umschlag04.qxd 18.03.0408:08Seite1 PVSt, DP AG, Entgeltbezahlt,H54226 80,10117Berlin EZW, Auguststraße

ISSN 0721-2402 H 54226 MATERIALDIENST für Weltanschauungsfragen Evangelische Zentralstelle Unterschiedliche Rechtsauslegungen Umstrittene „Schenkkreise“ Neue Initiativen der Society Virtuelle Kosmetik alsProgramm Kochsendungen imFernsehen Die Verwandlung desGewöhnlichen Der neueMarktkirchenferner Riten freie Ritendesigner Freie Theologen, freie Redner, Jahrgang 67. Weltanschauungsfragen Religions- und Zeitschrift für 4 / 04 inhalt04.qxd 18.03.04 09:58 Seite 121

INHALT MATERIALDIENST 4/2004

IM BLICKPUNKT

Andreas Fincke Freie Theologen, freie Redner, freie Ritendesigner Der neue Markt kirchenferner Riten 123

DOKUMENTATION

Ulrich Dehn Entschleierung des Schleiers 135

BERICHTE

Michael Nüchtern Die Verwandlung des Gewöhnlichen Warum boomen Kochsendungen im Fernsehen? 138

Matthias Pöhlmann Virtuelle Kosmetik als Programm Neue Initiativen der umstrittenen Thelema Society Michael D. Eschners 142

INFORMATIONEN

Esoterik Kawwana am Ende? Kerstin und Thorwald Dethlefsen laden zu „Privat“-Veranstaltungen ein 146

Adventisten Der Antichrist in der ACK 147

Anthroposophie www.rudolf-steiner.com: Datenbank zu Schriften Rudolf Steiners im Internet 149

Erweckungs- und Erneuerungsbewegungen Samuel Külling gestorben 149 inhalt04.qxd 18.03.04 09:58 Seite 122

Neue religiöse Bewegungen Shoko Asahara zum Tode verurteilt 150 Lila Suka und weitere Anhänger der spirituellen Lebensgemeinschaft AUM verurteilt 151 Nation of Islam in Deutschland 152

Charismatische Bewegungen Die Theologie des Vineyard 153

Gesellschaft Unterschiedliche Rechtsauslegungen in zwei Schenkkreis-Prozessen 155

BÜCHER

Reiner Preul So wahr mir Gott helfe! Religion in der modernen Gesellschaft 156

Diethard Sawicki Leben mit den Toten Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900 157 inhalt04.qxd 18.03.04 09:58 Seite 123

IM BLICKPUNKT

Andreas Fincke Freie Theologen, freie Redner, freie Ritendesigner Der neue Markt kirchenferner Riten

Im Internet bietet eine Diplom-Theologin al- Wenn in Berlin in den letzten drei Jahren ternative Hochzeiten an. „Christlich, aber Beerdigungen mit kirchlichem Geleit von nicht in der Amtskirche“, „weltlich, aber mit knapp 40 Prozent auf 35 Prozent zurück- feierlicher Zeremonie“ und „irgendwie an- gegangen sind,2 so heißt das konkret, dass ders, (aber) ganz persönlich und unkonven- heute in Berlin prozentual weniger Men- tionell“.1 Besser kann man die Befindlich- schen mit kirchlichem Geleit beerdigt wer- keit vieler Zeitgenossen kaum erfassen: Man den als selbst 1980 in der DDR.3 In eini- wünscht sich (zumindest in Deutschland- gen ostdeutschen Städten ist die Lage je- West) ein wenig von der christlichen Tradi- doch noch bedrückender als in der Haupt- tion – und geht schnell auf Distanz zur Insti- stadt: In Neustrelitz, einer Kleinstadt in tution, man möchte es ohne Kirche, aber Mecklenburg-Vorpommern, werden nur doch feierlich. Also: In der Kirche ohne Kir- noch 20 Prozent der Beerdigungen kirch- che und schließlich „anders“, was immer lich verantwortet, in Halle/S. liegt die das ist, und doch – ganz persönlich. Quote kirchlicher Bestattungen schon seit einigen Jahren bei lediglich 12 Prozent.4 Bestattungskultur im Wandel Eigenartig ist, dass in Händels Geburts- stadt der Anteil kirchlicher Bestattungen Je nach Art des gewünschten Rituals ist der 1990 noch bei immerhin 20 Prozent lag; Bedarf an kirchlichem Bezug unterschied- der zu konstatierende Rückgang in den lich. Alternative Taufen oder „Begrüßungs- Jahren nach der Wiedervereinigung wäre feiern“ für ein neugeborenes Kind sind re- erklärungsbedürftig.5 Bundesweit wurden lativ selten anzutreffen, bei Eheschließun- im Jahre 2001 39 Prozent der Verstorbe- gen wird die Distanz vieler Menschen zur nen evangelisch bestattet, etwa 32 Prozent Kirche schon sichtbarer. Bestattungen fin- katholisch.6 den zwar überwiegend noch mit kirchli- Inzwischen werden auch immer mehr Kir- cher Begleitung statt, gravierende Verän- chenmitglieder nicht mehr kirchlich be- derungen zeichnen sich jedoch auch ab. stattet: in den alten Bundesländern mittler- So ist in Berlin der Anteil der Beerdigun- weile ca. 10 Prozent, in den neuen Bun- gen, die mit kirchlichem Geleit erfolgen, desländern ist der Anteil noch etwas allein in den letzten drei Jahren nochmals größer. Bundesweit werden nur mehr 88 deutlich gesunken und hat einen histori- Prozent der evangelischen Kirchenglieder schen Tiefststand erreicht. Mit anderen auch evangelisch bestattet.7 Worten: Die Bestattungskultur ist wie noch Mit dem Rückgang kirchlicher Bestattun- nie in Bewegung geraten – und das ist ein gen geht offenbar auch ein Anstieg anony- Indiz für weitgehende Veränderungen auf mer Bestattungen einher – wenngleich dem Markt der (kirchenfernen) Riten. letztere auch kirchlich begleitet sein kön-

