, einen wichtigen Platz in der öffentlichen Sphäre einnehmen, was nur durch eine staatliche Förderung garantiert werden könne. »For the Commission«, so heißt es in ihrem Report,

[...] language is much more than a simple means of communication, and culture is much more than the persistence of a few psychological traits or expressions of folklore. We feel it is unacceptable to consider the French language in Canada, or the English language in Quebec, as a mere personal or family trait, encountered in church, in some associations, or at best in elementary school, but not elsewhere. The life of the two cultures implies in principle the life of the two languages. [. . . ] [A]n attempt to make every possible provision for cultural equality is primarily an attempt to make every possible provision for linguistic equality. (Canada 1967, xxxviii)

Diese Position unterscheidet sich augenfällig von der des benign neglect, wie sie dem US-amerikanischen Konstitutionalismus zugrunde liegt. Daß die Royal Commis- sion die Frage der Kultur sehr weitläufig betrachtete zeigt sich auch daran, daß sie Anglo- und Frankokanada jeweils als eigenständige Gesellschaften begriff. In ihrem Report ging sie von der Koexistenz zweier »distinct societies« in Kanada aus (Ca- nada 1967, xxxii). Unter einer society verstand sie eine Gruppe von Menschen, die, »inspired by a common culture«, die politische Kontrolle »over quite a vast territory« ausübt, »where it lives as a homogenous group according to common standards and rules of conduct.« (Canada 1967, xxxiii) Obwohl die anglo- und die frankokanadi- sche Gesellschaft jeweils nicht auf zusammenhängenden Territorien verortet werden könne und es in einigen Teilen Kanadas, wo Anglokanadier und Frankokanadier eng zusammenwohnen, »partial societies« gebe, so könne man aber trotzdem von der Exi- stenz einer zusammenhängenden frankophonen Gesellschaft und einer anglophonen Gesellschaft ausgehen. Die Royal Commission betonte dabei besonders, daß es ei- ne zusammenhängende anglokanadische Gesellschaft gebe: »the fundamental unity of the English-speaking society appears to us beyond question« (Canada 1967, xxxiii). Kultur zu fördern empfahl die Royal Commission auch deshalb, da Individuen er- heblich durch ihre Kultur geprägt würden. Individuen könnten sich nur schwer einer anderen Kultur anpassen. Das komme zwar vor, aber »such a phenomenon is rare« (Ca- nada 1967, xxxiii). Der Einfluß der Kultur für die persönliche Entwicklung sei hoch:

115 »experience suggests that human beings are generally conditioned in varying degrees by an inherited culture, and that in Canada two styles of living predominate.« (Cana- da 1967, xxxii) Das war nicht als Ausgrenzung und starre Unterscheidung gemeint. Die Commission betonte, daß es »different ways of living the same culture« gebe, daß »[c]ulture is something that draws together individuals who otherwise are clearly dif- ferent« (Canada 1967, xxxii). Sie betonte auch, daß »[c]ertainly [...] cultures are not watertight compartments [...] [and] are evolving and constantly borrowing from each other.« (Canada 1967, xxxi) Obwohl die Vorschläge der Royal Commission in einigen Punkten der Verfassungs- vision Trudeaus ähneln, hielt er sie für unvereinbar mit seiner Grundrechtsvision. Zwar ging er auch von der Bedeutung der Kultur für das Individuum aus und hatte nichts dagegen, Frankokanada (oder Quebec) als distinct society zu bezeichnen. Bikulturalis- mus war ihm aber zu starr. Dies lief für ihn auf ein geschlossenes System hinaus, das Menschen auf eine der beiden kulturellen Sphären festlege, die Kooperation zwischen den Gruppen erschwere und mittelfristig zur Separation führe. Bilingualismus durfte für Trudeau nicht mit Bikulturalismus verbunden werden. Nur Bilingualismus allein könne die Anerkennung der dualen Natur Kanadas mit für ein liberales Gemeinwe- sen notwendigen Offenheit und Wahlfreiheit verbinden. In einem Kommentar aus dem Jahr 1998 schrieb Trudeau über die Vorschläge der Royal Commission:

Bilingualism is a tool that doesn’t necessarily imply you’re of French or Anglo- Saxon culture. It implies that you see it as a necessary and useful step to re- cognize the languages of the Europeans who first settled what became Canada. Anybody who really wants to learn a language can do so. But you can’t learn an entire culture. (Trudeau 1998, 144)

Um zu betonen, daß sein Bilingualismus nicht als Bikulturalismus zu verstehen war, begann Trudeau ab 1971 in den offiziellen Bilingualismus ein neues Element zu inte- grieren: den Multikulturalismus. Er begann damit die weltweit erste Politik des Multi- kulturalismus. Kern dieser Politik war, daß der Staat auf die Anerkennung und Unterstützung ver- schiedener Gruppen, auch Einwanderergruppen, verpflichtet werden sollte, ohne damit aber exklusive Sphären anzulegen. Das war darauf ausgerichtet, eine multikulturelle, integrative Gesellschaft zu schaffen und damit auch einem Dualismus zwischen Anglo- und Frankokanada entgegenzuwirken. Durch den Verweis auf den multikulturellen Charakter Kanadas sowie der anglokanadischen und frankokanadischen Gesellschaft sollte die kulturelle und sprachliche Differenz zwischen Anglo- und Frankokanada als eine von vielen erscheinen zu lassen, die nicht einzigartig und auch nicht so zentral für Kanada ist, als daß sie unüberbrückbar wäre. In einer Rede vor dem kanadischen Unterhaus am 8. Oktober 1971 stellte er die- se Politik des Multikulturalismus vor und erläuterte sie. Zunächst finden sich darin

116 viele der schon bekannten Elemente seiner Verfassungspolitik. Multikulturalismus, so führte er aus, diene dazu, um die »cultural freedoms« der Kanadier zu schützen und zu fördern, um »discriminatory attitudes and cultural jealousies zu beseitigen« und die »confidence in [...] individual identity« aller Kanadier, egal welcher Herkunft, zu fördern (Trudeau 1971, 8545). Multikulturalismus war für ihn aber im wesentlichen gegen Bikulturalismus ge- richtet. Nicht nur die Anglo- und Frankokanadier sollten unterstützt werden, sondern »other cultural communities [...] too are essential elements in Canada and deserve go- vernment assistance« und zwar »the small and weak groups no less than the strong and highly organized« (Trudeau 1971, 8546). Dies war auf die Einheit Kanadas hin ange- legt, nicht auf Separation, sondern auf Integration: Es sollten »all Canadian cultural groups that have demonstrated a desire and effort to continue to develop a capacity to grow and contribute to Canada« durch den Staat unterstützt werden und zwar »in order to contribute to regional and national life in ways that derive from their heritage yet are distinctively Canadian«. Es sollten »creative encounters and interchange among all Canadian cultural groups in the interest of national unity« gefördert werden (Trudeau 1971, 8546). Die Koexistenz von »various cultures and ethnic groups« gebe »structure and vitality to our society« (Trudeau 1971, 8545). Bilingualismus sollte beibehalten werden, aber als offenes System, das nicht exklusiv ist. Einwanderer sollten dabei un- terstützt werden, eine der beiden offiziellen Sprachen zu erlernen, »assist members of all cultural groups to overcome cultural barriers to full participation in Canadian society« (Trudeau 1971, 8546). Multikulturalismus sollte den Bilingualismus nicht ablösen, sondern nur akzentuie- ren. In seiner Rede bezeichnete Trudeau seine politische Vision als einen »multicul- turalism within a bilingual framework«. Dieser sei »basically the conscious support of individual freedom of choice.« Wieder findet sich hier das Argument, das Trudeau auch schon zur Begründung der Sprachrechte angeführt hatte. Multikulturalismus soll- te die Grundlage für eine Gesellschaft legen »which is based on fair play for all.« (Tru- deau 1971, 8545) Die Entwicklung des Nebeneinanders der verschiedenen Kulturen in Kanada »cannot be left to chance. It must be fostered and pursued actively. If freedom of choice is in danger for some ethnic groups, it is in danger for all.« (Trudeau 1971, 8546) Die Ziele, die Trudeau mit der Politik des Multikulturalismus anstrebte, wurden auch in einer Rede deutlich, die er vor dem Ukrainian-Canadian Congress, einem Kongreß der ukrainischstämmigen Kanadier, in Winnipeg am 9. Oktober 1971 hielt. Trudeau relativierte in dieser Rede zunächst die Stellung der beiden großen Sprach- gruppen: Kanadas Bevölkerungsverteilung, so stellte er fest, sei nun so ausgewogen, daß keine »racial or linguistic group« mehr eine Mehrheit habe. Die sprachlichen Wur- zeln der Kanadier seien zu je einem Drittel Englisch und Französisch; ein weiteres

117 Drittel habe seine sprachlichen Wurzeln in keiner der beiden Sprachen. »Every single person in Canada«, sagte er, »is now a member of a minority group.« (Trudeau 1972, 32) Mit der Anerkennung der kulturellen Heterogenität der kanadischen Gesellschaft führte er dann aus, sollte bekräftigt werden, daß es eben eine kanadische Gesellschaft ist, die heterogen ist. Kanada könne man nicht mehr als einen Staat betrachten, der in verschiedene, voneinander abgrenzbare Teile zerfalle, sondern vielmehr als einen Staat, der eine multikulturelle Gesellschaft enthalte: »The fabric of Canadian society is as resilient as it is colourful. It is a multicultural society [...].« (Trudeau 1972, 32) Dann führte er weiter aus, daß diese »mosaic pattern« zu einer »moderation« beinhalte und darüber hinaus Kanada zu einem »very special place« mache (Trudeau 1972, 32). Kanada werde nicht geschwächt, sondern gestärkt:

Canada gains strength from the combination. [...] We become less like others; we become less susceptible to cultural, social or political envelopment by others. We become less inclined — certainly less obliged — to think in terms of national grandeur; inclined not at all to assume a posture of aggressiveness, or ostentation. or might. Our image is of a land of people with many differences — but many contributions, many variations in view — but a single desire to live in harmony. To those who argue — as some still do — that cultural differences are divisive and weakening, that Canada would be less susceptible to internal dissension if we were all of the same mould, I respond with an emphatic denial. [. . . ] There is no such thing as a model or ideal Canadian. (Trudeau 1972, 33f; kursiv nicht im Original)

In der Charter der Verfassung von 1982 findet sich dann ein Paragraph, in dem der Multikulturalismus als Staatsziel festgeschrieben wird. In Artikel 27 heißt es: »This Charter shall be interpreted in a manner consistent with the preservation and enhance- ment of the multicultural heritage of Canadians.« Dies bedeutete jedoch nicht, daß die besondere Stellung des anglo- und des fran- kokanadischen Elementes in der Verfassung angetastet worden wäre. Bilingualismus wurde durch den Multikulturalismus nicht angetastet. Keiner weiteren Sprache neben Englisch oder Französisch wurde durch die Verfassung offizieller Status verliehen. Ar- tikel 27 der Charter ist nur eine Interpretationsklausel, die keine bindende Wirkung für Gerichte hat. Die besondere Bedeutung des anglophonen und des frankophonen Elementes wurde nicht geschmälert. Einwanderer sollten eine dieser beiden Sprachen lernen. Es wird hier deutlich, daß Trudeau zwar deep diversity anerkannte, aber die Grenzen fließend halten wollte. Im unterschied zur Royal Commission hoffte er, de- ep diversity auch in eine Gesellschaft integrieren zu können. Bilingualismus zeigt die besondere Bedeutung der deep diversity an, wohingegen Multikulturalismus auf das verbindende Element verweist. Ironischerweise wurde damit kulturelle Heterogenität als einigendes Element ins Spiel gebracht. Die Multikulturalismuspolitik Trudeaus unterscheidet sich damit deut-

118 lich von der im US-amerikanischen Kontext geläufigen. Mit dem Multikulturalismus reagierte Trudeau nicht primär auf die Forderungen verschiedene kulturell-ethnische Gruppen, um mehr Gerechtigkeit zwischen kulturellen Gruppen herzustellen und den sozialen Frieden zu wahren oder Anerkennung als Bereicherung. Sie war für ihn haupt- sächlich Mittel zum nation building. Es ging nicht wie in den USA um nation building trotz Multikulturalismus, sondern um nation building durch Multikulturalismus.

3.2.5 Eine argumentative Lücke in Trudeaus liberaler Verfassungsvision: Bilingualismus zwischen normativer und realpolitischer Begründung

Bei all der Bedeutung, die Trudeau unveräußerlichen individuellen Grundrechten zu- maß, darf nicht vergessen werden, daß die Grundrechtscharta für ihn vor allem Mittel zum Zweck war. Nicht um Grundrechte zu schützen hatte er für eine Grundrechtscharta plädiert – dies leistete für ihn schon der überkommene britisch-kanadische Konstitu- tionalismus –, sondern um damit das Quebec-Problem zu lösen. Bilingualismus war für ihn ein »tool« und ein »necessary and useful step« (Trudeau 1998, 144) und in den Grundrechten sah er, in den von mir schon zitierten Worten Alan Cairns, einen »im- mense lever« (Cairns 1991, 195), um damit die Nation neu zu ordnen und zu erfinden. Volkssouveränität erfüllte für Trudeau die Funktion eines »glue« (Trudeau 1998, 176) und war damit auch auf die Einheit Kanadas ausgerichtet. Den Argumenten Trudeaus für seine Grundrechtsvision war die funktionalistische Ausrichtung auch anzumerken: er sprach von ihnen fast nur im Zusammenhang mit der Einheit Kanadas; er merkte lediglich an, daß es auch in Kanada Grundrechtsver- letzungen gebe, die durch eine Grundrechtscharter unwahrscheinlicher werden wür- den. Martin Thunert stellte über Trudeaus Grundrechtsvision zu Recht fest, daß die- se sich zwar »im Jeffersonschen Sinne an der ›Unveräußerlichkeit‹ der individuellen Freiheitsrechte, die der staatlichen Konstitution [...] vorausgeht« orientiere, seine Ar- gumentationen für eine Positivierung der Grundrechte dabei jedoch »nicht naturrecht- lich, sondern funktional« gewesen seien (Thunert 1992, 50). Thunert spricht von »real- politischen Implikationen der grundrechtlichen Integrationsstrategie« und davon, daß Trudeau kein Interesse daran gehabt habe, dies »zugunsten der symbolischen Bürger- rhetorik hervortreten zu lassen.« (Thunert 1992, 57) Auch wenn Trudeaus Grundrechtsvision funktional ausgerichtet und realpolitisch motiviert war und sich zumindest eine gewisse Inkonsistenz (oder Ironie) seines Re- dens von Bill of Rights und auch von Volkssouveränität nicht verbergen ließ, so be- schädigte dies nach meiner Auffassung nicht die symbolische Integrationskraft seiner Verfassung. Trudeau vermochte, das Ziel, das mit den Grundrechten hergestellt werden sollte, die Einheit Kanadas, auch als Garant für die Grundrechte selbst wieder zurück-

119 zubeziehen. Es gelang ihm, das Grundrechtsregime nicht nur als bloßes Mittel, sondern auch als Ziel der Verfassungsordnung selbst darzustellen. Dies gelang Trudeau, indem er an das britische liberale Erbe selbst anknüpfte, durch die Philosophie Lord Actons, nach dem ein multinationaler Staat auch individuelle Rechte schützt. Durch den Per- sonalismus, nach dem das kulturell eingebettete Individuum oberster normativer Re- ferenzpunkt ist, gelang es ihm, die bilinguale, multikulturelle Ordnung als notwendig für den Schutz individueller Rechte darzustellen und mit einer transzendenten Ebene zu verknüpfen. Dies paßt gut zu einer US-amerikanischen Verfassungsvision. Er muß- te sich bei seiner Begründung seiner Grundrechtsvision nicht verbiegen. Sie war zwar realpolitisch ausgerichtet, diese Realpolitik diente jedoch auch der Grundrechtsvision. Man kann somit sagen, daß in der Symbolizität der Trudeauschen Verfassungsordnung eine instrumentelle Dimension enthalten ist, die diese Symbolizität nicht schwächte, sondern vielmehr bestärkte. Für problematisch für die Trudeausche Grundrechtsvision halte ich etwas anderes. Er konnte nämlich nicht in einer stimmigen Art und Weise erklären, warum er gerade Englisch und Französisch, nicht aber auch andere Sprachen in die Grundrechtsvision integrierte, und wieso andere Gruppen nur einen Platz im Rahmen des Multikultura- lismus erhielten. Besonders deutlich zeigte sich dies, als die Politik des Multikulturalismus in einem bilingualen Rahmen Mitte der 1970er Jahre in Westkanada implementiert werden soll- te. Da der Anteil der frankophonen Bevölkerung an der Bevölkerung nur sehr gering war protestierten sowohl anglokanadische Politiker als auch die Interessenverbände chinesischer und ukrainischer Einwanderer, deren Zahl in Westkanada weitaus größer war als die der frankophonen Kanadier. Man sah in den besonderen Sprachrechten für Frankophone einen »indefensible favouritism« (Taylor 1991, 60). Auf dem Ukrainian- Canadian Congress in Winnipeg am 9. Oktober 1971 wurde Trudeaus Sprachpolitik kritisiert. Die ukrainischstämmigen Kanadier wollten sich nicht nur mit einem Platz im Multikulturalismus zufrieden geben. Trudeau konnte keine Antwort geben, die in seine Grundrechtsvision hineinpaß- te. Während des Ukrainian-Canadian Congress verteidigte er die Politik des offiziel- len Bilingualismus dadurch, daß aus einem schlichten »practical reason« nur Englisch und Französisch und nicht auch Ukrainisch offizielle Sprache in Kanada sein könnten: da es eine »overwhelming number« von Menschen geben, die Englisch oder Franzö- sisch als Muttersprache hätten (Trudeau 1998, 143). Dies stand zwar in der Tradition von Trudeaus politischem Denken. Schon in seinen frühen Schriften hatte er im Zu- sammenhang mit Sprachrechten realpolitisch argumentiert. Sprachrechte, so hatte er ausgeführt, seien notwendig wegen der großen Zahl frankophoner Kanadier. Da diese die Macht hätten, das Land zu zerbrechen, müsse man Sprachrechte akzeptieren. Dies

120 paßt jedoch nur schlecht zu einer Grundrechtsvision, welche die Einheit des Landes auf normativen Prinzipien gründen will. Dieses Argument war auch in den offiziellen, von den Regierungen Trudeaus her- ausgegebenen Dokumenten, sowie in seinen späteren politischen Schriften präsent. Es kam einmal dadurch zum Ausdruck, daß die Sprachrechte an das Prinzip des »where numbers warrant« ausgerichtet war. Sprachrechte sollte es nur in Gebieten geben, in denen auch eine ausreichende Anzahl anglophoner oder frankophoner Kanadier vor- handen war. In The Constitution and the People of Canada werden Sprachrechte deut- lich in Bezug auf die Sprecherzahl verankert. Dieses Argument findet sich dann auch in A Plan for Action. Wieder ist das Argument für Englisch und Französisch das der großen Zahl der Sprecher dieser Sprachen: »With the sheer weight of their numbers, it is natural that the French and British cultures occupy a major place in Canada.« Es ist diese »political reality«, welche die Sprachrechte erfordere (Canada 1978, 9). Das kanadische Modell wird auch in Bezug zur Krise gestellt: »The current crisis demands that we make the efforts necessary to entrench these values and to accept their practical consequences.« (Canada 1978, 6). Das überzeugte nicht. Dies nicht nur wegen der extremen geographischen Distanz innerhalb Kanadas, die es kaum sinnvoll erscheinen ließ, im Westen des Landes eine Sprache als offizielle Sprache anzuerkennen, die nur tausende Kilometer weiter öst- lich von einer größeren Anzahl Menschen gesprochen wurde. Dieses Argument wur- de auch so verstanden, als daß die Sprachrechte nur auf eine Erpressung der Regie- rung Quebecs zurückzuführen seien, welche den Anglophonen Französisch aufzwin- gen wolle. Noch problematischer als die Proteste in Westkanada war für die Verfassungsvision Trudeaus jedoch, daß die realpolitische Begründung der Sprachrechte den Separati- sten in Quebec nützte. Eine realpolitische Begründung der Sprachrechte, die auf die Sprecherzahl abzielte bestärkte nur die Befürchtungen, auf denen die Separatisten ihr politisches Programm aufgebaut hatten. Wenn Sprachrechte nur aus realpolitischen Gründen und wegen dem »weight of numbers« gewährt werden, dann heißt das, daß bei einem Rückgang des französischen Elementes die Sprachrechte fallen würden und Quebec anglophonisiert würde. Bilingualismus wurde als etwas betrachtet, das pri- mär den Anglophonen in Quebec etwas nützen würde, aber kaum den Frankophonen außerhalb Quebecs. Die Nationalisten glaubten nicht an Trudeaus Diktum »les jeux sont faits«, auf die Trudeau seine Realpolitik aufgebaut hatten. Die Politik des Bi- lingualismus bestärkte sie nur in ihrem Unilingualismus. Die Unilingualismuspolitik war wie auch Trudeaus Bilingualismuspolitik, realpolitisch ausgerichtet. Sie wurde als notwendige Maßnahme zum Erhalt einer französischsprachigen Mehrheit in Quebec verteidigt. Der Multikulturalismus machte die Nationalisten besonders skeptisch. Er wurde von ihnen verstanden als Versuch, Frankokanada zu einer ethnischen Gruppe

121 zu machen und damit zu assimilieren. 1975 sagte René Lévesque in einem Interview: »Quebec is made up of many ethnic groups and we have finally come to the decision we weren’t going to become one of them« (in Lévesque 1991, 146). Dadurch kommt deutlich die Konstruktion einer deep diversity zum Ausdruck, die sich vom Multikul- turalismus unterscheidet und sich über Sprache definiert. Sie glaubten nicht an ein les jeux sont faits, wie Trudeau dies tat. Französisch war in ihren Augen gefährdet. Inwiefern dies berechtigt und nicht übertrieben war und anderen Zielen diente soll hier nicht geklärt werden. Wichtig ist hier nur, daß dies eine strukturelle Lücke in Trudeaus Grundrechtsvision aufzeigte. Sein Argument für Sprachrechte befindet sich in dem Dilemma, das sie zwar grundsätzlich gut in die Grundrechtsvision integriert werden könnten, aber es unmöglich ist, die Hinzunahme bestimmter Sprachen und das Wegbleiben anderer Sprachen zu legitimieren. Sein Argument für Sprachrechte hat eine Doppelnatur: einmal grundrechtsfixiert, Sprachrechte als Kontext für Indivi- duen, zum anderen aber auch realpolitisch wegen einer großen Sprecherzahl. Bei der Verteidigung der Sprachrechte spricht Trudeau die Sprache des britisch orientierten Verfassungsjuristen, der nichts von großen Prinzipien hält und eher auf faktische Ge- gebenheiten rekurriert. Kanada scheint unter dieser Perspektive für Trudeau nicht mehr zu sein, als ein Kompromiß, nicht mehr als ein Land, das auf Grundrechten ruht und das von einer Großen, transzendenten Idee getragen wird. Die Sonderstellung der Franzosen konnte zwar mit Bezug auf Gesamtkanada gerechtfertigt werden, wegen der Existenz Que- becs und einer großen frankophonen Gruppe in dieser Provinz. Dies paßt jedoch nicht mit der symbolischen Funktion der Verfassung zusammen, die seine Grundrechtsvi- sion haben sollte. Trudeaus normatives Modell untergräbt sich sozusagen durch eine realpolitische Lücke. Salopp gesprochen ist es britische Realpolitik, welche an den Grundfesten einer herrlichen, aus den USA importierten Kathedrale nagt. Die Kathe- drale finden alle Beteiligten schön: sie schätzen ihr Wertefundament, das hohe Lied individueller Rechte, Volkssouveränität. Sie schätzen den Kanon, das Buch, die heilige Schrift. Aber sie wissen, daß die Kathedrale auf unsicherem Grund steht und machen sich deshalb Sorgen. Da die Kathedrale nicht auf sicheren Grund gestellt wird, will jede Gemeinde eine eigene Kathedrale haben, genauso schön wie die Alte, in der die gleichen Werte gepredigt werden, aber auf sicherem Grund. Die strukturellen Probleme seiner eigenen Verfassungsvision zeigten sich noch in ei- nem anderen Feld von Trudeaus Verfassungspolitik: seiner Ureinwohnerpolitik. Urein- wohner stellten wie auch andere Gruppen den Bilingualismus in Frage, allerdings vor dem Hintergrund einer klar ausformulierten deep diversity. Aber auch dort war es ge- lungen, Ausnahmen von der Verfassungsvision Trudeaus durchzusetzen. Es wurde ein neues Element in die Verfassungsvision Trudeaus hineingebracht, gegen das er sich sonst immer gewehrt hatte: kollektive Rechte.

122 3.3 Trudeaus Ureinwohnerpolitik zwischen individuellen und kollektiven Rechten

Ureinwohner spielten für die britischen Kolonialherren nach ihrem Sieg über die Fran- zosen 1763 zunächst eine viel wichtigere Rolle als die französischen Siedler im besetz- ten Quebec. Das Verhältnis war dabei nicht nur das eines Siegers und eines Besiegten. Die Ureinwohner hatten über eine lange Zeit hinweg den größten Bevölkerungsteil in britisch Nordamerika ausgemacht. Das Leben in den nördlichen britischen Kolo- nien war von den Ureinwohnern abhängig oder profitierte zumindest sehr vom Han- del mit ihnen. Die Ureinwohner hatten auch nicht unwesentlich zum britischen Sieg über Frankreich beigetragen; viele der Stämme waren mit den Briten verbündet gewe- sen und blieben auch nach dem Ende des Krieges als Bündnispartner bedeutsam (vgl. Dickason 1992). Wie wichtig die Ureinwohner für die Briten gewesen waren spiegelt sich darin wie- der, daß ihnen in der Royal Proclamation von 1763 viele Rechte zugesichert und auch relativ umfassende Gebiete zuerkannt wurden. Die Gebiete, welche durch die Roy- al Proclamation als Ureinwohner-Gebiete anerkannt und ausgewiesen worden waren, waren weitaus größer als die Gebiete, welche den eigenen Siedlern vorbehalten sein sollten (Quebec und die beiden Floridas).

Quelle: http://www.bloorstreet.com/200block/rp1763.htm

Fast die Hälfte der Royal Proclamation handelt von den Rechten der Ureinwohner. Sie begreift die Ureinwohner als eine Gruppe von Menschen, die auf ihren Territorien möglichst in Ruhe gelassen und vor dem Zugriff der europäischen Siedler möglichst verschont werden sollten. Ureinwohnern sollten Territorien zur exklusiven Nutzung überlassen bleiben: And whereas it is just and reasonable, and essential to our Interest, and the Secur- ity of our Colonies, that the several Nations or Tribes of Indians with whom We are connected, and who live under our Protection, should not be molested or dis- turbed in the Possession of such Parts of Our Dominions and Territories as, not

123 having been ceded to or purchased by Us, are reserved to them, or any of them, as their Hunting Grounds [. . . ]. And We do further declare it to be Our Royal Will and Pleasure, for the present as aforesaid, to reserve under our Sovereignty, Protection, and Dominion, for the use of the said Indians, all the Lands and Ter- ritories not included within the Limits of Our said Three new Governments, or within the Limits of the Territory granted to the Hudson’s Bay Company, as also all the Lands and Territories lying to the Westward of the Sources of the Rivers which fall into the Sea from the West and North West as aforesaid.

Zum Schutz der Ureinwohner sollten territoriale Fragen ausschließlich über faire Verträge zwischen der Krone und den Ureinwohnergruppen geregelt werden dürfen:

We do hereby strictly forbid, on Pain of our Displeasure, all our loving Subjects from making any Purchases or Settlements whatever, or taking Possession of any of the Lands above reserved, without our especial leave and Licence for that Purpose first obtained. [. . . ] [I]f at any Time any of the Said Indians should be inclined to dispose of the said Lands, the same shall be Purchased only for Us, in our Name, at some public Meeting or Assembly of the said Indians [. . . ].

Mit der Royal Proclamation wurde den Ureinwohnern nur ein Titel über Besiedlung und Nutzung zuerkannt, aber kein kollektives Eigentum.20 Man hielt die Ureinwohner nicht für souverän, sondern sah sie als Teil des eigenen Herrschaftsgebietes an. Für die britische Krone war die Royal Proclamation kein internationaler Vertrag. Sie durch- lief nicht die für internationale Verträge notwendige Prozedur im britischen Parlament und britische Gerichte haben sie niemals als einen internationalen Vertrag anerkannt (vgl. Dickason 1992, 177 und 188).21 In ihrem Herrschaftsraum anerkannte die Kro- ne aber damit aber durchaus das Nebeneinander verschiedener Gesellschaften. Das Nordamerika der Royal Proclamation ist ein multinationales Dominion mit verschie- denen Gesellschaften und Territorien, das zwar der Souveränität der Krone unterliegt, deshalb aber nicht zu einem homogenen Land mit einer Gesellschaft wird. Eine deep diversity wurde anerkannt. In der Zeit nach 1763 war der Privy Council in London darum bemüht, den in der Royal Proclamation garantierten Rechten Geltung zu verschaffen. Er verwies auf die Treuhandspflicht der Krone und entschied bei Konfliktfällen häufig für Ureinwohner. Den Entscheidungen des Privy Council wurde auch im allgemeinen nachgekommen. Nach der Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten veränderte sich die Lage für die Ureinwohner in den Gebieten, die den USA angehörten. Der Supreme Court der USA entschied zwar zu Gunsten der Ureinwohner, er war aber in den Anfangsjahren der USA noch zu schwach. Seine Urteile wurden nicht umgesetzt. Weder die Regierun- gen in Washington noch die Gouverneure waren willens, Militär gegen die Siedler einzusetzen.In Kanada dagegen hielt man sich weitaus länger als in den USA an den

20Vgl. hierzu allgemein Dickason (1992, 188). Eine ausführliche Analyse findet sich bei Slattery (1983) und bei Slattery (1996). 21Für weitere Ausführungen siehe Slattery 1983 und Slattery 1996.

124 Geist der Royal Proclamation. Es wurden Verträge geschlossen, die weitgehend auch eingehalten wurden. Nachdem die Briten ihre Position in Nordamerika gefestigt hatten, die Ureinwoh- ner nicht mehr so sehr als Nahrungsmittellieferanten und Bundesgenossen in Kriegen benötigten und nachdem der Bevölkerungsdruck durch nachrückende Siedler immer stärker wurde, änderte sich ihr Umgang mit den Ureinwohnern jedoch auch dort. Von einer Akzeptanz der Ureinwohner konnte von da an keine Rede mehr sein, wenn auch der Vormarsch der Siedler in wesentlich geregelteren Bahnen verlief als in den USA. Es zeigte sich jetzt, daß die Bestimmungen der Royal Proclamation dem seziereri- schen Blick von Gerichten nur schwer standhielten. Was diese Formeln aus der Roy- al Proclamation und die Verträge, welche mit Ureinwohnern abgeschlossen wurden, konkret bedeuten ist in Kanada bis heute umstritten. Was die Souveränität der Krone umfaßt und was dies für Landrechte der Ureinwohner bedeutet, was die Treuhänder- rolle der Krone für Verpflichtungen mit sich bringt und wie umfangreich die Krone die Ureinwohner als Staaten mit einem eigenen self-government und eigenen politischen Strukturen anerkannt hat, blieb umstritten: »The legal nature of the treaties has never been fully clarified«, wie Olive Patricia Dickason feststellte (Dickason 1992, 177). Von lokalen Gerichten wurden Landrechte fortan nur als sehr unbestimmte Nutzungsrechte interpretiert, die keinesfalls Eigentum sicherten. Die Landfrage wurde auch keinesfalls bilateral in einem gegenseitigen Einvernehmen geregelt. Rasch wurden die Ureinwoh- ner auch gegen ihren Willen von ihren Ländern vertrieben und ihre Landbasis durch die Einrichtung von Reservaten gesetzlich festgelegt (vgl. Dickason 1992, 273).22 Die Ureinwohner verloren ihre zentrale Stellung in der kanadischen Verfassung. Im British North America Act tauchen sie zwar auf, finden aber nur in Bezug auf die Zu- ständigkeit der neuen Bundesregierung Erwähnung. Die Ureinwohner waren in der Verfassung nur soweit erwähnt, als daß der Bundesregierung die Kompetenz zugewie- sen wurde, die Ureinwohner-Frage durch Gesetze zu regeln; Mitwirkungsrechte für Ureinwohnergruppen wurden dabei nicht festgelegt. Das kanadische Unterhaus verab- schiedete 1876 einen Indian Act, der festlegte, daß die Ureinwohner unter der Juris- diktion des kanadischen Bundesstaates stünden. Im Rahmen des Indian Act genossen die Ureinwohner zwar ein gewisses Maß an Selbstregierung. Die Politik der kanadi- schen Regierungen zielte jedoch schon bald darauf ab, die Ureinwohner zu assimi- lieren. Dieses Interesse hatte sich schon in der Verfassungsdebatte 1865 manifestiert. George Brown hatte dort Ureinwohner als noch zu zivilisierende Menschen erwähnt (in Waite 1963, 60). Die Ureinwohnerbehörde des Bundes, dem Department of Indi- an Affairs, verfolgte dann auch eine Politik, die auf Assimilation abzielte. v. a. nach den Aufständen gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte das Department of Indian Af-

22Für einen guten Überblick über die Stellung des Aboriginal Title in der Rechtstradition Kanadas siehe McNeil (1997).

125 fairs die Kontrolle über das Leben von Ureinwohnern stetig ausgeweitet, so daß diese noch nicht einmal mehr die Möglichkeit gehabt hatten, nach eigenen Vorstellungen ein Testament zu schreiben oder ihre Ernte selbst zu vermarkten. Ureinwohner, die auf Reservaten lebten, hatten auch kein Wahlrecht. 1951-1953 waren zwar auf Druck von Ureinwohnern, die für Kanada am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hatten, ei- nige Verbesserungen eingeführt und einige autoritäre Züge des alten Systems abge- schafft worden. Diese Veränderungen konnten die Situation von Ureinwohnern jedoch kaum soweit verbessern, als daß man von einer echten Selbstregierung oder einer weit gehenden Gleichberechtigung mit anderen Kanadiern hätte sprechen können. Es gab zwei verschiedene kanadische Staatsbürgerschaften für Ureinwohner und die übrigen Bewohner des Landes.23 Die Ureinwohner waren für die breite kanadische Öffentlichkeit bis weit in die Hälf- te des 20. Jahrhunderts kaum präsent. Dies änderte sich erst in den 1950er Jahren, als durch die Erschließung des Nordens zumindest die Lage der Inuit einer breiteren Öf- fentlichkeit bekannt machte. Man erschloß Bodenschätze im Norden (und verwirklich- te Browns Vision) und richtete v.a. auch Militärbasen ein. Nordkanada lag strategisch günstig nicht weit von der Sowjetunion entfernt. In den USA machte die Red Power Bewegung auf Benachteiligungen und das Elend von Ureinwohnern aufmerksam, die teilweise mit der Bürgerrechtsbewegung verbunden war. 1963 hatte die kanadische Regierung den Ethnologen Hawthorne damit beauftragt, einen Bericht über die Lage der Ureinwohner in Kanada zu schreiben. 1966 wurde sein Bericht veröffentlicht. Es war die erste »full scale national survey of the conditions of Indians in Canada« (Wea- ver 1981, 21). Der Bericht Hawthornes zeichnete ein düsteres Bild über die Lage von Ureinwohnern in den Reservaten des Landes, das er als von Alkoholismus und nied- rigem Bildungsgrad gekennzeichnet sah (vgl. Dickason 1992, 384f). Die Ureinwoh- nerfrage wurde als eines der drängendsten Problemfelder innerhalb Kanadas in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt. Die Regierung geriet unter Handlungsdruck. Der Indian Act wurde schnell zum Symbol für Diskriminierung und rassistische Ge- setzgebung. Dabei waren, wie Sally M. Weaver schrieb, vor allem liberale Kreise in Kanada dem Indian Act gegenüber kritisch eingestellt:

Especially to liberal-minded politicians [...] it was seen as restricting freedom of choice and individuality, which other Canadians enjoyed. In keeping with the rhetoric of the urban anti-poverty movement, reserves were frequently character- ized by the press and vocal university students as ›ghettos‹ on which Indians were forced to live, and the very notion of segregation in the reserve system became increasingly offensive [. . . ]. (Weaver 1981, 19)

Daß auch Pierre Elliott Trudeau vom Report Hawthornes beeindruckt und alarmiert worden war, braucht nicht zu verwundern. Die Ureinwohnerfrage hatte ihn bis dahin

23Für einen Überblick siehe Dickason 1992 und Abele 1999.

126 zwar kaum bewegt; in seinen politischen Schriften zwischen 1950 und 1967 erwähnt er die Ureinwohner nur zwei Mal.24 Nachdem er jedoch 1968 Premierminister gewor- den war, machte er es zu einem wichtigen Anliegen seiner Regierung, die Gleichbe- rechtigung der Ureinwohner mit anderen Kanadiern herzustellen. Er betrachtete die Ureinwohnerreservate als Ghettos. Zunächst werde ich den Reformvorschlag für die Lösung der Ureinwohnerfrage, welchen die erste Regierung Trudeau vorlegte, das sogenannte White Paper von 1969. Es soll herausgearbeitet werden, wie sich Trudeaus Grundrechtsvision hier umsetzte in einem anderen Umfeld mit anderen realpolitischen Prämissen (Abschnitt 3.3.1). Danach werde ich auf die Reaktion der Ureinwohner auf das White Paper einge- hen. Dabei soll zum einen gezeigt werden, daß die Kritik auf die inneren Spannungen hinweist, die auch schon bei der Reaktion auf Trudeaus Bilingualismus zu Tage ge- treten waren. Zum anderen ist die Reaktion der Ureinwohner aber vor allem deshalb interessant, weil sie Trudeau dazu zwang, ein neues Element in seine liberale Grund- rechtsvision zu integrieren: kollektive Rechte (Abschnitt 3.3.2).

3.3.1 Ersetzung kollektiver durch individuelle Rechte: Das White Paper von 1969

Das White Paper, oder das Statement of the Government Of Canada On Indian Policy, 1969, wie der vollständige offizielle Titel des Dokumentes lautete, war das Ergebnis ei- ner längeren systematischen Untersuchung. Trudeau hatte dazu Robert K. Andras und einen jungen Nachwuchspolitiker aus Quebec, Jean Chrétien (von 1993 bis 2004 selbst Premierminister Kanadas), beauftragt. Beide waren mehrere Monate lang quer durch Kanada gereist und hatten Gespräche mit Ureinwohnern und Angestellten der Urein- wohnerbehörden geführt. Das White Paper präsentierte sich als das Ergebnis von »a year’s intensive discussions with Indian people throughout Canada.« (Canada 1969b, 4) Dem Dokument ist dabei aber wenig Einfluß von außen anzumerken. Es trägt ein- deutig, bis in Details, die Handschrift Trudeaus. Die Leitidee des Dokumentes ist das Primat individueller Rechte. Die schwierige Situation sah das Papier als das Ergebnis kollektiver Rechte und der Sonderbehandlung der Ureinwohner. Diesmal war dies je- doch nicht selbstverschuldet, wie bei Quebec, sondern von außen gemacht worden. Sie seien ausgegrenzt worden. Demgegenüber heißt es im White Paper, daß »[t]he Gover- nment believes that Indian people must not be shut out of Canadian life and must share equally in these opportunities.« (Canada 1969b, 6) Die Ureinwohner sollten von den überkommenen unterdrückerischen Strukturen befreit werden, die kollektiven Rech-

24Es sind dies Bemerkungen über die relative Kleinheit dieser Gruppe (vgl. Trudeau 1968g, 38) und der Hinweis darauf, daß die Iroquois schon eine frühe föderale Ordnung gekannt hätten (vgl. Trudeau 1968f, 138).