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nen. In Berlin erfolgen derzeit knapp 40 bemühen. Vorerst erscheint der Sprachge- Prozent der Bestattungen anonym.8 Zum brauch „freie Redner“ sachgemäß und anderen gibt es immer mehr Trauerfeiern genügt für unseren Kontext. und Bestattungen unter Mitwirkung eines Bundesweit dürfte es etwa 500 freie sogenannten „weltlichen Redners“ bzw. Redner/innen geben. Deren Zahl steigt, eines „freien Trauerredners“. Hier lassen weil einerseits die Quote kirchlicher Be- sich gravierende Unterschiede zwischen stattungen rückläufig ist und andererseits Deutschland West und Ost feststellen. immer mehr Sozialpädagogen, Psycholo- Während in den alten Bundesländern die gen und Theologen – aus unterschied- Mitwirkung eines freien Redners gegen- lichen Gründen – für sich berufliche Alter- wärtig noch als Sonderfall gilt, ist in Ost- nativen suchen. In den letzten Jahren ha- deutschland die „weltliche“ Trauerfeier ben einige der freien Redner Berufsver- zum sozialen Normalfall geworden.9 Zur bände gegründet, um die Qualität der Ar- Illustration sei erneut auf Halle/S. verwie- beit zu sichern und die eigenen Interessen sen: Hier werden derzeit 48 Prozent aller in der Öffentlichkeit besser wahrnehmen Bestattungen von einem weltlichen Red- zu können. ner begleitet.10 Bestattungen mit freien Rednern gehen his- Bevor wir uns diesem Thema genauer zu- torisch auf die Freidenkerbewegung zu- wenden, einige Anmerkungen zum Sprach- rück. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts setz- gebrauch. Traditionell bezeichnet man die ten sich die Freidenker in bewusster Ab- nichtkirchlichen Beerdigungsredner als grenzung von den christlichen Kirchen für „Redner“ bzw. als „freie (Trauer-)Redner“. die Feuerbestattung und für Beisetzungs- Sie selbst bezeichnen sich als „freie Spre- feiern ohne kirchliches Geleit ein.12 Mit cher“ und grenzen sich damit von kirchli- der Machergreifung der Nationalsozialis- chen Amtspersonen ab, die eben nicht ten wurden die Freidenker und die „Feuer- „frei“, sondern an ihr Amt gebunden sind. bestattungsvereine“ jedoch verboten und Weit verbreitet ist auch die Formel „welt- diese Ansätze einer nicht-kirchlichen Be- liche Trauer- (bzw. Beerdigungs)redner“. stattungskultur unterbunden. Nach 1945 Diese Formel ist insofern schwierig, als das entstanden in Deutschland (West) schon Pendant fehlt: Es gibt keine „kirchlichen bald neue Gruppen und Initiativen, die im (Beerdigungs-) Redner“. In der DDR Kontext freidenkerischer Orientierungen wurde sogar die Rede von „sozialistischen Bestattungen für kirchenferne beziehungs- Trauerrednern“ bzw. „sozialistischen Trau- weise konfessionslose Menschen organi- erfeiern“ eingeführt, umgangssprachlich sierten. blieb man jedoch bei der Formel „welt- In der DDR forcierte die SED das Entstehen liche Redner“.11 Dieser Ausdruck ist nach einer weltlichen Bestattungskultur: einer- wie vor in den neuen Bundesländern weit seits um die Kirchen zu marginalisieren, verbreitet, in den alten Ländern spricht andererseits um den Menschen, die unter man eher von „freien Rednern“, wobei es ihrem Druck mehr oder weniger freiwillig auch hier regionale Unterschiede gibt. Da zur Kirche auf Distanz gingen, eine Alter- einige dieser Redner nicht nur bei der ei- native anzubieten. So gewann das Thema gentlichen Trauerfeier reden, sondern auch seit den 50er Jahren zunehmend Raum, Trauerbegleitung und weitere Lebensbe- und es wurden Texte und Arbeitsmateria- gleitung offerieren (wollen), werden sich lien publiziert.13 In den 70er Jahren wurde die Anbieter vermutlich früher oder später sogar eine Ausbildung zum Trauerredner selbst um eine andere Sprachregelung möglich, wohl, weil die Zahl kirchlicher