127 te sollten beseitigt und die Rechte der Ureinwohner als gleichberechtigte kanadische Bürger gestärkt werden. Wichtigste Maßnahme, um dieses Ziel zu erreichen, war für die Regierung, die Re- servate abzuschaffen und die Ureinwohnerbehörde aufzulösen. Kollektive Selbstregie- rung für Ureinwohner sollte aufgegeben werden und in ein System von lokaler Selbst- verwaltung, ähnlich wie in anderen kanadischen Dörfern und Gemeinden, überführt werden. Das Land der Ureinwohner sollte in Zukunft nicht mehr ausschließlich in kollektivem Besitz sein. Es sollte auch privater Landbesitz erlaubt werden und Urein- wohnern auch die Möglichkeit gegeben werden, selbständig und ohne Abstimmung mit einer Behörde oder ihres Stammes dieses Land auch an beliebige andere Personen zu veräußern. Die spezielle Gesetzgebung und Bürokratie, welche die Ureinwohner im letzten Jahrhundert verwaltet hatte sollte abgeschafft und den Provinzen die allei- nige Zuständigkeit übergeben werden. Bei der Bundesregierung sollten nur noch für eine Übergangszeit gewisse Treuhänder-Funktionen bleiben (vgl. Canada 1969b, 6). Ureinwohner sollten ihre Sonderrolle in Kanada verlieren und in der Verfassung nicht mehr als gesonderte Gruppe vorkommen; das White Paper sprach von einem »remo- val of the reference in the constitution« (Canada 1969b, 8). Aus Ureinwohnern sollten Kanadier wie alle anderen auch werden. Das bedeutete nicht, daß die Ureinwohner gezwungen werden sollten, sich kulturell zu assimilieren. Im White Paper war an vielen Stellen davon die Rede, daß Ureinwoh- nerkultur wertvoll sei und es wünschenswert sei, wenn diese erhalten bleiben würde. In den ersten Sätzen der Introduction zum White Paper heißt es zum Beispiel, daß für Ureinwohner ihre Kultur eine »source of personal strength« sei und daß die Abwer- tung ihrer »culture and history« ihnen Selbstachtung genommen habe: »To lose a sense of worthiness is damaging. Success in life, in adapting to change, and in developing appropriate relations within the community as well as in relation to a wider world, requires a strong sense of personal worth - a real sense of identity.« (Canada 1969b, 8f) Diese Stellen erinnern an die politische Philosophie des Personalismus und an die Politik, die er gegenüber dem frankophonen Kanada befürwortete. Aber auch ein an- derer Aspekt der politischen Theorie Trudeaus wurde hier offensichtlich. Daran wurde nämlich die Idee eines freien Wettbewerbes geknüpft. Ureinwohner sollten die Mög- lichkeit haben, als freie und gleiche kanadische Bürger sich für den Erhalt ihrer Kultur einzusetzen. »To be an Indian must be to be free - free to develop Indian cultures in an environment of legal, social and economic equality with other Canadians.« (Canada 1969b, 3) Es war wieder wie bei Frankokanada mit der Warnung vor einer hothouse culture verbunden. Sehr deutlich wurde dies in einem Brief Trudeaus an den Häupt- ling Courchene, in dem er schrieb, daß »[i]f the Indian character can survive only by the protection of special legislation, then it will disappear on its own account«. Weiter

128 heißt es darin: »our diversity must continue on its own merits, not artificially, through special legislation or by seeking the protection of history.« (zitiert in Weaver 1981, 180). Insoweit er kollektive Rechte für Ureinwohner ablehnte, um eine künstliche hothou- se culture zu verhindern, ähnelten die Vorschläge Trudeaus für eine Neugestaltung der Ureinwohnerpolitik seiner Politik gegenüber dem frankophonen Kanada. Der große Unterschied bestand jedoch darin, daß es keine kulturell ausgerichteten individuellen Rechte, etwa gesonderte Sprachrechte, für Ureinwohner geben sollte. Im White Paper ist nirgends davon die Rede, daß ein freier Wettbewerb zwischen verschiedenen Kul- turen gewisse rechtliche Rahmenbedingungen benötige, um diesen Wettkampf auch fair zu machen. Weder sollten kanadische Bürger das Recht erhalten, mit Bundes- oder Provinzorganen in einer Ureinwohnersprache zu kommunizieren, noch war eine spezielle Berücksichtigung von Ureinwohnersprachen im Bildungssystem vorgesehen. Zwar dachte man auch über kulturell orientierte Fördermaßnahmen für Ureinwohner nach. Das sollten aber nur kurzfristige Maßnahmen sein, nicht mehr als eine zeitlich beschränkte affirmative action. Den Ureinwohnern sollte zwar dabei geholfen werden, sich in das bilinguale Kanada zu integrieren. Es war aber nicht vorgesehen, kulturelle Verschiedenheit langfristig durch Rechte anzuerkennen, wie dies bei den Frankokana- diern über die Anerkennung des Französischen als offizieller Sprache in Kanada der Fall war (vgl. Dickason 1992, 384f). Die Regierung sah es nur als ihr Ziel an, die »full, free and non-discriminatory participation of the Indian people in Canadian society« (Canada 1969b, 4) zu garantieren. Unter einem »equal status« (Canada 1969b, 4) ver- stand das White Paper nur universelle Grundrechte, nicht aber kulturell ausgerichtete individuelle Rechte. Die Ureinwohner sollten auch keine besondere Rolle im kanadischen Föderalismus spielen. Es war nie die Rede davon, die Entstehung einer Provinz zu fördern, in wel- cher die Ureinwohner eine Mehrheit stellen würden und dort demokratisches Regieren erlernen konnten. Trudeau hatte in einer seiner frühen Schriften zwar einmal durchaus positiv den Föderalismus der sechs Nationen der Iroquois als altes Modell und Vorbild für den kanadischen Föderalismus und für den kanadischen Konstitutionalismus über- haupt erwähnt. Er hatte davon gesprochen, daß »un certain nombre de Canadiens sont encore plus illustres que nous comme pionniers dans l’art de faire une constitution: la Confédération des six nations iroquoises remonte à 1570 environ et elle existe tou- jours.« Er anerkannte auch den »sens politique aigu des premiers habitants du pays.« (Trudeau 1968f, 138) Er zog daraus jedoch keine Konsequenzen für eine mögliche Neubelebung dieses Föderalismus. Ureinwohner sollten gleichberechtigte Bürger der schon vorhandenen Provinzen werden. Es hieß zwar im White Paper, daß »govern- ment can create a framework within which all persons and groups can seek their own goals« (Canada 1969b, 7). Dieser Rahmen wird jedoch nur insoweit geboten, als daß

129 den Ureinwohnern Unterstützung zur Integration in die kanadische Gesellschaft ange- boten wird, nicht aber, weiter als eigene Gesellschaft zu existieren. Die Ureinwohner spielten eine Rolle im Multikulturalismus, aber nicht stärker als Einwanderergruppen. Roger Gibbins stellt ganz richtig fest, daß »In essence, the term »Indian« was to be stripped of any constitutional or legal significance; it would remain only as an ethnic or cultural designation, with no more formal weight than the terms German-Canadian or Japanese-Canadian.« (Gibbins 1986, 302) Warum unterschied sich Trudeaus Ureinwohnerpolitik von seiner Politik gegenüber dem frankophonen Kanada? Die Gründe sind in zwei Ursachen zu suchen. Zum einen lag das daran, daß er in kulturell ausgerichteten Rechten wegen der Ver- gangenheit nichts Positives sah. Er sah in jeder auch nur irgend gearteten Nennung der Ureinwohner den Versuch, Ureinwohner aus rassistischen Gründen aus dem ka- nadischen Gesellschaftsleben ausschließen und ghettoisieren zu wollen. Die Idee ge- sonderter Rechte für Ureinwohner und der Erhalt ihrer Lebensform Teil des Problems. Im White Paper heißt es: »Special treatment has made of the Indians a community disadvantaged and apart« (Canada 1969b, 3). Weiter heißt es: »Canada cannot seek the just society and keep discriminatory legislation on its statute books. The Govern- ment believes this to be self-evident.« (Canada 1969b, 14) Dies stand direkt unter dem Einfluß der Anti-Rassismusgesetzgebung in den USA. Die Ureinwohnerfrage erörterte er stark unter der Perspektive des Urteils Brown vs the Board of Education von 1955 betrachtete. Er sah darin Ausdruck einer Politik des separate but equal. Es heißt im White Paper: »Separate but equal services do not provide truly equal treatment.« (Ca- nada 1969b, 18) Selbstverwaltung für Ureinwohner wurde als Form der Apartheid be- trachtet. Die weiße Führung in Südafrika hatte auch das Beispiel nordamerikanischer Ureinwohnerreservate angeführt, um ihre eigene Segregationspolitik zu legitimieren. Zum anderen folgte dies aber auch direkt aus der Logik seines Argumentes für Sprachrechte und steht damit nicht im Widerspruch zu seiner übrigen Politik. Es folgt nämlich aus der Logik der realpolitischen Begründung von Sprachrechten. Die Urein- wohner waren im Gegensatz zu den Frankophonen für ihn nur eine nur sehr kleine und daher vernachlässigbare Gruppe. Sie spielten realpolitisch, so glaubte Trudeau, keine Rolle. Frankokanada dagegen bekam Rechte, da es das Land zerstören kann, »à quoi ne peuvent encore prétendre ni les Iroquois, ni les Esquimaux [...].«, wie Trudeau schon 1965 festgestellt hatte (Trudeau 1968g, 38). Eine Anerkennung von Ureinwoh- nern sei auch unmöglich, da dies zur Balkanisierung Kanadas führen wurde (Trudeau 1992b, 410). Trudeau war sich darüber im klaren, daß er damit den Ureinwohnern viel abverlan- gen würde; er war sich darüber bewußt, daß diese Politik darauf hinauslaufen könnte, daß sich die Ureinwohner assimilieren müßten. In einer Debatte an der Carleton Uni- versity am 24. Februar 1970 wurde dies deutlich. Er zeichnete zwei Alternativen für

130 Ureinwohner: sich in einem Ghetto einzuschließen oder sich in die kanadische Gesell- schaft zu integrieren und an der Entwicklung teilzuhaben: »We are just saying to the Indians, you’ve got a choice now and we’re putting this position to you...« (vgl. Tru- deau 1972, 15). Keine »small group of people«, so sagte er in der Carleton Universi- ty, könne lange außerhalb des Mainstreams in Bildung, technologischer Entwicklung, städtischen Lebens bleiben: »You cannot do this«, sagte er, »without paying a very heavy penalty in terms of the health of children, the education of minds, the freedom to move, the right to accumulate property and the right to be treated as an equal under the law.« (Trudeau 1972, 14)

3.3.2 Widerstand der Ureinwohner gegen das White Paper und die Wiederkehr kollektiver Rechte in der Verfassung von 1982

Das White Paper war von der kanadischen Presse und sogar von Oppositionsparteien sehr positiv aufgenommen worden. Es wurde als lang schon notwendige Realisierung liberaler Standards auch in Ureinwohnerfragen begrüßt (vgl. Weaver 1981, 196). Un- mittelbar nach der Verkündigung des White Papers wurde jedoch schon offensichtlich, daß es von den Ureinwohnern nicht akzeptiert wurde. Diese reagierten mit einem Pro- teststurm. Unruhen brachen aus, Jean Chrétien und seine Mitarbeiter waren auf Reser- vaten nicht mehr sicher. Durch das White Paper wurde, wie Sally M. Weaver schreibt, eine »termination psychosis« (Weaver 1981, 6) ausgelöst. Der Widerstand gegen das White Paper war, so schreibt sie in oft zitierten Worten, der »single most catalyst for the Indian nationalist movement, launching it into a determined force for nativism...« (Weaver 1981, 171). Ureinwohner fürchteten, daß mit der Abschaffung des Reservatssystems und spe- zieller Rechte die es unmöglich werden würde, weiter die Kultur der Ureinwohner aufrecht erhalten zu können. »If we accept this policy, and in the process lose our rights and our lands,« hieß es in einem Statement des National Indian Brotherhood, »we become willing partners in cultural genocide. This we cannot do.«25 Gegenstand ihrer Proteste war auch, genau wie bei den Ukrainern, daß sie das Sprachregime ablehnten und es ungerecht fanden, daß nur Englisch und Französisch als offizielle Sprachen anerkannt werden sollten. Es wurden die Unterschiede zur Fran- kophonenpolitik betont. Besonders deutlich brachte dies der Häuptling Courchene zum Ausdruck:

Elimination of constitutional distinctions will not bring about equality for Indi- ans any more than the elimination of references to English and French would re- move the causes of discontent that presently exist between ›English‹ and ›French‹

25Statement of National Indian Brotherhood. In: Recent Statements by the Indians of Canada, Ang- lican Church of Canada General Synod Action 1969, Bulletin 201, 1970, 28; zitiert in Dickason (1992, 386).

131 Canada. We wonder in fact, if this government would have the audacity to sug- gest that such references to two founding nations and bilingualism should be eliminated so that there would be no distinction between the ›French‹ and ›Eng- lish‹ and the rest of the Canadian ethnic population. (zitiert in Weaver 1981, 175)

Die Indian Chiefs of Alberta entwickelten eine Gegenposition, welche sich Punkt für Punkt gegen das White Paper wandte, das sogenannte Red Paper. Es wurde vom Na- tional Indian Brotherhood, dem kanadaweiten Verband der Ureinwohner, unterstützt und war rasch als die nationale Position der Ureinwohner anerkannt worden. Das Red Paper wurde am 4. Juni 1970 an Trudeau und seinen Ureinwohnerminister Chrétien übergeben. Kern des Papiers war ein strategisches Argument: Es hielt am Indian Act fest, der zwar als Produkt der Weißen gesehen wird, mit dem aber gleichzeitig die Un- abhängigkeit und kulturelle Überlebensfähigkeit der Ureinwohner verbunden wurde. Der Indian Act wurde als Garant der Kultur der Ureinwohner aufgefaßt: It is neither possible nor desirable to eliminate the Indian Act. It is essential to review it, but not before the question of the treaties is settled. Some sections can be altered, amended, or deleted readily. Other sections need more careful study, because the Indian Act provided for Indian people the legal framework that is provided in many federal and provincial statutes for other Canadians. Thus the Indian Act is very complicated and cannot simply be burned. (Indian Chiefs of Alberta 1970, 12)

Es wurde vorgeschlagen, das überkommene Reservatssystem beizubehalten und in- nerhalb dieses Systems Reformen durchzuführen. Man sah das alles nicht unter einer Perspektive von individuellen Rechten versus kollektiven Rechten. Man wollte beides und sah darin keinen Widerspruch. Ureinwohner sollten als »citizens plus« behan- delt werden, wie dies auch ursprünglich der Ethnologe Hawthorne in seinem Report vorgeschlagen hatte: sowohl volle Bürgerrechte als auch self-determination auf den Reservaten. Trudeau änderte seine Politik unter dem Eindruck der Proteste zunächst nicht. Bei der Verkündigung des Red Papers gab er zwar zu, daß das White Paper vielleicht »a bit too theoretical« und »a bit too abstract« gewesen sei. »We had perhaps« so sagte er, »the prejudices of small ›l‹ liberals, and white men at that, who thought that equality meant the same law for everybody [...].« (Trudeau 1972, 21) Von der fundamentalen Richtigkeit seiner Ansichten blieb er aber dennoch überzeugt. Die Regierung ging, wie Sally M. Weaver schrieb, damals davon aus, daß der Widerstand der Ureinwoh- ner nur auf einen »defence mechanism« zurückzuführen sei, der auf ihrem bisherigen Ausschluß aus der kanadischen Gesellschaft beruhe. Man habe das Interesse der Urein- wohner an kollektiven Rechten, wie sie durch den Indian Act zumindest in Grundzügen garantiert wurden, nicht verstehen können und habe Ureinwohner als »poor ›aspiring whites‹« angesehen: »[...] Indians were viewed in terms of the socio-economic class structure, not ethnicity.« (Weaver 1981, 196)

132 Trudeau rückte von seiner Politik erst ab, als es den Ureinwohnern gelungen war, einige wichtige Landrechtsprozesse zu gewinnen. Besonders hatte ihn ein Urteil des Supreme Courts von 1973 beeindruckt. Im sog. Calder case anerkannte das Gericht die Existenz von Ureinwohner-Titeln auf weite Territorien. Von da an rückte er davon ab, den Indian Act und das Reservatssystem aufzuheben (vgl. Russell 1993, 94). Dies bedeutete aber nicht, daß er öffentlich eine neue Position zur Ureinwohnerfrage formulierte. Er war nur von der Macht der Verhältnisse beeindruckt, hatte aber seine Ansichten nicht verändert. Das Thema wurde einfach nicht mehr angeschnitten und sollte ausgesessen werden. Konfrontation mit den Dachverbänden der Ureinwohnern wurden in der Folgezeit peinlich aus dem Weg gegangen (vgl. Weaver 1993). Mit der Ureinwohnerfrage mußte sich Trudeau erst wieder während der Verhand- lungen über die neue Verfassung von 1982 beschäftigen. Bei dieser Verfassungsre- form waren die Ureinwohner ursprünglich nicht mit einbezogen worden. Es war ihnen jedoch – nach dem Schock des White Papers gut organisiert – gelungen, in Ottawa durch eine gezielte Lobbypolitik Gehör zu finden. Ureinwohner erhielten schließlich einen eigenen Abschnitt in der Verfassung, der den zweiten Teil der Verfassung nach der Charter bildet. In Artikel 35 der Verfassung heißt es: »The existing aboriginal and treaty rights of the aboriginal peoples of Canada are hereby recognized and affirmed.« 1983 war dem Artikel 35 zwar noch der Zusatz angefügt worden: »For greater certain- ty [...] ›treaty rights‹ includes rights that now exist by way of land claims agreement or may be so acquired.« Dieses »now exist« wurde häufig so interpretiert, als ob es sich dabei nur um Rechte handelt, die bereits von der kanadischen Regierung vor 1982 anerkannt worden war und damit noch aus dem alten System stammte. Es hatte jedoch Gewicht.26 Dieses Recht ist nicht Teil der Charter der Verfassung. Allerdings finden sich auch Regelungen bezüglich der Ureinwohnerfrage direkt in der Charter of Rights. In Artikel 25 heißt es:

The guarantee in this Charter of certain rights and freedoms shall not be con- strued so as to abrogate or derogate from any aboriginal, treaty or other rights or freedoms that pertain to the aboriginal peoples of Canada including any rights or freedoms that have been recognized by the Royal Proclamation of October 7, 1763; and any rights or freedoms that now exist by way of land claims agree- ments or may be so acquired.

26Für einen guten Überblick siehe Reesor 1992, Asch und Macklem 1992a und Macklem und Towns- hend 1992. Für die Entstehung des Artikels 35 siehe Weaver 1993, 106ff, für die »on-again-off-again history« des Artikels 35 siehe Reesor 1992, 382. Über das Verhältnis von Ureinwohnerrechten zur Souve- ränität des kanadischen Parlamentes siehe McNeil 1993. Einen guten Überblick über die Entwicklungen des kanadischen Ureinwohnerrechts von 1763 bis heute geben Otis und Edmond (1996, 547-554); eine sehr ausführliche Analyse findet sich bei Slattery (1996). Über die Frage des Aboriginal Title nach den Landrechtsprozessen in den 1970er Jahren und der Verabschiedung der Verfassung von 1982 siehe auch McNeil 1997.

133 Damit waren Ureinwohnerrechte wieder fester Bestandteil der Verfassung gewor- den. Cairns stellt ganz zurecht fest, daß »[t]he 1982 Constitution Act multiplied the aboriginal content of the constitution.« (Cairns 1991, 121)27 Zwar war immer noch keine Sicherung über Sprachrechte, aber über kollektive Rechte vorgesehen, ein neu- es Element. Es ist eine Ironie der kanadischen Verfassungsgeschichte, daß die Re- gierung, welche die gesonderte Stellung der Ureinwohner ursprünglich gänzlich ab- schaffen wollte diese Rechte erst recht bestärkte. Es war jetzt auch Teil von Trudeaus Verfassungsvision. Er sah die Regelungen bezüglich der Ureinwohnerfrage nicht als einen schmerzlichen Kompromiß an. Es war zwar auf die Lobbypolitik der Urein- wohner und damit durch eine veränderte realpolitische Situation zurückzuführen. Jean Chrétien stellte sogar fest, daß die Bestimmungen der Charter über die Rechte der Ureinwohner hinter den Vorschlag der Regierung zurückfallen (Chrétien 1992, 351) Trudeau anerkannte, daß sowohl die Verfassung von 1867 als auch die von 1982 kol- lektive Rechte anerkennen: »in certain instances, where the rights of individuals may be indistinct and difficult to define, they also enshrine some collective rights of mi- norities.« (Trudeau 1992b, 408) Er anerkennt die Notwendigkeit kollektiver Rechte: sie gebe es aus gutem Grund in der Verfassung von 1867 in den Artikeln 93(1) und 93(3) und in 1982, 25 und 35 für Ureinwohner und Sektion 27 für Multikulturalis- mus (Trudeau 1992b, 408f). Solche kollektiven Rechte haben für ihn aber die Grenze, wo es um etwas anderes geht, als ein »self-government« zu verwirklichen. Eine self- determination lehnt er ab (Trudeau 1992b, 410). Er anerkennt aber ausdrücklich die Kategorie der kollektiven Rechte. In Bezug auf einen Verfassungsreformvorschlag äu- ßern sich Axworthy und Trudeau 1992 über Ureinwohner:

Native self-government [. . . ] can proceed without debates over peoplehood, and in principle, Canadians have nothing to fear from this development. Indeed, the possibility that the aboriginal community may win constitutional entrenchment of the right fo self-government is the most positive aspect of the latest round of constitutional negotiations. (Axworthy und Trudeau 1992b, 27)

Man bemerke den Bezug auf eine »aboriginal community«, also auf ein Kollektiv. Axworthy und Trudeau halten dies für unproblematisch. Die Regelungen betreffend der Ureinwohner unterschieden sich augenfällig von der bisherigen Politik des Mul- tikulturalismus in einem bilingualen Rahmen. Diesmal besteht der Unterschied nicht darin, daß die Ureinwohner nicht Teil der Verfassung sind, sondern daß sie darin eine ganz andere Stellung haben als das frankophone und das anglophone Kanada. Diesmal handelt es sich um eine andere normative Verortung der Ureinwohner. Denn wo die Regierung Trudeau die kanadische deep diversity durch individuelle Rechte auf der Grundlage einer Volkssouveränität in eine Verfassungssymbolizität integrieren wollte,

27Jean Chrétien sprach davon, daß man den Ureinwohnern »a place in our Constitution« gegeben habe (Chrétien 1986, 9).

134 so werden die Ureinwohner hauptsächlich durch kollektive Rechte in die Verfassung integriert. Anders als bei den Garantien für die englische und die französische Spra- che, die immer als individuelle Rechte eingeführt werden, ist hier die Rede von peoples und nicht von Individuen, ist die Rede von Kollektivsubjekten. Kollektivsubjekte sind zwar auch bei der Frankophonenfrage latent angelegt – dies entspringt aus Trudeaus Föderalismustheorie. Diese Rechte werden aber nun sehr explizit und sogar gegenüber der Grundrechtscharter verankert und damit in einen Kontrast zu individuellen Rech- ten gebracht. Bezüglich der Gleichbehandlung der Geschlechter hatte man noch eine Klausel eingefügt, die Ureinwohnerinnen und Ureinwohnern die gleichen Rechte gibt. »Notwithstanding any other provisions of this Act, the aboriginal and treaty rights [...] are guaranteed equally to male and female persons.« Artikel 35 steht außerhalb der Charter und bringt Regelungen, die mit den anderen kulturspezifischen Regelungen der Charter nicht kompatibel sind und auch nicht in diese integriert sind. Durch den Artikel 25 sind aber auch Regelungen betreffs der Ureinwohnerfrage direkt in die Charter integriert worden. Trudeau war sich sehr wohl darüber bewußt, daß das Verhältnis zwischen individuellen Rechten und kollektiven Rechten für Ureinwohner in seiner Verfassung ungeklärt war und die Regelung ad hoc war. Da er aber kollektive Rechte ohnehin nur wenige Rechte verstand ging aber davon aus, daß dies nicht problematisch sei. »No demons will be unleashed«, so schrieb er, »by natives running their reserves, by land claim settlements that give local bands wide discretion over health, education and other municipal services [...].« (Axworthy und Trudeau 1992b, 28). Ob hier nicht doch ein Dämon losgelassen wurde soll uns u. a. im nächsten Kapitel beschäftigen.

***

Zusammenfassend kann festgehalten werden, daß der zentrale Ansatzpunkt Trudeaus für die Lösung der Probleme in Kanada im wesentlichen darin bestand, sich zum einen auf die Werte und Normen des britisch-kanadischen Konstitutionalismus von 1867 wieder neu zu besinnen und zum anderen diese durch Elemente aus dem US-ame- rikanischen Konstitutionalismus zu ergänzen. Trudeaus Verfassungsentwurf ist eine Synthese aus dem britisch-kanadischen Konstitutionalismus von 1867 und dem US- amerikanischen. Aus der Verfassung von 1867 übernahm Trudeau die Idee der Sprachrechte und die Idee, daß der Staat eine kulturelle Sphäre schützen müsse. Seiner Verfassungspolitik lag eine liberale Kulturhermeneutik zugrunde, die inspiriert am britischen Liberalis- mus (v. a. Lord Acton) und der Philosophie des Personalismus davon ausging, daß die Anerkennung von kulturellen Gruppen, Ethnien und nationalen Minderheiten die Stabilität des liberalen Staates befördere und für die Entwicklung des Individuums notwendig sei. Trudeau richtete sich dagegen, solche Gruppen durch kollektive Rech-

135 te anzuerkennen; er befürwortete jedoch, daß dies im Rahmen individueller Rechte anzuerkennen. Aus dem US-amerikanischen Konstitutionalismus übernahm Trudeau die Idee ei- ner Grundrechtscharter mit unabänderlichen Grundrechten und Volkssouveränität. Das Primat der Parlamentssouveränität sollte durch das Primat individueller Grundrechte abgelöst werden. Die Kanadier sollten nicht mehr ein Volk von Untertanen der briti- schen Krone sein, sondern ein souveränes Volk, das sich in einem Sozialvertrag dazu entschieden hat, als ein Volk zusammenleben zu wollen. Die Synthese dieser beiden Konstitutionalismen bestand vor allem darin, in die Grundrechtsvision Sprachrechte zu integrieren und die Volkssouveränität auf diesen Bilingualismus hin auszurichten. Bilingualismus koppelte Trudeau mit Multikultura- lismus, um einen starren Bikulturalismus zu verhindern. Kulturelle Heterogenität war für Trudeau nicht Gefährdung der nationalen Einheit, sondern ein Grundbaustein der- selben. Seine neue kanadische Verfassung begriff Trudeau als das symbolische Ordnungs- zentrum für das politische Gemeinwesen. Viel stärker als in den USA hat die Ver- fassung in der Verfassungsvision Trudeau in ihrer Symbolizität auch eine konstitutive Funktion: Denn anders als in den USA kann sie nicht ein einiges Volk voraussetzen, das sich eine Verfassung gibt, sondern dieses Volk wird durch die Verfassung selbst erst gestiftet. Als symbolische Verfassung so wie in den USA steht Trudeaus Verfassung im mar- kanten Gegenteil zur instrumentellen Verfassung von 1867. Trudeaus Verfassungsvisi- on selbst hat auch funktionalistische Untertöne, da sie auch deutlich ein Instrument ist, um die Einheit Kanadas herzustellen. Dies beschädigt jedoch nicht die US-amerikani- sch inspirierte Grundrechtsvision. Für problematischer halte ich jedoch, daß Trudeau nicht im Rahmen eines normativen Argumentes begründen konnte, warum gerade Eng- lisch und Französisch offizielle Sprachen sein sollten und warum die Anglo- und die Frankokanadier gegenüber anderen kulturellen Gruppen, die nur Rechte im Rahmen des Multikulturalismus erhalten sollten, bevorzugt wurden. Ich habe gezeigt, daß real- politische Argumente für Grundrechte die Skepsis der Nationalisten in Quebec nährten und auch zu Kritik aus dem Lager anderer kultureller Gruppen führte. Dieses Problem zeigte sich auch besonders deutlich bei den Ureinwohnern. Um die Ureinwohner zu befrieden mußte er kollektive Rechte einführen, die schlecht in seine individualrecht- lich ausgerichtete Verfassungsvision hineinpassen.

136 4 Verfassung ohne Volk: Reaktionen auf Trudeaus Verfassungsvision in Kanada

By bringing home the constitution at last, with a charter of rights, we left a level playing field in 1982. Pierre Elliott Trudeau (1993, 362)

In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie sich Trudeaus Verfassungsvision in Kanada auswirkte und zu welchen Reaktionen sie Anlaß gab. Insbesondere soll dabei heraus- gearbeitet werden, wie integrativ seine Verfassungspolitik war, vor allem bezüglich der Elemente, die Trudeau aus der US-amerikanischen Verfassungsidee nach Kanada importiert hatte. Es soll untersucht werden, ob diese sich als »tauglich« für das nation building angesichts von deep diversity erwiesen haben. Grundsätzlich steht eine solches Untersuchung vor dem Problem, daß Trudeaus Verfassungsvision in Kanada nicht vollständig umgesetzt wurde, also eigentlich nur bedingt von Auswirkungen seiner Verfassungsvision gesprochen werden kann. Wie ich schon im letzten Kapitel dargestellt habe, konterkarierte etwa die notwithstanding clause, welche den Provinzparlamenten die Möglichkeit gab, Grundrechte für einen bestimmten Zeitraum außer Kraft zu setzen, die Verfassungsvision Trudeaus. Die Analyse erschwert weiter, daß die liberale Partei Kanadas 1984 die Unterhaus- wahlen verlor und der neue Premierminister Brian Mulroney von der konservativen Partei die kanadische Verfassungspolitik neu ausrichtete. Er interpretierte die Verfas- sung von 1982 in einer Art und Weise, die sich teilweise erheblich von der Trude- aus unterschied. Das betraf vor allem die Quebec-Frage. Mulroney hatte seinen Wahl- kampf v. a. auf die Unzufriedenheit Quebecs mit der Verfassung von 1982 ausgerichtet und versucht, aus der Tatsache Kapital zu schlagen, daß die Regierung Quebecs der Verfassung von 1982 nicht zugestimmt hatte. Im Wahlkampf hatte er versprochen, die Verfassung von 1982 auch für die Regierung Quebecs und für die Quebecker akzepta- bel zu machen. Diese Versprechungen versuchte Mulroney auch zu erfüllen. 1987 traf er sich mit den Regierungschefs der kanadischen Provinzen in Meech Lake, um ein Reformpaket auszuarbeiten. Den Forderungen der Parti Québécois, Quebec als société distincte im Rahmen der Verfassung anzuerkennen und kulturelle Rechte der Frankokanadier im Rahmen kollektiver Rechte zu schützen, sollte nachgekommen werden. Aus den Ver- handlungen ging der sogenannte Meech Lake Accord hervor. Darin wurde Quebec als société distincte anerkannt. Der Legislative und der Regierung Quebecs, so heißt es in

137 diesem Accord, kommt dabei die spezielle Rolle zu, »de protéger et de promouvoir le caractère distinct du Québec.« (Canada 1987, Artikel 2) Wie sehr die Regierung Mulroney auf kollektive Rechte setzte, geht aus dem Positi- onspapier Shaping Canada’s Future Together hervor, welches sie 1990 publizierte. In diesem Papier sind die Grundgedanken aus der Verfassungsvision Trudeaus noch prä- sent. Die Regierung bezieht die Position, daß neben Sprachrechten und Multikultura- lismus auch kollektive Rechte durch den kanadischen Staat anerkannt werden müßten. Implizit wird dies an folgender Stelle deutlich:

In the Canadian experience, it has not been enough to protect only universal in- dividual rights. Here, the Constitution and ordinary laws also protect other rights accorded to individuals as members of certain communities. This accomodation of both types of rights makes our Constitution unique and reflects the Canadian value of equality that accommodates difference. The fact that community rights exist alongside individual rights in our Constitution goes to the very heart of what Canada is all about. (Canada 1991, 3, kursiv nicht im Original)

Die Regierung Mulroney knüpfte zwar an die Verfassungsvision Trudeaus an, än- derte aber, ohne dies allzu offensichtlich werden zu lassen, deren zentralen Sinngehalt. Geschickt schloß sie von »rights accorded to individuals as members of certain com- munities« auf »community rights«. Erstere Rechte waren als individuelle Rechte zwar Bestandteil der Grundrechtsvision Trudeaus, letztere jedoch keinesfalls. Er hatte im- mer scharf unterschieden zwischen kulturell ausgerichteten individuellen Rechten und kollektiven Rechten für kulturelle Gruppen. Die Verfassungspolitik Mulroneys nötigte Trudeau dazu, sich zu Wort zu melden. Eigentlich hatte er, nachdem er sich 1984 aus der Politik zurückgezogen hatte, beab- sichtigt, sich nicht mehr über »seine« Verfassung zu äußern. Doch durch Mulroneys Verfassungspolitik sah er sein Lebenswerk gefährdet. In zahlreichen Artikeln und Re- den (unter anderem vor dem kanadischen Senat) griff er dessen Verfassungspolitik scharf an. Trudeaus Einstellung gegenüber Mulroney, wie sie in seinen öffentlichen Äußerun- gen zu Tage trat, zeugt unverholen von Verachtung. Hatte Trudeau für fast alle sei- ne politischen Gegenspieler – auch für die Politiker der Parti Québécois, wie etwa René Lévesque – immer auch Anerkennung, Respekt und Sympathie übrig gehabt, so hielt er Mulroney für die Verkörperung einer »consummate irresponsibility« (Trudeau 1992b, 417). Er hielt ihn nicht nur für einen völlig unfähigen Politiker, sondern sogar für den Totengräber der kanadischen Union. »Our Great Helmsman«, urteilte er über Mulroneys Rolle beim Meech Lake Accord, »is [...] steering Canada toward peace and reconciliation—the kind to be found in the graveyards of the deep.« (Trudeau 1992b, 429) Gegen den Meech Lake Accord schrieb Trudeau Artikel, die wegen ihrer Polemik an die Artikel erinnern, mit denen er in den 1950er und 1960er Jahren die Nationalisten in

138 Quebec kritisiert hatte; einer davon hatte den Titel Comme gâchis total, il serait difficile d’imaginer mieux (Trudeau 1989a). Er warnte vor einer »balkanisation des langues et des cultures« (Trudeau 1989a, 21) und sprach nochmals vom »ghetto québécois« (Trudeau 1989a, 28). Vor dem Senat hielt er zwei Reden gegen den Accord. In einer dieser Reden, später publiziert unter dem Titel Il doit y avoir un sens d’appartenance, warnte Trudeau davor, daß Kanada, wenn der Meech Lake Accord umgesetzt würde, in eine »communauté des communautés« zerfallen würde (Trudeau 1989b, 39). In einer anderen Rede warnte er davor, daß Kanada Gefahr laufe, durch die kollektiven Rechte »[d]eux constitutions« und »deux chartes« zu erhalten, so daß es dann auch »deux Canada« geben würde (Trudeau 1989c, 107). Trotz großer Anstrengungen der Regierung Mulroney scheiterte der Meech Lake Accord; er wurde von zwei Provinzen nicht ratifiziert. Maßgeblich war dabei der Wi- derstand der Ureinwohner gegen den Meech Lake Accord. Die Ureinwohner waren darüber unzufrieden gewesen, daß sie in Meech Lake nicht berücksichtigt worden wa- ren. Eljah Harper, Ureinwohner und Abgeordneter im Parlament der Provinz Manito- ba, brachte das Gesetzeswerk durch filibustering zu Fall (vgl. Dickason 1992, 409). Die Regierung Mulroney startete daraufhin eine neue Verfassungsrunde. Der 1993 neu in Charlottetown ausgearbeitete Vorschlag zur Reform der Verfassung, der so- genannte Charlottetown Accord, stand in der Tradition des Meech Lake Accord. Die Prinzipien Trudeaus wie Bilingualismus und Multikulturalismus wurden im Charlot- tetown Accord anerkannt. Wie auch schon im Meech Lake Accord wurde Quebec als société distincte bezeichnet und die besondere Rolle der Legislative in Quebec für den Erhalt des frankophonen Charakters der Provinz betont. Im Gegensatz zum Meech Lake Accord waren jetzt aber auch die Ureinwohner erwähnt, die kollektive Rechte bekommen sollten. Damit wurde ironischerweise das integriert, was die Verfassung von 1982 schon anerkannt hatte. Aber kollektive Rechte wurden jetzt gleichberechtigt neben individuelle Rechte gestellt. Zu den »fundamental characteristics«, welche die Interpretation der Verfassung und der Charter leiten solle, gehörte nämlich jetzt auch, daß »Canadians are committed to a respect for individual and collective human rights and freedoms of all people« (Canada 1992, Artikel 2 (f); kursiv nicht im Original). Den Charlottetown Accord kritisierte Trudeau noch schärfer als den Meech Lake Accord. Seine Ansichten zum Charlottetown Accord wurden am deutlichsten während einer Rede und einer anschließenden Pressekonferenz in der Spring Roll, einem China- Restaurant in Montreal, die vom Radio übertragen wurden. Sie wurde publiziert unter dem aussagekräftigen Titel »A Mess that deserves a big NO!« (Trudeau 1992a). In seiner Ansprache warnte Trudeau vor der starken Stellung kollektiver Rechte in der Verfassung, sowohl für Quebec als auch für die Ureinwohner. Individuelle Rech- te könnten sonst unter kollektive Rechte untergeordnet werden. Der Hauptmangel im Charlottetown Accord sei, so beklagte er sich bitter, daß »the Charter is there to the

139 extent that it does not apply.« (Trudeau 1992a, 50) Das große Problem sei, daß das Verhältnis zwischen individuellen und kollektiven Rechten ungeklärt sei: »What hap- pens when a contradiction arises? When collective rights run headlong into individual rights as guaranteed by the Charter? How will the courts decide?« (Trudeau 1992a, 19) Einen solchen Konflikt sah Trudeau auch zwischen den individuellen Rechten der Grundrechtscharter und den gegenüber der Verfassung von 1982 ausgeweiteten kollek- tiven Rechten für Ureinwohner. Er forderte, daß »the Charter of Rights should apply to natives just as it does to every Canadian« (Axworthy und Trudeau 1992b, 28). Trudeaus Intervention hatte maßgeblichen Einfluß auf das Schicksal des Charlotte- town Accords. Seine kritischen Worte überzeugten viele Kanadier davon, gegen den Accord zu stimmen. In der Volksabstimmung 1993 wurde er eindeutig abgelehnt.1

Trotz dieser Komplikationen und Verwirrungen ist es nicht unmöglich, aus dem Ka- nada nach 1982 Konsequenzen für Trudeaus Verfassungsvision zu ziehen. Denn zum einen war in den Auseinandersetzungen um die Verfassung die Verfassungsvision Tru- deaus immer präsent. Trudeau und seine Anhänger verteidigten sie durchaus erfolg- reich. Zum anderen hatte die Regierung Mulroney auch Kernelemente von Trudeaus Verfassungsvision, wie die Bill of Rights und Volkssouveränität, nicht grundsätzlich abgelehnt. Mulroney setzte sogar darauf, Kanada in den nordamerikanischen Binnen- markt zu integrieren; er war Befürworter von Grundrechten und Volkssouveränität, wie der Abstimmungsmodus des Charlottetown Accords zeigte. Für Mulroney hatte die Verfassung darüber hinaus auch eine symbolische Funktion. Folgendes Zitat aus Shaping Canada’s Future Together belegt dies:

A constitution has two key purposes: one legal, one symbolic. It sets the rules by which a people govern themselves. But it should also convey a sense of why the rules are drafted as they are, what values shape them, what purposes and characteristics identify the people to whom they apply. (Canada 1991, 9)

Die Grundrechtscharter selbst hatte, trotz aller Querelen um die Stellung Quebecs und der Ureinwohner in der Verfassung, einen hohen Stellenwert. Von ethnischen Min- derheiten, Einwanderern und neuen sozialen Bewegungen wurde sie sehr positiv auf- genommen. Es entstanden viele sogenannte Charter Groups, die sich auf die Charter bezogen, um Rechte durchzusetzen. Von den Charter Groups kamen zwar Forderun- gen nach Rechten, diese waren jedoch Forderungen nach Integration und nicht nach Sezession. Sie sahen sich als Teil eines diversen Volkes. Überall in Kanada waren die

1Mit der Niederlage bei der Volksabstimmung war auch das Schicksal der konservativen Partei be- siegelt. Bei der Unterhauswahl 1993, die stark unter dem Eindruck des Scheiterns von Mulroneys Verfas- sungspolitik stand, verloren die Konservativen 165 Sitze und konnten überhaupt nur noch 2 Sitze gewin- nen. Sogar die Spitzenkandidatin der Konservativen, Kim Campbell, welche die Konservativen wenige Monate vor der Wahl anstelle des äußerst unpopulären Mulroney zur Premierministerin gemacht hatten, verlor ihren Sitz im Unterhaus.

140 wesentlichen Ideen der Charter akzeptiert worden. Die Idee einer Bill of Rights und der Volkssouveränität konnten rasch Wurzeln schlagen (vgl. Cairns 1991, 116ff). Zumin- dest insoweit war Trudeaus Verfassungsvision in Kanada erfolgreich. Genau wie auch im Multikulturalismus der USA wurde die Verfassung in Kanada durch die multikul- turellen Bewegungen unterstützt. Man kann hier eindeutig von einem Erfolg sprechen. Dem eigentlichen Problem, das Trudeau in Kanada lösen wollte, nämlich den mit der deep diversity zusammenhängenden Konflikten, konnte durch seine Verfassungs- vision nicht begegnet werden. In Quebec konnte nach wie vor die Parti Québécois Wahlen gewinnen. Auch liberale Regierungen in Quebec setzten die Politik des Unilin- gualismus fort und bedienten sich dabei der notwithstanding clause. Das sehr knappe Scheitern des Unabhängigkeitsreferendums von 1995 verdeutlicht, daß die deep diver- sity in Kanada nicht überwunden worden war. Die kanadischen Ureinwohner waren mit ihrer Stellung in der Verfassung auch nicht zufrieden. Es gab zahlreiche Konflikte zwischen individuellen und kollektiven Rechten, die Spannungen in der Verfassungs- vision Trudeaus zu Tage treten ließen. Die Ursachen und Auswirkungen dieser Probleme sind vielfältig und komplex. Ich konzentriere mich im folgenden darauf, auf einige grundsätzliche Probleme hinzu- weisen. In den Abschnitten 4.1, 4.2 und 4.3 werde ich ausführen, wie die Prinzipien von Grundrechtscharter, Volkssouveränität und Symbolizität der Verfassung in Kana- da rezipiert wurden. Im Abschnitt 4.4 werde ich auf einige spezifische Probleme der Ureinwohnerpolitik Trudeaus eingehen, die sich als Folge des White Paper und der Etablierung kollektiver Rechte für Ureinwohner in der Verfassung von 1982 ergeben haben.

4.1 Liberaler Nationalismus als Paradox?: Stéphane Dion über Trudeaus liberale Grundrechtsvision

Ironically, at the very moment when we agree upon so much, we are close to breakup. Charles Taylor (1991, 54)

Wie ich schon unter Punkt 3.1.1 dargelegt habe, läßt sich Trudeaus ablehnende Hal- tung gegenüber den Nationalisten in Quebec dadurch erklären, daß er ein Anhänger der Modernisierungshypothese war. Gemäß dieser Hypothese ist Nationalismus ein Überbleibsel aus einer vormodernen Zeit, in der tribalistische Orientierungen vorherr- schend waren. Mit der Liberalisierung und der Modernisierung einer Gesellschaft wer- de, so folgt aus dieser Hypothese, Nationalismus verschwinden. Unter dieser Perspek- tive konnte der Nationalismus in Quebec nur als Gegenbewegung zur Modernisierung der Provinz und damit als eine grundlegend illiberale Strömung verstanden werden.

141 Als Anhänger der Modernisierungshypothese hatte Trudeau angesichts der politi- schen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Quebec ein großes Problem: Mit Hilfe der Modernisierungshypothese läßt sich nämlich nicht erklären, warum es eigentlich in Quebec mit seiner liberalisierten und modernen Gesellschaft und unter Bedingungen einer funktionierenden Demokratie Mehrheiten für nationalistische und separatistische Parteien gibt. Daß separatistischer Nationalismus mit einer liberalen Gesellschaftsord- nung vereinbar ist, ist unter der Perspektive der Modernisierungshypothese paradox. Trudeau reflektierte nicht darüber, daß seine Einschätzung des Nationalismus in Quebec diese Schwachstelle hat. Er betonte zwar immer wieder, daß es in Quebec eine liberale und offene Gesellschaft gebe. Das Faktum des separatistischen Nationa- lismus erklärte er damit, daß die Politik der Nationalisten einer irrationalen Verirrung entspreche oder nur dazu diene, ihre persönlichen und die Interessen ihrer Klientel zu befriedigen. Dies lief aber darauf hinaus, zu behaupten, daß sich aufgeklärte und liberale Wähler über Jahrzehnte hinweg hätten täuschen lassen und ihre eigentlichen politischen Einstellungen aufgegeben hätten – keine besonders plausible Erklärung. Vor allem seit Ende der 1980er Jahre sind in Kanada viele Studien erschienen, die den Zusammenhang zwischen der Liberalisierung Quebecs und dem Nationalismus in dieser Provinz untersuchen. Interessant ist dabei vor allem diejenige Stéphane Dions. Dion ist Mitglied der liberalen Partei Kanadas und Abgeordneter im kanadischen Un- terhaus. In seinem Artikel Explaining Quebec Nationalism (Dion 1992) zeichnet er ein Bild vom Nationalismus in Quebec, das der Grundrechtsvision Trudeaus durchaus nahesteht, aber die Grundannahmen der Modernisierungshypothese nicht teilt. Seine Ergebnisse lassen erkennen, daß Trudeau den Charakter des Nationalismus in Que- bec mißverstanden hatte, und weisen darauf hin, daß Trudeaus Grundrechtsvision von falschen sozialen Voraussetzungen ausgegangen war.