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Bestattungen für Nichtchristen wieder an- Freidenkerisch inspirierte Redner stieg.14 Offenbar war die Qualität der welt- lichen Trauerredner nicht überzeugend. Die Freien Humanisten Niedersachsen ver- Selbst die Gründung der DDR-Freidenker stehen sich als „moderne Alternative zur zum Jahreswechsel 1988/89 hängt, wenn- Kirche“15, sie sind Mitglied im Humanisti- gleich nicht ausschließlich, mit diesen Fra- schen Verband Deutschlands (HVD)16 und gen zusammen. stehen der freidenkerischen Traditionslinie In den letzten Jahren führten die hinläng- nahe. Wie viele der „modernen“ Freiden- lich bekannten Veränderungen in der reli- ker bezeichnen sie sich als „Humanisten“. giösen Landschaft auch zu Verwerfungen Im Internet findet man folgendes Positions- in der Bestattungskultur. So forciert bei- papier zu humanistischen Trauerfeiern: spielsweise die weit verbreitete und pau- „Für die Freien Humanisten ist die Ausrich- schale Kritik an Institutionen den Rück- tung einer Abschiedsstunde für einen Ver- gang traditionell-kirchlicher Bestattungs- storbenen ... eine Aufgabe, der sie sich in formen. Die Betonung des Individuellen, besonderem Maße verpflichtet fühlen. Der wie sie etwa in Werbesprüchen wie „Rau- zurückhaltende Umgang mit Tod und Ster- chen Sie nicht irgendwas, Sie sind schließ- ben in unserer Gesellschaft erfordert es, ge- lich nicht irgendwer!“ deutlich wird, spie- rade diesem Bereich eine hohe Aufmerk- gelt sich auch bei der Suche nach indivi- samkeit zu widmen. Der Tod ist – gewollt duellen Formen des Abschieds wider: oder ungewollt – Teil des Lebens. Die Men- Nicht das Aufgehobensein in traditionel- schen dürfen ihn nicht verdrängen, son- len Formen, mit denen auch schon die El- dern müssen lernen, mit ihm zu leben, ihn tern bestattet wurden, zählt, sondern der und seine tiefgreifenden Folgen zu verar- individuelle Weg. beiten. Die Art und Weise, in der die Beer- Kritisch zu hinterfragen ist allerdings, ob digung durchgeführt wird, ist bedeutsam der institutionsferne Weg auch wirklich für die Bewältigung eines Todesfalles. Viele ein individueller ist und ob die christliche unterschiedliche Aspekte werden bei der Bestattung tatsächlich so unpersönlich ist, inhaltlichen Ausgestaltung von Ansprache wie ihre Kritiker das unterstellen. Und – und Feierstunde berücksichtigt: last, not least – sind freie Redner wirklich so „frei“ wie sie vorgeben? Oder anders • Vorrang des Lebenslaufes eines Verstor- formuliert: Welcher Weltanschauung sind benen vor allgemeinen Gedanken freie Redner verpflichtet? • Einbindung grundsätzlicher Überle- gungen über Tod und Leben, die Stel- Freie Redner und ihr weltanschaulicher lung des Menschen in der Natur und Hintergrund das Menschsein überhaupt • Abstimmung von Gedanken aus Dich- Auch wenn uns selten eindeutige weltan- tung und Philosophie mit der Persön- schauliche Bezugnahmen nichtkirchlicher lichkeit des Verstorbenen Bestattungsredner begegnen, so lassen sich • Einklang von gesprochenem Wort und dennoch drei Strömungen ausmachen: musikalischer Begleitung Freidenkerisch inspirierte Bestattungsred- • Ausblick auf die Zukunft und Umgang ner, religiös-kundenorientierte Bestattungs- mit den Erinnerungen. redner und esoterisch ambitionierte Be- stattungsredner. Als Sonderfall verdienen So werden Hilfen aufgezeigt, durch die in auch alternative Bestattungen Beachtung. den darauffolgenden Wochen und Mona-

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ten der Schmerz, die Niedergeschlagen- ren und Tagungen zusammen. Es wird heit und die Trauer allmählich in leise über Formen und Inhalte der Feiern disku- Wehmut und noch später in dankbare Er- tiert, Erfahrungen werden ausgetauscht innerung verwandelt werden.“17 und Probleme erörtert. Möglichkeiten der Schnell wird deutlich, worin der Unter- musikalischen Begleitung werden bespro- schied zwischen dem kirchlichen Bestat- chen, und es wird nach neuen Ausdrucks- tungsritus und einer weltlichen Bestat- formen gesucht. Insgesamt dienen diese tungsfeier liegt: Letztere ist ein Abschieds- Kontakte der stetigen Weiterentwicklung ritual und kein Gottesdienst, ein Ritual des einer weltlichen Feierkultur – für Huma- Zurückblickens auf das nunmehr abge- nisten und kirchenfreie Menschen.“19 schlossene Leben. Eine solche Feier be- Inzwischen haben viele freie Redner eine zieht sich ausschließlich auf das Diesseits, Form für die von ihnen verantworteten Fei- auf eine Ethik ohne Gott. „Die Freien Hu- ern gewählt, die in den Äußerlichkeiten manisten bemühen sich um eine verant- (bis hin zum Erdwurf) einer kirchlichen Be- wortungsvolle Lebensführung auf der stattung ähnlich ist, wenngleich die Ges- Grundlage einer humanistischen Ethik. ten anders gedeutet werden.20 Selbstbewusst und zielstrebig versuchen Im Umfeld der freidenkerisch inspirierten sie die Welt so zu gestalten, dass das Le- Bestattungsredner ist der 1990 gegründete ben für alle lebenswert wird. Ihrer Über- Fachverband für weltliche Bestattungs- zeugung nach erfordert das Zusammenle- und Trauerkultur angesiedelt.21 Dieser ben der Menschen soziale Partnerschaft Fachverband hatte in den ersten Jahren sei- und Verantwortung, die nicht auf ein nen Schwerpunkt in den neuen Bundes- ‚höheres Wesen’ übertragen werden kann. ländern. Man kann sagen, dass viele freie Lebensbejahend und voller Zuversicht ge- Redner aus der DDR hier eine neue Platt- ben sie ihrem Leben gemeinsam mit ande- form gefunden haben. In den ersten Jahren ren einen Sinn. Dazu brauchen sie keine seines Bestehens stand der Verband dem übersinnliche Erklärung des Daseins; sie Deutschen Freidenker Verband e.V., Sitz orientieren sich vielmehr an einem wis- Dortmund (DFV) recht nahe. Später ging senschaftlich begründbaren Weltbild.“18 man jedoch auf Distanz zu den traditionel- Der Hinweis auf das „wissenschaftlich be- len Freidenkern22 und war vorübergehend gründbare Weltbild“ ist (in seiner ganzen Mitglied im Dachverband Freier Weltan- Problematik!) typisch für die freidenkeri- schauungsgemeinschaften (DFW). Heute sche Weltanschauung. ist man organisatorisch selbstständig, ver- Für die Gestaltung der Trauerfeier gibt es steht sich jedoch als Teil der freigeistigen kein verbindlich festgelegtes Ritual, was Bewegung und hat folglich zu den freigeis- dazu führt, dass der Person des Redners tigen Organisationen Kontakte und arbei- bzw. der Rednerin eine große Bedeutung tet (beispielsweise bei Fachtagungen) gele- zukommt: „Alle Feierstunden, die durch gentlich zusammen.23 Der Fachverband die Gemeinschaft der Freien Humanisten hat bundesweit etwa 70 Mitglieder. Auf ausgerichtet werden, liegen mit der ge- der Homepage kann man über das Selbst- samten Ausgestaltung in der Hand einer verständnis des Verbandes lesen: „Seit Sprecherin oder eines Sprechers. Es sind 1990 schließen sich hier Frauen und Män- Frauen und Männer, die sich mit großem ner zusammen, um betroffenen Menschen persönlichen Engagement für diese verant- in ihrem Bedürfnis nach nichtreligiöser, wortungsvolle Aufgabe zur Verfügung stel- konfessionsfreier, würdevoller, individuell len. Alle kommen regelmäßig auf Semina- gestalteter Bestattung und Trauerfeier bei-

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zustehen und in der Trauer Ratgeber und Raum ist mit weißen Luftballons gefüllt Stütze zu sein.“24 Es geht also nicht nur um und statt Erde werden weiße Blütenblätter eine Ansprache bei der Trauerfeier, sondern über das Grab gestreut. Eine solche Feier um soziale Begleitung der Trauernden. muss jedoch eine Fiktion bleiben, weil, so Bei einer Tagung Ende Mai 1999 erklärte die Autorin, städtische Feierhallen keine die Vorsitzende die weltanschauliche Posi- Experimente zulassen. Aber, mit solchen tion des Verbandes wie folgt: „Wir beken- alternativen Feiern könnte man „Vorwürfe nen uns zum Humanismus, zu jenem Be- widerlegen, die weltliche Bestattung sei mühen, eine der Menschenwürde und ein Ausdruck des Kultur- und Werteverfalls freien Persönlichkeitsentfaltung entspre- in der Gesellschaft, ein Ausdruck von Ent- chende Gestaltung des Lebens und der Ge- ritualisierung“.28 Man ist also offen für sellschaft durch Bildung und Erziehung neue Impulse. Dennoch geht es den frei- mit zu schaffen und hierfür auch die dafür denkerisch inspirierten Rednern nicht um notwendigen Lebens- und Umweltbedin- vordergründig exotische Ideen. So sagte gungen mit zu prägen. Ein hehrer An- mir ein Vertreter dieser Redner: „Wir wol- spruch – den aber nicht nur wir uns auf die len ja nichts Poppiges, sondern etwas Fahnen geschrieben haben. Im konkreten Trostreiches.“ aber meinen wir doch eigentlich einen In den Kontext der freidenkerisch inspirier- konsequenten Atheismus, eine Beförde- ten Redner gehört auch die Interessenge- rung nichtreligiöser, nicht-kirchlicher, sä- meinschaft freier Bestattungs- und Feier- kular begründeter geistiger Gebundenhei- redner.29 Zunächst war diese Organisation ten. Unser Anliegen ist es, sowohl ‚Ster- überwiegend in Bayern tätig, also in einem ben‘ als auch ‚Tod‘ und also auch ‚Trauer‘ vergleichsweise stark religiös geprägten als Phänomene des Lebens zu begreifen, Umfeld. – In Bayern sind nichtkirchliche sie selbst in das Leben und in die alltägli- Bestattungen wesentlich seltener als in chen Gespräche und Nachdenklichkeiten Nord- bzw. Ostdeutschland. – Gemäß wieder hereinzuholen, damit die Endlich- ihrem Selbstverständnis bieten die Mitglie- keit und Vergänglichkeit menschlichen Le- der dieser Interessengemeinschaft „Trauer- bens zu begreifen und nicht die Hoffnung ansprachen in philosophisch-neutraler und Selbstverwirklichung in außerirdischen und überkonfessioneller Form an“, einige Gebilden, Gestalten, Wesen und der- Redner gar „auf Wunsch auch in religiöser gleichen zu suchen.“25 Form und mit christlichem Inhalt“.30 Und Im Verband bemüht man sich um Weiter- auch für Hochzeiten und andere Lebens- bildung und fachliche Qualifikation der feiern stehen sie zur Verfügung. Mitglieder. Qualitätssicherung und -steige- Ein Mitglied der Interessengemeinschaft rung werden in den Texten immer wieder positioniert sich auf seiner Homepage als zentrales Anliegen genannt.26 So wer- recht entschieden als Freidenker: „Sie sind den regelmäßig Fachtagungen organi- konfessionslos, exkommuniziert oder le- siert.27 Auf der Homepage finden sich dar- ben nicht nach den Normen der Kirche? über hinaus auch programmatische Bei- Können Sie nicht ausschließen, daß Sie träge. So träumt die Kulturreferentin des einmal durch Freitod aus dem Leben HVD Berlin, Regina Malskies, von einer scheiden? Dann haben Sie auch keinen Bestattungsfeier, die den üblichen Rahmen Pfarrer bei Ihrer Bestattung zu erwarten. sprengt: Bunte Blumen zieren den Sarg, je- Freidenker lassen sich nicht auf ein Leben der der Anwesenden erzählt aus dem Le- nach dem Tod vertrösten. Wir wissen um ben der Verstorbenen, man trinkt Tee, der unsere Endlichkeit und sehen deshalb dem