Die Studie Dions kann zunächst einfach als eine Widerlegung der Thesen George Grants über die zukünftige Entwicklung Quebecs gelesen werden. Grant hatte, wie ich in Punkt 2.4 dargestellt habe, vorausgesagt, daß der Nationalismus in Quebec ein moral heart habe und die französische Sprache allein nicht ausreiche, um eine kollek- tive Identität aufrecht zu erhalten. Mittelfristig werde auch die französische Sprache in ihrer Bedeutung abnehmen und durch die Sprache des modernen Wirtschaftslebens in Nordamerika, das Englische, ersetzt werden. Anhand empirischer Daten zeigt Dion, daß gerade durch den Wertewandel und den wirtschaftlichen Erfolg, der sich nach der Modernisierung der Provinz einstellte, die kollektive Identität der Frankokanadier und damit auch die französische Sprache ge- stärkt wurde. Durch den wirtschaftlichen Erfolg sei das Selbstbewußtsein der Que- becker gestiegen und damit auch deren Bereitschaft, sich zu ihrer Herkunft und ihrer Muttersprache zu bekennen. Es habe sich dabei gezeigt, daß Sprache als gemeinsamer

142 Bezugspunkt für die kollektive Identität völlig ausreichend sei. Ende der 1980er Jah- re unterschieden sich die Quebecker von anderen Nordamerikanern im wesentlichen dadurch, daß sie sich wünschten, daß sich ihr Alltag auf französisch bewältigen las- se. Die Verschiedenheit der gesprochenen Alltagssprache sei »a strong incentive for both linguistic groups to create or strengthen their own associations rather than mix together.« (Dion 1992, 100) Die französische Sprache sei die Basis für den Nationalis- mus in der Provinz Quebec. Am Anfang einer jeden nationalistischen Welle in Quebec habe ein Konflikt um Sprachrechte gestanden. Die Gründung der Parti Québécois sei in einem politischen Kontext erfolgt, bei dem es um die Kontrolle der Schulen in ei- nigen Städten vor Montréal ging (vgl. Dion 1992, 90). »The current crisis in Quebec and Canada«, so Dions Fazit, »may be properly described only when one keeps in mind that everything started [. . . ] from a language issue.« (Dion 1992, 92) »[T]he key issue«, so schreibt er, »is and always will be language.« (Dion 1992, 118) Warum Sprache ein Differenzierungsmerkmal und Anker für den Nationalismus in Frankokanada blieb, versucht Dion mit Hilfe von Alexis de Tocquevilles These zu erklären, nach der in der Moderne die kulturelle Konvergenz zwar zunehmen würde, dadurch aber gerade das Bedürfnis entstehe, einen extremen Wert auf kulturelle Identi- tät zu legen. »As human groups lose their differences,« so schreibt er, »they view them with nostalgia and put high value on the remaining ones.« (Dion 1992, 101) Obwohl der Nationalismus in Quebec für Dion in Nostalgie gründet, ist er für ihn deshalb keinesfalls Ausdruck von Tribalismus. Der Nationalismus in Quebec grün- de nicht in dem Interesse, die Provinz nach außen hin abschließen zu wollen. Den Nationalismus der Stillen Revolution erklärt er nicht als Reaktion gegen den Moder- nisierungsprozeß, sondern vielmehr als dessen Folge: der Kern des Nationalismus, die französische Sprache, wurde gerade durch den Erfolg der neuen liberalen und moder- nen Gesellschaftsordnung gestärkt. Unter dieser Perspektive interpretiert Dion die Unilingualismuspolitik der Nationali- sten in Quebec nicht wie Trudeau als Versuch, ein pluralistisches und offenes Quebec zu verhindern, sondern als den Versuch, den Fortbestand einer offenen und pluralen frankophonen Gesellschaft zu sichern. In der Bilingualismuspolitik Trudeaus sieht Di- on nicht den Garanten für ein plurales und kosmopolitisches Kanada. Bilingualismus nutze primär der anglophonen Mehrheit Kanadas und könne das Überleben einer fran- kophonen Gesellschaft in Kanada nicht gewährleisten. Durch ihn würden die mehr- heitlich anglophonen Provinzen für frankophone Kanadier kaum attraktiver. Bilingua- lismus könne nichts daran ändern, daß im öffentlichen Leben in diesen Provinzen die englische Sprache dominiere. Die Frankokanadier seien dort de facto dazu gezwungen, Englisch zu sprechen und sich zu assimilieren. In Quebec dagegen, wo es eine größere, territorial konzentrierte anglophone Minderheit gibt, könnte diese vom Bilingualismus profitieren. Besonders komme es den Anglophonen dabei zugute, daß sich die meisten

143 Einwanderer nach Quebec dazu entschieden, Englisch zu lernen und sich der anglo- phonen Sprachgruppe in Quebec anzuschließen. Wie auch die Politiker von der Parti Québécois macht Dion dabei vor allem auf die Situation in Montréal aufmerksam, wo es besonders viele Einwanderer gibt und die Gefahr besteht, daß als Folge des Bi- lingualismus Französisch zur Minderheitensprache in der größten Stadt der Provinz werden könnte. Bilingualismus sei kein geeignetes Mittel, um den Bedürfnissen der Quebecker nach einer Sicherung ihrer Sprache nachkommen zu können. Angesichts dieser Umstände brauche es nicht zu verwundern, daß Trudeaus Bilingualismuspolitik auf Ablehnung stieß:

Federal policy did little to change the aspirations of the French-speaking popula- tion in Quebec–in Montreal in particular–which are to live daily life in French; to work, conduct business, buy goods, and go to the theater, all in French; and to se- cure the same French environment for future generations. Bilingualism in federal institutions is perceived positively by Quebec francophones, but it by no means ensures that they will be understood in French in all areas of Montreal, nor does it help to attract immigrant populations to the French community. (Dion 1992, 95)

Für Dion war es eine Folge der Sprachenfrage, daß die meisten frankophonen Que- becker die Regierung in Quebec als »collective protector for French speakers« be- trachteten. Die Bilingualismuspolitik der kanadischen Bundesregierung sei dagegen als Politik eines »kind of intruder state« wahrgenommen worden. Indem die Regie- rung in Quebec in dieser entscheidenden Frage als Interessenvertreterin der Belange der frankophonen Bevölkerung wahrgenommen worden sei, habe sich dies auch auf weitere Politikfelder ausgedehnt. »This positive perception of the provincial govern- ment and negative perception of the federal government extended from the linguistic issue to cultural, social, and even economic areas.« (Dion 1992, 96) Der Nationalis- mus ist für Dion schlicht Zusammenfassung dieser Orientierung. Er ist für ihn nicht gegen liberale Grundwerte gerichtet, sondern vielmehr auch Ausdruck einer liberalen Gesellschaftsordnung. Dion weist darauf hin, daß nicht nur der liberale Nationalis- mus in Quebec eine Herausforderung für den liberalen Konstitutionalismus in Kanada sei, sondern der Umgang mit ihm. Durch einen Konfrontationskurs mit den Nationa- listen werde, so Dion, nur eine »feeling of rejection« bei Quebeckern geschürt (Dion 1992, 111). Wenn man wie Trudeau den Meech Lake Accord ablehne, werde dadurch in Kanada ein Klima geschaffen, in dem Quebec als illiberal und der Rest Kanadas als liberal dastehen. Für Peter Russell (1993) ist die Charter Trudeaus nicht deshalb eine Quelle von Uneinigkeit in Kanada, weil sie von Frankokanadiern nicht akzeptiert werde, sondern vielmehr deshalb, weil sie als Bedrohung der eigenen liberalen Gesellschaft angesehen werde (vgl. Russell 1993, 146f). Das Selbstverständnis der Parti Québécois war das ei- ner liberalen Partei. René Lévesque, der langjährige Vorsitzende der Parti Québécois,

144 wies immer darauf hin, daß eines seiner zentralen Anliegen sei, eine Grundrechtschar- ter in Quebec zu etablieren.2 Man fürchtete nur, daß die frankophonen Quebecker zu einer ethnischen Gruppe im Multikulturalismus reduziert werden, wenn die französi- sche Sprache nicht in Quebec in besonderem Maße gefördert wird.3 Die Interpretation des Quebecker Nationalismus durch Trudeau erscheint unter die- ser Perspektive als eindimensional. Es wird deutlich, daß Trudeau wichtige Aspek- te dieses Nationalismus übersehen hat und daß seine liberale Kulturhermeneutik von falschen Voraussetzungen ausging. Claude Couture (1996) hat herausgearbeitet, daß Trudeaus Einschätzung des Que- becker Nationalismus den Theorien der US-amerikanischen Chicago School, und v. a. den Theorien von Louis Hartz, ähnelt. Hartz unterscheidet zwischen zwei mitein- ander konfligierenden politisch-gesellschaftlichen Strömungen, welche sich in Europa und Nordamerika seit dem 16. Jahrhundert gegenüberstünden: einem feudalistisch- gemeinschaftlichen und einem individualistischen. Für Hartz ist die USA individuali- stisch, da durch Locke beeinflußt; Frankokanada und Quebec ist für ihn dagegen eher feudal-gemeinschaftlich orientiert. Trudeau habe, so Couture, sich dieser Theorie an- geschlossen und Quebec in den Kategorien von Hartz begriffen (vgl. Couture 1996, 57). Couture kritisiert an Trudeau, daß dessen Ansichten ein starrer »monolithisme idéo- logique« (Couture 1996, 24) zugrunde liege. Trudeau habe eine »essence canadienne- française« erfunden, die mit der Wirklichkeit nur wenig zu tun habe und den Umgang mit Minderheitennationalismen erheblich erschwert habe (Couture 1996, 45). Diese Kritik läßt sich nicht nur auf Trudeau beziehen: sie läßt sich auch David Hollinger und andere Vertreter US-amerikanischer liberaler Theorie anwenden, die durch die Moder- nisierungshypothese beeinflußt wurden.

2Die Präambel der Europäischen Menschenrechtscharta zitierend stellte er etwa fest, daß es die »li- bertés et les droits fondamentaux de la personne, de l’homme et de la femme« seien »qui constituent et devront toujours constituer ›les assises mêmes de la justice et de la paix et que leur maintien repose esen- tiellement sur un régime politique vraiment démocratique.‹« (Lévesque 1991, 240f) Das Programm der Parti Québécois sah vor, in einem unabhängigen Quebec eine Grundrechtscharter zu etablieren, welche der Bill of Rights der USA entsprechen sollte (vgl. Parti Québécois 1969 und Parti Québécois 1982, 6f). 3Sehr deutlich wird dies im Parteiprogramm von 1982. Quebec soll kein kulturelles Mosaik sein, aber auch kein melting pot: der Beitrag anderer Kulturen soll gewürdigt werden (Parti Québécois 1982, 56).

145 4.2 La fin d’un rêve canadien? Volkssouveränität als Legitimation für die Unabhängigkeit Quebecs: Guy Laforests Lockesches Argument

If a constitution derives its legitimacy from the consent of the people, then those who share a constitution must first agree to be a people. There is no evidence that [...] the Québécois [...] have agreed to be part of a Canadian people sharing a constitution determined by simple ma- jority rule. Peter Russell (1993, 6)

Les Québécois se perçoivent comme un peuple, et ils agissent en conséquence. Guy Laforest (1992, 66)

Die Idee der Volkssouveränität wurde in Kanada nicht erst durch Trudeau etabliert und Gegenstand öffentlicher Debatten. Schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts war die Idee der Volkssouveränität in den Kreisen vorhanden, die für mehr Unabhängig- keit von Großbritannien eintraten. Im Laufe des 20. Jahrhunderts, im Zuge der Demo- kratisierung Kanadas und unter dem Einfluß des Vorbildes der USA, konnte sich die Idee der Volkssouveränität immer stärker etablieren. Peter Russell spricht von einem »fundamental change«; gegen Ende des 20. Jahrhunderts seien aus den Kanadiern, »who for so long could be characterized as moderate, phlegmatic, and deferential to authority,« schließlich »constitutional democrats« geworden (Russell 1993, 5). Problematisch für die Idee der Volkssouveränität war, daß diese schon fester Be- standteil der Nationalisten Quebecs war. So war sie im Nationalismus der »Stillen Revolution« in Quebec in den 1960er Jahren war die Idee der Volkssouveränität auch präsent (vgl. Russell 1993, 4). Argumente für Volkssouveränität wurden in Quebec dazu gebraucht, um nicht nur die Loslösung von Großbritannien, sondern auch den Versuch der Loslösung von Kanada zu legitimieren. René Lévesque bezog sich bei der Definition des Begriffes der Quebecker Nation etwa auf den Begriff »people«. »A nation just doesn’t mean the state« und sei ein »people who have a common histo- ry, a common language, a sort of common community feeling of being an entity that wants to live together.« (Lévesque 1991, 137) Er bezog sich auf die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung (vgl. Lévesque 1991, 221). 1980 hatten die Nationalisten eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Quebecs durchgeführt. Ihr Nein zu den Verfassungsplänen der Regierung Trudeau hatte sie auch dadurch begründet, daß das Volk in Quebec nicht gefragt worden war.

146 Interessant ist in diesem Kontext vor allem, daß Argumentationen, die auf Volks- souveränität aufbauten, im Rahmen einer politischen Philosophie betrieben wurden, welche im US-amerikanischen Konstitutionalismus sehr bedeutsam war. Nationalisten bezogen sich auf John Lockes Second Treatise of Government, der bei der Volkssou- veränität in den USA schon eine große Rolle gespielt hatte (vgl. Russell 1993, 8f). Der Quebecker Politologe Guy Laforest hat in seinem Buch Trudeau et la fin d’un rêve ca- nadien (Laforest 1992) ein solches lockesches Argument umfangreich entwickelt. Das ist für unser Thema sehr interessant und soll im folgenden dargestellt werden. Trudeau bezog sich zwar nie auf Locke, aber die dort vertretenen Prinzipien liegen auch seiner Verfassungsvision zugrunde. Grundsätzlicher Ansatzpunkt der Überlegungen Laforests ist, daß die Verfassung von 1982 deshalb illegitim sei, weil sie durch die Regierung in Quebec nicht gebil- ligt worden war. Er sieht darin einen grundsätzlichen Rechtsbruch der kanadischen Bundesregierung. Er setzt an dem Gedanken Lockes an, daß eine Regierung, welche die von den Bürgern (in einem Vertrag) an sie dirigierten politischen Kompetenzen mißbraucht habe, ihre Autorität verliere, so daß die Souveränität an die konstituieren- de Körperschaft, das Volk, zurückfalle. Durch die Veränderung der Verfassung von 1982 sei, so Laforest, das Volk in Quebec erheblich in seinen grundsätzlichen Rech- ten beschnitten worden. Vor allem die Sprachgesetzgebung habe wesentliche Ziele der Quebecker, welche die von ihnen gewählte Regierung beschlossen hatte, außer Kraft zu setzen versucht. Das Volk habe in einem solchen Fall das Recht, eine neue Regie- rung zu bestimmen und auch eine neue Verfassung einzurichten. »Selon la logique de Locke«, so schreibt er, »un gouvernement, et à plus forte raison un peuple, ne peut aliéner son pouvoir sur une question semblable.« (Laforest 1992, 68) Daraus zieht La- forest den Schluß, daß wegen dieses Vertrauensbruches die Souveränität an das Volk Quebecs zurückfalle:

Modifications de la constitution sans consentement préalable ni ratification ulté- rieure par le peuple québécois, intervention dans le champ de l’éducation et dans celui de la langue, perçus comme étant particulièrement importants au Québec, altération des compétences de l’Assemblée nationale; ce bilan mène, en logique lockienne, à la dissolution du gouvernement, à la reprise par le peuple de cette autorité souveraine qu’il ne peut que déléguer. (Laforest 1992, 69)

Laforest spricht von einem »coup de force constitutionnel de monsieur Trudeau« (Laforest 1992, 74) und von einer »brèche [...] dans la confiance liant le peuple québé- cois à ses élus fédéraux« (Laforest 1992, 76). Er zieht Parallelen zwischen Trudeaus Verfassungspolitik und den Verfehlungen des englischen Königs Jakob II. (vgl. Lafo- rest 1992, 55ff). Die Illegitimität des Handelns Trudeaus verweist für Laforest auch auf die grundsätzliche Illegitimität des kanadischen Staates. »Dans une perspective stric- tement lockienne,« so schreibt er, »j’ose affirmer que les événements de l’automne

147 1981 et du printemps 1982 ont frappé d’illégitimité les institutions gouvernementales canadiennes.« (Laforest 1992, 63) John Locke hätte diesem Argument wohl kaum zugestimmt, denn ethnische Kri- terien sind nicht Bestandteil seiner politischen Theorie. Autorität verliert eine Regie- rung nach Locke nur dann, wenn das göttliche Gesetz, »life, liberty, and property«, übertreten würde. Wichtig ist auch, daß Locke nichts gegen Okkupation einzuwenden hatte, sobald dadurch die grundlegenden Rechte der Bürger, vor allem Eigentumsrech- te, nicht außer Kraft gesetzt wurden, was in Quebec ja kaum der Fall war. Eine Un- terminierung von Sprachparagraphen wäre Locke gleichgültig gewesen: sie tangieren keinesfalls den Kern seiner politischen Theorie. Im Rahmen der politischen Theorie Trudeaus sind die Argumente Laforests jedoch anwendbar: in Trudeaus politischer Theorie sind kulturelle Rechte Kernbestandteil ei- ner liberalen Grundrechtsvision. Ein Argument, das eine Verletzung von Sprachrech- ten als Grund für politischen Widerstand und Auflösung der überkommenen politi- schen Ordnung anführt, ist im Rahmen der politischen Theorie Trudeaus durchaus plausibel. Trudeaus liberale Grundrechtsvision läßt sich sozusagen mit ihren eigenen Waffen schlagen: sowohl die Idee kulturell ausgerichteter individueller Rechte als auch die Idee der Volkssouveränität kann von Minderheitennationalismen dazu verwendet wer- den, ihre eigenen Ziele zu rechtfertigen.

4.3 Symbolische Verfassung und politische Realität: Die Kritik Kevin J. Christianos an Trudeaus Verfassungsvision

Trudeau provides an exemplary case study of the fate of intelligent politicians and committed leaders when they do not or cannot situate state action in history and motiv- ate its acceptance by appeal to a transcendent plane. Kevin J. Christiano (1994, 19)

Daß die Verfassungspolitik Trudeaus ganz wesentlich darauf ausgerichtet war, über die symbolische Komponente der Verfassung Kanada zu einen, ist in Kanada zwar bisweilen bemerkt, aber kaum umfassender untersucht worden. Kevin J. Christiano ist einer der wenigen Autoren, welche dies tun. Darüber hinaus entwickelt er eine inter- essante kritische Perspektive auf die Chancen, durch eine Verfassung das politische Gemeinwesen in Kanada einen zu können. Die Verfassungspolitik Trudeaus verfolgte das Ziel, so konstatiert Christiano, den Kanadiern eine einheitsstiftende politische Symbolik zu geben; die Grundrechtschar- ter der Verfassung von 1982 mit ihrer Bill of Rights und den Sprachrechten begreift

148 er als Symbole, welche die politische Wirklichkeit transzendieren und den Kanadi- ern gemeinsame Wertmaßstäbe und Orientierungspunkte geben sollten. Darauf sollte ein neuer pankanadischer Nationalismus aufgebaut und damit die politische Einheit Kanadas gesichert werden (vgl. Christiano 1994, 17). Für Christiano war dieser Ansatz von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die Tru- deausche Verfassungsvision, so sein hauptsächlicher Kritikpunkt, kranke erheblich daran, daß ihre Symbolik zu abstrakt sei und es ihr an einer historisch-konkreten Dimension fehle. Trudeaus Idee eines pankanadischen Nationalismus, der sich auf abstrakten Grundrechten und Sprachrechten gründet, sei im politischen Wettbewerb seinem Hauptgegner, dem separatistischen frankokanadischen Nationalismus, grund- sätzlich unterlegen. Der frankokanadische Nationalismus könne sich auf einen sehr reichen historischen und konkreten Erfahrungsschatz berufen, dem Trudeaus auf ab- strakten Grundrechten aufbauender pankanadischer Nationalismus nichts entgegenset- zen könne. Während sich die Nationalisten Quebecs auf eine »abundance of history and myth« und zahlreiche »episodes of collective frustration that breed historical re- sentment« (Christiano 1994, 21) berufen und dies in ihr nationalistisches Programm einbauen können, fehle es Trudeaus pankanadischem Nationalismus an einem »legi- timate set of evocative national symbols« und auch – wegen seiner universalistischen Ausrichtung – an einer »mystically particularistic utterance« (Christiano 1994, 70). Die Rhetorik des am Grundrechtspatriotismus orientierten Nationalismus Trudeaus habe nur einen »flat tone« und seine Argumente für seine nationale Vision seien »stun- ted, at least compared to debates in societies with active national myths« (Christiano 1994, 111). Die historische Erfahrung Kanadas habe er problematischerweise nicht als eine »allusive story« begriffen und in sein Verfassungswerk zu integrieren versucht, sondern nur als eine »literal succession of facts« (Christiano 1994, 70). Damit habe er eine grundlegende Dimension der Geschichte für die Orientierung der Menschen vernachlässigt; sein Ansatz sei zu konstruiert und ahistorisch. Die politische Ideen- welt, welche Trudeaus Nationalismus inspiriere, sei »both too recent and too contrived to be fully plausible.« (Christiano 1994, 70) Seine Vision einer pankanadischen Na- tion sei zu kühl und zu wenig inspiriert: »For him, Canada is not a spiritual matter.« (Christiano 1994, 68) Ohne die Integration ganz konkreter Mythen in die Verfassungs- vision, könne aber keine überzeugende Alternative zu einem historisch verwurzelten Nationalismus gegeben werden:

Unfortunately for Trudeau, nations are not reasoned into being. They issue forth as the products not of dialogue but of history. Around the facts of history are arrayed songs of noble and daring deeds, stories of virtue under trial, and claims to uniqueness among the peoples of the earth. These items form the symbolic substance of nationhood. (Christiano 1994, 19)

149 Mit seiner Kritik verweist Christiano darauf, daß Symbole, um die politische Wirk- lichkeit transzendieren zu können, an einen konkreten historischen Ausgangspunkt anknüpfen müssen. Verfassungssymbolik muß für Christiano sozusagen eine zwei- te Dimension haben, eine konkrete, die von einer ersten Dimension, einer abstrakt- transzendenten, nicht getrennt werden darf. Genau das ist aber für ihn bei Trudeaus Verfassungsvision der Fall. Die Symbole in Trudeaus Verfassung sind für Christiano nichts weiter als Luftschlösser: Sie geben zwar hehre Ziele vor und versuchen, die po- litische Wirklichkeit zu transzendieren, können dies aber nicht, da sie sich überhaupt nicht auf etwas beziehen, das sie transzendieren könnten. Sie sind nur selbstbezogen, sozusagen nur autosuggestiv, und können daher nur sehr bedingt auf die politische Wirklichkeit Einfluß nehmen: [...] [T]he hoped-for innovations–a domicile in Canada for the constitution, re- cognition of language protections in all provinces, and a bill of individual rights– are not so much symbols as consequences of the presumed power of symbols to convince others of their necessity. As goals of political discussion, they presup- pose a set of national symbols that, as the ensuing debates demonstrated, Canada could not pretend it had. (Christiano 1994, 17)

Daß Trudeaus Verfassungsvision nur ungenügend historisch verwurzelt ist, führt Christiano darauf zurück, daß ihr Grundbaustein, nämlich Individualrechte, gänzlich ungeeignet sei, an konkrete historische Bezüge anzuknüpfen. Eine auf Liberalismus und liberaler Theorie fußende Ordnung könne historische Kontexte nicht reflektieren und ins politische Bewußtsein rufen. Da im Liberalismus das Individuum als »the so- le agent of moral and legal consequence« (Christiano 1994, 70) angesehen werde, würden »communal ties« (Christiano 1994, 71), welche für die Orientierung der Indi- viduen zentral seien, zwangsläufig ignoriert. Damit würden wichtige individuelle Be- dürfnisse nicht in das liberale Gesellschaftsmodell einbezogen. Liberale Gesellschafts- theorie und Verfassungssymbolik »removes individuals from the guidance of the group and the comfort of tradition.« (Christiano 1994, 70) Der Liberalismus könne das In- dividuum nur auf einen weiträumigen, universalen Kontext verweisen, der konkrete Bezogenheit außer acht lasse. »Aspects of personal identity less expansive than one’s humanity«, so schreibt er, »[...] are deemed, in liberal theory, irrelevant to collective life.« (Christiano 1994, 118) Das nun, so Christiano, hat die problematische Auswir- kung, daß die Grundwerte nicht mehr spezifisch genug sind. Prinzipien, wie sie in der Grundrechtscharta zum Ausdruck kommen, Prinzipien wie »tolerance, respect for others, and the pragmatic support of liberty« (Christiano 1994, 111) finden in Kanada zwar eine breite allgemeine Zustimmung. Das Problem dabei ist aber, daß dies Werte sind, die in vielen Nationen anerkannt werden. Es sind keine spezifisch kanadischen Werten. Deshalb können sie auch nicht die Grundlage für einen neuen, spezifisch ka- nadischen Nationalismus sein. Die liberalen Grundwerte, so Christianos These, sind zu wenig partikularistisch, um für ein Nationenbildungsprogramm tauglich zu sein:

150 As the basis for a potential national vision, the commandments of liberalism are fatally universalistic. Anyone may embrace them, and thankfully some nations do, and seriously so. But there is no reasoning offered for why Canadians are compelled to this choice, only assertion that it is the rational, nay, courteous thing to do. (Christiano 1994, 118)

Christianos Betrachtungen enthalten viele interessante Aspekte; sie bestätigen noch- mals, daß Grundrechte nicht per se eine Integrationsfunktion haben, sondern auch in Minderheitennationalismen integriert werden können. Christianos Ausführungen sind aber insofern problematisch, als er nur die weitverbreitete falsche Ansicht wiedergibt, daß Liberalismus auf eine »atomistische« Gesellschaftstheorie gegründet sei, und dar- aus dann den falschen Schluß zieht, daß Trudeau als Liberaler deshalb quasi zwangs- läufig kulturelle Kontexte vernachlässigt haben müsse. Wie wir ja anhand des Libe- ralismusbegriffs Lord Durhams, John Stuart Mills und Lord Acton gesehen haben, ist dieses Bild des Liberalismus stark verkürzt; es trifft auch auf Trudeau nicht zu, weder auf seine politische Theorie noch auf seine Verfassungspolitik. Er betrachtete Kanada durchaus auch als ein »spiritual thing«. In seiner Autobiographie hatte er, wie schon zitiert, geschrieben, daß »[i]t would be a sin against the spirit, a sin against humanity, if we were to be torn asunder.« (Trudeau 1993, 242) Seine Vision eines neuen Kanada hatte er auch konkret historisch zu verankern versucht, nämlich als Gegenentwurf zu den USA. Worauf Christianos Kritik aufmerksam macht, ist aber, daß in Kanada nicht wie in den USA an die konkrete Realität eines der politischen Ordnung schon grundle- gend vorausgehenden nationalen Bezugsfeldes angeknüpft werden konnte. Er weist damit auf ein Problem in Trudeaus Verfassungsvision hin: Eine Verfassung hat nicht nur schon deshalb eine symbolische Integrationskraft, weil sie von allen geteilte poli- tische Prinzipien enthält. Sie muß auch eine historisch-konrete Verwurzelung haben. Es reicht dabei nicht, daß Symbole sozusagen »abstrakt« akzeptiert werden – das ist in Frankokanada ja der Fall: Individuelle Rechte (und auch Volkssouveränität) erfreuen sich großer Wertschätzung. Sie müssen auch an eine konkrete, gemeinsame histori- sche Erfahrung anknüpfen, um ein politisches Gemeinwesen integrieren zu können. Trudeaus liberale Vision ist zwar durchaus an der kanadischen Wirklichkeit informiert und kulturellen Zusammenhängen gegenüber aufgeschlossen. Sprachrechte gibt es we- gen der spezifischen Situation Frankonkanadas. Aber das ist nur so aus realpolitischen Gründen: Es verweist nicht auf eine gemeinsame historische Erfahrung, sondern viel- mehr auf das Fehlen einer solchen Erfahrung.

151 4.4 Das White Paper als Diskreditierung des liberalen Konstitutionalismus: Die Auswirkungen von Trudeaus Verfassungspolitik auf kulturelle Konstruktionsprozesse bei Ureinwohnern

[. . . ] [A]n important aspect of »custom«, or »culture« or »tradition« is that these terms have become categories of political discourse. They are now everywhere employed by sub-state nationalists in negotiating their relationship to the state. Roger F. McDonnell (1992, 311f)

Im Widerstand gegen das White Paper hatten sich kanadische Ureinwohner in hohem Maße politisch mobilisiert. Wie schon unter Punkt 3.3.2 zitiert, hatte Sally M. Weaver das White Paper als Katalysator für die Nationalisierung der Ureinwohner bezeich- net. Weaver sprach in diesem Zusammenhang auch davon, daß das White Paper den »nativism« (Weaver 1981, 171) bestärkt habe. Dies könnte den Eindruck erwecken, die Ureinwohner hätten sich gegenüber dem Rest Kanadas abgeschlossen und sich bemüht, ihre Kultur zu konservieren. Das war aber nicht der Fall. Der Nationalismus der Ureinwohner war nicht nur auf die Bewah- rung überkommener kultureller Praktiken gerichtet, sondern im Umgang mit kulturel- lem Material ausgesprochen kreativ. Im politischen Widerstand änderte sich die Kultur der Ureinwohner im erheblichen Maße, kulturelle Grenzziehungen wurden flexibel auf strategische Notwendigkeiten hin ausgerichtet. Dabei lassen sich im wesentlichen zwei Tendenzen ausmachen. Zum einen zeigte sich bei der kulturellen Grenzziehung der kanadischen Ureinwoh- ner im politischen Widerstand das interessante Phänomen, daß sie zwar eine kulturelle Grenze gegenüber der »westlichen« Kultur betonten, sich aber gerade in ihrem poli- tischen Widerstand immer mehr »verwestlichten«. Durch den häufigen Austausch der häufig an kanadischen Universitäten ausgebildeten Eliten der Ureinwohner mit ande- ren Kanadiern – etwa durch Kooperation mit Akademikern, Politikern und Journalisten – erweiterte sich ihr Horizont erheblich. In den 1970er Jahren konnten vier Ureinwoh- ner Unterhaussitze gewinnen, was die Perspektive und das Aktionsfeld von Ureinwoh- nern deutlich erweiterte. Dies war begleitet von einem erheblichen kulturellen Wandel in Ureinwohnergruppen. So war gerade in Zeiten des schärfsten politischen Wider- standes zu beobachten, daß »westliche« Technologien verstärkt Verwendung fanden und die soziale Entwicklung in Ureinwohnergruppen sich weniger von der »west- lichen« Umgebung zu unterscheiden begannen.4 Indem sie Techniken »westlicher«

4Dies zeigte sich daran, daß in Ureinwohnergruppen Werte wie Familie, Gemeinschaft, sowie höfli- che Verhaltensregeln zwischen Alt und Jung wie auch im übrigen Kanada erheblich an Bedeutung ver- loren (vgl. Kwochka 1996). Durch einen gesteigerten Austausch mit der »weißen« Umgebung, sei es

152 Interessenpolitik übernahmen, verstärkte sich auch der Austausch der verschiedenen Ureinwohnernationen untereinander erheblich, so daß diese sich auch untereinander immer ähnlicher wurden. Ureinwohner gründeten kanadaweite Dachverbände. In me- dienwirksam aufeinander abgestimmten Protestmärschen setzten sie sich für eine Ver- änderung der kanadischen Ureinwohnerpolitik ein. Dem Gesetz der größten Zahl fol- gend, versuchte man je nach Problemlage so viel Einfluß wie möglich zu gewinnen (vgl. Abele 1999, 446). Je nach politischem Kontext wechselten die Identifizierungen mal mit der lokalen Gemeinschaft, mal mit dem Stamm. Wenn es notwendig war, tra- ten Ureinwohner auch als eine Nation auf.5 Zum anderen verband sich der politische Widerstand auch mit einer Betonung kul- tureller Unterschiede, mit einer Berufung auf Traditionen. Ureinwohnersprachen wur- den wieder mehr gepflegt, traditionelle Tänze häufiger aufgeführt und kultische Prak- tiken wiederbelebt. Dies war strategisch von großer Bedeutung, um sich z. B. in Land- rechtsprozessen durchsetzen zu können. Um Landrechte zu erhalten, mußten Urein- wohner nämlich nachweisen, daß sie noch »authentische« Ureinwohner seien.6 Urein- wohner verteidigten nicht unzweifelhaft feststehende und organisch gewachsene kul- turelle Elemente, die alle Ureinwohner oder alle Mitglieder einzelner Ureinwohner- Gruppen miteinander teilen. Eigentlich kann als konstanter Faktor im politischen Wi- derstand nur das Interesse ausgemacht werden, eine Grenze zwischen den Ureinwoh- nern und der »westlichen« Umgebung aufrechtzuerhalten. Ähnlich wie in Quebec nach

durch Heiraten oder die Umstrukturierungen des Alltagslebens, das durch die Ausrichtung auf wohl- fahrtsstaatlicher Institutionen ausgelöst worden war, hatte sich ein Trend zur Enthomogenisierung der Ureinwohnergruppen ergeben (vgl. Dickason 1992, 333-336, 404 und 409). 5Kanadische Ureinwohner sind hierbei kein Einzelfall. Die Bedeutung der politischen Arena für kul- turelle Grenzziehungen haben Joane Nagel (1994) und Sighard Neckel (1997) am US-amerikanischen Beispiel illustriert. Die Autoren kommen zu dem Schluß, daß kulturelle Grenzziehungen mehr und mehr durch »ethnically-linked resource policies« (Nagel 1994, 157) überlagert werden und sich kulturelle Grenzen mehr und mehr nach den Gesetzen kollektiver Handlung (Neckel) ausrichten. 6Kanadische Richter machten z. B. die Anerkennung von Landrechten davon abhängig, daß die Ureinwohner, welche diese für sich in Anspruch nahmen, noch in der Art und Weise lebten wie ihre Vor- fahren zur Zeit der Ankunft der ersten Europäer. So wurden etwa Landrechte an das Vorhandensein be- stimmter Landnutzungsformen, wie etwa Jagdwirtschaft, und bestimmter kultischer Praktiken geknüpft. Besonders deutlich wurde dies in einem Prozeß, der von den Gitksan und Wet’suwet’en Ende der 1980er Jahre um Landrechte in British Columbia geführt worden war (Delgamuukw vs British Columbia). Rich- ter Macfarlane bekundete z. B., daß »[a] practice which had not been integral to the organized society and its distinctive culture, but which became prevalent as a result of European influences would not qua- lify for protection as an aboriginal right.« (in McNeil 1993, 145) Damit Landbenutzung als Ausdruck einer »echten« Ureinwohnerkultur gelten könne, müssten sie einen »integral part of traditional Indian life prior to sovereignty« ausmachen (in McNeil 1997, 145f). Zu solch einem »traditional life« gehörten, so Richter McEachern, »participation in the wage or cash economy« (zitiert in Isaac 1993, 435). Die Richter knüpften die Identität der Ureinwohner über die Zeit hinweg an bestimmte Merkmale. Besonders deutlich brachte dies Richter Wallace zum Ausdruck: »Engaging in activities that are different in nature and scope from those integral to aboriginal society and traditional ways of life cannot be said to be the exercise of an aboriginal right.« Weiter führte er aus, daß »[a] [...] modern aboriginal right [is] [. . . ] a contradiction in terms. It is the manner of exercising the right which may assume a contemporary or modern form.« (in McNeil 1997, 146).

153 der »Stillen Revolution« wurde die Nationalisierung von einem sozialen Wandel be- gleitet, wenn der soziale Wandel bei Ureinwohnern auch viel stärker war. Daß sich kulturelle Gruppen im politischen Widerstand aneinander anpassen, ist schon länger Konsens innerhalb der ethnologischer Forschung. So stellte der norwe- gische Ethnologe Frederik Barth (1969) in seiner maßgeblichen Studie über kulturelle Grenzziehungen bei ethnischen Gruppen fest, daß eine politische Konfrontation zwi- schen ethnischen Gruppen nur möglich sei, wenn sich diese aneinander anpassen und vergleichbar machen: »Opposed parties thus tend to become structurally similar, and differentiated only by a few clear diacritica.« (Barth 1969, 35) Eine Kultur ist für ihn nicht an die Existenz bestimmter kultureller Elemente geknüpft. »The important thing is to recognize«, so schreibt er, »that a drastic reduction of cultural differences between ethnic groups does not correlate in any simple way with a reduction in the organizatio- nal relevance of ethnic identities, or a breakdown in boundary-maintaining processes.« (Barth 1969, 33) Der Fortbestand ethnischer Gruppen über die Zeit hinweg knüpft sich für Barth an eine »continual organizational existence with boundaries (criteria of mem- bership) that despite modifications have marked off a continuing unit.« (Barth 1969, 38) Die Kontinuität einer ethnischen Gruppe über die Zeit hinweg liegt für Barth nicht darin begründet, daß eine Gruppe bestimmte kulturelle Elemente beibehält, sondern daß sie sich durch einen Austausch mit der Umgebung immer wieder neu konstituiert: The cultural features that signal the boundary may change, and the cultural char- acteristics of the members may likewise be transformed, indeed, even the or- ganizational form of the group may change — yet the fact of continuing dicho- tomization between members and outsiders allows us to specify the nature of continuity, and investigate the changing cultural form and content. (Barth 1969, 14)

Diese Überlegungen verdeutlichen, daß es »die« Kultur der kanadischen Ureinwoh- ner überhaupt nicht gibt. Daraus folgt, daß man die Forderung von Ureinwohnern nach politischer Autonomie und Selbstbestimmung nicht einfach dadurch erklären kann, daß »die« Kultur der Ureinwohner mit der westlich geprägten Kultur Kanadas unver- einbar sei. Das Scheitern von Trudeaus White Paper läßt sich nicht einfach darauf zu- rückführen, daß Ureinwohner liberalen Konstitutionalismus und liberale Grundrechte per se abgelehnt hätten. Samuel LaSelvas (1996) Analyse der Ureinwohnerpolitik Trudeaus kann dies weiter verdeutlichen. Das Problem des White Paper sei es nicht gewesen, daß Ureinwohner individuelle Rechte abgelehnt hätten. Problematisch sei vielmehr gewesen, daß das White Paper individuelle Rechte als unvereinbar mit kollektiven Rechten, und damit mit Selbstregierung und politischer Autonomie, dargestellt habe. Erst dadurch sei die Idee individueller Rechte bei Ureinwohnern diskreditiert worden. Aus strategischen Gründen hätten sie sich dann gegen individuelle Rechte gewendet und dies damit be- gründet, daß eine liberale Gesellschaftsauffassung mit der Kultur der Ureinwohner

154 inkommensurabel sei. »Forced to choose,« so schreibt LaSelva, »Aboriginals rejected the idea of an open society, asserted the unique importance of membership in Aborigi- nal communities, and eventually buttressed Aboriginal nationalism with a thesis about the incommensurability of cultures.« (LaSelva 1996, 146) Die einzige Möglichkeit für die Ureinwohner, einen Platz im neuen Kanada Trudeaus zu finden, war, ihre radikale Verschiedenheit zu betonen, »so that Canada can be redefined as a country in which Aboriginal peoples and other ›incommensurable communities‹ are held together by the toleration of differences.« (LaSelva 1996, 138f) Die Argumentation des Ureinwohners Len Sawatsky verdeutlicht dieses Szenario. Sawatsky bezeichnet das Strafrechtssystem der Ureinwohner als eigenes »paradigm« (Sawatsky 1992, 89), das mit dem in Kanada vorherrschenden Strafrechtssystem in- kommensurabel sei. Als Alternative zum kanadischen Strafrecht schlägt er das Kon- zept des healing vor, eines von Ureinwohnern praktizierten Strafrechts, das nicht wie das westliche Strafrecht an einem Täter-Opfer-Schema orientiert ist und Gefängnis- strafen vorsieht, sondern im wesentlichen daran ausgerichtet ist, Täter und Opfer vor der Gruppe in einem sogenannten healing circle ins Gespräch zu bringen. Täter soll- ten nicht durch Ausschluß aus der Gemeinschaft bestraft werden, sondern möglichst schnell wieder resozialisiert werden. Er betrachtet dies als bessere Alternative zu dem an Konflikt orientierten kanadischen Strafrechts. Das kanadische Rechtssystem sei als ein Paradigma unter vielen zu verstehen, das Ureinwohnern nicht oktroyiert werden dürfe. In einem revolutionären Wandel, einem »paradigm shift«, solle das bisher herr- schende kanadische Rechtssystem durch das Rechtssystem der Ureinwohner ersetzt werden. Nur so könne Ureinwohnern Gerechtigkeit widerfahren (vgl. Sawatsky 1992, 89f).7 Für Sawatsky ist das eigene Strafrecht vor allem auch ein Symbol für die politi- sche Autonomie der Ureinwohner und steht damit in der Tradition des Kampfes gegen das White Paper:

Aboriginal self-government is not an empty container that needs to be filled with European or American notions and practices. [. . . ] [I]t is essential to assume that aboriginal culture is a full container that has within it all that is required to maintain law and order, prevent crime, apply sanctions, restore positive social relations and repair them. (Sawatsky 1992, 96)

Daß die Position Sawatskys nicht Ausdruck »der« Ureinwohnerkultur ist, sieht man schon daran, daß er in seiner Argumentation auf theoretische Konzeptionen zurück- greift, die genuin westlichen Ursprungs sind. Seine Ausführungen erinnern etwa deut- lich an Thomas S. Kuhns The Structure of Scientific Revolutions. Es zeigt sich aber vor allem auch daran, daß es innerhalb von Ureinwohnergruppen viele Menschen gibt, welche kanadisches Strafrecht bevorzugen und Ureinwohnerstrafrecht als bedrohlich

7Ähnliche Positionen finden sich bei Borrows (1996), der auf die besondere Bedeutung der Stammes- ältesten abhebt.

155 und als Ausdruck von Oppression erleben. Besonders deutlich wird dies bei der Kritik der Ureinwohnerin Emma LaRocque (1997) an der Konzeption Sawatskys. Sie proble- matisiert diese, weil dadurch schwere Rechtsverletzungen gegenüber Frauen in Urein- wohnergruppen nur sehr milde bestraft werden, und bezieht sich dabei auf Fälle, wo in Ureinwohnergruppen Frauen vergewaltigt wurden, dies aber durch einen healing circle gar nicht oder nur sehr milde bestraft wurde. Sie beschreibt und kritisiert den ersten Gerichtsfall, der von einem sog. healing circle entschieden wurde. Im Reservat Hollow Water in Manitoba, 160 Kilometer nordöstlich von Winnipeg, war über die Vergewal- tigung zweier Kinder durch ihren Vater verhandelt worden. Für diese, so LaRocque, »unspeakable acts« wurden der Mann und seine Frau, die an den Taten beteiligt war, zu nur drei Jahren »supervised probation« verurteilt, während der sie durch ein Mitglied des healing circle überwacht werden sollten (vgl. LaRocque 1997, 75). Für LaRocque stellt dies kaum eine Strafe dar und gefährdet damit Frauen in Ureinwohnergruppen. Vergewaltigung und andere schwere Straftaten müßten, zum Schutz der Frauen und ih- rer Grundrechte, vor einem kanadischen Gericht nach kanadischem Recht verhandelt werden. LaRocque sieht in der These von der Inkommensurabilität der Kulturen eine gefährliche Entwicklung, welche Ureinwohnerinnen elementare Grundrechte entzieht:

We have given the message that we are so fathomlessly different as to be hardly human. We are supposedly so different as to be exempt from the Canadian Charter of Rights and Freedoms, as if our history of oppression has made us somehow immune to ordinary human evils, as if we do not require basic human rights that other Canadian citizens expect. (LaRocque 1997, 90)

Angesichts dieser Problematik äußert sich LaRocque kritisch über den Kulturrela- tivismus, wie er bei Ethnologen weit verbreitet sei. Dieser verstehe sich zwar als ein Ansatz, der Minderheiten schützen wolle, unterstütze dabei aber die Mächtigen und führe zur Unterdrückung in Ureinwohnergruppen. Eine Form der Unterdrückung wer- de so durch eine andere ersetzt.8

8LaRocque betont, daß hier universelle Standards verletzt würden. Die Behandlung der Opfer wider- spreche dem »common sense« (LaRocque 1997, 82), sexueller Mißbrauch sei eine »particular noxious violation against human dignity« (LaRocque 1997, 86) und »[r]ape in any culture and by any standards is warfare against women.« (LaRocque 1997, 90) »Some violations are so noxious, fundamental, and irreparable«, so schreibt sie, »that ›harmony‹ is not only impossible to restore, it should not even be the overriding objective.« (LaRocque 1997, 95f) Die von LaRocque kritisierte These, daß man Recht- spraktiken der Ureinwohner akzeptieren müsse, wird tatsächlich häufig in der anthropologischen Lite- ratur akzeptiert und als Ausdruck von Toleranz und Sensibilität gegenüber Eurozentrismus gewürdigt. Bei Dickson-Gilmore (1992, 499) findet sich etwa die Warnung, solche Praktiken von außen zu kritisie- ren, auch wenn man invented traditions dahinter vermuten kann. Auch in der eher juristisch orientierten Literatur wird häufig empfohlen, Rechtspraktiken der Ureinwohner zu akzeptieren. Die Idee eines »tra- ditionellen« Rechts der Ureinwohner wird häufig anerkannt. Als Beispiel seien hier Asch, Macklem und Zlotkin angeführt, die davon sprechen daß »Aboriginal rights and title are self-defining and derive from sources external to the Canadian legal system and constitution.« (Asch, Macklem und Zlotkin 1997, 215) Schouls, Olthuis und Engelstad (1992) betrachten Liberalismus als eine politische Theorie, die wegen des Individualismus keine Gruppenrechte anerkennen könne und mit der Kultur der Ureinwohner prinzipiell unvereinbar sei.

156 Als schwerwiegendstes Problem kritisiert LaRocque jedoch den liberalen Konstitu- tionalismus, dem sie das Festhalten an einer starren Dichotomie zwischen individuel- len und kollektiven Rechten vorwirft. Dies mache es unmöglich, politische Autonomie für Ureinwohner mit einem Grundrechtsschutz für Ureinwohnerinnen zu vereinbaren. Indem individuelle Rechte als mit kollektiven Rechten unvereinbar behandelt würden, hätte man Ureinwohnern vermittelt, daß sie sich gegen individuelle Rechte entscheiden müßten, wenn sie kollektive Rechte in Form von politischer Autonomie haben wollten. »The issue of ›individual‹ versus ›collective‹ rights is a perfect example of Natives re- sorting to a cultural framework when boxed in by Western liberal democratic traditions that are associated with individualism.« (LaRocque 1997, 87) Sie führt dieses Problem aber nicht einfach auf eine Inkommensurabilität zwischen »der« Kultur der Ureinwohner und »dem« liberalem Konstitutionalismus zurück. Ihre Kritik zeigt, daß Ureinwohnerkultur nicht fix ist, sondern auch als Konstruktion begrif- fen werden kann und ihrem Umfeld gegenüber offen ist. LaRocques Kritik ist keine Ablehnung des liberalen Konstitutionalismus; sie lehnt ja die Idee individueller Rech- te nicht ab, sondern fordert zusätzlich zu diesen eine Anerkennung kollektiver Rech- te. Ihre Kritik richtet sich eigentlich vielmehr gegen die Besonderheit von Trudeaus Form des liberalen Konstitutionalismus, der die Komplementarität von individuellen und kollektiven Rechten nicht anerkennt. Das oben umrissene Problem läßt sich durch eine Analyse der Lage von Dissentern in Ureinwohnergruppen verdeutlichen. Besonders interessant ist hier die Problematik von Ureinwohnerinnen, die in den 1970er Jahren eine Veränderung des Erb- und Sta- tusrecht auf Reservaten forderten. Nach dem Indian Act hatte dies ein patrilineares Erbrecht eingerichtet; erbberechtigt waren, soweit vorhanden, nur männliche Nach- kommen. Das Aufenthaltsrecht von Ureinwohnerinnen war an das Aufenthaltsrecht ihres Mannes geknüpft. Heiratete eine Ureinwohnerin einen Mann, der kein Aufent- haltsrecht hatte, so mußte sie das Reservat verlassen. Ureinwohnerinnen hatten schon seit den 1960er Jahren gegen die Bestimmungen des Indian Act protestiert. Zu öf- fentlichen Protesten kam es, nachdem es in den 1970er Jahren häufiger vorgekommen war, daß Ureinwohnerinnen, die einen Mann geheiratet hatten, der kein Statusrecht auf einem Ureinwohnerreservat besaß, auch nach einer Scheidung nicht wieder auf ihre Reservate zurückkehren durften, oft auch dann nicht, wenn sie sich in großer wirt- schaftlicher Not befanden. Als besonders ungerecht wurde empfunden, daß Frauen, die vorher kein Statusrecht gehabt hatten, dies nach ihrer Heirat mit einem Ureinwoh- ner sofort erhielten. Ureinwohnerinnen forderten, den Frauen die gleichen Statusrechte zu geben wie Männern.9 Sie klagten dagegen, indem sie sich auf kanadische Rechte

9Mit ihren Protesten erzielten Ureinwohnerinnen ein großes Aufsehen. Ein spontan entstandener Protestmarsch nach Ottawa 1979 wurde von zahlreichen Medienteams begleitet; die Anführerinnen wur- den sogar in das Büro des damals regierenden Premierministers Clark vorgelassen. Zusätzlich zu diesen Protesten strengten sie auch Klagen vor kanadischen Gerichten an (vgl. Silman 1987).

157 bezogen. Vor der Verabschiedung der Verfassung von 1982 beriefen sich die Frau- en auf die Bill of Rights von 1960, welche die Gleichberechtigung der Geschlechter festgelegt hatte. Nach der Verabschiedung der Verfassung von 1982 beriefen sich die Ureinwohnerinnen dann auf Artikel 28 der Charter, welche die Gleichbehandlung der Geschlechter festschrieb (vgl. Weaver 1993). 1981 reihten sie auch eine Klage bei den Vereinten Nationen ein, in der die Klägerinnen Kanada die Verletzung der Charter der Vereinten Nationen vorwarfen (vgl. Silman 1987, 126ff und Weaver 1981, 199ff). Die großen Ureinwohnerverbände lehnten die Forderungen der Ureinwohnerinnen strikt ab. Es hatte sich hier eine »unusual political unity« (Weaver 1993, 99) ergeben. Der Indian Act war zentraler Bestandteil des politischen Widerstandes gegen das White Paper. Eine Kritik an diesem wurde angesichts der durch das White Paper ausgelösten »termination psychosis« (Weaver 1981, 6) als Angriff auf die politische Autonomie und damit die Ureinwohnerkultur überhaupt verstanden. Weaver führt diese Politik auf das »political trauma of the 1969 White Paper« (Weaver 1993, 99) zurück. Man be- fürchtete, daß durch eine Delegitimierung einer Bestimmung des Indian Act durch ein Gericht die Legitimität des gesamten Indian Act und damit auch der Selbstverwaltung der Ureinwohner auf ihren Reservaten in Frage gestellt würde.10 Die Position der Ureinwohnerinnen ließ sich in diese Logik nicht einfügen. Indem sie ihre Rechte vor kanadischen Gerichten einklagten, wollten sie keinesfalls kollektive Rechte und Selbstbestimmung für Ureinwohner in Frage stellen. Sie machten darauf aufmerksam, daß sie zwar eine Veränderung der Praktiken innerhalb ihrer Gruppe, nicht aber eine Aufhebung kultureller Grenzziehungen verlangten, und betonten, daß ihnen Autonomie und Unabhängigkeit von Ureinwohnergruppen und kollektive Rech- te sehr wichtig seien. Folgendes Statement der Quebec Native Women’s Association bringt dies deutlich zum Ausdruck:

It must be clearly understood that we have never questioned the collective rights of our Nations, but we strongly believe that as citizens of these Nations, we are also entitled to protection. We maintain that the individual rights of Native Citizens can be recognized while reaffirming collective rights. This is why we would like to be in a position to rely on a Charter guaranteeing the rights and freedoms of all Native Citizens. (zitiert in Isaac und Maloughney 1992, 628)

Sandra Lovelace, eine der Initiatorinnen des Widerstandes gegen das Statusrecht des Indian Act, bringt dies deutlich zum Ausdruck:

An [...] argument [of] our so-called leaders used against us was, giving women their status back would »dilute the Indian culture.« How could it? I teach my children my Indian culture; the white women teach their kids their white culture,

10Diese Sorge war auch nicht unbegründet. Preston Manning, Vorsitzender der Reform Party und Geg- ner von Ureinwohnerrechten, unterstützte beispielsweise die Ureinwohnerinnen und führte den Dissens in Ureinwohnergruppen in seinen Argumentationen gegen kollektive Rechte für Ureinwohner an (vgl. Turpel 1993, 137 und Weaver 1993, 99).

158 because the men are out working. It’s mostly the mothers that teach the kids. My children are surrounded by my culture, my language, so how can we dilute it? I think Indian women coming back will improve it. (Sandra Lovelace, zitiert in Silman 1987, 240)

Ein wichtiges Argument für die Position der Ureinwohnerinnen war, daß das in Ureinwohnergruppen praktizierte Statusrecht Produkt des Indian Act und damit kei- nesfalls traditioneller Bestandteil der Ureinwohnerkultur sei. Seine Bewahrung könne deshalb auch nichts mit dem Schutz von Ureinwohnerkultur zu tun haben. Vielmehr werde in der Gegenüberstellung von White Paper und Indian Act nur das neuere, an liberal-demokratischen Prinzipien orientierte »weiße« Recht mit dem alten, an vikto- rianischen moralischen Prinzipien orientierten »weißen« Recht konfrontiert. Diese strategische Positionierung der Ureinwohner brachte die Ureinwohnerinnen in eine schwierige Lage. Zum einen fühlten sie sich als Ureinwohner fremd in der Welt der Weißen und verstanden sich selbst nicht unbedingt als selbstbewußte Verfechterin- nen von liberalen Menschenrechten. Zum anderen fühlten sie sich von ihrer eigenen Gruppe unverstanden, da sie nicht die Abgrenzung und die Rechte von Ureinwoh- nern unterminieren wollten. Sie befanden sich in einer »untenable position of having to choose between gender and culture« (Nightingale 1991, 87); als Mitglieder einer unterdrückten und gefährdeten Ureinwohnerkultur, in welcher sie selbst wieder unter- drückt werden, sind sie »dually disadvantaged« (Isaac und Maloughney 1992, 457) und unterliegen einer »double oppression« (LaRocque 1997, 90).

Aus diesen Überlegungen kann man schlußfolgern, daß Trudeaus liberale Verfassungs- vision für die spezifische Situation der Ureinwohner in Kanada unangemessen war. Die besondere Situation in Ureinwohnergruppen, die zum einen durch politischen Wider- stand gegenüber einem als bedrohlich erlebten Umfeld und zum anderen durch das Bemühen von Dissentern um eine Anerkennung ihrer Rechte charakterisiert ist, kann in die Dichotomie zwischen individuellen und kollektiven Rechten, welche Trudeaus liberaler Verfassungsvision zugrunde liegt, nicht eingeordnet werden. Es zeigen sich hier quasi zwei Konfliktszenarien: einmal von Assimilation versus Widerstand, zum anderen von Homogenität versus Offenheit von Ureinwohner-Kultur. Diese beiden Dimensionen verlaufen quer zur Logik von individuellen und kollektiven Rechten. Indem er dieses Szenario nicht berücksichtigen konnte, diskreditierte Trudeau seine Verfassungsvision gleich doppelt. Zum einen provozierte er durch sein White Paper den Minderheitennationalismus, was dann zur Folge hatte, daß er kollektive Rechte akzeptieren mußte. Das Verhältnis dieser kollektiven Rechte zu individuellen Rech- ten konnte Trudeau jedoch im Rahmen seiner liberalen Grundrechtsvision nicht klar bestimmen, was dann zum Dissenter-Problem in Ureinwohnergruppen beitrug.

159 Angesichts dieser Probleme kann man Alan Cairns zustimmen: »The constitutional language of ethnicity is still in its infancy.« (Cairns (1991, 175f)) Im nächsten Kapitel soll untersucht werden, ob es im Rahmen eines liberalen Konstitutionalismus nicht eine bessere Lösung für dieses Problemszenario denkbar wäre.

160 5 Die Verfassung der Völker: Will Kymlickas Argument für nationale Minderheitenrechte auf der Grundlage des US-amerikanischen liberalen Mainstreams

[...] [T]he Canadian approach is best understood as an outgrowth or application of the same basic liberal- democratic values that are shared by all Western demo- cracies. Will Kymlicka (2003, 369)

My aim is to step back and present a more general view of the landscape–to identify some key concepts and prin- ciples that need to be taken into account, and so clarify the basic building blocks for a liberal approach to minor- ity rights. Will Kymlicka (1995, 1f)

Die Probleme des kanadischen Konstitutionalismus haben innerhalb der kanadischen politischen Theorie zu vielfältigen Reflektionen Anlaß gegeben. Dabei ist die Debat- te innerhalb der kanadischen Politikwissenschaft weitaus weniger binnenbezogen als in der US-amerikanischen. Kanadische Politologen vergleichen den kanadischen Fall häufig mit den USA. Die kanadischen Politologen, die im Rahmen dieser Arbeit schon zitiert wurden, wie etwa Peter Russell und Alan Cairns, verdeutlichen dies. Auch Ge- orge Grant interpretierte die politischen Ereignisse in Kanada vor dem Hintergrund der Entwicklungen in den USA.1 Bei Vertretern liberaler politischer Theorie in Kanada, die sich mit abstrakteren Fra- gestellungen beschäftigen, ist die Orientierung an den Debatten in den USA besonders deutlich bemerkbar. Der sicherlich bekannteste Vertreter politischer Theorie in Kana- da, der anglophone Quebecker Charles Taylor, verortet sich in seinen Büchern häufig in den wesentlichen Debatten der zeitgenössischen US-amerikanischen liberalen Theo- rie. In seinem wohl bedeutendsten Buch Sources of the Self etwa knüpft er an vielen Stellen an die kommunitaristische Liberalismuskritik in den USA an. Sein bekannter Essay Multiculturalism and the Politics of Recognition ist ganz an der Liberalismusde- batte in den USA ausgerichtet. Quebec begreift er darin als einen Staat, der sich dem

1Fast resignativ hatte George Grant einmal festgestellt: »The centre of the English-speaking world has moved since 1914 to the great republic. It is therefore appropriate to listen to contemporary liberalism in an American garb.« (Grant 1985, 13)

161 Modell der »procedural republic« US-amerikanischer Prägung widersetze, da Indivi- duen hier eine bestimmte Konzeption des good life vorgeschrieben werde: nämlich, den frankophonen Charakter der Provinz anerkennen zu müssen (Taylor 1994, 58f). Das kanadische Problem besteht für Taylor aber nicht darin, daß Quebec keine libe- rale Ordnung habe. Quebec ist für ihn nur Ausdruck einer Art von Liberalismus, die mit dem im übrigen Kanada nicht vereinbar sei. Im Rest Kanadas dominiere ein »li- beralism of right«, der einen Staat nur als Vertrag zwischen Individuen sehe, in dem Ethnizität staatlicherseits nicht geregelt werden solle und kollektive Ziele keine Rolle spielen sollten. In Quebec dagegen sei eine zweite Form des Liberalismus dominant, ein »substantive liberalism«, der einige individuelle Rechte einschränke und Individu- en eine »substantive view of life« vorschreibe. Liberal ist dies für Taylor, da wesent- liche liberale Prinzipien, wie etwa habeas corpus, dabei nicht verletzt werden (Taylor 1994, 60f). Der wichtigste Autor der jüngeren Generation in der kanadischen liberalen Theorie, Will Kymlicka, hat hier eine andere Sichtweise. Er ist nicht wie Taylor der Auffassung, daß die kanadische Situation nur begriffen werden kann, wenn man hier eine andere Ausprägung des Liberalismus verortet. Er versucht, die kanadische Problemlage vor dem Hintergrund der US-amerikanischen liberalen Theorie, wie etwa Ronald Dwor- kins (sein Doktorvater), vor allem aber John Rawls, zu beschreiben. Er argumentiert dabei für nationale Minderheitenrechte nicht als Ausnahme, sondern als notwendigen Bestandteil eines jeden prozeduralen Liberalismus. Im Unterschied zu Taylor geht er nicht davon aus, daß die Anerkennung von deep diversity eine zweite Art von Libera- lismus erfordere. Er versucht zu zeigen, daß dieser in einen prozeduralen Liberalismus problemlos integriert werden könne. Dabei knüpft Kymlicka an den britischen Libera- lismus an. Er sieht sich einen Schritt weiter als Taylor (vgl. Kymlicka 2001a, 171). In diesem Kapitel soll die politische Theorie Will Kymlickas dargestellt werden. Neben der Tatsache, daß Kymlicka an den US-amerikanischen liberalen Mainstream anzuknüpfen versucht, ist seine politische Theorie für den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit besonders interessant, da sie als eine Weiterentwicklung der politischen Theorie Pierre Elliott Trudeaus gelesen werden kann. Kymlicka entwickelt eine Ver- fassungsvision für Kanada, die wie diejenige Trudeaus an zentrale Ideen des US-ame- rikanischen Konstitutionalismus anknüpft, diese aber argumentativ anders ausgestaltet. Wie auch Trudeau knüpft Kymlicka an den britischen Liberalismus des 19. Jahrhun- derts an, entwickelt daraus aber eine andere Theorie liberaler Gerechtigkeit im multi- nationalen Staat, als das Trudeau getan hatte. Kymlicka bezieht seine abstrakten Über- legungen auch auf den kanadischen Fall und äußerte sich über die Verfassungspolitik Trudeaus. Die Trudeausche Perspektive kann nochmals durch die Brille einer Theo- rie betrachtet werden, die wie auch Trudeau die Kernelemente des US-amerikanischen Konstitutionalismus anerkennt, diese aber anders und, wie ich meine, umfassender

162 und in weitaus systematischerer Art und Weise überträgt und so zu teilweise anderen Ergebnissen kommt. Vor allem ist hier von Interesse, daß Kymlicka ein normatives Argument für Sprachrechte liefert und kollektive Rechte in seine liberale Theorie mit- einbezieht. Zuerst werde ich zeigen, wie Kymlicka eine liberale Theorie nationaler Minder- heitenrechte im Rahmen einer Rawlsschen Theorie der Gerechtigkeit entwickelt und dabei auch auf zentrale Einsichten von J. S. Mill und Lord Acton rekurriert (Abschnitt 5.1). Danach werde ich die Konzeption Kymlickas auf die kanadische Problemlage an- wenden und mit der Trudeaus, aber auch des US-amerikanischen liberalen Main- streams vergleichen (Abschnitt 5.2).

5.1 Kymlickas Argument für kollektive Rechte von nationalen Minderheiten auf der Grundlage der Prinzipien des Liberalismus

How can we defend minority rights within liberalism, given that its moral ontology recognizes only individuals, each of whom is to be treated with equal consideration? Will Kymlicka (1989, 162)

Kymlickas Argument für Minderheitenrechte ist komplex; in den letzten 15 Jahren hat sich um seine Theorie herum eine sehr lebhafte Debatte entwickelt, die zu zahlreichen Differenzierungen Anlaß gegeben hat. Diese Debatte kann hier keinesfalls nachvollzo- gen werden. Hier sollen nur die Grundzüge seines Argumentes dargestellt und wesent- liche Unterschiede zum US-amerikanischen liberalen Mainstream aufgezeigt werden. Kymlickas Argumentation für Minderheitenrechte stützt sich im wesentlichen auf vier (Teil-)Argumente. Ausgangspunkt von Kymlickas Argumentationen ist, daß eine nationale Kultur ei- ne wesentliche Rolle für die Entscheidungsfreiheit des Individuums spiele: Sie stellt für ihn den context of choice dar, ohne den ein Individuum einen freedom of choi- ce überhaupt nicht realisieren könne. Die Grundzüge dieses Argumentes stelle ich in Abschnitt 5.1.1 dar. Kymlickas nächster Argumentationsschritt ist, daß ein Individuum nicht nur über die Wahlfreiheit, sondern auch in seiner persönlichen Entwicklung an eine nationa- le Kultur gebunden ist, und zwar nicht an irgendeine, sondern an diejenige, in der es aufgewachsen ist. Kymlicka entwickelt dabei eine Theorie der Einbettung des Indivi- duums in einen kulturellen Kontext, die auf die Autonomie des Individuums verweist und die er von Michael Sandels Konzeption des Selbst abgrenzt. Dies werde ich in Abschnitt 5.1.2 darstellen.

163 Danach werde ich darstellen, wie Kymlicka ausgehend von diesen ersten beiden Ar- gumenten zur Rechtfertigung kollektiver Rechte für nationale Minderheiten gelangt. Es handelt sich dabei um zwei Argumente, die ich in Abschnitt 5.1.3 getrennt vonein- ander behandle. In Abschnitt 5.1.4 werde ich zeigen, wie Kymlicka seine Argumentation in die Theorie der Gerechtigkeit von Rawls einzufügen versucht. Aus Kymlickas Argumentation folgt, daß Einwanderer nicht die gleichen Rechte wie nationale Minderheiten fordern können. Seine Gründe hierfür werde ich in Ab- schnitt 5.1.5 gesondert darlegen. Kymlicka ist sehr darum bemüht herauszustellen, daß sein Liberalismus ein com- prehensive liberalism im Millschen Sinn sei und das Primat individueller Rechte darin nicht angetastet werde. In Abschnitt 5.1.6 werde ich daher zeigen, wie Kymlicka indi- viduelle Rechte mit kollektiven Rechten zu vereinbaren sucht.

5.1.1 Die nationale Kultur als Basis für den freedom of choice

Das zentrale normative Interesse des Liberalismus besteht für Kymlicka darin, Indi- viduen in die Lage zu versetzen, ihr existentielles Bedürfnis nach einem guten Leben (a good life) realisieren zu können. Ein good life zeichne sich dadurch aus, daß das Individuum Ziele verfolgt, die es selbst für bedeutsam hält und sein Leben – wie Kym- licka sich ausdrückt – von innen heraus (from the inside) führen kann. Er glaubt nicht, daß Individuen schon von Geburt an wissen, welche Ziele für sie bedeutende Ziele sind. Sie müssen diese erst noch herausfinden (vgl. Kymlicka 1989, 10ff). Die geeig- netste Prozedur, um Informationen aus der Umgebung aufzunehmen und für sich das Beste daraus zu ermitteln, ist für Kymlicka das freie Wählen (freedom of choice). Der freedom of choice dient ihm allerdings nur zur Realisierung des good life und hat aus diesem Grund keinen intrinsischen Wert:

Liberals aren’t saying that we should have the freedom to select our projects for its own sake, because freedom is the most valuable thing in the world. Rather, it is our projects and tasks that are the most important things in our lives, and it is because they are so important that we should be free to revise and reject them, should we come to believe that they are not fulfilling or worthwhile. [. . . ] Freedom of choice [. . . ] isn’t pursued for its own sake, but as a precondition for pursuing those projects and practices that are valued for their own sake. (Kym- licka 1989, 48)

Die verschiedenen Projekte und Pläne, die ein Leben lebenswert machen können, bekomme das Individuum von seiner kulturellen Umgebung präsentiert, welche als einzige seinem freedom of choice einen context of choice bieten könne. Aus seiner kulturellen Umgebung erhält ein Individuum die Bewertungsmuster, ohne die es nicht in der Lage wäre, den spezifischen Wert der verschiedenen Ziele zu erfahren, also

164 herauszufinden, ob es lohnenswert wäre, diese anzustreben oder nicht. Das Individu- um brauche soziale Vorbilder, die veranschaulichen, welche verschiedenen Vor- oder Nachteile unterschiedliche Zielkonzeptionen mit sich bringen können:

Different ways of life [. . . ] only have meaning to us because they are identified as having significance by our culture, because they fit into some pattern of activities which is culturally recognized as a way of leading one’s life. We learn about these patterns of activities through their presence in stories we’ve heard about the lives, real or imaginary, of others. They become potential models, and define potential roles, that we can adopt as our own. [. . . ] We decide how to lead our lives by situating ourselves in [. . . ] cultural narratives, by adopting roles that have struck us as worthwhile ones, as ones worth living (which may, of course, include the roles we were brought up to occupy). (Kymlicka 1989, 165)

Träger der cultural narratives sind für Kymlicka Sprache und Tradition. Sie werden von ihm als Medium betrachtet, das den Zielkatalog eines context of choice und die kulturelle Bewertung der verschiedenen darin enthaltenen Zielkonzeptionen transpor- tiere und dem Individuum verständlich mache:

The processes by which options and choices become significant for us are lin- guistic and historical processes. Whether or not a course of action has any sig- nificance for us depends on whether, or how, our language renders vivid to us the point of that activity. And the way in which language renders vivid these activities is a matter of our cultural heritage [. . . ]. Our language and history are the media through which we come to an awareness of the options available to us, and their significance; and this is a precondition of making intelligent judgements about how to lead our lives. (Kymlicka 1989, 165)

Wie hier deutlich wird, sind es für Kymlicka nicht nur der private Rahmen oder die Erfahrungen in der unmittelbaren Nachbarschaft, welche die Grundlage für den con- text of choice liefern. Kultur als context of choice erstreckt sich für ihn auf Gesellschaft im umfassenden Sinne. In Anlehnung an Ernest Gellner spricht Kymlicka davon, daß der context of choice durch eine societal culture geliefert werde. Kymlicka definiert diese als »a culture which provides its members with meaningful ways of life across the full range of human activities, including social, educational, religious, recreational, and economic life, encompassing both public and private spheres.« (Kymlicka 1995, 76). Eine societal culture ist für ihn »intimately linked with the process of modernizati- on« (Kymlicka 1995, 76). Da societal cultures meistens durch nationale Bewegungen – für ihn die wirkungsmächtigste soziale Strömung in der Moderne (vgl. Kymlicka 2001c, 31) – gestaltet und geformt worden seien, sei eine societal culture meist mit dem identisch, was als Nationalkultur bezeichnet wird. Es sei daher im wesentlichen der Rahmen der nationalen Kultur, welche den Kontext für den freedom of choice des Individuums liefere (vgl. Kymlicka 1995, 75f, 80, 93). Eine nationale Kultur ist für Kymlicka nichts Feststehendes und Unabänderliches. Sie spielt ihre Rolle als Basis für den freedom of choice nicht dadurch, daß sie unab-

165 änderlich immer das gleiche vorschreibt. Sie ist vielmehr selbst auch Produkt der Ent- scheidungen von Individuen und ändert sich mit diesen Entscheidungen. Ihre Identität über die Zeit hinweg ist nicht daran gebunden, daß sie immer die gleichen Zielkonzep- tionen bereithält. Der Kern einer nationalen Kultur liegt für Kymlicka im wesentlichen in der Sprache und einer historischen Kontinuität, durch die verschiedene Zielvorstel- lungen vermittelt und aufeinander bezogen werden. Der Fortbestand und die Identität einer Kultur ist für ihn nicht an bestimmte Zielpraktiken oder Wertvorstellungen, son- dern an ihre Eigenschaft als eine »viable community of individuals with a shared heri- tage (language, history, etc.)« gebunden (Kymlicka 1989, 168). Kymlicka unterschei- det in diesem Zusammenhang zwischen den Charakteristika (characteristics) einer na- tionalen Kultur – die momentan bedeutsamen und praktizierten Zielvorstellungen, die »norms currently characterizing [the culture]« (Kymlicka 1989, 168) – und der kultu- rellen Struktur (cultural structure). Der integrale Bestandteil einer Kultur liege in ihrer Struktur, nicht aber in ihren Charakteristika begründet:

In one common usage, culture refers to the character of a historical community. On this view, changes in the norms, values, and their attendant institutions in one’s community (e.g. membership in churches, political parties, etc.) would amount to loss of one’s culture. However, I use culture in a very different sense, to refer to the cultural community, or cultural structure, itself. On this view, the cultural community continues to exist even when its members are free to modify the character of the culture, should they find its traditional ways of life no longer worth while. (Kymlicka 1989, 166f)

Die für die Identität einer nationalen Kultur wesentliche kulturelle Struktur bezeich- net Kymlicka auch als die »very existence« der Kultur oder als »thin culture«, die sich immer klar von den kulturellen Charakteristika unterscheiden lasse (Kymlicka 1989, 170).

5.1.2 Die nationale Kultur als wichtiger Bezugspunkt der personalen Identität

Eine nationale Kultur ist, so Kymlicka, für Individuen nicht nur deshalb bedeutsam, da diese ihnen einen »context of choice« biete. Eine nationale Kultur biete ihren Mit- gliedern neben dem context of choice auch noch einen Wert, der diese Kultur für In- dividuen ein Leben lang besonders bedeutsam mache: die Grundlage für persönliche Identität. Ein Individuum könne nicht einfach in eine andere Kultur überwechseln, son- dern sei in einem umfassenden Sinne an die nationale Kultur, in der es aufgewachsen ist, gebunden:

People are bound, in an important way, to their own cultural community. We can’t just transplant people from one culture to another, even if we provide the opportunity to learn the other language and culture. Someone’s upbringing isn’t something that can just be erased; it is, and will remain, a constitutive part of who

166 that person is. Cultural membership affects our very sense of personal identity and capacity. (Kymlicka 1989, 175)

Durch »safety of effortless secure belonging« gewähre die Kultur dem Individuum »emotional security and personal strength« (Kymlicka 1989, 175), soziale Bestätigung und damit »self-respect of the sense that one’s ends are worth pursuing« (Kymlicka 1989, 193). Eine nationale Kultur biete ein »high social profile«, in der das Indivi- duum sich seiner Kenntnisse und Fähigkeiten überhaupt erst bewußt werden könne (Kymlicka 1995, 89). Der wesentliche Punkt in Kymlickas Argumentation für die Bedeutung einer na- tionalen Kultur ist nicht, daß es Individuen generell unmöglich wäre, ihre kulturelle Umgebung zu verlassen. Er selbst macht darauf aufmerksam, daß die Tatsache, daß es Menschen gebe, die freiwillig in andere Länder einwandern, zeige, daß dies möglich sei (vgl. Kymlicka 1995, 85). Sein Argument stützt sich darauf, daß dies ein »cost- ly process« sei (Kymlicka 1995, 85), ein »real harm« und daß Maßnahmen, die ei- ne Assimilation fordern, tragische Resultate haben könnten (Kymlicka 1989, 176). Die Entscheidung, seine eigene societal culture zu verlassen, könne mit der Entschei- dung verglichen werden, in ein Kloster einzutreten und ewige Armut zu schwören (vgl. Kymlicka 1995, 86). Seine Auffassung zur Einbettung des Selbst in die kulturelle Umgebung unterschei- det Kymlicka deutlich von solchen, die davon ausgehen, daß das Selbst durch die kul- turelle Umgebung, in der es aufgewachsen ist, definiert werde. Er grenzt sich dabei besonders von der Position Michael Sandels ab. Sandel behauptet, daß ein Individu- um sich nicht von sich von seiner kulturellen Umgebung abgrenzen könne. Für Sandel können kulturelle Zielvorstellungen (diese bezeichnet er als »ends«) nicht durch das Individuum selbst gewählt werden. Es wächst vielmehr in diese Zielvorstellungen in seinem Sozialisationsprozeß so fest hinein, daß es die Fähigkeit verliert, sich später wieder gegen sie entscheiden zu können. Das Individuum hat damit keinen context of choice vor sich, sondern nur einen context of discovery, in dem es sich in seiner Individualität nur entdecken, diese aber nicht mehr durch neue Wahlentscheidungen verändern kann (vgl. Sandel 1996, 58). Kymlickas Position ähnelt in einigen Formulierungen der Sandels. Ist für Kymlicka das Individuum ohne seine Kultur »powerless« (Kymlicka 1989, 176), so ist es für Sandel »disempowered« (Sandel 1996, 58, 177f). Und Kymlicka spricht wie Sandel davon, daß die Kultur dem Individuum stabile »commitments and relationships« liefe- re, die dem Leben erst »depth and character« verleihen könnten (vgl. Kymlicka 1989 und dazu Sandel 1996, 179). Wahlfreiheit ohne diese commitments ist für Kymlicka wertlos, da sie dazu führen würde, daß man jeden Tag von Neuem über sein Leben entscheiden müßte. »A life with more autonomous choices«, so Kymlicka ausdrück-

167 lich, »is not even ceteris paribus better than a life with fewer such choices.« (Kymlicka 1989, 49) Kymlicka geht aber im Unterschied zu Sandel davon aus, daß ein Individuum grund- sätzlich dazu in der Lage sein wird, sich von den bestimmten Charakteristika seiner ursprünglichen Kultur zu distanzieren und sich diesen gegenüber als autonomes Indi- viduum zu verhalten:

Liberals [. . . ] insist that we have an ability to detach ourselves from any par- ticular communal practice. No particular task is set for us by society, and no particular cultural practice has authority that is beyond individual judgement and possible rejection. [. . . ] Nothing is ›set for us‹, nothing is authoritative before our judgement of its value. (Kymlicka 1989, 50f)

Das Selbst, so Kymlicka, existiere »prior to its ends« (Kymlicka 1989, 52) und kein Ziel sei davon ausgenommen, neu untersucht und eventuell verworfen zu werden. Für seine autonome Entscheidung müsse sich das Individuum nicht außerhalb seiner eigenen Kultur stellen, sondern könne innerhalb seines kulturellen Umfeldes autonom handeln (vgl. Kymlicka 1989, 15). Die Fähigkeit, sich in kritischer Art und Weise von seiner eigenen Kultur distan- zieren zu können, ist für Kymlicka aber nicht eine anthropologische Grundtatsache, sondern muß durch Bildung erworben werden. Es sei eine Aufgabe für eine liberale Ordnung, die Individuen dabei zu unterstützen. Ohne eine Unterstützung durch sein gesellschaftliches Umfeld sei ein Individuum nicht in der Lage, Rollenbilder in Fra- ge zu stellen und eventuell zu verwerfen. Es müsse dem Individuum Zugang zu ver- schiedenen Zielkonzeptionen ermöglicht werden, um einen Vergleich zwischen diesen verschiedenen Konzeptionen zu ermöglichen und anzuregen. Genau dies könne ein liberales Umfeld leisten:

[. . . ] [I]t is of fundamental importance that we be able rationally to assess our conceptions of the good in the light of new information or experiences, and to revise them if they are not worthy of our continued allegiance. [. . . ] A liberal society [. . . ] not only allows people to pursue their current way of life, but also gives them access to information about other ways of life (through freedom of ex- pression), and indeed requires children to learn about other ways of life (through mandatory education), and makes it possible for people to engage in radical re- vision of their ends (including apostasy) without legal penalty. [. . . ] A liberal society does not compel such questioning and revision, but it does make it a genuine possibility. (Kymlicka 1995, 81f, vgl. auch 92)

Ein »echter« freedom of choice setzt für Kymlicka deshalb ein breit angelegten Bil- dungsprogramm voraus, etwa in der Art, wie es John Stuart Mill in On Liberty fordert. Wie Mill vertraut auch Kymlicka darauf, daß die durch Bildung angeleitete mensch- liche Urteilsfähigkeit dazu in der Lage ist, das Beste für sich herauszufinden. Hierin liegt seine grundsätzliche anthropologische Prämisse. Eine umfassende Bildung, die

168 Zugang zu einem breiten context of choice eröffnet, ist nicht nur ein Luxus, der in ei- ner liberalen Gesellschaft angeboten werden kann, sondern der auch angeboten werden muß. So heißt es bei Kymlicka:

[. . . ] [I]ndividuals must have the cultural conditions conducive to acquiring an awareness of different views about the good life, and to acquiring an ability to intelligently examine and re-examine these views. Hence the [. . . ] traditional lib- eral concern for education, freedom of expression, freedom of the press, artistic freedom, etc. These liberties enable us to judge what is valuable in life in the only way we can judge such things—i.e. by exploring different aspects of our collective cultural heritage. (Kymlicka 1989, 13)

Das Selbst ist für Kymlicka nicht an kulturelle Charakteristika der Kultur rückge- bunden (vgl. Kymlicka 1995, 87 und 91ff), sondern eher an den Rahmen, der ihm eine kritische Reflektion ermöglicht, also Sprache und einen historischen Kontext, auf den es sich beziehen und so Alternativen evaluieren kann. Das Selbst ist für Kymlicka zwar prior to its ends, sozusagen aber nicht prior to its cultural structure.