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Tod realistisch entgegen. Wir Freidenke- unterschiedlich. So stehen einige dem rinnen und Freidenker haben eigene Be- HVD nahe, ein Mitglied war evangelischer stattungsredner (und leider erst wenige -in- Pastor und wirbt heute auf der Homepage nen) ausgebildet, die allen Konfessionslo- der Bundesarbeitsgemeinschaft damit, sen zur Verfügung stehen. Nach einem dass er „religionsneutrale oder christliche ausführlichen Gespräch mit den Angehöri- Formen der Trauerfeier“ anzubieten ver- gen erarbeiten unsere Feiergestalter eine mag.35 Eine Diplomtheologin erklärt, dass Abschiedsrede und gestalten die Trauer- sie Abschiedsfeiern organisiert, „die sich feier in würdiger und feierlicher Form, an individueller Weltanschauung orientie- aber eben weltlich! “31 ren. Auch für Christen außerhalb der Kir- Dass wir in einer Zeit weltanschaulicher che.“36 Mit anderen Worten: Die Rednerin Diffusität leben, zeigt jedoch auch diese ist flexibel. Eine Religionspädagogin be- Interessengemeinschaft. Unter den Mit- nutzt kirchliche Bestattungen als Negativ- gliedern findet sich eine Frau, die auf ihrer folie, um auf das Proprium der eigenen Ar- Homepage angibt, nebenher auch als Lek- beit hinzuweisen: „Die meisten Beerdi- torin in ihrer Landeskirche tätig zu sein.32 gungen werden von Geistlichen und Pfar- Es liegt auf der Hand, dass es im Trauerfall rern durchgeführt. Doch immer weniger (zumal im Westen Deutschlands) nicht Menschen fühlen sich in den kirchlichen leicht ist, schnell einen kompetenten Red- Standardantworten zuhause. Die individu- ner zu finden. Deshalb vermitteln zahlrei- ell gestaltete Trauerfeier bietet Raum nach che freigeistige Organisationen wie der Hu- eigenen Antworten zu suchen. ... Texte aus manistische Verband, der Bund für Geis- Naturreligionen, aus Buddhismus und Hin- tesfreiheit Bayern, der Deutsche Freiden- duismus treffen manche Menschen ins ker Verband und die Freidenker Ulm/Neu Herz. Ein Gebet, Gottes Segen ist nicht an Ulm Bestattungsredner bzw. Trauerbeglei- bestimmte Konfessionen und die Zuge- tung, die ihnen weltanschaulich nahe ste- hörigkeit zu einer Kirche gebunden. Jeder, hen.33 der es wünscht, kann in der Feier christ- liche Akzente setzen. Auch bei uns leben Religiös-kundenorientierte Angehörige verschiedener Religionen nah Bestattungsredner beisammen. Sie lernen sich kennen und lieben. Muslime und Christen gehen Be- Die Bundesarbeitsgemeinschaft Trauer- ziehungen ein. Gemeinsam entwickeln sie feier wurde im März 1996 als erster bun- sich oft zwischen ihren Herkunftskulturen. desweiter Zusammenschluss von Trauer- Im Todesfall kann eine religionsübergrei- redner/innen in Kassel gegründet. Mit die- fende Feier allen Trauernden eine Hilfe ser Gründung wurden drei Ziele verfolgt: sein.“37 verbesserte Öffentlichkeitsarbeit, Sicherung Die Zitate zeigen, dass die religiös-kunden- der Qualität der Arbeit und (eher langfris- orientierten Bestattungsredner sich cha- tig) die Erarbeitung eines festen Berufsbil- mäleongleich auf die Bedürfnisse der Klien- des. Derzeit gehören der Arbeitsgemein- ten einstellen. Alles scheint möglich. Da- schaft etwa 60 Trauerredner an; darunter bei drängt sich die Frage auf, ob damit der etwa 17 Theologen. Auch der Vorsitzende weltanschauliche Synkretismus aufgegrif- hat evangelische Theologie studiert, ist je- fen und genutzt wird oder ob man ihn auf doch aus der Kirche ausgetreten.34 Die diese Weise nicht letztlich befördert. Es weltanschauliche Orientierung der Mit- wäre im Einzelfall zu prüfen, ob die ver- glieder der Arbeitsgemeinschaft ist recht sprochenen individuellen Feiern wirklich

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zu Stande kommen. Man sollte dies aus dem Tod dorthin zurückkehrt, woher sie kirchlicher Überheblichkeit nicht a priori kam.“40 Man weiß nicht recht, was mit ausschließen. Dennoch irritiert der Ein- dieser Feststellung gesagt sein soll, aber es druck weltanschaulicher Beliebigkeit. Wer klingt irgendwie gut weil – geheimnisvoll. alles macht, macht deshalb noch längst nicht alles gut. Alternative Bestattungen