Daß eine kulturelle Struktur ausreichend ist, um dem Individuum einen context of choi- ce und einen Anker für seine persönliche Identität bieten zu können, und daß Indivi- duen sich nur für den Erhalt dieser Struktur einsetzen, versucht Kymlicka am Beispiel des extremen Wandels der Kultur Quebecs in den letzten Jahrzehnten empirisch zu be- legen. Nach ihrer umfassenden Liberalisierung während der stillen Revolution und die mit ihr einhergehenden Abwertung des traditionellen katholisch-bäuerlichen Milieus (mit der katholischen Kirche, Konfessionsschulen und der politischen Partei Union Nationale) habe diese Kultur erheblich ihren Charakter verändert und traditionelle In- halte ihres context of choice durch neue Lebenskonzeptionen ersetzt. Dieser Moderni- sierungsprozeß habe dazu geführt, daß die Quebecker sich in ihren Konzeptionen des guten Lebens immer weniger von den übrigen Kanadiern unterschieden hätten und es heutzutage in Québec eine pluralistisch gefärbte Gesellschaft gebe, in der Atheisten und Katholiken, Homosexuelle und Heterosexuelle, Yuppies und bäuerlich geprägte Landbewohner nicht weniger in die Gesellschaft integriert seien als anderswo in Ka- nada (vgl. Kymlicka 1999, 38-42 und Kymlicka 1995, 87f). Interessanterweise sei nun das Interesse für die eigene nationale Kultur gerade durch den liberalen Modernisie- rungsprozeß befördert worden und zwar nicht als Bewegung gegen diese Liberalisie- rung, sondern als dessen Konsequenz:

Die eigentliche Triebkraft hinter Quebecs Nationalismus ist [. . . ] nicht eine rück- wärtsgewandte kommunitaristische oder konservative Ideologie, sondern eine Zukunftsvorstellung, die Quebec als pluralistische, liberale moderne Gesellschaft sieht. (Kymlicka 1999, 40)

Obwohl sich die Lebenspläne der Individuen immer stärker voneinander unterschie- den (vgl. Kymlicka 1989, 167 und Kymlicka 1995, 88), würden die Individuen im-

169 mer noch eine gemeinsame nationale Identität miteinander teilen (vgl. Kymlicka 1989, 239). Kymlicka weist darauf hin, daß in der theoretischen Diskussion eine solche Ver- bindung zwischen einer liberalen Gesellschaftsordnung und einer starken Verbunden- heit mit einer nationalen Kultur oft für paradox gehalten werde (dies ist ja, wie wir schon gesehen haben, bei Trudeau der Fall). Dieses Paradox entsteht für Kymlicka je- doch nur dann, wenn man den Begriff der Nation auf eine Gemeinschaft einenge, die an der Erhaltung bestimmter kultureller Charakteristika interessiert sei. Betrachte man eine Nation als eine Veränderungen gegenüber offene kulturelle Struktur, so sei dieses Paradoxon lösbar. Er schreibt:

Liegt der Wert nationaler Identität darin, dem Einzelnen eine Rolle zuzuweisen und ein Ziel vorzugeben, dann ist es natürlich paradox, eine liberale Kultur zu schätzen. Geht man statt dessen davon aus, daß Individuen zu einer sinnstiften- den Autonomie finden, indem sie Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten erproben, die ihnen in ihrer eigenen gesellschaftlichen Struktur zur Verfügung stehen, dann wäre die Verbindung von zunehmender Liberalisierung und natio- nalistischer Mobilisierung, wie man sie in Quebec oder Katalonien antrifft, genau das, was man erwarten würde. (Kymlicka 1999, 41)

Es verbinde die Québécois mit ihrer nationalen Kultur, daß diese nicht mehr eine Orientierung an bestimmten national geprägten Werten liefere, sondern es ihnen er- mögliche, unabhängig zu leben:

Autonome Individuen schätzen ihre nationale Identität nicht obwohl sie dünn ist, sondern gerade weil sie dünn ist — weil eine ausgedünnte Nationalkultur den Kontext liefert, in dem Individuen ihre Autonomie entwickeln und wahrnehmen können. Die Idee einer starken Bindung an eine dünne kulturelle Identität ist kei- ne Paradoxie des liberalen Nationalismus, sondern Teil der Definition des libe- ralen Nationalismus. Wenn es so etwas wie einen liberalen Nationalismus geben sollte, dann nur in dieser Form. (Kymlicka 1999, 41)

Für Kymlicka ist der Zusammenhang zwischen Liberalisierung und Interesse für die kulturelle Struktur kein Einzelfall. Dieser Zusammenhang lasse sich auch in Belgien, wo die Liberalisierung der flämischen Gesellschaft zu einem vermehrten Interesse an der flämischen Sprache und Kultur geführt habe, und in ähnlicher Weise auch im spani- schen Baskenland oder in Katalonien beobachten (vgl. Kymlicka 1999, 40). Allgemein habe sich die Annahme, daß der Modernisierungsprozeß zu einer Abschwächung der nationalen Bewegungen führe, als »breath-takingly false« erwiesen (Kymlicka 1989, 177). Obwohl eine kulturelle Struktur nur »dünn« ist, sei sie keineswegs trivial (vgl. Kymlicka 1998a, 28). Eine umfangreichere Erklärung gibt er nicht: »I suspect that the causes of this attachment lie deep in the human condition, tied up with the way hu- mans as cultural creatures need to make sense of their world« (Kymlicka 1995, 90); er verweist nur kurz und lapidar auf psychologische, soziologische, linguistische, phi- losophische und neurologische Theorien. »But whatever the explanation,« so seine

170 Schlußfolgerung, »this bond (between individuals and liberal cultures) does seem to be a fact, and [...] I see no reason to regret it.« (Kymlicka 1995, 90)

Kymlickas liberale Kulturhermeneutik hat zu viel Kritik Anlaß gegeben. Katherine Fierlbeck (1996) etwa bemängelt an Kymlickas Theorie des Selbst, daß er nicht disku- tiere, wie die persönliche Identität und self-esteem auch durch »qualities and quirks« definiert werde, die nichts mit kulturellen Strukturen zu tun hätten. Sogar eine »oppres- sion« sieht Fierlbeck darin, Menschen einer ethnischen Gruppe zuzuordnen, da damit eine Festlegung der persönlichen Identität dieser Personen einhergehe (vgl. Fierlbeck 1996, 15). Kymlickas Ansatz hält Fierlbeck für schwerfällig und passiv, da Individuen auf eine kulturelle Struktur festgelegt würden. Dies widerspreche jedoch der Natur des Menschen: We are defined by our creativity, our eccentricity and our capacity for doing the unexpected. The idea that we are responsible for the consequences of our actions underlines our belief that who we are is essentially reflected in what we do and in the choices that we make. If authenticity is to be considered an essential aspect of self-esteem, then each person grows not by clinging to arbitrarily imposed cultural characteristics, but by confronting and adapting to encounters that chal- lenge their own sense of selfhood. Self-esteem is a dynamic process, not simply a static characteristic to be achieved by permanently identifying with powerful external forces. (Fierlbeck 1996, 18)

Bedürfnis und Notwendigkeit der Einbettung eines Individuums in eine feste eth- nische kulturelle Struktur werden von Jeremy Waldron (1995) in ähnlicher Weise wie von Fierlbeck in Frage gestellt. Zwar ist Waldron wie auch Kymlicka davon überzeugt, daß kulturelle Bewertungsmaßstäbe und Zielvorstellungen Voraussetzung für die indi- viduelle Handlungsbasis sind. Im Unterschied zu Kymlicka geht er aber davon aus, daß das Individuum diese kulturellen Informationen auch ohne den Bezug und die Einbettung in irgendeine kulturelle Struktur verarbeiten könne. Er glaubt nicht, daß Individuen einen »skeletal sense of how things fit together« (Waldron 1995, 98), also so etwas wie eine kulturelle Struktur, benötigen würden. Je mehr sich zeige, daß Indi- viduen, die zwischen verschiedenen nationalen Kulturen pendeln und ihren Zielkata- log mit Elementen »from here, there, and everywhere« (Waldron 1995, 110) anfüllen, glücklich sind, desto mehr könne man davon ausgehen, daß eine bestimmte Kultur für das Selbst nicht notwendig sei und ein Schutz von Kulturen daher auch nicht ge- rechtfertigt werden könne. Ein Beispiel für einen solchen Pendler wäre für Waldron jemand, »who learns Spanish, eats Chinese, wears clothes made in Korea, listens to arias by Verdi sung by a Maori princess on Japanese equipment, follows Ukrainian po- litics, and practices Buddhist meditation techniques« (Waldron 1995, 95). Obwohl das Selbst des Kosmopoliten von einer »chaotic coexistence of projects, pursuits, ideas, images, and snatches of culture« geprägt sei und er ein Leben inmitten von »kalei- doscopic tension and variety« führe, könne er seine Identität sozial unabhängig durch

171 Selbstmanagement festigen (Waldron 1995, 94). Die Formung der persönlichen Iden- tität, die für Kymlicka von der kulturellen Struktur geleistet wird, kann für Waldron also vom Individuum selbst geleistet werden. Auf Waldrons Kritik ist Kymlicka ausführlich eingegangen. Seine Entgegnung zielt nicht darauf ab, die Existenz einer kosmopolitischen Lebensweise grundsätzlich in Frage zu stellen, sondern darauf, diese als einen extremen Ausnahmefall zu charak- terisieren, der sich keinesfalls auf die große Mehrheit der Menschen verallgemeinern lasse. Er betont, daß das, was Waldron als Kosmopolitismus bezeichnet, nur in seltenen Fällen wirklich ein echter Kosmopolitismus, also ein Springen zwischen verschiede- nen Kulturen, sei und es sich dabei meist nur um die Übertragung fremder kultureller Elemente in die eigene kulturelle Struktur handele. Man verlasse z. B. nicht seine kul- turelle Struktur, wenn man sich fremdländischer Speisen erfreue, und die wenigsten Menschen könnten fremdsprachliche Literaturen auch im Original und nicht nur in ei- ner Übersetzung lesen. Er gibt durchaus zu, daß es echte kulturelle Springer gebe, die Sprache und Kultur von verschiedenen Ländern beherrschen und sich weitgehend an Kulturen, die nicht ihre eigene sind, anpassen können. Diese seien aber die extreme Ausnahme (vgl. Kymlicka 1995, 85). Kymlicka beabsichtigt also nicht eine Aussage über eine anthropologische Grund- tatsache zu machen, sondern lediglich die Lebensumstände »gewöhnlicher« Menschen zu betonen. Besonders illustriert wird dies auch dadurch, daß Waldron als Beispiel für einen Kosmopoliten Salman Rushdie heranzieht, welcher in der Tat nicht als Ver- gleichsfall für einen chinesischen Bauern oder einen Inuit herhalten kann. Katherine Fierlbeck nimmt nach meiner Auffassung zu wenig zur Kenntnis, daß Kymlicka eine kulturelle Struktur selbst eben nicht als statische Konzeption auffaßt, sondern als Grundlage für die Entwicklung individueller Vielfältigkeit ansieht. Sie übersieht die Tatsache, daß Kymlicka nicht behauptet, daß die persönliche Identität hauptsächlich durch die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Kultur konstituiert werde, sondern nur, daß die ethnische Kultur die Basis für irgendeine persönliche Identität lie- fert. Sein Konzept der thin culture ist mit einer existentialistischen Lebenseinstellung grundsätzlich vereinbar. Eigentlich wichtig ist die Wahrung der nationalen Kultur nur, um zu verhindern, daß die anderen Orientierungen der Individuen nicht ihre Wertigkeit verlieren. Der Wert anderer individueller Orientierungen ist für ihn an den Bestand der kulturellen Struktur rückgebunden. Wird die eigene Kultur bedroht, so kann die Ab- wendung der Bedrohung als Schutz individueller Zielvorstellungen gewertet werden. Er bestreitet nicht, daß andere Orientierungen für die persönliche Identität von ent- scheidender Bedeutung sein können, gerade aus diesem Grund begrüßt er ja Vielfalt und wendet sich gegen Unterdrückung individueller Zielkonzeptionen. Kymlickas Theorie des Selbst steht zwischen einem autonomen Selbst, das von sei- ner kulturellen Umgebung ganz unabhängig ist, und einem abhängigen Selbst. Kul-

172 turelle Einbindung des Individuums ja, aber keine Patchwork-Identität. Das ist zwar möglich, aber bei vielen nicht der Fall. Er unterscheidet sich damit von den Ansät- zen des US-amerikanischen liberalen Mainstreams, die ich in dieser Arbeit vorgestellt hatte, wie etwa dem von Hollinger (1995). Kultur ist für Kymlicka nicht etwas wie eine soziale Vereinigung, so wie sie auch bei Rawls vorkommt, wenn dieser etwa von verschiedenen Gruppen in einer Gesellschaft spricht, die verschiedene Ideale und Vor- stellungen haben (vgl. Rawls 1971, 441f). Kultur ist etwas, das diesem vorausgeht, eine eigene Gesellschaft manifestiert, in der sich dann wieder Gruppen bilden und untereinander in Interaktion treten können. Damit liefert Kymlicka ein spezifisches Argument für kollektive Rechte, das über den liberalen Mainstream hinausgeht, dabei aber die normativen Grundlagen des Liberalismus strikt beibehalten will.

5.1.3 Die beiden Grundzüge von Kymlickas Argument für kollektive Rechte

Auch wenn man mit Kymlicka davon ausgeht, daß es für Individuen von herausragen- der Bedeutung ist, in ihrer eigenen nationalen Kultur leben und arbeiten zu können, so bleibt noch immer ungeklärt, auf welche Art und Weise eine nationale Kultur in ihrem Bestand gesichert werden darf – welche staatlichen Maßnahmen sich also durch das individuelle Bedürfnis auf seine kulturelle Struktur rechtfertigen lassen und wel- che nicht. Kymlicka argumentiert dabei für kollektive Rechte, für self-government und für self-determination nationaler Minderheiten. Dieser Ansatz wirft allerdings zwei Fragen auf: zum einen, ob individuelle Rechte wirklich durch ein so aufwendiges kol- lektives Arrangement verwirklicht werden müssen, und zum anderen, ob mögliche Konflikte zwischen individuellen Rechten und self-determination rights eine kollek- tive Lösung nicht grundsätzlich unattraktiv erscheinen lassen. Im folgenden setze ich mich zunächst mit Kymlickas Argumenten für kollektive Rechte auseinander (in die- sem Abschnitt nur die Grundzüge, um dann im Abschnitt 5.1.4 noch weiter auf seine Argumente zu sprechen zu kommen). In Abschnitt 5.1.6 werde ich dann auf Kymlickas Überlegungen zum Verhältnis individueller zu kollektiven Rechten eingehen.

Kymlicka hält es nicht für möglich, eine societal culture rein über individuelle Rechte aufrecht zu erhalten. Dies im wesentlichen aus den folgenden zwei Gründen:

1. Kollektive Rechte sind gerade unter den Bedingungen einer modernen, liberalen Demokratie unabdingbar, um eine komplexe kulturelle Struktur erhalten zu können. Eine nationale Kultur könne nur überleben, wenn ihre Sprache und Tradition im öf- fentlichen Rahmen, also im alltäglichen Berufsleben, in Schulen, in der Verwaltung, im Gerichtswesen, im politischen System und gegebenenfalls auch im Militär, gepflegt werden. Sprachen und Traditionen stürben aus, wenn sie nur im privaten Rahmen ge-

173 sprochen würden oder ihre Verwendung im öffentlichen Leben nur einen episodischen Charakter einnehme (vgl. Kymlicka 1995, 78 und Kymlicka 1999, 55ff). Es den Mit- gliedern einer nationalen Minderheit durch eine freie Teilnahme am politischen und ökonomischen Marktprozeß zu gestatten, sich um eine Verankerung ihrer Sprache und Tradition im öffentlichen Leben zu bemühen – indem man ihnen etwa erlaubt, eine Partei gründen, die sich dafür einsetzt, die Sprache der nationalen Minderheit in Schu- len und im Berufsleben zu verwenden – ist für ihn unter einer liberalen Perspektive nur scheinbar attraktiv. Gegen eine solche Strategie spricht für ihn, daß die Mitglieder vieler nationaler Minderheiten gegenüber Mitgliedern der Mehrheit häufig sozial be- nachteiligt sind und über geringere Ressourcen als diese verfügen, im politischen und ökonomischen Wettbewerb also geringere Chancen hätten, sich durchzusetzen. Solche Benachteiligungen könnten zwar durch temporär angelegte Maßnahmen im Sinne ei- nes affirmative action weitgehend beseitigt werden (vgl. Kymlicka 1989, 182). Aber auch dann, wenn die Mitglieder von Minderheitenkulturen über gleich große Ressour- cen wie die Mitglieder der Majoritätskultur verfügen würden, wären sie diesen gegen- über immer noch benachteiligt. Die Angehörigen einer nationalen Minderheit könnten in für sie grundlegenden Fragen von der Mehrheit überstimmt werden. Kymlicka be- zeichnet dies als »outbid and outvoted« (Kymlicka 1989, 183 und Kymlicka 1995, 109). Nur wenn man nationale Minderheiten mit kollektiven Rechte ausstatte sei es möglich, den Nachteil der quantitativen Unterlegenheit auszugleichen.

2. Jeder Staat ist dazu gezwungen, eine Sprache und einen kulturellen Kontext zu för- dern. Diese durch den Staat privilegierte Sprache und Kultur sei aus naheliegenden Gründen fast immer diejenige der nationalen Mehrheit, was dazu führe, daß nationa- le Minderheiten neben den Nachteilen, die aus der quantitativen Unterlegenheit von nationalen Minderheiten herrühren, nun auch noch mit einer zusätzlichen Benachtei- ligung durch den Staat hinnehmen müßten. Um diesen doppelten Nachteil auszuglei- chen, sei es daher unbedingt notwendig, auch Minderheitenkulturen eine gleichwertige staatliche Unterstützung wie der Mehrheit zukommen zu lassen (vgl. Kymlicka 1995, 111). Auch Staaten, die sich als civic nations in Abgrenzung zu einem ethnic nationa- lism definieren, wie etwa die USA, verfolgten keine kulturneutrale Politik. Die Unter- scheidung zwischen ethnic nation und civic nation hält Kymlicka für problematisch. Der Bezug auf diese gemeinsamen Geschichte und Sprache zeigt sich für Kymlicka bis heute deutlich in den Einbürgerungsbestimmungen der USA:

Some people suggest that a truly liberal conception of national membership should be based solely on accepting political principles of democracy and rights, rather than integration into a particular culture. This non-cultural conception of national membership is often said to be what distinguishes the ’civic’ or ’con- stitutional’ nationalism of the United States from illiberal ’ethnic’ nationalism. But [. . . ] this is mistaken. Immigrants to the United States must not only pledge allegiance to democratic principles, they must also learn the language and history

174 of their new society. What distinguishes ’civic’ nations from ’ethnic’ nations is not the absence of any cultural component to national identity, but rather the fact that anyone can integrate into the common culture, regardless of race or colour. (Kymlicka 1995, 24)

Kymlicka unterstützt das Modell der civic nation insoweit, als es Einwanderung gegenüber offen ist. So erteilt er z. B. einem Nationenbegriff, der wie das alte deut- sche Staatsbürgerschaftsrecht auf der Vorstellung einer gemeinsamen erblichen Ab- stammung gründet, eine deutliche Absage und bezeichnet diese Konzeption sogar als latent rassistisch, also als inakzeptabel für jede Ordnung, die sich auf liberale Stan- dards berufen wolle (vgl. Kymlicka 1995, 23). Der Zugang zu einer Nation muß für ihn prinzipiell jedem offen stehen, der dazu bereit ist, die Sprache und Geschichte der nationalen Gemeinschaft zu erlernen und an ihren sozialen und politischen Institutio- nen zu partizipieren (vgl. Kymlicka 1995, 23).

5.1.4 Kymlickas Argument für kollektive Rechte für nationale Minderheiten im Rahmen von John Rawls A Theory of Justice

Indem Kymlicka davon ausgeht, daß eine Politik des benign neglect unmöglich ist und individuelle Rechte für die Bedürfnisse der Mitglieder nationaler Minderheiten nicht ausreichen, entfernt er sich von Grundannahmen des US-amerikanischen libe- ralen Mainstreams. Es ist nun aber sozusagen die Pointe von Kymlickas politischer Theorie, daß er versucht zu zeigen, daß diese nicht nur mit John Rawls Theorie der Gerechtigkeit vereinbar ist, sondern sogar direkt aus dieser folgt. Kymlicka betont zunächst einmal, daß Rawls Theorie der Gerechtigkeit auf den ersten Blick nicht dazu geeignet zu sein scheint, Argumenten für kollektive Rechte von nationalen Minderheiten eine Grundlage zu bieten. Die Betonung von individuellen Rechten durch Rawls scheine sogar der Idee von kollektiven Rechten für kulturelle Minderheiten ganz grundsätzlich entgegenzustehen. So weist Kymlicka darauf hin, daß Rawls keine kulturell ausgerichteten Grundgüter kennt, sondern nur Rechte und Freiheiten, Chancen und Macht, Einkommen und Wohlstand, und Selbstachtung (vgl. Kymlicka 1989, 163 und Kymlicka 1989, 177). Daß Rawls nicht über nationale Minderheitenrechte reflektiert, liege aber nicht dar- an, daß diese mit seiner theoretischen Konzeption prinzipiell unvereinbar seien, son- dern schlicht daran, daß er mit einem »very simplified model of the nation-state« ar- beite, der an den gesellschaftlichen Realitäten in den USA ausgerichtet ist (Kymlicka 1989, 177). Wenn man diese kulturelle Kontingenz in Rawls Theorie beseitige, so könne man aus seiner Theorie problemlos ein Argument für kollektive Rechte von nationalen Minderheiten ableiten. Kymlickas Argument setzt daran an, zunächst einmal zu betonen, daß Rawls kein »atomistischer Liberaler« sei und sich der Bedeutung der kulturellen Umgebung für

175 das Individuum bewußt sei. Kymlicka bezieht sich dabei auf die Überlegungen zur Selbstachtung aus Rawls Theorie der Gerechtigkeit. Rawls definiert diese als »the sen- se that one’s plan [of life] is worth carrying out« (Rawls 1971, 178). Dieses Gefühl könne nach Rawls ein Individuum nicht aus sich selbst schöpfen, sondern es müsse dabei auf Informationen und Strukturen zurückgreifen, die ihm seine soziale Umge- bung liefert. Kymlicka belegt dies, indem er die folgende Stelle aus dem Kapitel zur Einheit der Persönlichkeit zitiert: »[...] [I]n drawing up our plan of life we do not start de novo; we are not required to choose from countless possibilities without given structure or fixed contours.« (Rawls 1971, 564) Teil dieser »given structure« sei, so Kymlicka, genau das, was er als cultural structure bezeichnet hat. Die kulturelle Struktur, so fährt Kymlicka fort, sei im Rahmen der Rawlsschen Kon- zeption sehr wichtig, da sie für die persönliche Selbstachtung sehr bedeutsam sei. Nach Rawls, so argumentiert Kymlicka, wird die Selbstachtung untergraben, wenn Individu- en innerhalb der sozialen Kontexte, in denen sie sich bewegen, keine Anerkennung fin- den. Das weist für ihn auf die Bedeutung des sozialen Kontextes selbst für die Selbst- achtung der Individuen hin. Eine kulturelle Struktur ist für Kymlicka der grundlegende soziale Rahmen für Individuen, weshalb es für Individuen sehr wichtig sei, daß dieser Rahmen in seinem Bestand gesichert werde. Da nach Rawls die Parteien in der Urzu- standssituation unter allen Umständen »social conditions that undermine self-respect« (Rawls 1971, 440) verhindern wollten, würden sie sich darauf einigen, daß eine kultu- relle Struktur durch den Staat gefördert und erhalten werden solle. »The relationship between cultural membership and self-respect«, so Kymlicka, »gives the parties to the original position a strong incentive to give cultural membership status as a primary good.« (Kymlicka 1989, 166) In der Rawlsschen Konzeption des Urzustandes werde nicht über nationale Mit- gliedschaft verhandelt, da Rawls als US-Amerikaner einfach davon ausgeht, daß alle Parteien der gleichen Nation angehören, die gleiche Sprache sprechen, etc. Im allge- meinen, so Kymlicka, gehen beispielhafte Verdeutlichungen der Urzustandsposition davon aus, daß die Parteien die gleiche Nationalität haben. Er bezieht sich auf ein Bei- spiel das Ronald Dworkin entworfen hatte. In diesem Beispiel wird die Urzustandssi- tuation dadurch verdeutlicht, daß ein Schiff an einer verlassenen Insel anlangt. Bevor die Insassen des Schiffes an Land gehen, verteilen sie in einer Auktion die Ressour- cen. Kymlicka hält dieses Beispiel zwar für prinzipiell geeignet, um die Rawlssche Urzustandskonzeption begreifbar zu machen. Aber dieses Beispiel ist für ihn nur für Staaten geeignet, in denen es eine Nation gibt, nicht aber für multinationale Staaten. Er illustriert dies, indem er Dworkins Beispiel modifiziert. Nicht ein, sondern zwei Schif- fe langen an der Insel an, eines davon hat eine sehr kleine Besatzung, das andere eine sehr große. Die Besatzungen der beiden Schiffe sind jeweils verschiedener Nationali- tät. Jedes Individuum an Bord beider Schiffe verfügt über gleich viel Geld und nimmt

176 gleichberechtigt an einer Auktion teil, in der über die Verteilung der Ressourcen der Insel (wie etwa Land und Bodenschätze) zwischen den Individuen verhandelt wird. Da die Verhandlung über einen Computer in einer gemeinsamen Computersprache vor sich geht, merkt man nicht, daß man zwei verschiedenen Kulturen angehört:

[. . . ] [T]o ensure a smooth auction, they proceed by entering bids into the ships’ computers without ever leaving the ship (information about the nature of the resources was perhaps readily available in publications, or was gathered by a scouting party from one ship and communicated via the computer). The auction proceeds and it turns out that the passengers of the two ships are very similar in the distribution of different ways of life chosen [. . . ]. Finally the resources are all bid for, but when they disembark from the ship they discover for the first time, what had been obscured by the use of a common computer language, that the two ships are of different nationalities. The members of the minority culture are now in a very undesirable position. Assuming, as is reasonable, that their resources are distributed evenly across the island, they will now be forced to try to execute their chosen life-styles in an alien culture–e.g. in their work, and, when the state superstructure is built, in the courts, schools, legislatures, etc. (Kymlicka 1989, 188)

Nachdem der Schleier des Nichtwissens gelüftet ist, wäre man, so Kymlicka, mit dem gewichtigen Problem konfrontiert, daß das Ergebnis der Urzustandsverhandlung von der Besatzung des kleineren Schiffes als unfair erlebt werde. Sie fühlen sich nicht deshalb benachteiligt, weil die Besatzung des größeren Schiffes über bessere Ressour- cen verfüge, sondern weil diese die Möglichkeit haben, ihre Ressourcen unbesorgt in ihrem eigenen nationalen kulturellen Umfeld verwenden und entsprechend mehr ge- nießen zu können. Um ihre kulturelle Struktur aufrecht erhalten zu können, müßten die Mitglieder der nationalen Minderheit dagegen viel Zeit und Ressourcen aufwenden, um etwa eine Partei zu gründen, die sich für die Belange der nationalen Minderheit einsetzt. Wäre es den Besatzungen der beiden Schiffe schon in der ursprünglichen Ver- handlungssituation bewußt gewesen, daß sie unterschiedlichen Nationen angehören, dann hätten sie sich auf eine Regelung geeinigt, die sichert, daß die kulturellen Struk- turen beider nationaler Kulturen geschützt werden. Dabei hätte man sich, so Kymlicka, darauf geeinigt, daß die Besatzungen auf zwei voneinander abgegrenzten Territorien siedeln und jeweils eigene Regierungen in diesen Territorien eingesetzt werden sollen (Kymlicka 1989, 189). Die Tatsache, daß nur Individuen von Schutzmaßnahmen profitieren können, die Mitglieder einer bestimmten nationalen Minderheit sind, verletzt für Kymlicka nicht das liberale Gebot der Gleichbehandlung von Individuen. Es ist der Kern seines Ar- gumentes, daß kollektive Rechte notwendig sind, um individuelle Rechte zu sichern. Self-government rights rechtfertigt er nur als Maßnahmen, die eine Benachteiligung verhindern sollen, welche aus der Mitgliedschaft in einer nationalen Minderheit her- rührt. Diese Nachteile sind nicht Ergebnis freier Wahl und deshalb von Individuen auch nicht selbst zu verantworten. Niemand habe sich dafür entschieden, in welcher

177 Gruppe er zur Welt komme. Es handele sich dabei also nicht um Nachteile, die als Folge einer individuellen Wahl entstehen und die dann jeder selbst zu verantworten hätte. Kymlicka hält die Unterscheidung zwischen individual choice und circumstan- ces für »absolutely central to the liberal project« (Kymlicka 1989, 186), gerade auf dem Hintergrund von Rawls Theorie der Gerechtigkeit:

Differences between people in terms of their resources may legitimately arise as a result of their choices; such variations legitimately reflect different tastes and preferences [...]. But differences which arise from people’s circumstances–their social environment or natural endowments–are clearly not their own responsib- ility. [...] They are, as Rawls famously put it, arbitrary from the moral point of view. (Kymlicka 1989, 186)

Die Beseitigung solcher unequal circumstances (Kymlicka 1989, 187) ist für Kym- licka »the basis for a liberal defence of [...] minority rights in general.« (Kymlicka 1989, 189) Für die Rechtfertigung kollektiver Rechte geht es für ihn nicht primär dar- um, zu zeigen, daß ein kollektives Recht auf kulturelle Mitgliedschaft besteht. Für ihn ist eher die Idee des Ausgleiches von Ungleichheit zentral:

I [try] to show that liberal-democratic background procedures are intended to ensure an endowment-insensitive and ambition-sensitive distribution, but some- times fail to deal fairly with the unequal circumstances of minority cultures. Col- lective rights can serve to correct this failing. So it is not that there is a collective right to cultural membership, the denial of which creates an inequality. Rather, the members of cultural minorities may face an inequality, the rectification of which may require collective rights. (Kymlicka 1989, 205, Fußnote 9)

Der Schutz spezieller individueller Vorlieben – ohne daß dies durch den Ausgleich einer Ungerechtigkeit legitimiert wäre – würde also seiner Konzeption widersprechen. Minderheiten, die versuchen, einen speziellen way of life mit Hilfe staatlicher Unter- stützung durchzusetzen, würde sein Argument keine Grundlage bieten (vgl. Kymlicka 1989, 190).

5.1.5 Die normative Differenzierung zwischen Einwanderergruppen und nationalen Minderheiten

Eine Konsequenz aus Kymlickas Argument für kollektive Rechte ist, daß diese Rech- te nicht für Einwanderer gelten. Kymlickas Argument für die Rechte von nationalen Minderheiten geht davon aus, daß Angehörigen nationaler Minderheiten nicht zuge- mutet werden kann, sich in einer kulturellen Umgebung zurechtzufinden, für die sie sich nicht entschieden haben. Bei Einwanderern ist dies jedoch anders. Sie haben sich für Kymlicka im allgemeinen freiwillig dazu entschieden, in ein anderes Land zu ge- hen, oder unterliegen Umständen, die nicht ihrem Gastland, sondern ihrem Herkunfts- land anzulasten wären. Von Einwanderern kann daher Anpassung verlangt werden. Er schreibt:

178 After all, most immigrants [. . . ] choose to leave their own culture. They have uprooted themselves, and they know when they come that their success, and that of their children, depends on integrating into the institutions of [another] society. [. . . ] In deciding to uproot themselves, immigrants voluntarily relinquish some of the rights that go along with their original national membership. (Kymlicka 1995, 95f)

Politische Flüchtlinge und Asylsuchende fallen für Kymlicka auch in die Katego- rie der Einwanderer, auch wenn sie sich nicht freiwillig dazu entschlossen haben, ihre Heimat zu verlassen. Solchen Gruppen könne kein Recht auf nationale Minderheiten- rechte zuerkannt werden, da sie Rechte nur gegenüber ihrer eigenen Regierung geltend machen könnten (vgl. Kymlicka 1995, 98). Bis zu einem gewissen Grad sind für Kym- licka bestimmte religiöse Gruppen wie etwa die Amish oder die Hutterer Ausnahmen, da diese schon vor ihrer Emigration ausgehandelt hatten, daß sie ein bestimmtes abge- schlossenes Siedlungsgebiet bekommen würden, in dem es ihnen gestattet würde, eine eigene soziale Infrastruktur aufzubauen und sich von ihrer Umgebung abzugrenzen (vgl. Kymlicka 1995, 25). Ein ähnlicher Fall liege bei Kolonialisten vor, die sich nicht als Einwanderer verstünden, sondern auf den neuen Territorien ihre ursprüngliche Ge- sellschaft beibehalten wollen (vgl. Kymlicka 1995, 15). Kinder sind für Kymlicka ein besonderer Fall: »children of immigrants do not consent, and it is not clear that parents should be able to waive their children’s rights.« Das heiße, daß »if we do not enable immigrants to re-create their old culture, then we must strenuously work to ensure that the children integrate into the mainstream.« (Kymlicka 1995, 215f) Aber das sind Ausnahmen. Der Großteil der Einwanderer kommt mit völlig anderen Zielen und ist bereit, sich zu integrieren. Einwanderer streben keine kollektiven Rechte und Kontrol- le über Territorien an. Generell würden sich ethnische Gruppen mit Forderungen nach self-government äußerst zurückhalten, weshalb die oft geäußerte Sorge, die Zuerken- nung von ethnischen Rechten gefährde die nationale Einheit und die Integration von Einwanderern in die Gesellschaft, stark übertrieben sei (vgl. Kymlicka 1995, 62). Ihr Interesse sei vielmehr, so schnell wie möglich anerkannter und gleichberechtigter Teil der Gesellschaft zu werden. »Immigrant groups«, so schreibt er, »are not ’nations’, and do not occupy homelands. Their distinctiveness is manifested primarily in their family lives and in voluntary associations, and is not inconsistent with their institutio- nal integration.« (Kymlicka 1995, 14) Angehörige nationaler Minderheiten sind in der Konzeption Kymlickas gegenüber Einwanderern insofern privilegiert, als von ihnen als Nachfahren von »Zuerstgekommenen« und Menschen, die sich nicht für eine Auswan- derung entschlossen haben, nicht erwartet werden kann, sich an eine andere Gruppe, die eventuell erst später einen Machtanspruch über ihr Territorium erhoben hat, anzu- passen (vgl. Kymlicka 1995, 86 und 96). Der legitime Anspruch auf ein Territorium läßt sich für Kymlicka also durch eine »Zuerstgekommenenklausel« definieren.

179 Dennoch haben auch Einwanderer bestimmte Ansprüche. Kymlicka anerkennt hier all das, was vom (linken) liberalen Mainstream in den USA auch anerkannt wird. An- sprüche von Einwanderern sind für Kymlicka legitimierbar, um es ihnen möglichst rasch und reibungslos zu erlauben, sich als gleichberechtigte Individuen in die natio- nale Mehrheitskultur zu integrieren. Solche Rechte bezeichnet er als polyethnische Rechte (polyethnic rights). Polyethnische Rechte können für ihn durch eine Vielzahl von Maßnahmen verwirklicht werden. Er nennt etwa Aktionsprogramme, die zum Ziel haben, Rassismus in der Bevölkerung zu bekämpfen oder ethnische Gruppen von be- stimmten Gesetzen, die für diese ein spezielles Integrationshindernis darstellen, aus- zunehmen.2 Die v.a. nach dem Aufbrechen des sogenannten anglo-conformity-model in den Vereinigten Staaten von ethnischen Gruppen gemachten Forderungen, daß ih- re ethnische Besonderheit von der Gesellschaft anerkannt und der spezifische Beitrag ethnischer Gruppen für die Entwicklung der Gesellschaft mehr beachtet werden solle (ethnic revival), unterstützt Kymlicka ebenfalls. Allerdings darf für ihn solchen For- derungen nur in soweit nachgekommen werden, wie sie nicht über eine symbolische Präsentation ethnischer Identität hinausgehen, sondern auf das Ausleben der eigenen Identität im privaten Rahmen konzentriert bleiben. Es wäre also grundsätzlich legitim, kulturelle Veranstaltungen wie ethnische Festivals zu unterstützen, den spezifischen Beitrag von Einwanderergruppen in nationalen Lehrplänen hervorzuheben oder Ein- wanderersprachen in öffentlichen Schulen als Beifach anzubieten. Einwanderergrup- pen hätten auch grundsätzlich einen Anspruch darauf, Läden, Restaurants oder kultu- relle Einrichtungen mit der eigenen Sprache zu beschriften, also ethnische Merkmale offen zu zeigen (vgl. Kymlicka 1995, 31).

5.1.6 Das Problem des Konfliktes zwischen individuellen und kollektiven Rechten und der Toleranz illiberaler Minderheiten

Indem Will Kymlicka dafür plädiert, nationale Minderheiten über kollektive Rechte anzuerkennen, ergibt sich sogleich die Frage, wie sich diese kollektiven Rechte zu indi- viduellen Rechten verhalten. Pierre Elliott Trudeau hatte kollektive Rechte für Quebec abgelehnt, da sie mit individuellen Rechten, mit der freien Entfaltung des Individuums konfligieren könnten. Wie nun geht Kymlicka mit dieser Frage um? Kymlickas Ansatz besteht darin, nachzuweisen, daß sich die Dichotomie zwischen individuellen und kollektiven Rechten bei einer genaueren Analyse hinsichtlich des Kontextes, unter dem kollektive Rechte gerechtfertigt werden, weitgehend auflösen läßt. Er versucht, dies mit einer zunächst zwar relativ einfach erscheinenden, bei ge-

2Juden und Muslime bemühten sich z. B. darum, von der allgemeinen Sonntagsladenschlußgesetz- gebung ausgenommen zu werden, männliche Sikhs in Kanada ersuchten um eine Sondergenehmigung, auch ohne Helm Motorrad fahren zu dürfen oder von der Kleidervorschrift im Polizeidienst befreit zu werden (vgl. Kymlicka 1995, 31)

180 nauerer Betrachtung sich aber als höchst komplex herausstellenden Unterscheidung von kollektiven Rechten als external protections und internal restrictions zu erreichen. Bei den beiden Arten von kollektivem Recht ist für Kymlicka der Bezug zu und die potentielle Gefährdung von individuellen Rechten jeweils ganz verschieden. So gebe es Fälle, bei denen es im Zusammenhang mit kollektiven Rechten um Forderungen gehe, die eine nationale Minderheit an die Mitglieder der Gruppe richtet, zum anderen aber auch um Forderungen, die eine nationale Minderheit gegen ihr gesellschaftliches Umfeld vorbringe. In beiden Fällen werden solche Forderungen damit gerechtfertigt, daß sie die Stabilität einer kulturellen Gemeinschaft sichern:

Both kinds of claims can be seen as protecting the stability of national or ethnic communities, but they respond to different sources of instability. The first kind is intended to protect the group from the destabilizing impact of internal dissent (e.g. the decision of individual members not to follow traditional practices or customs), whereas the second is intended to protect the group from the impact of external decisions (e.g. the economic or political decisions of the larger society). To distinguish these two kinds of claims, I will call the first ›internal restrictions‹, and the second ›external protections‹. (Kymlicka 1995, 35)

Durch external protections werde versucht, den Fortbestand einer nationalen Min- derheit durch Regelungen zwischen Gruppen (also etwa einer nationalen Minderheit und einer nationalen Mehrheit) zu sichern. Kymlicka meint damit Maßnahmen, die zum Ziel haben, ein outbid and outvoted zu verhindern. External protections führen für ihn nicht per se zu einer Gefährdung von individuellen Rechten von Mitgliedern solcherart geschützter nationaler Minderheiten, sondern allenfalls zu einer Problematik der Ungerechtigkeit zwischen Gruppen (vgl. Kymlicka 1995, 36 und 38): »[E]xternal protections [. . . ] do not raise problems of individual oppression« (Kymlicka 1998a, 63). Internal restrictions dagegen würden die Gefahr in sich bergen, daß »basic civic and political liberties« (Kymlicka 1995, 36) verletzt werden. Solche Maßnahmen sei- en im allgemeinen illegitim, da damit der context of choice, der eigentliche Grund für die Wichtigkeit von Kulturen, untergraben werde. Das Argument, internal restrictions seien zu einer Festigung einer external protection, zum Schutz der kulturellen Struk- tur notwendig, hält er in den meisten Fällen für unbegründet. Eine external protection könne meistens ohne internal restrictions durchgeführt werden (Kymlicka 1995, 37) und »[both don’t] fall or stand together« (Kymlicka 1995, 44). Würde eine Nation z.B. die religiöse Freiheit ihrer Mitglieder beschneiden und diese dazu zwingen, einer be- stimmten Religion beizutreten und deren Praktiken einzuhalten, so sei dies eher ein Ausdruck davon, daß eine Mehrheit die Praktiken einer Minderheit nicht möge, als daß man sich Sorgen um den Fortbestand der kulturellen Struktur mache (vgl. Kym- licka 1989, 196). Kymlicka kritisiert deshalb das Verbot des Protestantismus durch die Pueblo (vgl. Kymlicka 1989, 196 und Kymlicka 1995, 40) und ähnliche internal re-

181 strictions, wie sie durch die Amish oder die Hutterer in Kanada3 angestrebt worden seien, als unnötig und illegitim (Kymlicka 1998a, 64 und Kymlicka 1995, 38ff und 61). Internal restrictions sind für Kymlicka meistens dadurch motiviert, bestimmte kulturelle Charakteristika durchsetzen zu wollen, die — wie wir schon gesehen haben — für ihn für den Erhalt einer kulturellen Struktur nicht notwendig sind. Liberalismus verlange zum Schutz individueller Rechte »built-in limits«:

Each person should be able to use and interpret her cultural experiences in her own chosen way. That ability requires that the cultural structure be secured from the disintegrating effects of the choices of people outside the culture, but also requires that each person within the community be free to choose what they see to be most valuable from the positions provided [. . . ]. (Kymlicka 1989, 198)

Kymlicka betont aber, daß seiner politischen Theorie das Primat individueller Rech- te zugrunde liege: »My theory supports, rather than compromises, the rights of indivi- duals within the minority culture.« (Kymlicka 1989, 197) Einen individuellen Grundrechtskatalog hält er allerdings nur solange für verbind- lich, wie nicht ein sehr gewichtiges Argument der Identität einer nationalen Gruppe individuelle Rechte bricht. Internal restrictions sind für Kymlicka in Ausnahmefäl- len, in »exceptional circumstances of cultural vulnerability«, rechtfertigbar, um den Zusammenbruch einer kulturellen Struktur (und damit letztlich der kulturellen Umge- bung für Individuen) zu verhindern:

Undoubtedly there are cases where the very survival of society does require some restrictions on the (otherwise legitimate) freedom of choice of its members. [. . . ] If we refuse to let a cultural community have [. . . ] temporary special restrictions on individual behaviour, knowing full well that without them the vast majority of its members will end up dead, or in jail, or on skid row, then that refusal isn’t so much a victory for liberalism as a deliberate act of genocide. If certain liberties really would undermine the very existence of the community, then we should al- low what would otherwise be illiberal measures. But these measures would only be justified as temporary measures, easing the shock which can result from too rapid change in the character of the culture (be it endogenously or exogenously caused), helping the culture to move carefully towards a fully liberal society. (Kymlicka 1989, 170)

Als Beispiele für solche gerechtfertigten internal restrictions nennt Kymlicka das Verbot des Fernsehkonsums in einem isolierten Stamm in Indonesien, »where a large number of children jumped off a cliff to their death in an attempt to emulate a Super- man feat they had just seen on (recently introduced) television«, oder das Verbot von

3Er wendet sich dabei nicht generell gegen Zwangsmaßnahmen, die Religionen ihren Mitgliedern aufbürden. Solange sie diese nicht mit staatlicher Hilfe durchsetzen und es den Mitgliedern der Religion offen bleibt, ohne hohe Kosten aus der Religion auszutreten, hat er grundsätzlich nichts einzuwenden. Er hält es z. B. für gerechtfertigt, wenn die katholische Kirche ihre Mitglieder zwingt, zur Kirche zu gehen oder es Frauen nicht gestattet, bestimmte Ämter zu bekleiden (vgl. Kymlicka 1995, 202, Fußnote 1).

182 Alkohol in Ureinwohnerstämmen, bei denen diese Droge zu einer Vernichtung des so- zialen Zusammenlebens und damit der kulturellen Struktur führen würde (Kymlicka 1989, 170). Ist die Einschränkung individueller Rechte im Rahmen von internal restrictions für Kymlicka nur in sehr wenigen Fällen legitim, so sind die Beschränkungen individu- eller Rechte, die durch external protections ausgelöst werden, für ihn im allgemei- nen rechtfertigbar. Und zwar sind solche Beschränkungen dann legitim, wenn damit eine größere Beschneidung eines anderen individuellen Rechtes vermieden werden kann und der Schaden, der für die Mitglieder der Minderheitennation entstehen würde, wenn external protections unterblieben, größer wäre als der Schaden, der für Mitglie- der der Mehrheitsnation entstünde, wenn man deren Rechte durch external protections einschränke (vgl. Kymlicka 1989, 151 und Kymlicka 1995, 109). Der für Individu- en durch external protections entstehende Schaden sei nicht so gewichtig wie der aus internal restrictions resultierende, da external protections Individuen nicht so wesent- lich in ihren Rechten einschränken und es ihnen weiterhin offenbleibe, in ihre eigene nationale Kultur zurückzukehren und dort zu leben. Dies sei in liberalen Demokratien konsensfähig:

[. . . ] [W]e have a choice between, on the one hand, increased mobility and an expanded domain within which people are free and equal individuals, and, on the other hand, decreased mobility but a greater assurance that people can continue to be free and equal members of their own national culture. Most people in liberal democracies clearly favour the latter. (Kymlicka 1995, 93)

Die Akzeptanz einer external protection sei mit der Akzeptanz der Existenzberech- tigung von Staaten vergleichbar, also mit etwas, das in der liberalen Theorie breite Akzeptanz finden würde:

[. . . ] [M]ost liberal theorists accept without question that the world is, an will re- main, composed of separate states, each of which is assumed to have the right to determine who can enter its borders and acquire citizenship.I believe that this as- sumption can only be justified in terms of the same sorts of values which ground group-differentiated rights within each state. (Kymlicka 1995, 124)

Für Kymlicka ist »citizenship [. . . ] an inherently group-differentiated notion« (Kym- licka 1995, 124); die meisten Liberalen würden nur von der Gleichheit der Bürger, nicht aber der Gleichheit der Menschen sprechen, also stillschweigend eine solche group-differentiated notion anerkennen.