Esoterisch ambitionierte Wirklich andere und in diesem Sinne alter- Bestattungsredner native Bestattungen bietet die „Eventbestat- terin“ und Buchautorin Claudia Marschner Gemessen an dem großen Marktsegment, in Berlin an.41 Nachdem sie einige Jahre in das esoterische Anbieter im Bereich der einem traditionellen Bestattungsunterneh- Buchpublikationen und der Lebenshilfe men gearbeitet hat, gründete sie 1992 ihr einnehmen, verwundert es, dass man ver- eigenes Unternehmen. Die Kunden wer- gleichsweise wenige esoterisch ambitio- den in lichtdurchfluteten, hellen Räumen nierte Redner bzw. Bestatter findet. Als ein empfangen; bunte Särge und ebenso bunte Beispiel sei auf Die Barke verwiesen (vgl. Urnen stehen bereit. Wenn die Angehöri- www.die-barke.de). Zwei Frauen wollen gen es wünschen, dann können sie den hier „Übergangsbegleiterinnen für die Zeit Sarg auch eigenhändig bemalen und ver- vom Tod bis zur Bestattung“ sein, quasi zieren. Derzeit stehen jedoch Plüsch-Ur- „Hebammen für die Toten auf ihrem Weg nen und Särge aus Korb hoch in Mode – so hinaus“.38 Dabei bleibt völlig unklar, wor- kann man eine Urne erwerben, die wie auf sich ihre behauptete Kompetenz grün- eine große Plüsch-Erdbeere gestaltet ist. det. Neben einer Mitarbeit in Frauenzen- Ein wesentlicher Impuls zu Gründung die- tren nennen beide „eine dreijährige scha- ses Unternehmens kam aus der schwulen manische Ausbildung“ – was auch immer Szene. AIDS zwang viele junge Menschen, damit gemeint sein könnte. Sie messen ge- sich mit dem Thema Tod und Sterben aus- rade einer weiblichen Begleitung einen einander zu setzten. Bei dieser jungen und besonderen Stellenwert bei: „Für uns ist alternativen Klientel haben die Lust am der Tod (la morte = die Todin) und die Zeit Unorthodoxen und „Eventbestattungen“ bis zur Bestattung ein wichtiger Übergang, eine gewisse Plausibilität – auch wenn sie wohin auch immer unsere Reise dann ge- vermutlich immer eine Randerscheinung hen wird – ein ebenso bedeutungsvoller bleiben werden. Inwieweit sich evangeli- Übergang, wie die Geburt in dieses Leben. sche Pfarrer und Pfarrerinnen an diesen Es ist für uns selbstverständlich, daß die To- Bestattungen beteiligen, kann nur am Ein- ten von Frauen versorgt und begleitet wer- zelfall geprüft werden. den, denn Frauen wissen um die Über- gänge Geburt und Tod. Wir besinnen uns Freie Theologen in Deutschland dabei auch auf die alte Tradition der Lei- chenwäscherinnen, die oft gleichzeitig Nicht nur die Bestattungskultur verändert Hebammen waren.“39 Typisch für die eso- sich, sondern der Markt lebensbegleiten- terische Halbbildung ist der Rekurs auf Be- der Rituale ist in Bewegung geraten. Wer hauptungen wie folgende: „Es steht ge- als freier Trauerredner erfolgreich ist und schrieben, daß die Körperseele sieben Menschen erreicht, der wird sich früher Jahre bei dem toten Körper bleibt, die Ah- oder später fragen, warum er nicht weitere ninnenseele aber bereits drei Tage nach Rituale wie Trennungsrituale, Begrüßungs-

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rituale, kirchenferne Trauungen usw. an- • Wir haben mindestens drei Jahre Berufs- bietet. Naheliegend ist auch, mittels einer erfahrung als Freie Theologen. eigenen psychologischen oder anderen • Wir verstehen unsere Arbeit als Dienst Ausbildung eine Art „ganzheitlicher“ Le- am Menschen und sind darin unabhän- bensbegleitung zu entwickeln. Der Bedarf gig von kirchlichen Instanzen und an Lebenshilfe und an lebensbegleitenden ideologischen Verbänden. Ritualen scheint jedenfalls groß genug zu • Wir tragen keine Amtskleidung. sein – und die weltanschauliche Indiffe- • Wir übernehmen keine Worte und Ges- renz vieler Zeitgenossen allemal. So wer- ten, die eine Aufnahme in eine definierte den in Berlin nur noch 14 Prozent aller Glaubensgemeinschaft begründen. Ehen mit kirchlichem Segen geschlossen.42 • Wir sind offen für eine Zusammenar- Daraus folgt, dass mehr als 80 Prozent al- beit mit allen religiösen Traditionen. ler Paare, die heiraten, theoretisch für an- • Unserer Arbeit liegt keine missionari- dere Rituale offen sein könnten. Der Markt sche Intention zugrunde. hierfür dürfte gewaltig sein. • Wir arbeiten individuell, ohne standar- Die eingangs zitierte Theologin ist Grün- disierte Texte und realisieren auch un- dungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft gewöhnliche Ideen.“46 Freier Theologen, einem im Jahre 2001 ge- gründeten Dachverband „kirchenunab- Die Arbeitsgemeinschaft ist bundesweit hängiger Theologen“.43 Man fragt sich, tätig und verfügt über eine hohe Flexibilität. was damit gemeint sein könnte und liest Viele der Mitglieder bieten neben „traditio- auf der Homepage des Dachverbandes: nellen Trauungen“ (sie selbst benutzen den „Freie Theologen haben ein entsprechen- Begriff „Trauung“) auch Hochzeiten für des akademisches Studium oder kommen gleichgeschlechtliche Paare sowie Rituale aus langjähriger kirchlicher Praxis. Sie zu anderen Anlässen wie Geburt, Trennung, kommen aus unterschiedlichem konfes- Tod und Trauer an. Es liegt auf der Hand, sionellen Kontext ... arbeiten kirchenunab- dass die „freien Theologen“ auf Honorarba- hängig und sind daher keine Pfarrer!“44 sis arbeiten – und dass die Kirchen immer Sieht man sich das Verzeichnis der Mitglie- mehr dieser besonderen Dienstleister pro- der an, so kann man feststellen: Von etwa duzieren, indem sie Absolventen der Theo- 15 Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft logie zunehmend weniger in den kirchli- (im Internet finden sich unterschiedliche chen Dienst übernehmen (können). Angaben) haben nach eigener Auskunft Da diese Theologen nirgendwo institutio- fast alle Evangelische Theologie studiert, nell eingebunden sind, stellt sich die Frage ein Mitglied war einige Jahre als ordinierte nach der Gültigkeit oder auch sozialen Pastorin im landeskirchlichen Dienst tätig Plausibilität der vollzogenen Rituale. Zur und ein Mitglied arbeitet zwar nicht mehr Erinnerung: Während die Kirchen Trauun- als evangelischer Pfarrer, hat aber weiter- gen bzw. Gottesdienste zur Eheschließung hin die Ordinationsrechte.45 nur dann vornehmen dürfen, wenn das Die Arbeitsgemeinschaft nennt im Internet Hochzeitspaar vorher beim Standesamt folgende Grundsätze ihrer Arbeit: eine im zivilrechtlichen Sinne gültige Ehe geschlossen hat, bieten einige dieser Mit- • „Die Mitglieder ... haben ein theologi- glieder auch Feiern ohne vorherigen Gang sches Studium oder eine gleichwertige, zum Standesamt an. Im Internet schreibt anerkannte theologische Ausbildung die eingangs bereits zitierte Anbieterin: absolviert. „Ich bin keine Standesbeamtin und kann