***

Angesichts der Länge und der Komplexität von Kymlickas Argumentation für na- tionale Minderheitenrechte innerhalb von liberalen Staaten sollen jetzt abschließend

183 nochmals die wesentlichen Argumente zusammenfassend betrachtet werden. In mei- ner Darstellung haben wir vier unterschiedliche, jedoch miteinander verschränkte Ar- gumente kennengelernt. Zwei Argumente liefert Kymlicka, um die Bedeutung einer nationalen Kultur für den zentralen normativen Bezugspunkt liberaler Theorie — das Individuum — plausibel zu machen:

1. Die nationale Kultur ist der Garant eines breiten context of choice und damit die Voraussetzung für eine (durch Bildung angeleitete) kritische Selbstreflektion über in- dividuelle Lebensziele. Nur so kann ein wirklicher freedom of choice entstehen und ein Individuum herausfinden, was seine Konzeption des good life wirklich ist.

2. Die nationale Kultur hat eine große Bedeutung für die Selbstwahrnehmung und Selbstbewertung der persönlichen Identität, so daß einem Individuum ein erheblicher persönlicher Schaden entstünde, wenn es seine kulturelle Umgebung verlieren würde. In einem anderen national-kulturellen Umfeld als dem eigenen wäre es nicht mehr in der Lage, die eigene persönliche Identität auszuleben und sich in gleicher Weise selbst wertzuschätzen.

Zwei weitere Argumente sollen zeigen, daß der Schutz von nationalen Minderheiten nicht nur private Initiative, sondern auch eine weitreichende staatliche Unterstützung erfordert:

3. Kollektive Rechte sind notwendig, um Individuen vor Nachteilen zu bewahren, die aus der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit resultieren und daher eine Folge von unequal circumstances und nicht von einer von Individuen selbst zu verantwor- tenden individuellen Wahl sind. Konkret sollen self-government rights verhindern, daß nationale Minderheiten bei Entscheidungen, die für das Überleben der eigenen kultu- rellen Struktur notwendig sind, outbid and outvoted werden. Um überleben zu können, muß eine nationale Minderheit in einem Territorium eine Mehrheit stellen. Eine natio- nale Minderheit hat als eine zuerst gekommene Gruppe grundsätzlich einen legitimen Anspruch auf ein Territorium — dies ergibt sich schon aus Kymlickas Definition ei- ner nationalen Minderheit als eine ethnische Gruppe, die keine Immigrantengruppe ist. Bei Immigranten liegen keine unequal circumstances vor, sondern eine freiwillige Entscheidung, die Individuen selbst zu verantworten haben. Sie können daher keinen Ausgleich von unequal circumstances durch nationale self-government rights verlan- gen.

4. Da ein Staat immer ethnische Elemente wie Sprache und Kultur fördern muß, um seine Dienstleistungen wie Schule, Verwaltung und Justiz betreiben zu können, kann eine »kulturneutrale« Politik im Sinne einer benign neutrality überhaupt nicht verfolgt werden. Eine nationale Kultur — meist diejenige der Mehrheit — muß staatlicher- seits immer gefördert werden, weshalb für Kymlicka die Behauptung, daß nationale

184 Minderheitenrechte mit dem Schutz von Sprache und Kultur einer Sonderbehandlung gleichkomme, gegenstandslos ist. Die Förderung von Minderheitenkulturen ist für ihn sogar notwendig, um dem liberalen Gleichbehandlungsgebot gerecht werden zu kön- nen und nationale Minderheitenkulturen nicht gegenüber der nationalen Mehrheitskul- tur zu benachteiligen.

5.2 Kymlicka und Trudeaus Kanada

The political task [...] is to devise constitutional provisions [...] [for Canada] which will be flex- ible enough to allow for the legitimate claims of cultural membership, but which are not so flexible as to allow systems of racial or cultural oppres- sion. Will Kymlicka (1989, 255)

Die politischen Theorien Pierre Elliott Trudeaus und Will Kymlickas weisen viele Ge- meinsamkeiten auf. Sowohl Trudeau als auch Kymlicka betonen, daß Individuen in kulturelle Kontexte eingebunden sind und daß ein liberaler Staat dies besonders zu be- rücksichtigen habe. Für beide spielt dabei die Nation eine besondere Rolle. Trudeau anerkennt, daß – zumindest im jetzigen Entwicklungsstadium der Menschheit – die meisten Menschen wesentlich durch eine nationale Kultur geprägt werden; als nation in the sociological sense und als »place de choix« verdient die Nation für ihn be- sondere Beachtung und Förderung durch den liberalen Staat. Für Kymlicka bietet die Nation als societal culture4 den Rahmen für den context of choice, auf den Individuen angewiesen sind, um ihren freedom of choice verwirklichen zu können. Trudeau und Kymlicka gehen beide davon aus, daß Individuen nicht so sehr in ihre kulturelle Um- gebung eingebettet sind, als daß sie sich nicht auch von ihr distanzieren können. Beide vertreten sie eine Theorie des Selbst, welche sowohl von der kulturellen Kontextge- bundenheit als auch von der Autonomie des Selbst ausgeht. In ihrer liberalen Kulturhermeneutik berufen sich sowohl Trudeau als auch Kym- licka auf britische liberale Denker des 19. Jahrhunderts. Beide sind aber auch durch den US-amerikanischen Konstitutionalismus wesentlich beeinflußt worden. Trudeaus Verfassungspolitik war, wie ich herausgearbeitet habe, ganz wesentlich durch diesen inspiriert worden, während sich Kymlicka in seinen Argumentationen explizit auf die Vertragstheorie John Rawls bezieht. Beide sind der liberalen Kulturhermeneutik in den USA gegenüber aber auch skep- tisch eingestellt. Kymlicka grenzt sich von Vertretern des US-amerikanischen liberalen Mainstreams ab, welche kulturspezifische Rechte mit einer offenen und kosmopoliti-

4Einmal spricht er in diesem Zusammenhang wie auch Trudeau von einer »nation in the sociological sense« (Kymlicka 1995, 11).

185 schen Gesellschaftsordnung für unvereinbar halten. Trudeau sah in Kanada wegen der dort verfolgten Multikulturalismus- und Bilingualismuspolitik eine bessere Alternati- ve zum melting pot US-amerikanischer Prägung. Trudeau und Kymlicka unterscheiden sich jedoch in einem wesentlichen Punkt: Tru- deau lehnt es ab, eine Nation durch kollektive Rechte anzuerkennen, während Kym- licka dies als einen wesentlichen Bestandteil einer liberalen Theorie der Gerechtig- keit ansieht. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie sich dieser Unterschied auf Kymlickas Analyse des »kanadischen Falles« auswirkte; dabei soll nicht nur heraus- gearbeitet werden, wie sich Kymlicka von Trudeau distanzierte, sondern auch, wie er sich damit von einigen Grundannahmen des US-amerikanischen Konstitutionalismus unterscheidet. Ausgehend von der Einstellung Kymlickas zum kanadischen Föderalismus werde ich zunächst Unterschiede zur Trudeauschen Grundrechtsvision, zur Rolle der Volks- souveränität und der Symbolizität der Verfassung aufzeigen (Abschnitt 5.2.1). Danach werde ich Unterschiede zwischen Kymlickas Kanadabild und dem des US- amerikanischen liberalen Mainstreams am Beispiel des Kanadabildes von Charles F. Doran herausarbeiten (Abschnitt 5.2.2). Kymlickas Ansichten zur Ureinwohnerfrage sollen dann Gegenstand des letzten Abschnittes dieses Kapitels sein. Ich versuche zu klären, ob die politische Theorie Kymlickas einen Lösung für das von mir skizzierte Dissenter-Problem und damit eine bessere Alternative zu Trudeaus Ureinwohnerpolitik bieten würde (Abschnitt 5.2.3).

5.2.1 Kymlicka über Trudeaus Quebecpolitik: Multinational federalism und liberale Grundrechtsvision

Kymlickas Einstellung zur Quebecpolitik Trudeaus und seiner auf Bilingualismus auf- bauenden Grundrechtsvision ähnelt der Stéphane Dions. Wie auch dieser würdigt er, daß Trudeau mit der Politik des Bilingualismus das Ziel verfolgt habe, den Franko- kanadiern einen gleichberechtigten Platz innerhalb der kanadischen Union zu sichern und zu verhindern, daß diese weiter diskriminiert werden. Genau wie auch Dion ist Kymlicka der Auffassung, daß diese Politik den Frankokanadiern nicht zugute gekom- men sei, sondern ihnen eher geschadet habe. Von Bilingualismus profitierten haupt- sächlich die anglophonen Kanadier. Diese konnten als Bevölkerungsmehrheit in ei- nem bilingualen Kanada das Land de facto weitaus stärker prägen als die Frankoka- nadier. Wie auch Dion geht Kymlicka davon aus, daß Bilingualismus in Quebec be- sonders problematische Auswirkungen habe, da sich Einwanderer häufig für Englisch entschieden und damit die Gefahr bestehe, daß die Frankokanadier in der einzigen Provinz, in der sie die Mehrheit stellen, mittelfristig zur Minderheit werden könnten.

186 Die Bilingualismus-Politik habe deshalb keine Chance gehabt, in Quebec akzeptiert zu werden:

[...] ’s strategy of ›sea-to-sea bilingualism‹ [...] had no chance of succeeding. [...] [T]here is no chance today that this policy can reverse the reality that it is only in Quebec and parts New Brunswick and Ontario that francophones can truly live and work within a francophone societal culture. [...] Indeed, the main effect of sea-to-sea bilingualism has not been to make living outside Que- bec a more realistic option for the Québécois, but rather to ensure that living in Quebec remains a viable option for English-speakers. For this reason, unless it is accompanied by recognition of the special status of Quebec, the ideology of sea-to-sea bilingualism is often seen by the Québécois as a threat to their very ex- istence. Most believe that a vibrant francophone culture cannot survive in Canada unless it survives in Quebec, and that the ongoing vitality of the French culture in Quebec depends on ensuring that newcomers to the province [...] integrate into the francophone society. The Quebec provincial government, therefore, must play a pivotal role in maintaining the viability of the French society in Canada, and to fulfil this role it must have the ability to regulate certain language rights. (Kymlicka 1998a, 133)

Bilingualismus und die darin enthaltene Vision einer sich von der Atlantik- bis zur Pazifikküste erstreckenden frankokanadischen Nation würdigt Kymlicka zwar als ein nobles Ideal. Dieses Ideal ist für ihn aber mit den gegebenen Realitäten in Kanada grundsätzlich unvereinbar. Frankokanadier würden nicht im Bilingualismus, sondern in der Provinz Quebec den Garanten für das Überleben einer frankokanadischen Nati- on in Kanada sehen: »there seems to be no chance of reversing the territorialization of the French nation in Canada.« (Kymlicka 1998a, 134) Föderalismus in Kanada muß auf die Anerkennung von Nationen, v. a. Quebecs, ausgerichtet sein:

[...] [W]e need to accept as given both that there will be minority nationalisms in Canada and that these national loyalties will be territorially defined. In other words, we need to accept that Canada is and will remain a multination state– a federation of peoples–in which individuals’ national identity may differ from, and may conflict with, their identity as Canadian citizens. (Kymlicka 1998a, 134)

Diese Argumente sind offensichtlich realpolitischer Natur. Sie sind jedoch mit Kym- lickas politischer Theorie gut vereinbar. Nationale Minderheitenrechte und kollektive Rechte sind für ihn ja nicht mit einer liberalen Ordnung unvereinbar. Er macht sich aber keine Illusionen über die Chancen einer multinationalen Föderation, lange zu hal- ten. Da es in einer multinationalen Föderation viele unterschiedliche Loyalitäten gebe, sei die Grundlage für die soziale Einheit in solchen Föderationen schwach. Es sei daher immer mit Separation zu rechnen. »In any event,« so schreibt er, »the option of seces- sion will always be present. [...] [I]t would be a mistake to think that implementing federalism will remove the issue of secession from the political agenda« (Kymlicka 1998b, 141f).

187 Kymlicka gibt jedoch Empfehlungen, wie eine multinationale Föderation zusam- mengehalten werden könne. Für interessant im Rahmen dieser Arbeit scheinen mir v. a. die folgenden zwei Aspekte zu sein:

1. Ein Föderalismus, der nationalen Minderheiten keine Kontrolle über seine staatli- chen Einheiten bietet, ist für einen multinationalen Staat keine gute Option. Födera- lismus, der sich nur als Verwaltungsuntergliederung begreife, werde von nationalen Minderheiten nicht akzeptiert. Versuche man, eine solche Art des Föderalismus zu etablieren, könne dies nur zu einer Verschärfung der Gegensätze führen. Für Kymlicka ist es eine bessere Option, auf einen »multinational federalism« zu setzen, in dessen Rahmen den verschiedenen societal cultures ein eigenes Territorium mit einer eige- nen Regierung zugewiesen wird, die es ihnen erlaubt, die kulturelle Struktur aufrecht zu erhalten. Die Provinz Quebec solle im Rahmen des kanadischen Föderalismus als »nationality-based unit« anerkannt werden. Die anderen Provinzen sollten als »region- based units« (Kymlicka 1998a, 139) begriffen werden. Damit plädiert Kymlicka für einen asymmetrischen Föderalismus und spricht von einer »asymmetrical multinati- on federation« (Kymlicka 1998a, 166). Diese ist für ihn aber nicht asymmetrisch in dem Sinn, daß damit nur eine frankokanadische Nation im Rahmen des Föderalismus besondere Beachtung fände. Die anglokanadische Nation könne sich über die Gesamt- heit der übrigen Provinzen konstituieren und verfüge zudem im Bund über die klare Mehrheit. Außerdem erhalte das frankophone Kanada mit der Provinz Quebec nur das, was die anglophonen Kanadiern in den anderen Provinzen schon hätten: die Möglich- keit, in ihrem Alltagsleben ihre Muttersprache zu sprechen (Kymlicka 1998a, 134). Ein solcher asymmetrischer Föderalismus stellt für Kymlicka kein normatives Problem für eine liberale Ordnung dar. Durch asymmetrischen Föderalismus werde das Prinzip der Gleichberechtigung zwischen Bürgern nicht verletzt, sondern gerade erst hergestellt:

[...] [E]quality for individual citizens does not require equal powers for federal units. On the contrary, asymmetrical status for nationality-based units can be seen as promoting [...] moral equality, since it ensures that the national identity of minorities receives the same concern and respect as that of the majority nation. (Kymlicka 1998a, 141)

2. Gemeinsame Werte und Normen sind kein Garant für die Stabilität und den Zusam- menhalt einer multinationalen Föderation. Kymlicka geht zwar davon aus, daß soziale Einheit in einer multinationalen Föderation durch geteilte Werte und Normen erleich- tert werde. Die Kooperation zwischen Quebec und dem Rest Kanadas profitiere davon, daß man hier wie dort die Prinzipien einer liberalen Verfassungsordnung teile. Für ihn ist dies aber nicht hinreichend. Die Grundlage dafür, daß Menschen in einem Staat zusammenleben wollen, ist nicht, daß sie alle die gleichen Werte teilen, sondern daß sie über eine gemeinsame Identität verfügen:

188 The real basis for social unity, I believe, is not shared values but a shared iden- tity. A shared conception of justice throughout a multination political community does not necessarily generate a shared identity, let alone a shared citizenship identity that will supersede rival national identities. Conversely, the lack of a shared conception of the good does not preclude a shared identity. People de- cide whom they want to share a country with by asking whom they identify with, whom they feel solidarity with. What holds Americans together, despite their disagreements over the good life, is the fact that they share an identity as Amer- icans. Conversely, what keeps Swedes and Norwegians apart, despite their shared principles of justice, is the lack of a shared identity. (Kymlicka 1998a, 173)

Eine multinationale Föderation sei nicht als permanente Kooperationsgemeinschaft im Rawlsschen Sinne zu verstehen. John Rawls liege falsch, wenn er in kontraktua- listischer Manier davon ausgehe, daß eine Nation auf der Idee eines Sozialvertrages zwischen Menschen beruhe (vgl. Kymlicka 1998b, 142). Die einzige Hoffnung für so- ziale Einheit in Kanada liege darin, das Recht auf Selbstbestimmung einer jeden Nati- on in vollem Umfang im Rahmen eines multinational federalism anzuerkennen. Dazu gehört auch, daß man den Nationen grundsätzlich das Recht auf Sezession zugestehen müsse:

The only sort of unity we can hope to achieve is one that will allow national minorities to give primacy to their national identity and conditional allegiance to Canada, that will co-exist both with the firm belief among national minorities that they have the right to secede and with ongoing debate about the conditions under which it would be appropriate to exercise that right. (Kymlicka 1998a, 171)

Eine Sezession ist für Kymlicka unter liberaler Perspektive nicht grundsätzlich ab- zulehnen. Sie könne manchmal sogar dazu führen, daß der liberale Konstitutionalismus gestärkt werde. Als Folge der Unabhängigkeit Norwegens von Schwedens gebe es jetzt z. B. »two healthy democracies where there used to be one.« (Kymlicka 1995, 186) Wenn Quebec unabhängig würde, dann hätte dies die erfreuliche Folge, daß es auf der Welt eine weitere liberale Demokratie mehr gebe. Kymlicka betont auch, daß es libe- ralen Prinzipien widerspreche, Sezession prinzipiell zu verbieten und gegen politische Organisationen vorzugehen, welche dies anstreben. Denn dies würde dem Demokratie- prinzip widersprechen. »[F]ederalism«, so schreibt er, »is only democratic if it allows [secessionist political mobilization].« (Kymlicka 2001b, 390)

Wie aus dem Vorhergehenden unschwer zu erkennen ist, unterscheiden sich die An- sichten Kymlickas zur Lösung der Quebec-Frage erheblich von denen Trudeaus. Im folgenden werde ich gesondert darauf eingehen, wie sich Kymlicka zu den Aspekten verhält, auf die Trudeau seine Verfassungsvision aufgebaut hatte: Grundrechte, Volks- souveränität und Symbolizität der Verfassung.

189 1. Integration durch Grundrechte funktioniert für Kymlicka aus zwei Gründen nicht. Zum einen, da diese die Sprachsituation nicht stabilisieren können. Zum anderen, da dem Konflikt mit Quebec überhaupt keine Wertkonflikt zugrunde liegt. Im Gegensatz zu Trudeau, der Anhänger der Modernisierungshypothese ist, geht Kymlicka davon aus, daß dem Konflikt mit dem Nationalismus in Quebec nicht notwendigerweise ein Wertkonflikt zugrunde liegt, daß dieser Nationalismus nicht den liberalen Konstitu- tionalismus an sich herausfordert. Für Kymlicka rührt das Quebec-Problem aus einem Konflikt zweier liberaler Demokratien her und nicht aus einem Konflikt zwischen einer liberalen Demokratie und Nationalisten, die ein liberales Ordnungsmodell ablehnen.

2. Volkssouveränität ist für Kymlicka kein geeignetes Mittel, um eine multinationale Föderation zusammenzuhalten. Das Prinzip der Volkssouveränität ist für ihn zentraler Bestandteil eines jeden Minderheitennationalismus; proklamiere man in einem multi- nationalen Staat Volkssouveränität, dann führe dies nur dazu, daß die Minderheiten- nationalismen gestärkt werden. Kanada ist für ihn eine »federation of peoples« (Kym- licka 1998a, 134) und es sei unaufhebbar, daß diese Völker das Prinzip der Volkssou- veränität jeweils für sich in Anspruch nehmen: »Multinational federalism«, so schreibt er, »divides the people into separate ›peoples‹, each with its own historic rights, terri- tories and powers to self-government, and each, therefore, with its own political com- munity.« (Kymlicka 1998b, 140)

3. Kymlicka geht nicht wie Trudeau davon aus, daß die symbolische Integrations- kraft einer Verfassung angesichts einer deep diversity hoch sein kann. Im Bilingua- lismus sieht er zwar eine »appropriate symbolic affirmation« der Gleichberechtigung der Frankokanadier innerhalb Kanadas (Kymlicka 1998a, 133). Symbolik ist für Kym- licka aber primär nationale Symbolik, nicht aber multinationale. Politische Symbole stehen in einer multinationalen Föderation weniger für den Gesamtstaat, sondern eher für die einzelnen Minderheitennationalismen (oder dienen ihnen dazu, sich gegenüber dem Gesamtstaat abzugrenzen). In diesem Zusammenhang äußert sich Kymlicka kri- tisch über die »aspirational view« der Verfassung:

The promotion of the [...] [aspirational view of the Constitution] began with the patriation of the Constitution in 1982. Trudeau hoped that having a single doc- ument expressing the aspirations of Canadians would focus people’s allegiance on Canada as a whole, rather than any province or region. It was, in part, an ex- ercise in (pan-Canadian) ’nation-building’. And to a large extent it has worked, particularly in English-speaking Canada. Most English-speaking Canadians now accept that the Constitution should reflect and promote a pan-Canadian identity based on equal citizenship rights. But the inevitable result was that defenders of minority nationalisms have had to insist that their aspirations now be reflected in the Constitution as well. They might once have been willing to accept a docu- ment that was silent or ambiguous on these matters, but after Trudeau had given a constitutional stamp of approval to his pan-Canadian nationalism, they had to

190 gain equivalent recognition for their minority nationalisms. (Kymlicka 1998a, 147f).

Durch seinen Versuch, die Minderheitennationalismen in einen gesamtkanadischen Nationalismus zu integrieren, hat Trudeau für Kymlicka sozusagen nur »schlafende Hunde« geweckt und Minderheitennationalismen verstärkt. Die symbolischen Ele- mente der Verfassungsvision Trudeaus konnten dabei nicht mit denen konkurrieren, auf welche sich die Nationalisten in Quebec beziehen konnten. Verfassung kann für Kymlicka nicht die Realität von Minderheitennationalismen überwinden. Nationen sind für ihn eine soziale Grundtatsache des 20. Jahrhunderts, an der man nicht vor- beigehen könne. Wenn man am Zusammenhalt eines multinationalen Staates inter- essiert sei, so müsse man diesen darauf aufbauen, die Symbolik der verschiedenen Nationen zuzulassen, oder, noch besser, politische Symbole möglichst aus der Ver- fassungsordnung herauszuhalten. Für Kymlicka wäre das instrumentelle Arrangement von 1867 eine bessere Alternative zu Trudeaus Verfassungsvision. Aber eine Strategie des »muddling through«, welche die Frage politischer Symbolik ausblende, sei nach 1982 keine Option mehr: Nachdem Trudeaus Verfassungspolitik die Frage der Ver- fassung untrennbar mit politischer Symbolik verbunden habe, könne diese nicht mehr aus der öffentlichen Debatte um die Verfassung herausgehalten werden (vgl. Kymlicka 1998a, 149f).

Der Ansatz Kymlickas scheint eine vielversprechende Alternative zur Verfassungs- vision Trudeaus zu bieten. Er vermeidet die Schwächen, die unter dem Eindruck der Analysen Stéphane Dions, Guy Laforests und Kevin J. Christianos an Trudeaus Verfas- sungsvision offensichtlich geworden sind. Seine politische Theorie könnte das Locke- sche Argument Laforests, der auf Volkssouveränität abzielt, integrieren. Kymlickas Skepsis an der Integrationskraft einer symbolischen Verfassungsordnung erinnert an die Auffassungen Kevin J. Christianos. Für Kymlickas Ansatz spricht auch, daß dieser die strukturelle Schwäche vermeidet, die bei Trudeaus Verfassungsvision herausgearbeitet wurde: nämlich daß diese nur ein realpolitisches Argument dafür hatte, warum nur Englisch und Französisch, nicht aber auch Sprachen von Einwanderern, wie etwa der relativ großen Gruppe der ukraini- schen Einwanderer, offizielle Sprachen in Kanada werden sollten. Kymlicka kann hier rein normativ argumentieren, ohne realpolitische Argumente: Englisch und Franzö- sisch sind deshalb offizielle Sprachen, da dies die Sprachen zweier nationaler Gruppen sind, deren Mitglieder sich nicht dazu entschieden haben, nach Kanada einzuwandern. Dies ist bei Ukrainern nicht der Fall. Als Einwanderer ist von ihnen zu erwarten, daß sie sich in eine der beiden nationalen Kulturen integrieren. Kymlickas Empfehlungen scheinen jedoch Probleme zu verursachen, die Trudeaus Verfassungsvision vermeiden kann. Es handelt sich dabei um das Problem, daß es in

191 Kanada viele Regionen gibt, in denen Anglokanadier und Frankokanadier zusammen- leben. Ein Modell, das auf kollektive Rechte im Rahmen territorialer Autonomie setzt, hat das Problem, daß es in den verschiedenen Territorien Minderheiten gibt. Augen- fällig sind hier die anglophonen Quebecker. Leslie Green bezeichnet diese als »internal minority« (Green 1995, 268). Green stellt fest, daß es bei der Entwicklung eines institutionellen Designs zur Befriedigung der Ansprüche von nationalen Minderheiten von besonderer Bedeutung sei, im Auge zu behalten, was für Konsequenzen sich dadurch für etwaige internal minorities, also nationale Gruppen, die innerhalb einer nationalen Minderheit wiederum eine eigene Minderheit bilden, ergeben würden. Da in einer nationalen Minderheit oft das Gefühl einer Benachteiligung gegenüber der nationalen Mehrheit vorherrsche, würde leicht eine illiberale Grundstimmung in dieser entstehen, was dann zu einer Gefährdung von internal minorities führe. Illiberale Maßnahmen gegen Mitglieder von internal mino- rities würden leicht als notwendiges Korrelat zu einer Sicherung nach außen gerecht- fertigt. Brian Walker (1997) bemängelt an der Konzeption Kymlickas, daß sich diese der Problematik, die aus der territorialen Dimension von Forderungen nationaler Minder- heiten entstehen könnte, nicht bewußt sei. Kymlicka unterschätze die »futurity of na- tionalisms, the way that they are about expansion over territories already occupied by other groups«. Der Nationalismus in Quebec beschränke sich nicht nur darauf, den Be- stand einer frankophonen Gesellschaft in Kanada zu sichern. Denn damit werde auch versucht, der Stadt Montreal auf Kosten der anglophonen Minderheit »an exclusively francophone character (un visage linguistique francophone)« zu geben (Walker 1997, 226). Walker unterstellt Kymlicka »a tendency [. . . ] to give pride of place to the model of ethnic hegemony over the model of cultural fairness.« (Walker 1997, 227) Für Kymlickas Argumentation ist dies meiner Meinung nach jedoch weitgehend unproblematisch. Dessen Argument für nationale Minderheitenrechte ist grundsätz- lich ja kein Argument gegen Bilingualismus, Multikulturalismus und Kosmopolitis- mus. Und Quebec als Nationalstaat für Frankokanadier anzuerkennen, bedeutet für Kymlicka keinesfalls, daß nationalen Minderheiten innerhalb Quebecs keine nationa- len Minderheitenrechte zustehen. So äußert er sich z. B. sehr kritisch über Quebecs Sprachgesetzgebung. Er ist der Auffassung, daß diese »partly an over-restrictive ex- ternal protection« sei, »since it unnecessarily restricts the freedom of anglophones to use their own language.« Es handele sich dabei auch um »partly an internal restriction, since it is partly designed to protect the stability of Québécois society from the choices of its own members.« (Kymlicka 1995, 205, Fußnote 14) Wesentlich für Kymlicka ist, daß all dies nicht dagegen spricht, kollektive Rechte für Frankokanadier anzuerken- nen und Quebec als Ausdruck dieser kollektiven Rechte zu akzeptieren. Die Frage, ob kollektive Rechte für nationale Minderheiten legitim sind, sollten von der Frage

192 getrennt werden, wie sich die Rechte etwaiger interner Minderheiten zu diesen kol- lektiven Rechten verhalten. In der politischen Autonomie der Provinz Quebec, welche seiner frankophonen Mehrheit die Möglichkeit gibt, das Überleben einer frankopho- nen Gesellschaft in Kanada zu sichern, sieht er keine Gefährdung individueller Grund- rechte, und auch nicht kultureller Minderheitenrechte. Anglophone Quebecker hätten – auch unter dem Sprachrechtsregime der Parti Québécois – weitaus mehr Rechte als jede vergleichbare Minderheit in einer anderen liberalen Demokratie (vgl. Kymlicka 2001b, 364f).

5.2.2 Unterschiede zwischen Kymlickas Kanadabild und dem des US-amerikanischen liberalen Mainstreams am Beispiel des Kanadabildes Charles F. Dorans

Americans find it hard to grasp the way we are moving because they have nothing like Quebec. You have been collectively, officially English-speaking since the Revolu- tion, with a national identity tied to a Constitution and a flag and other elements of nation building. [...] Here, for 300 years, there has been a different population with a different language and a different culture and, in many ways, a different outlook. René Lévesque (1991, 213f) in einem Interview mit einem US-amerikanischen Journalisten

Am Anfang dieses Kapitels hatte ich festgestellt, daß sich kanadische Politologen häufig mit dem politischen System der USA beschäftigen. Umgekehrt ist dies nicht der Fall: Nur sehr wenige US-amerikanische Politologen setzen sich mit Kanada aus- einander. Das Buch Why Canadian Unity Matters and Why Americans Care, das der US-amerikanische Politologe Charles F. Doran vorgelegt hat (Doran 2001), ist eine der wenigen Ausnahmen. Auf dieses Buch gehe ich hier ein, da sich Dorans Kanada- bild erheblich von dem Kymlickas unterscheidet und die Position des zeitgenössischen US-amerikanischen liberalen Mainstreams zum Problem der deep diversity darin be- sonders gut zum Ausdruck kommt. Doran interessiert sich für Kanada, da er in diesem Land einen »barometer of the modern democratic nation-state’s ability to prevail over divisive nationalism and cul- tural and ethnic diversity« sieht (Doran 2001, xiii). Mit der Politik des Bilingualismus und Multikulturalismus ist Kanada für Doran – zusammen mit den USA – der Modell- fall schlechthin für einen »democratic pluralism« (Doran 2001, 251). Der Separatis- mus in Quebec stellt für ihn diesen »democratic pluralism« in Frage. Wenn dieser nicht überwunden werden könne und es zur Sezession komme, so würde dies den »demo- cratic pluralism« nachhaltig schädigen: »[I]f secession occurs, democratic pluralism worldwide will suffer, for the model itself will have failed and democratic pluralism

193 will be regarded as a ›damaged good‹ not worthy of consideration.« (Doran 2001, 251) Mit seinem Buch will Doran all die Kanadier argumentativ unterstützen, die sich gegen den Separatismus in Quebec wenden. Das Hauptaugenmerk in Dorans Buch liegt darauf, herauszuarbeiten, wie gefähr- lich und illiberal der separatistische Nationalismus in Quebec sei. Dieser könne nur zu Gewalt und Ausgrenzung führen. Die Politik des maître chez nous, welche die Na- tionalisten seit den 1960er Jahren in Quebec betrieben, wertet er als Ausdruck einer aggressiven Machtbekundung gegenüber dem übrigen Kanada und den internen Min- derheiten in Quebec: »[T]he phrase ›become a master of one’s own house‹ suggests to the listener that the future political relationship will be that of dominance and subor- dination [...].« (Doran 2001, 231) Der separatistische Nationalismus Quebecs »smites [...] [the] effort by North America to act as a beacon for liberal social and political organization.« (Doran 2001, 250) Gegen Nationalismus an sich will sich Doran damit nicht wenden; er kritisiert nur die neuere Form des separatistischen Nationalismus. »[E]arlier nationalisms«, so schreibt er, »[...] were essentially unifying« und als sol- che grundsätzlich begrüßenswert. Für eine liberale Ordnung problematisch sei nur ein »new type of nationalism [...] expressed as secession.« (Doran 2001, 3) Dieser separa- tistische Nationalismus, den er auch »divisive nationalism« nennt, »strikes at the heart of modern democracy. If challenges the very notion of cultural toleration and soci- al harmony.« (Doran 2001, 228) Der »divisive nationalism« sei »anti-liberal« (Doran 2001, 229) und richte sich gegen das Prinzip der »civility«, da er politischen Extremis- mus und Terrorismus fördere (Doran 2001, 234). Für Doran ist »divisive nationalism« eine Gegenreaktion auf Modernisierung und Liberalismus:

If, as is assumed in this study, the society inside the advanced industrial states in the twenty-first century is becoming more heterogenous and therefore more liberal in its social structure, then divisive nationalism in principle opposes this trend. Since the predominant reason for separation is cultural, that is, to maxim- ize the purported interests of that culture relative to the more numerous members of another culture or cultures, divisive nationalism hurts. It establishes culture and language as the norm of political association. (Doran 2001, 235)

Doran ist, wie hier deutlich wird, wie Trudeau Anhänger der Modernisierungshy- pothese. Dies motivierte seine Analyse des Nationalismus in Quebec. Er hat nicht die gleiche Perspektive wie Kymlicka; seine Analyse ähnelt eher der Trudeaus, und dies nicht nur, was die Modernisierungshypothese angeht, sondern auch in Hinsicht auf seine Polemik gegen die Nationalisten in Quebec. Dorans Analyse ist mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert, die ich im letz- ten Kapitel anhand der Analyse Stéphane Dions an Trudeaus Interpretation der Na- tionalisten in Quebec herausgearbeitet habe. Er ist eben nicht illiberal, sondern an Liberalismus orientiert. Dies ist in den 1990er Jahren noch deutlicher geworden. Die

194 Nationalisten in Quebec sehen nämlich die USA und andere westliche Staaten mit »de- mocratic pluralism« als Modell. In einer Regierungserklärung vom März 2001 sprach der Premierminister Bernard Landry von der Parti Québécois etwa von Quebec als einer »nation civique, inclusive et qui transcende toute forme d’ethnicité« (Landry 2002, 86), anerkannte das anglophone Element in Quebec und bemerkenswerterweise auch »onze nations autochtones« (Landry 2002, 91). Landry nahm die Europäische Union als Vorbild für eine kanadische Konföderation souveräner Staaten (vgl. Landry 2002, 92). Jacques Parizeau, ehemaliger Parteichef der Parti Québécois, verwies auf die große Ähnlichkeit der Politik Quebecs zu der anderer liberaler Demokratien wie etwa Frankreichs exception culturelle (vgl. Parizeau 1998, 30), der Unilingualismus- politik in Kantonen der Schweiz (vgl. Parizeau 1998, 32) und dem Nein Dänemarks zum Vertrag von Maastricht (vgl. Parizeau 1998, 17).5 Dorans Argumente würden so- zusagen ins Leere laufen, da die Nationalisten sozusagen die gleiche (liberale) Sprache sprechen wie Doran selber. Doran reflektiert auch darüber, daß sich sein Bild des Nationalismus nur schwer mit der gesellschaftlichen Realität in Quebec in Einklang bringen lasse. Quebec habe eine liberale Gesellschaft und unterscheide sich nicht von anderen Ländern in der westli- chen Zivilisation. Daß es trotzdem separatistischen Nationalismus in Quebec gibt und daß dieser in demokratischen Wahlen Mehrheiten erzielt, hält er für merkwürdig. Er gibt offen zu, daß er sich das nicht erklären könne. Das Zusammengehen von libera- ler Orientierung in der Gesellschaft und separatistischem Nationalismus ist für ihn ein »paradox« (Doran 2001, 82). »[T]hat anti-pluralist notions can stand side-by-side with

5Der liberale Charakter der Regierungspolitik in Quebec wird in den kanadischen Forschung immer wieder betont. Joseph H. Carens (2000, 112ff) etwa zeigt anhand einer Analyse des quebecker Regie- rungspapiers Vision: A policy statement on immigration and integration, daß Quebecs Kulturpolitik so- wohl liberal als auch multikulturell sei. Gérard Bouchard (1999, 73) stellt fest, daß sich der Nationalismus in Quebec seit der Stillen Revolution von einer organischen Gesellschaftskonzeption gelöst habe und am Ideal der nation civique ausgerichtet sei. Danielle Juteau (2002) stellt zwar fest, daß nach 1995 die Re- gierung in Quebec sich eher vom Multikulturalismus ab- und sich einem inklusiveren republikanischen Modell hingewandt habe. Es werde jetzt mehr der unilinguale Charakter der Provinz betont und kulturelle Diversivität weniger gefördert (Juteau 2002, 448ff). Juteau bezeichnet dies als eine »thick definition of citizenship« (Juteau 2002, 453). An keiner Stelle behauptet sie jedoch, daß dies anerkannter Praktik in liberalen Demokratien widerspreche. Sie betont sogar, daß dabei universalistische Normen und Werte be- sonders in den Vordergrund gestellt werden würden (Juteau 2002, 441). Die Politik des Bloc Québécois, der Vertretung der Separatisten im kanadischen Unterhaus, trägt immer noch liberale und multikulturelle Grundzüge. Im Parteiprogramm aus dem Jahr 2000 heißt es zwar, daß »[l]e rôle du Bloc Québecois consi- ste à promouvoir et à défendre [...] [une] citoyenneté [...] fondée sur la langue, l’histoire et les institutions publiques communes du Québec.« Diese citoyenneté sollte aber gleichzeitig auch »ouverte«, »inclusive« und allen gegenüber offen sein: »les Québécoises et Québécois de toutes origines ont la possibilité et le devoir de participer à la préservation de la langue française, à la diffusion et à l’enrichissement de la culture québécoise et à la poursuite de l’histoire commune.« (Bloc Québécois 2000, 6) »[...] [La] nation québécoise«, so heißt es im Programm, »doit continuer de s’épanouir dans le respect et la promotion du pluralisme culturel qui existe au sein de la société québécoise.« (Bloc Québécois 2000, 6) In der Dro- genrechtspolitik vertritt der Bloc Québécois sogar linksliberale Züge. Er setzt sich zum Beispiel für die Legalisierung von Cannabis zu therapeutischen Zwecken ein (vgl. Bloc Québécois 2000, 6).

195 more liberal preferences regarding education, health care, pension rights, or access to services« ist für ihn »[...] a great puzzle.« (Doran 2001, 246) Unter der Perspektive der politischen Theorie Will Kymlickas ist dies freilich kein Rätsel. Nationalismus ist für ihn Ausdruck all dessen, was jede liberale Theorie macht: einen sprachlichen Rahmen zu sichern, also genau das, was in den USA und allen Staaten, die sich zu »democratic pluralism« bekennen, auch der Fall ist. Dorans »democratic pluralism« ist unter dieser Perspektive kein liberales und tole- rantes Modell, sondern problematisch, da es die Einheit der Nation und damit auch eine Kultur voraussetzt und damit per se Minderheitennationen ausschließt. Doran spricht ganz selbstverständlich von »the people of Canada« (Doran 2001, 252). Er sieht nicht, daß dies von Minderheitennationalismen als genauso nationalistisch erlebt wird, wie Minderheitennationalismen von Mehrheitsnationalismen erlebt werden und damit ge- nau das Problem reproduziert, auf das er hinweisen wollte. Doran fehlt eine Theorie der deep diversity, die ihm unterscheiden hilft zwischen Forderungen, die jeder libera- len Demokratie zugrunde liegen und illiberalen Positionen innerhalb solcher Nationen. Darüber hinaus würde unter der Perspektive Kymlickas nicht das Scheitern Kanadas dem democratic pluralism schaden. Schaden würde diesem vielmehr, wenn man dies als Scheitern darstellt.

5.2.3 Das White Paper als Ausdruck des liberalen Mainstreams: Kymlickas Kritik an Trudeaus Ureinwohnerpolitik

Bezüglich der Rechte von kanadischen Ureinwohnern gibt Kymlicka grundsätzlich ganz ähnliche Antworten wie bei der Quebec-Frage. Individuelle Rechte sind nicht ausreichend, um den legitimen Anliegen der Ureinwohner nach Erhalt einer kulturel- len Struktur gerecht zu werden. Bei den Ureinwohner, die nur sehr kleine Gruppen bilden, ist für Kymlicka die Gefahr sogar besonders groß, daß diese outbid and outvo- ted werden. Aus diesem Grund betont er, daß für Ureinwohner kollektive Rechte ganz besonders wichtig seien. Kollektive Rechte erachtet er dabei vor allem als unerläßlich dafür, daß die Ureinwohner ihre Landbasis sichern können. Dies sei nur durch eine kollektive Regelung mit einem kollektiv gehaltenen Landbesitz möglich. Individueller Landbesitz sei problematisch. Denn bei einem individuell geregelten Landbesitz be- stünde immer die Gefahr, daß Individuen aus autochthonen Gruppen ihre Landrechte an Außenstehende verkaufen und somit das Gebiet der Gemeinschaft zerstückelt wür- de. Eine für autochthone Völker sehr typische extensive Landnutzungspraxis wie etwa die Jagd wäre dann nicht mehr möglich, da diese Tätigkeit eine zusammenhängende Landfläche erfordere (vgl. Kymlicka 1989, 147 und Kymlicka 1995, 43). Kymlicka bemüht sich dabei auch besonders, herauszuarbeiten, daß kollektive Land- rechte und politische Autonomie für Ureinwohner nichts mit Apartheid zu tun hätten,

196 wie das häufig von liberaler Seite aus behauptet werde. In Liberalism, Commuity, and Culture (Kymlicka 1989), das er noch vor Ende des Apartheid-Regimes in Südafri- ka geschrieben hatte, bringt er zwar zum Ausdruck, daß »we can’t deny the prima- facie applicability of minority rights to white South Africans« (Kymlicka 1989, 246). Das System der »petty apartheid«, also der Trennung von Toiletten, Waschräumen, Schwimmplätzen und Restaurants könne aber auf keinen Fall als eine external pro- tection zum Minderheitenschutz bezeichnet und gerecht-fertigt werden, da damit der Schutz einer kulturellen Struktur gegen eine andere nicht erreicht werden könne. Für ihn ist »petty apartheid« nur Ausdruck eines »blatant racism« (Kymlicka 1989, 246). Die Separation von Ureinwohnern in Kanada oder in den Vereinigten Staaten könne nicht mit der südafrikanischen Politik der Rassentrennung verglichen werden, da im ersteren Fall die Maßnahme auf Wunsch der Ureinwohner selbst geschehe (die sich ja immer wieder gegen Assimilationsversuche gewehrt haben), im anderen Fall aber gegen den Wunsch einer Gruppe, die für sich ja gerade Integration und Gleichberech- tigung einfordere, gehandelt werde (vgl. Kymlicka 1989, 245). Autochthone Gruppen würden auch nicht versuchen — wie dies die Weißen in Südafrika getan hätten — die Bevölkerungsmehrheit zu dominieren:

Indians have demanded the right to voluntarily segregated cultural communities, but they, unlike South African whites, have not demanded 87 per cent of the land mass of the country, nor the right to force the remaining 84 per cent of the popu- lation into discrete homelands against their will according to racial classifications that bear no resemblance to people’s self-understandings. (Kymlicka 1989, 246)

Der generelle Tenor individueller Rechte ist für Kymlicka in diesem Kontext nicht Integration, wie das bei Schwarzen der Fall wäre, die Teil der Mehrheitsgesellschaft werden wollen und sich ausgegrenzt fühlen, sondern Unterminierung des Schutzes nach außen. Er versucht ein outbid and outvoted zu verhindern. Das White Paper, welches ja vorgesehen hatte, kollektiven Landbesitz von Urein- wohnern in individuellen Landbesitz zu überführen, erscheint unter dieser Perspektive problematisch. Kymlickas Kritik am White Paper konzentriert sich aber hauptsäch- lich darauf, daß diesem ein völliges Mißverständnis der Ziele und Bedürfnisse der Ureinwohner zugrundegelegen habe. Trudeau und seine Regierung, sowie der gesamte liberale Mainstream sei irrigerweise davon ausgegangen, daß die Ureinwohner eine In- tegration in die kanadische Gesellschaft wünschen. Deshalb habe man die Bestimmun- gen des Indian Act – unter dem Eindruck des Prozesses Brown vs. Board of Education in den USA als Ausdruck eines separate but equal angesehen. Den Ureinwohnern ging es jedoch keinesfalls um Integration, sondern um Separation von der Gesellschaft, um ihre eigene Kultur aufrecht zu erhalten (vgl. Kymlicka 1995, 59, v. a. Kymlicka 1989, 144ff).

197 Wenn wir Kymlickas Konzeption auf die Frage der Dissenter in Ureinwohnergrup- pen beziehen, wie ich sie unter Punkt 4.4 dargestellt hatte, so wäre seine Lösung, beide Seiten anzuerkennen und zu klären, um welche Dinge es wirklich geht. Unter der Per- spektive Kymlickas kann der Konflikt zwischen Individuen und ihrer Kultur als ein Konflikt betrachtet werden, der nicht »total« ist, sondern einfach zu ganz normalen Prozessen innerhalb einer Kultur gehört. Die ganze Konzeption ist auf die Anerken- nung von kollektiven Rechten aufgebaut, welche als external protections gerechtfertigt werden. Individuelle Rechte werden nicht als Gegensatz zu kollektiver Rechten aner- kannt, sondern als deren Ergänzung und Sinn und Zweck der kollektiven Rechte. Dies könnte nüztlich sein für die Dissenter-Problematik. Es verhindert, daß Dissen- ter sozusagen in den dichotomischen Strukturen erdrückt werden: dadurch daß indi- viduelle Rechte mit kollektiver Rechten miteinander versöhnt werden öffnet sich die Möglichkeit, einerseits dem Wunsch nach Änderung einer Kultur nachzukommen, al- so internal restrictions zu verhindern, andererseits aber auch das strategische Interesse nach external protections damit zu befördern. Kymlickas Kulturbegriff, der auf Kon- tinuität und Wandel zugleich abzielt kann die spezifische Situation der Dissenter und ihre Interessenlage besonders gut erschließen. Die Frage, ob Ureinwohnerkulturen li- beral sind oder nicht trennt er von der Frage, ob diese kollektive Rechte haben sollen. Kollektive Rechte sind für ihn die Grundlage, um über individuelle Rechte innerhalb dieser Gruppen zu sprechen. Damit könnte verhindert werden, daß die Frage als ein innerzivilisatorisches Pro- blem erscheint. Dabei beharrt Kymlicka freilich auf liberalem Konstitutionalismus. Daß die Wahrung der individuellen Autonomie der alleinige normative Kern des Li- beralismus sei und ein universelles Prinzip darstelle, das auf alle Kulturen anwendbar ist, wird von Chandran Kukathas (1995 und 1997) in einer breit angelegten Kritik an Kymlickas Position in Frage gestellt. Kymlicka dagegen wolle Kulturen nur »in the reduced sense of the word« schützen und nur dasjenige, was an diesen »picturesque, harmless and separable from politics, such as language and literature, local arts and customs« sei erhalten (Kukathas 1995, 244). Dies unterminiere die Selbständigkeit von Kulturen (vgl. Kukathas 1995, 244). Kukathas befürwortet deshalb, einer Gruppe zu gestatten, internal restrictions durchzuführen. Individuelle Rechte finden bei Kuka- thas nur insofern Beachtung, als Mitglieder einer Gruppe nicht am Austritt gehindert werden dürfen: »If there are any fundamental rights«, so schreibt er, »then there is at least one right which is of crucial importance: the right of the individual to leave a community or association by the terms of which he or she no longer wishes to live.« (Kukathas 1995, 238)6

6Mit einem Recht auf exit verbindet sich für ihn, daß eine Gesellschaft die entsprechenden Bedin- gungen schaffen muß, die einen exit auch ermöglichen, woraus für ihn folgt, daß körperlicher Zwang und Sklaverei innerhalb von Kulturen als illegitim zu betrachten wären. Auf mögliche psychische und soziale Hemmnisse (und wie diese zu überwinden wären) geht er nicht ein und betont nur, daß ein »substantial

198 Diese Position ist der Kymlickas diametral entgegengesetzt. Mir selbst sagte Kym- licka, daß Kukathas Theorie im Vergleich zu seiner eigenen »just the other way around« sei. In seinen Schriften bezeichnet er Kukathas Theorie als »hyper-communitarianism« (Kymlicka 1992b, 43) und als »[a]ntithetical to the ideals of personal liberty endorsed by liberals from Locke to Kant and Mill« (Kymlicka 1992b, 36). Er kritisiert an Kuka- thas Standpunkt, daß sich ein exit überhaupt nicht realisieren lassen könne, wenn die Voraussetzungen für einen freien Dialog und eine freie Bildung fehlen (vgl. Kymlicka 1995, 234, Fußnote 18 und Kymlicka 1992a, 143).7 Die Option des Exit, die Kukathas in seiner Theorie eingebaut hat, ist für Kymlicka unbefriedigend, da es ja gerade die Zugehörigkeit zu einer Kultur ist, welche für Individuen wichtig ist und nicht primär die Möglichkeit, diese verlassen zu können:

The freedom which liberals demand for individuals is not primarily the freedom to go beyond one’s language and history, but rather the freedom to move around within one’s societal culture, to distance oneself from particular cultural roles, to choose which features of the culture are most worth developing, and which are without value. (Kymlicka 1995, 90f)

Die Unterschiede zwischen Kymlickas und Kukathas Auffassung werden jedoch geringer, wenn wir beachten, daß Kymlicka nur eine moralische Position formulieren wollte, aber keine politischen Empfehlungen zum Handeln geben wollte. Generell, so Kymlicka, solle man zu vermeiden suchen, nationale Minderheiten durch Zwangsmaß- nahmen von außen zu liberalisieren, da dies von nationalen Minderheiten als Agression erlebt, und der sich dann ergebende Widerstand nur zu einer Verhärtung der Fronten und damit zum Gegenteil des erwünschten Ergebnisses führen würde (vgl. Kymlicka 1995, 167). Seine Überlegung, was eine illiberale Gesellschaft ausmacht und welche Ordnung einer liberalen Ordnung widerspricht, unterscheidet er von der Überlegung, was konkret gegen eine illiberale Gesellschaft von liberaler Seite aus unternommen werden sollte. Zum einen gebe es »the question of identifying a defensible liberal theory of minority rights«, zum anderen aber die »very different question of imposing that liberal theory.« (Kymlicka 1995, 164) Besser sei es, durch einen Dialog auf illibe- rale Minderheiten einzuwirken und zu versuchen, diese von der Falschheit ihres Tuns zu überzeugen:

A national minority which rules in an illiberal way acts unjustly. Liberals have a right, and a responsibility, to speak out against such injustice. Hence liberal re- formers inside the culture should seek to promote their liberal principles, through reason or example, and liberals outside should lend their support to any efforts freedom to leave« schon dann gewährleistet sei, wenn der Weg in eine liberale Gesellschaft, eine »open market society«, offen sei (vgl. Kukathas 1995, 252). Extrem brutale und illiberale Praktiken könnten sich beim Vorhandensein einer realen und attraktiven Fluchtmöglichkeit nicht halten. Illiberale Gruppen würden unter dem Druck stehen, sich zu liberalisieren, um nicht eine große Zahl ihrer Mitglieder zu verlieren (vgl. Kukathas 1995, 236ff). 7Für eine weitere Kritik in dieser Richtung siehe Addis (1997, 124)).

199 the group makes to liberalize their culture. Since the most enduring forms of liberalization are those that result from internal reform, the primary focus for liberals outside the group should be to provide this sort of support. (Kymlicka 1995, 168)

Daß Kymlicka einen Dialog als Alternative zu Zwangsmaßnahmen als wichtig er- achtet, liegt auch daran, daß er viel von der Humeschen Idee hält, daß viele Gruppen von außen nicht angemessen beurteilt werden können. Viele indigene Gruppen seien z. B. auf ihre eigene und oftmals schwer zu erkennende Weise liberal, was von weißen Richtern bedauerlicherweise oftmals nicht richtig erkannt worden sei (vgl. Kymlicka 1995, 172). Generell sei es schwierig, einen klaren Maßstab für die Liberalität einer Kultur zu finden, da »[t]he liberality of a culture is a matter of degree.« (Kymlicka 1995, 171) Maßnahmen zu Sicherung der individuellen Autonomie seien erst dann gerechtfertigt, wenn es darum gehe, eine »gross and systematic violation of human rights, such as slavery or genocide or mass torture and expulsions« (Kymlicka 1995, 169) zu verhindern. Wie auch in den internationalen Beziehungen sei dabei »the exact point at which intervention in the internal affairs of a national minority is warranted« nicht genau bestimmbar (Kymlicka 1995, 196). Daraus zieht Kymlicka die Konse- quenz, daß genauso wie sich kein liberaler Staat in die inneren Angelegenheiten von Saudi Arabien einmische, obwohl diese oftmals von einem hohen Maß an Illiberalität geprägt seien, sich auch kein liberaler Staat in die inneren Angelegenheiten seiner na- tionalen Minderheiten einmischen solle. So habe z. B. keine dritte Partei die Autorität (authority), die eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Pueblo rechtfer- tigen könne (vgl. Kymlicka 1995, 165). Bevor man beginne, eine liberale Position mit Zwangsmaßnahmen durchzusetzen, müsse man folgendes beachten:

I think a number of things are potentially relevant here, including the severity of rights violations within the minority community, the degree of consensus within the community on the legitimacy of restricting individual rights, the ability of dissenting groups members to leave the community if they so desire, and the ex- istence of historical agreements with the national minority. For example, whether it is justified to intervene in the case of an Indian tribe that restricts freedom of conscience surely depends on whether it is governed by a tyrannical dictator who lacks popular support and prevents people leaving the community, or whether the tribal government has a broad base of support and religious dissenters are free to leave. (Kymlicka 1995, 169f)

Wie Kymlicka selbst zugibt, ähnelt dies mit der Orientierung an einem Recht auf exit weitgehend Kukathas »toleranter Nichtinterventionsstrategie« (vgl. Kymlicka 1992a, 144). Die Verschiedenheit der beiden Positionen liegt in dem systematischen Unter- schied begründet, daß Kymlicka in einem pragmatischen Verhalten gegenüber illibe- ralen Kulturen nur einen Kompromiß sieht, einen »modus vivendi« (Kymlicka 1992b, 52f), während Kukathas für ein »settlement« plädiert, das den »rules of commons« ähneln und eine »convergence of moral practices« darstellen solle (Kukathas 1997, 84

200 bzw. 86). Das Gewicht seiner Argumentation liegt eindeutig auf der Wahrung indivi- dueller Rechte. Es kann hier nicht entschieden werden, ob Kukathas oder Kymlickas Position ge- nerell bessere Lösungsansätze bietet. Wenn man ihre politischen Theorien jedoch auf das von mir geschilderte Dissenter-Problem in Ureinwohnergruppen mit seinem kom- plexen Szenario kultureller Konstruktionsprozesse überträgt, dann scheint Kymlickas Ansätz vielversprechender zu sein. Denn die Option, ihre Gruppe auch verlassen zu dürfen (exit) ist gerade nicht das, womit sich die Dissenter zufriedengeben würden. Abgesehen davon scheint Kymlickas Konzeption auch besser zu sein als die Trude- aus. In der politischen Theorie Kymlickas stehen individuelle und kollektive Rechte nicht als Gegensatzpaar gegenüber, sondern werden viemehr als komplementär be- trachtet. Das liefert ein Instrumentarium, das komplexe Problemszenarien, wie etwa das Dissenter-Problem, besser auflösen läßt. Im Gegensatz zu Trudeau geht Kym- licka nicht davon aus, daß eine Nation umso mehr Rechte erhalten sollte, je größer ist, sondern eher im Gegenteil: je kleiner und »verletzlicher« eine Kultur ist, desto mehr stehen ihr Rechte im Rahmen eines liberalen Konstitutionalismus zu (vgl. Kym- licka 1995, 219, Fußnote 4). Damit kann Kymlicka kollektive Rechte für Ureinwohner im Rahmen eines normativen Argumentes legitimieren, ohne diese quasi ad hoc und ohne Bezug zu einer liberalen Grundrechtsvision einführen zu müssen.8

8In Kanada gibt es Gerichtsprozesse, die darauf hinweisen, daß Kymlickas Position eine interes- sante Perspektive verspricht. Avigal Eisenberg (1994) macht z. B. darauf aufmerksam, daß Kymlickas Perspektive eine interessante Alternative zu der »dominant perspective« im kanadischen Justizsystem verspricht, nach der Klagen von Ureinwohnern gegen ihre eigene Gruppe in eine Dichotomie zwischen individuellen und kollektiven Rechten eingefügt werde, welche dann nicht aufgelöst werden könne (vgl. Eisenberg 1994, 4). Kymlickas Ansatz weise den Weg zu einer »difference perspective«, welche sowohl individuelle und kollektive Rechte anerkenne und diese jeweils auf ein kulturelles Identitätsargument ausrichte. Eisenberg sieht auch schon Rechtsfälle, wo sich ein Wandel abzeichnet. Er untersucht u.a. den vor dem British Columbia Supreme Court verhandelten Fall Thomas v. Norris. Hier ging es darum, daß David Thomas, ein Mitglied der Coast Salish People sich dagegen wandte, sich dem Spirit Dance, einem Initiationstanz, zu unterziehen. Dieser Tanz fordert von Mitgliedern, in einem sog. Long House mehrere Tage zuzubringen, zu fasten und in einem zeremoniellen Bad teilzunehmen. Norris klagte dagegen wegen »assault, battery and false imprisonment« (vgl. Eisenberg 1994, 3). Die Richter haben hier abgewogen nach kulturellen Identitäten (vgl. Eisenberg 1994, 15). Eisenberg lobt Kymlickas Unterscheidung zwi- schen internal restrictions und external protections als gelungene Realisierung einer solchen difference perspective (vgl. Eisenberg 1994, 17). Für eine Diskussion von Thomas vs. Norris siehe auch Isaac 1992.

201

6 Fazit und Schlußfolgerungen: der kanadische Konstitutionalismus als Lehrfeld und Bereicherung für den US-amerikanischen?

[...] [W]e had the advantage of the experience of the United States [...]. John A. Macdonald (in Canada 1865, 32)

[A] Canadian brain is programmed with gigabytes of knowledge about the United States, whereas an Amer- ican brain knows little or nothing about Canada. Jeffrey Simpson (2000, 1)

In der vorliegenden Arbeit habe ich zu zeigen versucht, daß der US-amerikanische Konstitutionalismus wesentlich von der Annahme geprägt ist, die Verfassung sei die Verfassung eines Volkes. Das liegt daran, daß in den USA nicht in Frage gestellt wird, daß es ein Volk der Amerikaner gebe, zumindest nicht so wirkungsmächtig, als daß sich dies auf die Verfassungsidee hätte auswirken können. In Kanada dagegen war Verfassungsgebung immer mit dem Problem konfrontiert, daß die Existenz eines ka- nadischen Volkes oder einer kanadischen Nation nicht vorausgesetzt werden konnte. Durch eine Analyse der kanadischen Verfassungsgeschichte und der dadurch inspirier- ten politischen Theorie habe ich auf kulturelle Kontingenzen des US-amerikanischen Konstitutionalismus hingewiesen und verdeutlicht, daß in Kanada wichtige Fragen be- handelt wurden, die in den USA nicht Gegenstand der Verfassungsdebatte waren. In Kanada ist unter dem Eindruck des Konfliktes mit Minderheitennationalismen – ich habe diesen Konflikt als deep diversity bezeichnet – über die kulturellen Vorausset- zungen des liberalen Konstitutionalismus und über den Zusammenhang von Nationa- lismus, Kultur und Liberalismus weitaus umfangreicher reflektiert worden, als das in den USA der Fall war. Die sechs Verfassungen, welche in Kanada zwischen 1763 bis 1982 implementiert wurden, sind durch das Problem der deep diversity maßgeblich geprägt worden. Die frühen Verfassungen zeugen von einer noch großen Unsicherheit im Umgang mit dem Problem der deep diversity. Lord Durham lieferte mit seinem Report über die Situation in Kanada dann aber eine umfassende Analyse des Problems der deep diversity und reflektierte damit über kulturelle Voraussetzungen einer liberalen Ordnung. J. S. Mill

203 wurde durch Lord Durhams Report dazu angeregt, weiter über den Zusammenhang von nationaler Kultur und Liberalismus zu reflektieren. Mills Betrachtungen wiederum wurden von Lord Acton kritisiert, der zwar ebenfalls die kulturellen Voraussetzungen einer liberalen Ordnung und die Bedeutung der Nation herausstellte, dabei aber den multinationalen Staat als Ideal für eine liberale Ordnung auszeichnete. Der kanadische Konstitutionalismus von 1867 zeugte von einer Anerkennung der deep diversity durch Sprachrechte und durch Föderalismus im Rahmen einer instrumentellen Verfassung. Pierre Elliott Trudeau entwickelte dann eine Verfassungsvision, welche Elemen- te der britisch-kanadischen Verfassungserfahrung mit Elementen des US-amerikani- schen Konstitutionalismus in einer Synthese verband. Mittels einer Bill of Rights und Volkssouveränität hoffte er, die Grundlage für eine einige kanadische Nation legen zu können. Kern von Trudeaus Strategie war es, mittels der Verfassung die von einer deep diversity geprägte Wirklichkeit in Kanada zu überwinden. Verfassung war für ihn nicht nur Anerkennung und Ausgestaltung der politischen Wirklichkeit, wie sie es noch für die Väter der Verfassung von 1867 gewesen war, sondern ein symbolischer Ordnungsentwurf, der die politische Wirklichkeit transzendieren und auf diesem Wege die Einheit Kanadas »erfinden« sollte. In der politischen Theorie Will Kymlickas schließlich werden zentrale Themen des kanadischen Konstitutionalismus aufgenommen und im Rahmen einer liberalen Theo- rie der Gerechtigkeit, die sich am US-amerikanischen liberalen Mainstream orientiert, neu verhandelt und diskutiert. Indem Kymlicka die Bedeutung einer nationalen Kultur für die Entwicklung des Individuums und das Funktionieren einer liberalen Ordnung betont, steht er in der Tradition Lord Durhams und J. S. Mills. Wie Lord Acton geht Kymlicka dabei aber nicht davon aus, daß ein liberaler Staat möglichst nur eine Nati- on umfassen sollte; er führt ein normatives Argument für die Anerkennung nationaler Minderheiten durch den liberalen Staat. Wie auch Trudeau orientiert sich Kymlicka an den Prinzipien des liberalen Konstitutionalismus US-amerikanischer Prägung. Im Un- terschied zu Trudeau argumentiert er jedoch für kollektive Rechte, dafür, daß nationale Minderheiten territoriale Autonomie erhalten sollten. Die Integrationskraft einer libe- ralen Verfassung in einer multinationalen Föderation schätzt er weitaus geringer ein als Trudeau. Kymlicka reflektiert grundlegend über die kulturhermeneutischen Vorausset- zungen des US-amerikanischen Konstitutionalismus und leistet damit einen bedeu- tenden Beitrag nicht nur für die kanadische, sondern auch für die US-amerikanische Verfassungsdebatte.

Was kann nun aus der kanadischen Erfahrung mit deep diversity für den liberalen Konstitutionalismus gelernt werden? Was für ein »Mehrwert« ergibt sich aus der ka- nadischen Verfassungsdebatte im Vergleich mit der US-amerikanischen? Mir scheinen drei Dinge besonders wichtig zu sein:

204 1. Die kanadische Verfassungserfahrung verdeutlicht, daß der US-amerikanische li- berale Mainstream von der irrigen Annahme ausgeht, eine liberale Ordnung könne kulturneutral sein und eine Politik der Neutralität gegenüber kulturellen Gruppen und nationalen Minderheiten (salutary neglect oder benign neutrality) betreiben. In der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der deep diversity wurde in Kanada deutlich, daß eine liberale Ordnung prinzipiell auf eine oder mehrere nationale Kulturen bezo- gen ist und kulturelle Elemente, wie etwa Sprache, anerkennen und fördern muß. Da in Kanada Minderheitennationalismen dem Homogenisierungsdruck und den Assimila- tionsversuchen eines Mehrheitsnationalismus widerstehen konnten, wurde der liberale Konstitutionalismus sozusagen dazu gezwungen, »Farbe zu bekennen«. 2. Die kanadische Verfassungserfahrung verdeutlicht, daß es nicht den Grundprinzipi- en des liberalen Konstitutionalismus widerspricht, nationale Minderheiten durch kol- lektive Rechte anzuerkennen. Die Erfahrungen, welche in Kanada gemacht wurden, deuten vielmehr darauf hin, daß es einer liberalen Ordnung schadet, wenn man na- tionalen Minderheiten kollektive Rechte verweigert und individuelle und kollektive Rechte als sich gegenseitig ausschließende Rechtskategorien ansieht. Dies zeigte sich zum einen bei der Quebec-Frage: Die Reaktionen auf Trudeaus Quebec-Politik legen nahe, daß seine Weigerung, Quebec als Nationalstaat für die Frankokanadier anzuerkennen, die Basis für die soziale Einheit in Kanada untermi- nierte. Eine flexiblere Herangehensweise, welche Forderungen nach Autonomie und kollektiven Rechten mit einer eigenen Sprachpolitik nicht per se als illiberal abge- lehnt hätte, erscheint unter der Perspektive der politischen Theorie Will Kymlickas als ein besserer Ansatz. Die Modernisierungshypothese erschien im Zusammenhang mit Trudeaus Verfassungspolitik als besonders problematisch. In den Reaktionen der kanadischen Ureinwohner auf die Verfassungspolitik Tru- deaus wurde deutlich, daß Abschaffung kollektiver Rechte nur dazu führt, daß sich eine deep diversity nur weiter verschärft. Die Abschaffung kollektiver Rechte, wie sie die Regierung Trudeau im White Paper von 1969 vorgeschlagen hatte, schockierte die Ureinwohner und führte dazu, daß diese sich nationalisierten und die Fronten sich ver- härteten. Dadurch, daß Trudeau kollektive Rechte für unvereinbar mit individuellen Rechten ansah, entstand bei Ureinwohnern der Eindruck, individuelle Rechte seien für kulturelle Selbstbehauptung schädlich. Dadurch gerieten Dissenter in Ureinwohner- gruppen in eine besonders schwierige Situation. Kymlickas politische Theorie zeigt einen Weg, mit dieser Problemlage besser umzugehen. Die Frage, ob liberaler Konstitutionalismus die beste Grundlage für einen inner- zivilisatorischen Konflikt ist, wurde in dieser Arbeit nicht behandelt. Aber es kann zumindest angedeutet werden, was eine bessere liberale Perspektive für ein solches Problemfeld wäre.

205 3. Geteilte Werte und Normen haben in einem multinationalen Staat keine hohe Inte- grationswirkung. Das Beispiel der Verfassungspolitik Trudeaus verdeutlicht, daß we- der die Akzeptanz einer Bill of Rights noch der Volkssouveränität die deep diversity in Kanada wesentlich abmildern konnten. Der Fall Quebecs hat gezeigt, daß die Idee von Grundrechten nicht den Nationalismus untergräbt, sondern in diesen integriert wird. Die Studie von Stéphane Dion verweist darauf, daß es trotz Wertkonflikt die Sprachfrage das entscheidende Kriterium für den Nationalismus ist. Dies trifft eben- so auf die Idee der Volkssouveränität zu; Guy Laforests Argumente zeigen, wie die Idee der Volkssouveränität dazu verwendet werden kann, um für die Unabhängigkeit von nationalen Minderheiten zu plädieren. Die Integrationskraft einer symbolischen Verfassungsordnung sollte also nicht überschätzt werden. Die Analyse Kevin J. Chri- stianos verdeutlicht, daß eine symbolische Verfassungsordnung historische Anknüp- fungspunkte benötigt und daß Nationen nicht einfach durch eine Verfassung erfunden werden können. Die USA sind dabei kein Gegenbeispiel, da die Verfassung in den USA konnte nämlich an eine schon konkret gelebte Erfahrung eines amerikanischen Volkes und einer amerikanischen Nation anknüpfen konnte. Die Auswirkungen von Trudeaus Ureinwohnerpolitik haben verdeutlicht, daß ein Versuch, individuelle Rech- te zur alleinigen Grundlage einer liberalen Verfassungspolitik zu machen, kulturel- le Konstruktionsprozesse in Gang setzen kann, die interzivilisatorische Unterschiede verschärfen. Liberaler Konstitutionalismus wird als inkommensurabel betrachtet.

Vor dem Hintergrund der kanadischen Verfassungserfahrung wird deutlich, daß der US-amerikanische Konstitutionalismus einen wesentlichen Aspekt kulturell-ethnisch motivierter Diversität ausklammert, daß die US-amerikanische Version des Multikul- turalismus zu kurz greift und daß dem liberalen Konstitutionalismus, wenn er sich nur auf den US-amerikanischen beschränkt, mit deep diversity zusammenhängende Pro- blemszenarien verschlossen bleiben. Daß dieses fehlende Bewußtsein in der Frage der deep diversity problematisch ist, zeigt sich im internationalen Bereich dort, wo die USA bei Projekten des nation buil- ding aktiv sind. Dies wurde unlängst im Irak deutlich, dem »laboratoire du ›nation building‹ à l’américaine«.1 Die Regierung der USA geht hier ganz selbstverständlich davon aus, daß es ein Volk der Iraker gebe – ein »Iraqi people«, wie sich George Bush häufiger vernehmen läßt – und daß dieses Volk für seine Einigkeit eine gute Verfas- sung brauche, welche die politische Ordnung festige und die kulturelle und ethnische Heterogenität einige. Forderungen kultureller und ethnischer Gruppen im Irak, wie et- wa der Kurden und Turkmenen, nicht nur Differenz innerhalb eines irakischen Volkes zeigen zu dürfen, sondern auch das Recht auf eigene Territorien oder gar Separation zu

1Le Monde Diplomatique vom Dezember 2003, 14.

206 haben, werden entweder ignoriert oder als Angriff auf die Idee gleicher Bürgerrechte und als Überbleibsel aus der Zeit Saddam Husseins betrachtet und abgelehnt. Diese Position findet sich auch bei Politikanalysten in den USA wieder. In einem Report über die Projekte des nation building der USA nach dem Zweiten Weltkrieg des US-amerikanischen Institute for Research and Development (RAND) wird zwar kritisch bemerkt, daß die Regierung bei ihrer Irak-Politik die Komplexität der Lage erheblich unterschätzt habe.2 Der RAND geht bei seinen Empfehlungen aber ebenfalls davon aus, daß es im Irak ein Volk und eine Nation gebe. Ethnische Diversivität wird nicht als Ausdruck von Multinationalismus angesehen, sondern als Variation innerhalb der irakischen Nation: »there is no consensus on the nature of the Iraqi nation; Iraq has a deeply fractured polity, with entrenched sectarian and ethnic divides.« (RAND 2003, 168). Der Begriff »sectarian« deutet an, daß man dies vor dem Hintergrund der Idee eines einigen irakischen Volkes als illegitim ansieht. Ethnische Diversivität wird auch als Ergebnis der Politik des ehemaligen Diktators Saddam Hussein dargestellt: »Iraqi regimes have often deliberately reinforced communitarian identities (religious, ethnic, tribal).« (RAND 2003, 190) Wegen der ausgeprägten ethnischen Heterogenität wird der Irak im Vergleich zu vielen anderen Ländern sogar als ein worst case begriffen (vgl. RAND 2003, 195). Ähnliche Grundannahmen wie in den USA zur Problematik im Irak zeigen sich auch bei den Vereinten Nationen. Der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan, geht bei aller Kritik an der Politik der US-amerikanischen Regierung wie diese auch davon aus, daß es ein »people of Iraq« gebe. Er spricht von der Notwendigkeit »to restore sovereignty to the people of Iraq« und vom »need to respect the Iraqi people’s right to determine their political future.« (United Nations 2003, 4) 3

2»Unfortunately,« so heißt es im Report, »publicly touted political road maps to date have drawn on simplistic models of Iraqi politics.« (RAND 2003, 190) Der RAND weist z. B. darauf hin, daß »there is little evidence that basic questions of national identity are settled or that a transfer of loyalty to the Iraqi nation has taken place.« (RAND 2003, 185) Die Analysten warnen davor, daß der Irak »deeply divided« sei (RAND 2003, 195) und daß die Abwesenheit von Homogenität eine spezifische Herausforderung für den US-amerikanischen Konstitutionalismus darstellt, der nicht vernachlässigt werden dürfe. Hier gebe es andere Fragestellungen, die in bisherigen Projekten des nation building der USA wie Japan und Deutschland nicht aufgetaucht seien (vgl. RAND 2003, xix). 3Die Vereinten Nationen sind in vielen Dingen vom US-amerikanischen Konstitutionalismus beein- flußt. Die in großen Teilen durch Eleanor Roosevelt konzipierte Universal Declaration of Human Rights der Vereinten Nationen bringt die zentralen Prinzipien der US-amerikanischen Bill of Rights zum Aus- druck (vgl. Henkin 1990a, 392 und Thornberry 1995) und kümmert sich nicht um die Frage nationaler Minderheiten. Betonung der Rechte von Individuen, inspiriert durch die eigene Gesellschaftsordnung und die schlechten Erfahrungen mit dem Völkerbund. Frage nationaler Minderheiten aus dem Entwick- lungsprozeß der Universal Declaration of Human Rights wurde ausgeblendet (vgl. Tsilevich 2001, 166 und Pomerance 1982, 9). Das Recht der Selbstbestimmung von Nationen wurde genannt, aber nicht in- nerhalb westlicher Staaten. Es wurde nur im Hinblick auf die Dekolonisierung in Übersee in die Charter aufgenommen. Gemäß der sog. »salt-water-hypothesis«, welche diesen Bestimmungen implizit zugrunde liegt, beziehen sich diese Rechte nicht auf nationale Minderheiten in Europa und Nordamerika, sondern nur auf Minderheitenfragen in Übersee (vgl. Thornberry 1991, 13-21 und 214-218). Zur Nichtbeachtung nationaler Gruppen im Dekolonisierungsprozeß (Anaya 1995, 324). Zu Problemen mit der Declaration

207 Daß es für die weitere Entwicklung im Irak problematisch ist, von der Einheit des irakischen Volkes auszugehen, verdeutlicht eine Analyse von Yash Ghai (2003). Dieser hält es für sehr unwahrscheinlich, daß im Irak durch eine Verfassung ein irakisches Volk entstehen könne. Er begründet dies besonders mit der Situation der Kurden ab und deren Forderung, den Irak als ein Land mit zwei »peoples« zu betrachten, welche sich nicht in die Idee einer Verfassung und eines Volkes integrieren lassen (vgl. Ghai 2003, 36f).4 In Mittel- und Osteuropa, wo die US-amerikanische Verfassungsidee nach dem Zu- sammenbruch der Sowjetunion einflußreich ist, dominieren ähnliche Lösungsansätze, die dann auch zu ähnlichen Schwierigkeiten führen.5 Ethnokulturelle Spannungen mit Minderheitennationalismen sind dort der »main threat to the peaceful and democratic development« (Tsilevich 2001, 169). Hier wird auf die USA geschaut – es gibt einen optimisme institutionnel bei der Übertragung liberaler Institutionen (Kende 1993, 238). So erinnert z. B. die Einstellung der liberalen Partei in Rußland zur Frage der natio- nalen Minderheiten erinnert z. B. deutlich an Positionen, wie sie auch in den USA ver- treten werden. Magda Opalski hat herausgearbeitet, daß die Liberalen in Rußland dem Konzept der civic nation anhängen und in Minderheitennationalismen nur ein Über- bleibsel aus vorliberaler und vordemokratischer Zeit sehen, welche einem modernen liberal-demokratischen Rußland entgegenstehen. Rechte für nationale Minderheiten werden als grundsätzlich inkompatibel mit individuellen Rechten betrachtet; der rus- sische Staat solle sich auch zunächst darauf konzentrieren, diese zu sichern. Ideal ist die eine russische Nation, die allen ihren Bürgern, unabhängig von ihrem ethnischem und kulturellen Hintergrund, die gleichen Rechte garantiert:

on the Rights of Persons Belonging to National or Ethnic, Religious and Linguistic Minorities vgl. Al- fredsson (1995, 82), der von »non-objective und selective standards« spricht und Tsilevich (2001, 166), der das Fehlen klarer »monitoring mechanisms« bemängelt. Nationale Minderheiten sind zwar in De- claration on the Rights of Persons Belonging to National or Ethnic, Religious and Linguistic Minorities von 1992 erwähnt. Aber durch dieses Dokument wird keine deep diversity anerkannt, sondern nur das Recht von Individuen, innerhalb von Nationen und Staaten nicht diskriminiert zu werden. Es gibt zwar in der Charter der Vereinten Nationen das Rechte des Individuums »to a nationality«, aber keine nationalen Minderheitenrechte. Bezüglich der Rechte von Ureinwohnern gibt es seit 1992 zwar ein UN-Papier, in dem Ureinwohnern kollektive Rechte und Selbstbestimmung auf ihren angestammten Territorien zugesi- chert wird. Dies ist jedoch nur ein draft paper. In einer jüngeren Veröffentlichung der Vereinten Nationen wird kritisiert, daß auch gegen Ende der International Decade of the World’s Indigenous Peoples (1994- 2004) immer noch keine Declaration on the Rights of Indigenous Peoples vorliegt, in der verbindliche Regelungen über self-determination, land rights und natural resource exploitation getroffen werden (vgl. Nagara 2003). 4Yahia Said charakterisiert den Irak als »a quilt of overlapping nationalities, religions and sects«, der nur schwer durch eine Verfassung integriert werden könne Said 2003, 18. Einen generellen Überblick über die ethnische und nationale Heterogenität im Irak gibt Mark Lattimer (2003). 5Einen guten Überblick über den Einfluß der US-amerikanischen Verfassungsidee auf die Politik und die Verfassungsentwicklung weltweit gibt der von Henkin und Rosenthal (1990) herausgegebene Sam- melband Constitutionalism and Rights. The Influence of the United States Constitution Abroad, daraus v. a. der Überblicksartikel von Henkin (1990b) und der Literaturüberblick von Rapaczynski (1990).

208 Today, the liberals give priority to human rights over ethnocultural affiliation. Under ideal circumstances, the state should stay away from ethnic identity is- sues, which are more appropriately viewed as the private business of its citizens. Although in the imperfect conditions of post-Communist Russia ethnicity had to be accommodated, this was hardly the highest priority of the state. The most urgent task was to fight those forces opposing Western-style modernization. [...] Russian liberals advocate a ›civic‹ nation that incorporates a non-ethnic, state- centred concept of Russian identity. It refers to a Russian nation whose members, regardless of their ethnic, racial, or cultural backgrounds, are united by their cit- izenship in the Russian Federation, and by their loyalty to the constitution and newly emerging political institutions. (Opalski 2001, 303f)

Die Zukunft für Rußland werde von liberaler Seite aus häufig in einer Entethni- sierung des russischen Föderalismus und in den Föderalismusmodellen Deutschlands, Frankreichs oder der USA gesucht; der russische Föderalismus solle möglichst keine nationalen Minderheiten anerkennen, sondern ethnisch und kulturell neutral sein. Alles andere wird als gefährlich betrachtet, da dies Minderheitennationalismen schüren und damit die Liberalisierung und Demokratisierung Rußlands nur noch weiter gefährden würde (vgl. Opalski 2001, 307f). Nationale Minderheiten sehen darin aber, wie Opalski ausführt, weniger ein Anzei- chen von Toleranz und Gleichberechtigung. Sie sehen darin eher eine »russification in disguise« (Opalski 2001, 312). Daß sich so viele Minderheitennationalismen sozio- biologischen und rassistischen Vorstellungen zuwenden, erklärt Opalski dadurch, daß ihnen durch die liberale Strömung in Rußland die Anerkennung verweigert wurde. Minderheitennationalisten greifen mangels Alternativen auf die sowjetische Ideologie zurück, nach der Nationalismus soziobiologisch erklärbar sei, und orientieren sich an diesem Modell (vgl. Opalski 2001, 312f). Vom liberalen Lager ausgeschlossen, sehen sie die einzige Strategie dann darin, mit dem russischen Nationalismus zu konkurrie- ren. Ein Problem ist hier auch, so Opalski, daß die Vorschläge der Liberalen in der Fra- ge der Rechte nationaler Minderheiten denen der aggressiven Mehrheitsnationalisten in Rußland sehr nahe kommen: Wie diese fordern auch sie den einigen Zentralstaat, der keine kulturellen und ethnischen Differenzen zuläßt. Die russischen Nationalisten nutzen die Nähe zu liberalen Positionen auch für ihre eigenen Zwecke aus: Sie ver- wenden die Sprache des civic nationalism und auch des Multikulturalismus, um das Vorrecht der russischen Sprache zu legitimieren. Es wird einfach als das Ergebnis des demokratischen Mehrheitswillens dargestellt, dem sich andere kulturelle Gruppen un- terzuordnen haben. Russischen Liberalen ist es unmöglich, sich von den Mehrheits- nationalisten in diesem Punkt abzugrenzen, da sich diese zur Legitimation ihrer For- derungen auf das US-amerikanische Vorbild berufen können. Mit den direkten Kon- sequenzen dieser Situation konfrontiert – nämlich einer schleichenden Russifizierung und damit Durchsetzung eines ethnischen Projektes – können nationale Minderheiten im angeblich ethnisch neutralen Liberalismus nicht mehr viel mehr sehen als Heuche-

209 lei. Sie wenden sich dann vom Liberalismus ab. Die Liberalen, so Opalski, haben es in Rußland versäumt, klare Alternativen für Minderheitennationalisten aufzuzeigen, wel- che für diese akzeptabel wären und den Konflikt mit dem russischen Nationalismus entschärfen könnte. So wurde etwa keine liberale Position dazu entwickelt, wie man die ethnonationale Diversivität in den russischen Föderalismus integrieren könnte: »the management-of-diversity function of federalism is not well-theorized.« (Opalski 2001, 306). Auch Pål Kolstø weist darauf hin, daß es sehr gefährlich ist, nationalen Minderhei- ten keinen klaren Platz in der russischen Föderation zu geben. Eine unklare Position zum Föderalismus, insbesondere ein Vorschlag, Autonomierechte abzuschaffen, ver- schlimmere die Situation: »[T]he worst one can do«, so schreibt er, »is to take [...] [territorial autonomy] away from a group that enjoyed this kind of minority protection in the Soviet period.« (Kolstø 2001, 210). Dieses Problem beschränkt sich nicht nur auf Rußland, wie andere Autoren ausfüh- ren. Vergleichbare Problemen gibt es auch in vielen anderen Ländern Osteuropas, wie etwa Bulgarien, Rumänien, der Slowakei und Ungarn. Auch in diesen Ländern besteht eine »unholy alliance of liberal intellectuals and majoritarian nationalists« (Kymlicka und Opalski 2001, 1ff). Minderheitennationalismus wird häufig einfach als eine Er- satzideologie für den Kommunismus begriffen und von Mehrheitsnationalisten und Liberalen gleichermaßen abgelehnt (vgl. Barsa 2001, 243) oder als multikulturelles Phänomen innerhalb der einen Nation angesehen (vgl. Schöpflin 2001, 113). In Serbien nutzte die Regierung Milosevich die unklaren Maßnahmen der USA in der Kosovofrage für die Zwecke ihres aggressiven Nationalismus aus. Die USA versu- chen zwar im Falle Bosniens, sich für nationale Minderheitenrechte einzusetzen. Von der Führung in Serbien wurde jedoch erkannt, daß diese Empfehlung ad hoc war und nicht den Prinzipien des US-amerikanischen Konstitutionalismus, wie sie etwa in den USA selbst praktiziert werden, entsprach.6 Die Politik der USA läuft, wie Pavel Bar- sas Analyse der Minderheitenpolitik in Osteuropa zeigt, die auf einen Nationalstaat Millscher Prägung hinaus. »Liberal neutralists« unterschieden sich kaum von »liberal nationalists«:

At the end of the day [...] both positions amount to the same: the starting point of liberal politics is supposed to be a homogenized nation-state taken by its citizens for granted as the proper unit of their political organization. The only difference is that one camp acknowledges the culturally distinct character of this political nation while the other denies it. (Barsa 2001, 246)

6Über den westlichen Einfluß beim Dayton Agreement und die Schwierigkeit, mit kultureller Diffe- renz umzugehen vgl. Várady (2001), welcher das Dayton Agreement von 1995 als »[m]issed opportunity for the Creative Appliaction of Western precepts of ethnocultural justice on ECE ground« (Várady 2001, 145) ansieht.