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Ihnen damit den Gang auf das Rathaus oder www.perfectday.de findet man Hin- nicht ersparen. Es ist allerdings für mich weise auf die kirchenfreien Theologen. Auf nicht relevant, ob Sie vor oder nach der der letztgenannten Seite heißt es beispiels- Trauzeremonie zum Standesamt gehen. weise: „Für die meisten Paare ist die kirch- Vielleicht wollen Sie auch ohne rechtliche liche Hochzeitsfeier der Höhepunkt Absegnung Ihre Lebenspartnerschaft be- schlechthin. Wenn jedoch zumindest ei- stätigen. Auch das ist bei mir möglich.“47 ner der Partner geschieden ist, man mit der Die Anbieter greifen also das gespaltene Kirche oder der örtlichen Pfarre auf Kriegs- Verhältnis vieler Menschen zu letzten Ver- fuß steht, aus verschiedenen Kulturen oder bindlichkeiten, zu Institutionen und zur Religionen kommt, oder auch einfach nur Gesellschaft als einer ordnenden Größe an einem außergewöhnlichen Ort heiraten auf, indem sie Rituale ohne rechtliche Ab- möchte, in der Luft, in einem Schloß an ei- sicherung anbieten. Das mag gut gehen, nem See oder im eigenen Garten, kann der wenn’s gut geht. Spätestens im Falle einer Traum von der feierlichen Trauungszere- Trennung dürfte die unklare Lage zahlrei- monie leicht platzen. Könnte! Wenn es che Konflikte hervorrufen, wenn beispiels- nicht die freien Pfarrer oder besser gesagt weise einer der Partner sagt, man sei ja nie freien Theologen gäbe.“51 Ein Verzeichnis „richtig“ verheiratet gewesen. Übrigens der „uns bekannten Theologen ... mit scheint es in dieser zentralen Frage auch Adressen, Fotos und vielen Informationen“ innerhalb der Arbeitsgemeinschaft unter- ist über einen Link52 leicht zu erreichen. schiedliche Positionen zu geben, denn auf der hauseigenen Homepage wird quasi Freie Theologen in der Schweiz „offiziell“ mitgeteilt, dass auch einer freien Trauung der Gang zum Standesamt vor- In der Schweiz wurde bereits 1998 ein ausgehen muss.48 ähnlicher Verband gegründet. Unter Einen anderen Umgang mit der Frage nach www.konfessionslos.ch bietet der Verband der Gültigkeit der Rituale schlägt ein wei- freischaffender Theologen und Theologin- teres Mitglied vor. Auf seiner Homepage nen „individuell gestaltete Feiern“ bei Le- wird die rhetorische Frage gestellt: „Ist das bensabschnitten wie Geburt, Hochzeit überhaupt gültig?“ Die Antwort lautet: und Tod an. Das Angebot richtet sich „in „Der Profi in Sachen alternative Eheschlie- erster Linie an Menschen, die keiner Kon- ßungen kennt das Problem mancher Paare: fession angehören, ist aber offen für alle“. Viele haben Angst, daß solche Eheschlie- Bis hierhin ist das Anliegen des Schweizer ßungen nicht gültig seien. Aber im eigent- Verbandes mit dem deutschen Dachver- lichen Sinne ,gültig‘ sind sowieso nur die band vergleichbar. Die Schweizer gehen standesamtlichen Trauungen. Und was vor jedoch noch einen Schritt weiter und hal- Gott gültig ist, entscheidet schließlich ten in ihren Statuten fest: „Der Verband nicht die Kirche!“49 Mit anderen Worten: vertritt ... auch die spirituellen Anliegen je- Gültig ist, was du für gültig erachtest. ner Menschen, die keiner Konfession an- Man fragt sich, wie ein in Weltanschau- gehören.“53 Ein wahrlich großer Anspruch! ungsfragen Unkundiger die freien Theolo- Mitglied kann im Schweizer Verband nur gen überhaupt finden kann. Die Werbung werden, wer Theologie studiert hat, jedoch läuft gewiss vielfach über persönliche nicht bei einer Kirche angestellt ist und Kontakte und Empfehlungen. Aber auch „offen ist für eine Zusammenarbeit mit al- auf einflussreichen Hochzeitsseiten im In- len religiösen Traditionen, ohne dabei zu ternet wie www.ratgeber-hochzeit.de50 missionieren“.54