210 Das eine wie das andere, so Barsa, funktioniere nicht. Tibor Várady weist in seiner Analyse Osteuropas darauf hin, daß eine Formel des »democracy solves everything« de facto nur der Mehrheit nutze (Várady 2001, 136). »[C]lassical liberal teaching that bespeaks ethnocultural neutrality«, so schreibt er, »might present a stepping-stone to majority aspirations and demagoguery« (Várady 2001, 138) In Reaktion auf so gestärkte Mehrheitsnationalismen reagieren nationale Minder- heiten mit ähnlichen Maßnahmen. Dimitras und Papanikolatos (2001) weisen darauf hin, daß Minderheitennationalismen in Osteuropa sich so organisieren, wie sie von der Mehrheit behandelt werden. Genauso wie die PKK ein »mirror image« (Dimitras und Papanikolatos 2001, 194) des oppressiven türkischen Nationalismus sei, so sind in Osteuropa Minderheitennationalismen Imitatoren des Mehrheitsnationalismus:

[...] [M]inorities unfortunately tend to ape the behaviour of their oppressors: to the host state’s hegemonic and aggressive nationalism, minorities usually re- spond with various sorts of defensive and peripheral, if not parochial, national- ism, equally exclusive and intolerant. (Dimitras und Papanikolatos 2001, 194f)

Angesichts der Formbarkeit von deep diversity durch politische Eliten ist dieses Sze- nario beunruhigend: nimmt man politischen Eliten liberale Vorbilder, so steigt die Ge- fahr, daß deren Nationenbildungsprojekte radikal und illiberal werden und Kritik nicht mehr zulässig ist. Vor allem in noch relativ ungefestigten Staaten ist die Gefahr eines Machtmißbrauchs durch politische Eliten hoch, da die Instabilitäten und politischen Krisen viele Möglichkeiten der politischen Mobilisierung bieten. Fehlen hier klare li- berale Lösungsansätze zum Konfliktmanagement, dann erschwert dies eine wirksame internationale Kritik an politischer Führung in solchen Ländern. Sie können nur mit einfachen Formeln wie »individuelle Rechte, aber keine kollektiven Rechte«, Multi- kulturalismus, Volkssouveränität und Verfassung aufwarten. Mit einer Strategie der kulturellen Neutralität wird man aber ethnisch-kulturellen Konflikten, die von einer deep diversity geprägt sind, nicht gerecht: Es ist absehbar, daß dies zu großen Proble- men mit Minderheitennationalismen führen wird. Die kanadische Verfassungserfahrung ist aber auch in gänzlich anderen Zusammen- hängen als den bisher skizzierten von Interesse. Aus ihr könnten etwa auch Lehren für den europäischen Einigungsprozeß gezogen werden. Die US-amerikanische Verfas- sungsidee beeinflußte und beeinflußt auch den europäischen Einigungsprozeß.7 Häufig geht man z. B. davon aus, daß es so etwas wie ein europäisches Volk schon gebe.

Diese kurze Skizze der internationalen Situation zeigt, daß die kanadische Erfahrung mit deep diversity ein wichtiger Modellfall für liberalen Konstitutionalismus ist, der

7Es ist kein Zufall, daß im Zuge der europäischen Einigung von den Vereinigten Staaten von Euro- pa gesprochen worden war. Der Einfluß der Federalist Papers auf die jüngsten Verfassungsdebatten in Europa ist unlängst in einem Artikel von Henning Ritter (2003) in der FAZ thematisiert worden.

211 auf bestimmte Probleme hinweist, die unter der Perspektive des dominanten US-ame- rikanischen Konstitutionalismus leicht übersehen werden. Die kanadische Erfahrung bietet dabei freilich keine direkten Lösungsansätze. Dies liegt schon ganz einfach daran, daß es in Kanada nicht möglich war, deep diversi- ty erfolgreich in liberalen Konstitutionalismus zu integrieren, zumindest nicht so er- folgreich, daß es inzwischen undenkbar wäre, daß Quebec die kanadische Föderation verlassen könnte. Darüber hinaus ist Kanada auch nicht direkt mit Ländern wie dem Irak oder mit Ländern in Mittel- und Osteuropa vergleichbar. Die Konflikte in Kanada sind bei weitem nicht so ausgeprägt und haben auch nicht zu größeren gewalttätigen Auseinandersetzungen Anlaß gegeben wie in vielen dieser Länder. Die Situation in Kanada unterscheidet sich auch erheblich von der der Europäischen Union, nicht nur was die Anzahl der verschiedenen Nationen und Nationalismen angeht, sondern auch, was die Balance zwischen den Nationen innerhalb der Union angeht. Kritiker haben darauf hingewiesen, daß die politische Theorie Kymlickas von den kulturellen Kon- tingenzen in Kanada geprägt ist.8 Die Regierung Trudeau selbst hatte betont: »Such is the adventure of Canada. It has no analogy and no precedent.« (Canada 1978, 1). Aber es ist doch ersichtlich geworden, daß die kanadische Erfahrung einen Hinweis darauf gibt, daß Phänomene der deep diversity einer Ausweitung des herkömmlichen liberalen Konstitutionalismus bedürfen. Wenn dieser schon in so liberalen Staaten wie Kanada auf Probleme stößt, dann ist in anderen Regionen der Welt mit noch größeren zu rechnen. Die kanadische Erfahrung kann verdeutlichen, um mit Golo Mann zu spre- chen, daß »die Masse des Wirklichen [...] sich durch Verfassungs-Artikel nicht zwin- gen [läßt].« (Mann 1999, 768) Kanada bietet einen liberalen Konstitutionalismus, der in vielen Punkten dem US-amerikanischen ähnelt, dabei aber ein wichtiges Phänomen integrierte, das die Welt noch lange beschäftigen wird. Die Problematik und Schwie- rigkeiten des kanadischen Konstitutionalismus verweisen auf einen noch großen For- schungsbedarf.

8Auf Schwierigkeiten der Übertragung von Kymlickas Theorie auf Fragestellungen in Osteuropa haben z. B. Tsilevich (2001) und Doroszewska (2001) aufmerksam gemacht. U. a. wird darauf hinge- wiesen, daß es in post-sowjetischen Staaten keine Zivilgesellschaft wie in Kanada gebe und daher ein Ansatz wie der Kymlickas überhaupt nicht diskutiert werden könne (vgl. Tsilevich 2001, 162ff); Urzu- la Doroszewska (2001, 127ff) weist darauf hin, daß in post-sowjetische Staaten nationale Minderheiten deutlich illiberaler seien als in westeuropäischen Ländern und daß diese Staaten häufig zu schwach seien, um überhaupt irgendeiner Ordnung Geltung verschaffen zu können.

212 Literaturverzeichnis

Abele, Frances: The Importance of Consent. Indigenous Peoples’ Politics in Canada. In: James Bickerton und Alain-G. Gagnon (Hrsg.): Canadian Politics. Pe- terborough und New York, 1999, 443–461

Ackerman, Bruce: We the People. Foundations. Cambridge und London, 1991

Acton, John Emerich Edward (First Baron und Lord Acton): Essays on Freedom and Power. Selected, and with an introduction by Gertrude Himmelfarb. Boston, 1949

Addis, Adeno: On Human Diversity and the Limits of Toleration. In: Ian Shapiro und Will Kymlicka (Hrsg.): Ethnicity and Group Rights. New York und Lon- don, 1997, 112–153

Ajzenstat, Janet: The Political Thought of Lord Durham. Kingston und Montreal, 1988

Aleinikoff, Alexander: Puerto Rico and the Constitution: Conundrums and Pro- spects. In: Constitutional Commentary 11:15 1994, 15–43

Alfredsson, Gudmundur: Minority Rights: A Summary of Existing Practice. In: Alan Philips und Allan Rosas (Hrsg.): Universal Minority Rights. London, 1995, 77–85

Anaya, James S.: The Capacity of International Law to Advance Ethnic or Nationality Rights Claims. In: Will Kymlicka (Hrsg.): The Rights of Minority Cultures. Oxford, 1995, 321–330

Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzeptes. Berlin, 1998

Asch, Michael und Patrick Macklem: Aboriginal Self-Government and the Con- struction of Canadian Constitutional Identity. In: Alberta Law Review 30 1992a, 465–491

Asch, Michael und Patrick Macklem: Political Self-Sufficiency. In: Diane Engel- stad und John Bird (Hrsg.): Nation to Nation. Aboriginal Sovereignty and the Future of Canada. Concord, 1992b, 45–52

213 Asch, Michael, Patrick Macklem und Norman Zlotkin: Affirming Aboriginal Tit- le: A New Basis for Comprehensive Claims Negotiations. In: Michael Asch (Hrsg.): Aboriginal and Treaty Rights in Canada. Essays on Law, Equality, and Respect for Difference. Vancouver, 1997, 208–229

Axworthy, Thomas S.: Colliding Visions: The Debate Over the Charter of Rights and Freedoms 1980-81. In: Joseph M. Weiler und Robin M. Elliott (Hrsg.): Litigating the Values of a Nation: The Canadian Charter of Rights and Freedoms. Toronto, 1986, 13–26

Axworthy, Thomas S. und Pierre Elliott Trudeau: Introduction. In: dies. (Hrsg.): Towards a Just Society. The Trudeau Years. Toronto, 1992a, 1–5

: The Tempest Bursting: Canada in 1992. In: dies. (Hrsg.): Towards a Just Society. The Trudeau Years. Toronto, 1992b, 7–50

Ball, Milner: Stories of Origin and Constitutional Possibilities. In: Michigan Law Review, vol. 87, iss. 8, S. 2280-2319, 1989

Barsa, Pavel: Ethnocultural Justice in East European States and the Case of the Czech Roma. In: Will Kymlicka und Magda Opalski (Hrsg.): Can Liberal Pluralism be Exported? Western Political and Ethnic Relations in Eastern Europe. Oxford, 2001, 243–258

Barth, Frederik: Introduction. In: ders. (Hrsg.): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Cultural Difference. Boston, 1969, 9–38

Bliss, J. M. (Hrsg.): Canadian History in Documents, 1763-1966. Toronto, 1966

Bloc Québécois: Plate-forme éléctorale du Bloc Québécois. Un parti pris pour le monde. Montréal, 2000

Borrows, John J.: With or Without You: First Nations Law (in Canada). In: McGill Law Journal 41 1996, 629–665

Bouchard, Gérard: La nation québécoise au futur et au passé. Montréal, 1999

Brown, George: Letter to a Group of His Supporters. In: J. M. Bliss (Hrsg.): Cana- dian History in Documents. Toronto, 1966, 92–94

Cairns, Alan C.: Disruptions. Constitutional Struggles, from the Charter to Meech Lake. Toronto, 1991

Canada: Parliamentary Debates on the Subject of the Confederation of the British North American Provinces. 3rd Session, 8th Procincial Parliament of Canada. Printed by Order of the Legislature. Quebec, 1865

214 : Report of the Royal Commission on Bilingualism and Biculturalism (1967). Book I. General Introduction. The Official Languages. Ottawa, 1967

: House of Commons Debates. Official Report. First Session–Twenty Eigth Par- liament. 17 Elizabeth II. Volume II. Ottawa, 1968

: The Constitution and the People of Canada. An approach to the Objectives of Confederation, the Rights of People and the Institutions of Government / La constitution canadienne et le citoyen. Un apercu des objectifs de la Confédera- tion, des droits des individus et des institutions gouvernmentales. [Von Pierre Elliott Trudeau]. Ottawa, 1969a

: Statement of the Government of Canada on Indian Policy, 1969. [White Pa- per.] Presented to the First Session of the Twenty-Eighth Parliament by the Ho- norable Jean Chrétien, Minister of Indian Affairs and Northern Development. Ottawa, 1969b

: A Time for Action. Toward the Renewal of the Canadian Federation. [Von] The Right Honourable Pierre Elliott Trudeau. Prime Minister. Ottawa, 1978

: Suggested Agenda for the Meeting of First Ministers on the Constitution. Ottawa, June 9, 1980. In: ders. (Hrsg.): House Of Commons Debates. Offici- al Report. First Session–Thirty-Second Parliament. 29 Elizabeth II. Volume II. 1980, 1977

: Constitution Act, 1981. 1981

: Réunion des premiers ministres sur la Constitution. Accord constitutionel de 1987 [Meech Lake Accord]. 1987

: Shaping Canada’s Future Together. Proposals. Ottawa, 1991

Canada: Consensus Report On the Constitution, Charlottetown [Charlottetown Ac- cord]. Ottawa, 1992

Carens, Joseph H.: Culture, Citizenship, and Community. A Contextual Exploration of Justice and Evenhandedness. Oxford, 2000

Chaudhuri, Joyotpaul: American Indian Policy: An Overview. In: Vine Deloria (Hrsg.): American Indian Policy in the Twentieth Century. Norman, 1985, 15– 33

Chrétien, Jean: The Negotiation of the Charter: The Federal Government Perspective. In: Joseph M. Weiler und Robin M. Elliott (Hrsg.): Litigating the Values of a Nation: The Canadian Charter of Rights and Freedoms. Toronto, 1986, 5–11

215 : Bringing the Constitution Home. In: Thomas Axworthy und Pierre El- liott Trudeau (Hrsg.): Towards a Just Society. The Trudeau Years. Toronto, 1992, 326–353

Christiano, Kevin J.: Pierre Elliott Trudeau. Reason Before Passion. Toronto, 1994

Claude, Inis: National Minorities: An International Problem. Cambridge (Mass.), 1955

Cornell, Stephen: The Return of the Native: American Indian Political Resurgence. New York, 1988

Couture, Claude: La loyauté d’un laïc. Pierre Elliott Trudeau et le libéralisme cana- dien. Montréal, 1996

Craig, Gerald M.: Introduction. In: ders. (Hrsg.): Lord Durham’s Report. An Ab- ridgement of Report on the Affairs of British North America by Lord Durham. Toronto und Montreal, 1963, i – xii

Creighton, Donald: The Road to Confederation: The Emergence of Canada 1863- 1867. Toronto, 1965

Day, Richard J. F.: Multiculturalism and the History of Canadian Diversity. Toronto, Buffalo und London, 2000

Dickason, Olive Patricia: Canada’s First Nations. A History of Founding Peoples from Earliest Times. Toronto, 1992

Dickson-Gilmore, E. J.: Finding the Ways of the Ancestors: Cultural Change and the Invention of Tradition in the Development of Separate Legal Systems. In: Canadian Journal of Criminology 34 1992, 479–516

Dimitras, Panayote und Nafsika Papanikolatos: Reflections on Minority Rights Po- litics for East Central European Countries. In: Will Kymlicka und Magda Opalski (Hrsg.): Can Liberal Pluralism be Exported? Western Political and Eth- nic Relations in Eastern Europe. Oxford, 2001, 186–199

Dion, Stéphane: Explaining Quebec Nationalism. In: Kent R. Weaver (Hrsg.): The Collapse of Canada? Toronto, 1992, 77–121

Doran, Charles F.: Why Canadian Unity Matters and Why Americans Care. Toronto, 2001

216 Doroszewska, Urzula: Rethinking the State, Minorities, and National Security. In: Will Kymlicka und Magda Opalski (Hrsg.): Can Liberal Pluralism be Expor- ted? Western Political and Ethnic Relations in Eastern Europe. Oxford, 2001, 126–134

Durham, John George Lambton (Lord Durham): Report to the Queen’s Most Ex- cellent Majesty [Durham-Report.]. In: Gerald M. Craig (Hrsg.): Lord Dur- ham’s Report. An Abridgement of Report on the Affairs of British North Ame- rica by Lord Durham. Toronto und Montreal, 1963, 13–174

Eisenberg, Avigal: The Politics of Individual and Group Difference in Canadian Ju- risprudence. In: Canadian Journal of Political Science xxvii:1 1994, 3–21

Fierlbeck, Katherine: The Ambivalent Potential of Cultural Identity. In: Canadian Journal of Political Science xxix:1 1996, 3–22

Gebhardt, Jürgen: Die Idee der Verfassung: Symbol und Instrument. In: Adolf Kim- mel (Hrsg.): Verfassung als Fundament und Instrument der Politik. Baden- Baden, 1995, 9–23

: Einleitung. In: ders. (Hrsg.): Verfassung und politische Kultur. Baden- Baden, 1999a, 7–14

: Verfassung und Politische Kultur in Deutschland. In: ders. (Hrsg.): Verfas- sung und politische Kultur. Baden-Baden, 1999b, 15–32

Gebhardt, Jürgen: Verfassung und Symbolizität. In: Gert Melville (Hrsg.): Insti- tutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Sonderdruck. Köln, 2001, 585–601

Ghai, Yash: Constitution-making in a new Iraq. Challenges for establishing inclusi- ve democracy. In: Mark Lattimer und Yashia Said ders. (Hrsg.): Building Democracy in Iraq. Report der Minority Rights Group International. London, 2003, 27–38

Gibbins, Roger: Canadian Indians and the Canadian Constitution: A Difficult Pas- sage Toward an Uncertain Destination. In: J. Rick Ponting (Hrsg.): Arduous Journey. canadian indians and decolonization. Toronto, 1986, 302–316

Glazer, Nathan: Affirmative Discrimination: Ethnic Inequality and Public Policy. New York, 1975

: Ethnic Dilemmas 1964-1982. Cambridge (Mass.) und London, 1983

: We are all multiculturalists now. Cambridge (Mass.), 1997

217 Grant, George: English-speaking Justice. Sackville, 1985

: Lament for a Nation. The Defeat of Canadian Nationalism. Ottawa, 1988

Green, Leslie: Internal Minorities and their Rights. In: Will Kymlicka (Hrsg.): The Rights of Minority Cultures. Oxford, 1995, 256–272

Gumbrecht, Hans-Ulrich: Ten Brief Reflections on Institutions and Re/Presentation. In: Gert Melville (Hrsg.): Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigun- gen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Sonderdruck. Köln, 2001, 70–75

Hamilton, Alexander, James Madison und John Jay: The Federalist Papers. With a New Introduction and Notes by Charles R. Kesler. New York, 1999

Henkin, Louis: Constitutionalism and Human Rights. In: Albert J. Rosenthal (Hrsg.): Constitutionalism and Rights. The Influence of the United States Con- stitution Abroad. New York, 1990a, 383–395

: Introduction. In: Albert J. Rosenthal (Hrsg.): Constitutionalism and Rights. The Influence of the United States Constitution Abroad. New York, 1990b, 1–15

Henkin, Louis und Albert J. Rosenthal: Constitutionalism and Rights. The Influence of the United States Constitution Abroad. New York, 1990

Himmelfarb, Gertrude: Introduction. In: dies. (Hrsg.): John Emerich Edward Acton (First Baron Acton): Essays on Freedom and Power. Boston, 1949, xv–lxvi

Hobsbawn, Eric: Introduction: Inventing Traditions. In: Terence Ragner (Hrsg.): The Invention of Tradition. Cambridge, 1992, 1–14

Hollinger, David A.: Postethnic America. New York, 1995

Howe, Joseph: Pamphlet issued in Nova Scotia 1866. In: J. M. Bliss (Hrsg.): Cana- dian History in Documents. Toronto, 1966, 125f

Indian Chiefs of Alberta: Citizens Plus. A Presentation by the Indian Chiefs of Al- berta to Right Honourable P.E. Trudeau, Prime Minister and the Government of Canada. Edmonton, 1970

Isaac, Thomas: Individual versus Collective Rights: Aboriginal People and the Signi- ficance of Thomas v. Norris. In: Manitoba Law Journal 21 1992, 618–630

: The Power of Constitutional Language: The Case Against Using »Aboriginal Peoples« as a Referent for First Nations. In: Queens Law Journal, vol. 19, S. 415-442, 1993

218 : und Maloughney, Mary Sue: Dually Disadvantaged and Historically Forgotten?: Aboriginal Women and the Inherent Rights of Aboriginal Self- Government. In: Manitoba Law Journal 21 1992, 453– 475

Jackson, Robert und Doreen Jackson: Politics in Canada. Scarborough, 1998

Juteau, Danielle: The Citizen makes an Entrée: Redefining the National Community in Quebec. In: Citizenship Studies 6, Number 4 December 2002, 441–458

Kende, Pierre: L’optimisme institutionnel des élites postcommunistes. In: Yves Mény (Hrsg.): Les politiques du mimétisme institutionnel. La greffe et le rejet. Paris, 1993, 237–247

Kolstø, Pål: Territorial Autonomy as a Minority Rights Regime in Post-Communist Societies. In: Will Kymlicka und Magda Opalski (Hrsg.): Can Liberal Plu- ralism be Exported? Western Political and Ethnic Relations in Eastern Europe. Oxford, 2001, 200–219

Kukathas, Chandran: Are There any Cultural Rights? In: Will Kymlicka (Hrsg.): The Rights of Minority Cultures. Oxford, 1995, 228–256

: Cultural Toleration. In: Ian Shapiro und Will Kymlicka (Hrsg.): Ethnicity and Group Rights. New York und London, 1997, 69–104

Kwochka, Daniel: Aboriginal Injustice: Making Room for a Restorative Paradigm. In: Saskatchewan Law Review 60 1996, 153–187

Kymlicka, Will: Liberalism, Community, and Culture. Oxford, 1989

: The Rights of Minority Cultures: Reply to Kukathas. In: Political Theory 20/1 1992a, 140–146

: Two Models of Pluralism and Tolerance. In: Analyse und Kritik 14/1 1992b, 33–56

: Multicultural Citizenship. Oxford, 1995

: Finding Our Way. Rethinking Ethnocultural Relations in Canada. Oxford, 1998a

: Is federalism a viable alternative to secession? In: Percy B. Lehning (Hrsg.): Theories of Secession. London und New York, 1998b, 113–150

: Multikulturalismus und Demokratie. Uber Minderheiten in Staaten und Na- tionen. Hamburg, 1999

219 : The New Debate over Minority Rights. In: Ronald Beiner und Wayne Nor- man (Hrsg.): Canadian Political Philosophy. Contemporary Reflections. Ox- ford, 2001a, 159–176

: Reply and Conclusion. In: Will Kymlicka und Magda Opalski (Hrsg.): Can Liberal Pluralism be Exported? Western Political and Ethnic Relations in Eastern Europe. Oxford, 2001b, 347–408

: Western Political Theory and Ethnic Relations. In: Magda Opalski (Hrsg.): Can Liberal Pluralism be Exported? Western Political Theory and Ethnic Rela- tions in Eastern Europe. Oxford, 2001c, 13–105

: Being Canadian. In: Government and Opposition. An International Journal of Comparative Politics Volume 38:3 Summer 2003, 357–385

Kymlicka, Will und Magda Opalski: Introduction. In: dies. (Hrsg.): Can Liberal Pluralism be Exported? Western Political Theory and Ethnic Relations in Ea- stern Europe. Oxford, 2001, 1–10

Laczko, Leslie: Canada’s Pluralism in Comparative Perspective. In: Ethnic and Ra- cial Studies 17:1 1994, 20–41

Laforest, Guy: Trudeau et la fin d’un rêve Canadien. Québec, 1992

Landry, Bernard: La cause du Québec. Montréal, 2002

LaRocque, Emma: Re-examining Culturally Appropriate Models in Criminal Justice Applications. In: Michael Asch (Hrsg.): Aboriginal and Treaty Rights in Ca- nada. Essays on Law, Equality, and Respect for Difference. Vancouver, 1997, 75–96

LaSelva, Samuel: The Moral Foundations of Canadian Federalism. Paradoxes, Achie- vements, and Tragedies of Nationhood. Montreal, 1996

Lattimer, Mark: Challenges for establishing inclusive democracy. In: ders. und Ya- shia Said Yash Ghai (Hrsg.): Building Democracy in Iraq. Report der Minority Rights Group International. London, 2003, 5–15

Laxer, James und Robert Laxer: The Liberal Idea of Canada. Pierre Trudeau and the Question of Canadas Survival. Toronto, 1977

Lévesque, René: Textes et entrevues 1960-1987. Textes colligés par Michel Lévesque en collaboration avec Rachel Casaubon. Québec, 1991

Macdonald, John A.: Letter to a Lower Canadian Journalist. In: J. M. Bliss (Hrsg.): Canadian History in Documents. Toronto, 1966, 96f

220 Macklem, Patrick und Roger Townshend: Resorting to Court: Can the Judiciary Deliver Justice for First Nations? In: Diane Engelstad und John Bird (Hrsg.): Nation to Nation. Aboriginal Sovereignty and the Future of Canada. Concord, 1992, 78–87

Mann, Golo: Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main, 1999

McCormick, Peter: Supreme at Last. The Evolution of the Supreme Court of Canada. Toronto, 2000

McDonnell, Roger F.: Contextualizing the investigation of customary law in contem- porary native communities. In: Canadian Journal of Criminology July-October 1992, 299–315

McNeil, Kent: Envisaging Constitutional Space for Aboriginal Governments. In: Queens Law Journal 19 1993, 95–136

: The Meaning of Aboriginal Title. In: Michael Asch (Hrsg.): Aboriginal and Treaty Rights in Canada. Essays on Law, Equality, and Respect for Difference. Vancouver, 1997, 135–154

Mény, Yves: Introduction: La greffe et le rejet. In: ders. (Hrsg.): Les politiques du mimétisme institutionnel. La greffe et le rejet. Paris, 1993, 7–38

Mewes, Horst: Verfassungsdiskurs in den USA am Beispiel der Liberalismustheori- en von Rawls und Ackerman. In: Jürgen Gebhardt (Hrsg.): Verfassung und politische Kultur. Baden-Baden, 1999, 55–74

Mill, John Stuart: Autobiography. London, 1989

: Considerations on Representative Government. In: John Gray (Hrsg.): John Stuart Mill: On Liberty and Other Essays. Oxford, 1998, 205–467

Morton, F. L.: Group Rights versus Individual Rights in the Charter: The Special Cases of Natives and the Quebecois. In: Neil Nevitte und Allan Kornberg (Hrsg.): Minorities and the Canadian State. Oakville, 1985, 71–84

Murray, James: Letter to the Lords of Trade. In: J. M. Bliss (Hrsg.): Canadian Hi- story in Documents. Toronto, 1966, 3

Nagara, Biko: A Decade of Setbacks and Accomplishments. In: UN Chronicle On- line Edition Stand November 2003 hURL: http://www.un.org/Pubs/ chronicle/2003/webArticles/111103_decades.aspi

221 Nagel, Joane: Constructing Ethnicity: Creating and Recreating Ethnic Identity and Culture. In: Social Problems 41 February 1994, 152–176

Neckel, Sighard: Die ethnische Konkurrenz um das Gleiche. Erfahrungen aus den USA. In: Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen? Frankfurt am Main, 1997, 255–275

Nightingale, Margo L.: Judicial Attitudes and Differential Treatment: Native Women in Sexual Assault Cases. In: Ottawa Law Review 23:1 1991, 71–98

O’Brien, Sharon: Cultural Rights in the United States: A Conflict of Values. In: Law and Inequality Journal 5 1987, 267–358

Opalski, Magda: Can Will Kymlicka Be Exported to Russia? In: Will Kymlicka und Magda Opalski (Hrsg.): Can Liberal Pluralism be Exported? Western Political and Ethnic Relations in Eastern Europe. Oxford, 2001, 298–319

Otis, Ghislain und André Edmond: L’identité autochtone dans les traités contempo- rains: de l’extinction à l’affirmation du titre ancestral. In: McGill Law Journal 41 1996, 543–570

Parizeau, Jacques: Le Québec et la mondialisation. Une bouteille à la mer? Montréal, 1998

Parti Québécois: Programme. Québec, 1969

: Programme du Parti Québécois. Québec, 1982

Pomerance, Michla: Self-Determination in Law and Practice: The New Doctrine of the United Nations. Den Haag, 1982

RAND: America’s Role in Nation-Building: From Germany to Iraq. Santa Monica, 2003

Rapaczynski, Andzrej: Bibliographical Essay: The Influence of U.S. Constitutiona- lism Abroad. In: Louis Henkin und Albert J. Rosenthal (Hrsg.): Constitu- tionalism and Rights. The Influence of the United States Constitution Abroad. New York, 1990, 405–462

Rawls, John: A Theory of Justice. Oxford, 1971

: The Basic Structure as Subject. In: Alvin I. Goldman und Jaegwon Kim (Hrsg.): Values and Morals. Essays in Honor of William Frankena, Charles Ste- venson, and Richard Brandt. London, 1978, 47–71

Rawls, John: Political Liberalism. New York, 1993

222 : The Law of Peoples. Cambridge, 1999

Reesor, Bayard: The Canadian Constitution in Historical Perspective. With a clause- by-clause Analysis of the Constitution Acts and the Canada Act. Scarborough, 1992

Rehberg, Karl-Siegbert: Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen. In: Gerhard Göhler (Hrsg.): Die Eigenart der Institutionen: Zum Profil politischer Institutionentheorie. Baden Baden, 1994, 47–84

: Weltrepräsentanz und Verkörperung. In: Gert Melville (Hrsg.): Institutiona- lität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergan- genheit und Gegenwart. Sonderdruck. Köln, 2001, 3–49

Resnik, Judith: Dependent Sovereigns: Indian Tribes, States, and the Federal Courts. In: University of Chicago Law Review 56 1989, 671–759

Ritter, Henning: Spannung zwischen Zentralismus und Föderalismus. Die »Federalist Papers« als Vorbilder der Verfassungsdebatte in der Europäischen Union. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 23. November 2003, 10

Russell, Peter H.: Constitutional Odyssey. Can Canadians Become a Sovereign Peo- ple? Toronto, 1993

Sagarin, Edward und Robert J. Kelly: Polylingualism in the United States of Ameri- ca: A Multitude of Tongues amid a Monolingual Majority. In: William R. Beer und James E. Jacob (Hrsg.): Language Policy and National Unity. Totowa, 1985, 20–44

Said, Yahia: Post-totalitarian transition in Iraq. Challenges for establishing inclusive democracy. In: Mark Lattimer und ders. Yash Ghai (Hrsg.): Building Demo- cracy in Iraq. Report der Minority Rights Group International. London, 2003, 16–26

Sandel, Michael J.: Liberalism and the Limits of Justice. Cambridge, 1996

Sawatsky, Len: Self-Determination and the Criminal Justice System. In: Diane En- gelstad und John Bird (Hrsg.): Nation to Nation. Aboriginal Sovereignty and the Future of Canada. Concord, 1992, 88–97

Saywell, John T.: Introduction. In: Pierre Elliott Trudeau (Hrsg.): Federalism and the French Canadians. New York, 1968, vii–xiii

223 Schily, Otto: Ich möchte keine zweisprachigen Ortsschilder haben. Otto Schily (SPD) zum Zuwanderungs- und Integrationsgesetz. Interview in der Süddeutschen Zei- tung vom 27. Juni 2002. 2002

Schöpflin, George: Liberal Pluralism and Post-Communism. In: Will Kymlicka und Magda Opalski (Hrsg.): Can Liberal Pluralism be Exported? Western Political and Ethnic Relations in Eastern Europe. Oxford, 2001, 109–125

Schouls, Tim, John Olthuis und Diane Engelstad: The Basic Dilemma: Sovereignty or Assimilation. In: Diane Engelstad und John Bird (Hrsg.): Nation to Nation. Aboriginal Sovereignty and the Future of Canada. Concord, 1992, 12–27

Silman, Janet: Enough is Enough. Aboriginal Women Speak Out. Toronto, 1987

Simpson, Jefferey: Star-Spangled Canadians: Canadians Living the American Dream. Toronto, 2000

Slattery, Brian: The Constitutional Guarantee of Aboriginal and Treaty Rights. In: Queens Law Journal 8 1983, 232–273

: Understanding Aboriginal Rights. In: Thomas Isaac (Hrsg.): Readings in Aboriginal Studies. Volume 5: Aboriginal People and Canadian Law. Brandon, 1996, 5–64

Smiley, Donald W.: The Case against the Canadian Charter of Human Rights. In: Paul W. Fox (Hrsg.): Politics: Canada. Toronto, 1977, 567–577

Taylor, Charles: Shared and Divergent Values. In: Ronald L. Watts und Douglas M. Brown (Hrsg.): Options for a New Canada. Toronto, Buffalo und London, 1991, 53–76

: The Politics of Recognition. In: Amy Gutmann (Hrsg.): Multiculturalism. Examining the Politics of Recognition. Princeton, 1994, 25–73

Taylor, Charles: Deep Diversity and the Future of Canada. In: Royal Society of Ca- nada (Hrsg.): Can Canada Survive? Under What Terms and Conditions? Otta- wa, 1996

Thornberry, Patrick: International Law and the Rights of Minorities. Oxford, 1991

: The UN Declaration on the Rights of Persons Belonging to National or Eth- nic, Religious and Linguistic Minorities: Background, Analysis, Observations, and an Update. In: Alan Phillips und Allan Rosas (Hrsg.): Universal Minority Rights. London, 1995, 13–63

224 Thunert, Martin: Grundrechtspatriotismus in Kanada? Zur politischen Integrations- funktion der Canadian Charter of Rights and Freedoms. Bochum, 1992

Tocqueville, Alexis de: De la Démocratie en Amérique. Paris, 1963

Trudeau, Pierre Elliott: Avant-propos. In: ders. (Hrsg.): Federalism and the French Canadian. New York, 1968a, v–xiii

: A Constitutional Declaration of Rights. An Address to the Canadian Bar As- sociation, Sept. 4, 1967. In: ders. (Hrsg.): Federalism and the French Cana- dians. New York, 1968b, 52–60

: Federalism, Nationalism, and Reason. In: Federalism and the French Cana- dians. New York, 1968c, 182–203

: Foreword. In: ders. (Hrsg.): Federalism and the French Canadians. New York, 1968d, xix–xxvi

: La nouvelle trahison des clercs. In: ders. (Hrsg.): Le fédéralisme et la société canadienne francaise. Paris, 1968e, 161–190

: La pratique et la théorie du fédéralisme. In: ders. (Hrsg.): Le fédéralisme et la société canadienne francaise. Paris, 1968f, 131–158

: Le Québec et le problème constitutionnel. In: ders. (Hrsg.): Le fédéralisme et la société canadienne francaise. Paris, 1968g, 9–59

: Les octrois fédéraux aux universités. In: ders. (Hrsg.): Le fédéralisme et la société canadienne francaise. Paris, 1968h, 81–103

: Les séparatistes: des contre-révolutionnaires. In: ders. (Hrsg.): Le fédéralis- me et la société canadienne francaise. Paris, 1968i, 219–227

: The Practice and Theory of Federalism. In: ders. (Hrsg.): Federalism and the French Canadians. New York, 1968j, 124–150

: Some Obstacles to Democracy in Quebec. In: ders. (Hrsg.): Federalism and the French Canadians. New York, 1968k, 103–123

: La province de Québec au moment de la grève. In: ders. (Hrsg.): La grève de l’amiante. Montréal, 1970a, 1–91

: Les Droits de lhomme et la suprématie parlementaire. In: Allan Gotlieb (Hrsg.): Human rights, federalism, and minorities. Toronto, 1970b, 3–15

225 : Announcement of Implementation of Policy of Multiculturalism within Bi- lingual Framework. In: Canada (Hrsg.): House of Comons Debates. Official Report. Third Session–Twenty-Eighth Parliament. 20 Elizabeth II. Volume III. 1971, 8545f

: Conversation with Canadians. Toronto und Buffalo, 1972

: Discours à la chambre de commerce de Québec le 28 janvier 1977. Montréal, 1977a

: Proposal for a Constitutional Charter of Human Rights. In: Paul W. Fox (Hrsg.): Politics: Canada. Toronto, 1977b, 559–567

: Comme gâchis total, il serait difficil d’imaginer mieux. Un article de Pierre Elliott Trudeau pour La Presse, 27 mai 1987. In: Donald Johnston (Hrsg.): Lac Meech. Trudeau parle... Montréal, 1989a, 19–32

: Il doit y avoir un sens d’appartenance. Présentation de Pierre Elliott Trudeau devant les membres du Comité mixte spécial du Sénat et de la Chambre des communes, 27 août 1987. In: Donald Johnston (Hrsg.): Lac Meech. Trudeau parle... Montréal, 1989b, 33–45

: Nous, le peuple du Canada. Présentation de Pierre Elliott Trudeau devant le comité sénatorial, 30 mars 1988. In: Donald Johnston (Hrsg.): Lac Meech. Trudeau parle... Montréal, 1989c, 46–115

Trudeau, Pierre Elliott: We, the People of Canada. Pierre Trudeau’s testimony to the Senate Submissions Group on the Meech Lake Constitutional Accord. In: Donald Johnston (Hrsg.): With a Bang, Not a Whimper, Pierre Trudeau Speaks Out. Toronto, 1989d, 36–105

: A mess that deserves a big NO! The October Speech that rocked the coun- try, followed by a salient question-and-answer period, and the complete press conference afterwards. Toronto, 1992a

: The Values of a Just Society. In: Thomas S. Axworthy und ders. (Hrsg.): Towards a Just Society. The Trudeau Years. Toronto, 1992b, 401–429

: Memoirs. Toronto, 1993

: Je suis croyant. In: Gérard Pelletier (Hrsg.): Pierre Elliott Trudeau: A contre-courant. Textes choisis 1939-1996. Montréal., 1996a, 299–301

: L’ascétisme en canot. In: Gérard Pelletier (Hrsg.): Pierre Elliott Trudeau: A contre-courant. Textes choisis 1939-1996. Montréal, 1996b, 21–25

226 : Patriation and the Supreme Court. In: Gérard Pelletier (Hrsg.): Against the Current. Selected Writings 1939-1996. Toronto, 1996c, 246–261

: We Need a Bill of Rights (1). In: Gérard Pelletier (Hrsg.): Pierre Elliott Trudeau: Against the Current. Selected Writings 1939-1996. Toronto, 1996d, 214–216

: The essential Trudeau; zusammengestellt von Ron Graham. Toronto, 1998

Tsilevich, Boris: New Democracies in the Old World: Remarks on Will Kymlicka’s Ap- proach to Nation-building in Post-Communist Europe. In: Will Kymlicka und Magda Opalski (Hrsg.): Can Liberal Pluralism be Exported? Western Political and Ethnic Relations in Eastern Europe. Oxford, 2001, 154–170

Tsosie, Regina: Sacred Obligations: Intercultural Justice and the Discourse of Treaty Rights. In: University of California Law Review 47 2000, 1615–1671

Turpel, Mary Ellen: The Charlottetown Discord and Aboriginal Peoples’ Struggle for Fundamental Political Change. In: Kenneth McRoberts und Patrick J. Monahan (Hrsg.): The Charlottetown Accord, the Referendum, and the Future of Canada. Toronto, 1993, 117–151

United Kingdom: By the King, A Proclamation. [Royal Proclamation October 7, 1763]. 1763

: An Act making more effectual Provision for the Government of the Province of Quebec in North America. [The Quebec Act, 1774]. 1774

: An Act to repeal certain Parts of an Act, passed in the fourteenth Year of his Majesty’s Reign, intituled, An Act for making more effectual Provision for the Government of the Province of Quebec, in North America; and to make further Provision for the Government of the Said Province. [The Constitutional Act, 1791]. 1791

United Nations: Report of the Secretary-General on the Work of the Organization. In: General Assembly. Official Records. Fifty-eighth Session. Supplement No.1 (A/58/1) 2003, 1–50

Várady, Tibor: On the Chances of Ethnocultural Justice in East Central Europe. In: Will Kymlicka und Magda Opalski (Hrsg.): Can Liberal Pluralism be Expor- ted? Western Political and Ethnic Relations in Eastern Europe. Oxford, 2001, 135–149

Vastel, Michel: Trudeau le Québécois. Montréal, 2000

227 Vorländer, H.: Die Verfassung. Idee und Geschichte. München, 1999

Waite, P. B. (Hrsg.): The Confederation Debates in the Province of Canada, 1865. Toronto, 1963

Waldron, Jeremy: Minority Cultures and the Cosmopolitan Alternative. In: Will Kymlicka (Hrsg.): The Rights of Minority Cultures. Oxford, 1995, 93–119

Walker, Brian: Plural Cultures, Contested Territories: A Critique of Kymlicka. In: Canadian Journal of Political Science xxx:2 1997, 211–234

Walzer, Michael: Spheres of Justice. Basic Books, 1983

: Comment. In: Amy Gutmann (Hrsg.): Multiculturalism. Examining the Po- litics of Recognition. Princeton, 1992a, 99–103

: What It Means to Be an American. New York, 1992b

: On Toleration. New Haven und London, 1997

Weaver, Sally: Making Canadian Indian Policy. The Hidden Agenda 1968-1970. To- ronto, 1981

: First Nations Women and Government Policy, 1970-1992: Discrimination and Conflict. In: Lorraine Code und Lindsay Dorney Sandra Burt (Hrsg.): Chan- ging Patterns. Women in Canada. Toronto, 1993, 92–150

Webber, Jeremy: Reimagining Canada: Language, Culture Community and the Ca- nadian Constitution. Montreal, 1994

228

Lebenslauf

Am 15.05.1975 wurde ich in Bad Säckingen geboren. Nach der Absolvierung der vier- jährigen Grundschule in Rheinfelden/Minseln wechselte ich 1985 auf das Gymnasium Rheinfelden, wo ich 1994 mein Abitur ablegte. Von August 1994 bis Juli 1995 war ich Student am Leibniz Kolleg in Tübingen. Im Wintersemester 1995 nahm ich an der Universität Bamberg das Studium der Diplom- Politologie (Nebenfächer: BWL, Statistik, Andragogik und Philosophie) auf und wur- de 1996 in die Studienstiftung des deutschen Volkes aufgenommen. 1997 legte ich mein Vordiplom ab. Im August 1998 wechselte ich für ein durch den DAAD geför- dertes Auslandsstudium in Politologie und französischer Literatur an die Universität Stockholm/Schweden und war anschließend von Mai bis Juli 1999 Visiting Student an der Universität York/England. Im Wintersemester 1999 habe ich mein Studium der Diplom-Politologie an der Universität Erlangen-Nürnberg fortgesetzt und dort im März 2001 das Diplom in Politologie abgelegt. Im April 2001 nahm ich im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs »Kulturherme- neutik im Zeichen von Differenz und Transdifferenz« meine Dissertation auf. Im Okto- ber und November 2003 war ich Visiting Fellow an der Universität Kingston/Ontario. Seit Oktober 2005 bin ich als wissenschaftlicher Volontär an der Thüringischen Uni- versitäts- und Landesbibliothek Jena beschäftigt.