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Auf der Homepage berichtet der Präsident lich tatsächlich herausgefunden wird, was und Gründer des Vereins, Markus Tschopp, für die Klienten richtig ist und nicht am dass etwa zwei Drittel seiner Klienten kon- Ende steht, was die Ritualanbieterin als für fessionslos sind, ein Drittel sind katholisch das Angemesse erachtet. bzw. reformiert.55 Ihre Arbeit erklärt eine Theologin wie folgt: „Ich arbeite konfessi- Resümee onsfrei, auf christlicher Basis. Ihre persön- liche Glaubensform nehme ich ernst und Die Suche nach alternativen und neuen passe mich Ihren Wünschen an, bezüglich Formen in der Bestattungs- und Ritualkul- Inhalt, Ablauf, Sprache, Mitgestaltung der tur hat vielfältige Ursachen. Zweifellos Teilnehmenden.“56 Häufig wünschen sich spielt die gewachsene Mobilität eine Brautpaare eine Zeremonie in der freien Rolle; Menschen bleiben immer seltener Natur. Mitunter, so erklärt die Anbieterin an ihrem angestammten Ort, Familien le- in einem Interview mit einer Zeitschrift, ben weit verstreut, und so empfehlen die gibt sich das Brautpaar auf einer Wande- greisen Eltern ihren Kindern immer öfter, rung das Jawort – oder bei einem Hinder- eine anonyme Bestattung zu erwägen, da- nisparcours, bei dem das Paar Aufgaben mit die Grabpflege nicht zur Last wird. gemeinsam lösen muss. „Anschließend Was auf den ersten Blick praktisch klingt gibt’s Kräuterbrot und Waldwein. Oder ei- und als Erleichterung erscheint, verkennt, nen selbstgemachten Bergblutschnapps – dass Trauer und Erinnerung Orte benöti- ‚als Symbol der blutig ernsten Lebensbin- gen. Mancher bedauert im Nachhinein die dung.‘“57 Ob damit eine tragfähige Alter- anonyme Beisetzung seiner Angehörigen. native zur konventionellen Trauung gefun- So verwundert es nicht, dass im Internet den ist, mag der Leser selbst entscheiden. neue, virtuelle Orte und Formen des Toten- Mit einer gewissen Verwunderung liest gedenkens gesucht und gefunden werden. man auf der Homepage dieser Anbieterin Es gibt virtuelle Gedenkstätten wie die auch, dass sie „zur Schulung ihres seelsor- „Hall of Memory“ (www.hall-of-memo- gerlichen Instinkts ... noch etliche Praktika riy.de oder www.ewigesleben.de) oder das im Zoologischen Garten Zürich (absolviert kirchlich verantwortete Trauernetz hat)“.58 www.trauernetz.de Und – auch das sollte Man könnte die beschriebene Haltung als nicht verschwiegen werden – die Suche religiös-kundenorientiert bezeichnen. Die nach alternativen Trauerformen treibt zu- Anbieter wollen jedoch nicht nur die Reli- weilen seltsame Blüten und bringt obskure giosität ihrer Kunden aufgreifen, sondern Angebote hervor: Im Internet finden sich mitunter sogar helfen, diese zu formen. So inzwischen zahlreiche Seiten60, auf denen schreibt eine Ritualbegleiterin aus der Nä- in Robin-Hood-Manier erklärt wird, wie he von Solothurn auf ihrer Homepage: man es anstellen muss, dass die Urne ei- „Anstatt eine bestimmte Weltanschauung nes Verstorbenen nicht auf dem Friedhof zu vermitteln, unterstütze ich mit meinem beigesetzt wird, sondern in der heimi- Angebot der Ritualbegleitung Menschen schen Schrankwand ihre (letzte?) Ruhe- dabei, den für sie richtigen Umgang mit ih- stätte findet. Es mag sein, dass manche rer konkreten Situation zu finden und in dies in einer bestimmten Lebenssituation einer individuell gestalteten Feier oder ei- erstrebenswert finden. Aber was passiert nem Ritual auszudrücken.“59 Es ist zu fra- nach zehn oder 15 Jahren? Wird die Urne gen, ob diese Haltung nicht Ausdruck ei- verschämt bei jedem Umzug mitgenom- ner versteckten Mission ist und ob schließ- men und irgendwann im Garten entsorgt?

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Und was geschieht mit dieser Urne, wenn mente in einen kirchlichen Traugottes- der Hinterbliebene selbst stirbt? – Erweist dienst oder in eine kirchliche Bestattung auf- sich nicht an solchen Fragen, wie sinnvoll genommen werden können. Die Agenden und für den Einzelnen entlastend feste For- eröffnen hierfür Spielraum genug. men und Ordnungen für die Beisetzung Der Kult um eine persönliche und indivi- der Toten sind? duelle Gestaltung solcher das Leben be- Dennoch: Die beschriebenen Veränderun- gleitenden Rituale überfordert jedoch vie- gen spiegeln wider, wie sehr sich die Ge- le Menschen auch. Oft genug fehlt z.B. ge- sellschaft und im speziellen Fall die Wahr- rade in der Situation der Trauer die Kraft, nehmung und Wirklichkeit der christ- an einer solchen individuellen Feiergestal- lichen Religion in der Moderne ändert. So tung mitzuwirken – hier wird man dankbar werden die massiven Umbrüche in der Be- sein, dass es tradierte Formen gibt, denen stattungskultur von einem ebenso rasanten der Trauernde sich überlassen kann. Was Verlust an christlicher Auferstehungshoff- allzu oft vergessen wird: Die tradierte Ord- nung begleitet. Der häufig zu hörende Ruf nung verleiht Sicherheit und schenkt Ver- nach dem Neuen, Anderen und Individu- trauen durch Vertrautes. Die Kirchen müs- ellen gehört zur Ideologie unserer Zeit. sen viel deutlicher als bisher zeigen, dass Dieser Trend verkennt das Wesen des Ritu- die Stärke ihrer überkommenen Rituale ja als, das gerade nicht individuell begründet gerade in ihrer Beständigkeit und Über-In- ist, sondern seine Kraft aus einer zeit- und dividualität liegt, die das Leben und den personenübergreifenden Wirklichkeit ge- Tod des Einzelnen gleichsam umschlie- winnt. Das schließt keineswegs aus, dass ßen. Denn Tradition ist genau das, was persönliche und individualisierende Ele- sich bewährt hat.

Anmerkungen

1 Vgl. im Internet unter www.alternativhochzeit.de/ 9 Vgl. Jan Hermelink, Die weltliche Bestattung und index2.html. ihre kirchliche Konkurrenz, a.a.O., 66. 2 Statistisches Landesamt Berlin: Pressemitteilung 10 Vgl. Schreiben des Grünflächenamtes der Stadt vom 18.9.2003, zu finden unter www.statistik-ber- Halle/S. vom 23. Oktober 2003. lin.de/pms2000/sg02/2003/03-09-18a.html. 11 Vgl. zur Problematik dieses Begriffs nochmals den 3 Wobei man berücksichtigen muss, dass in Berlin bereits erwähnten und überaus instruktiven Beitrag: etwa 13 Prozent der Einwohner Ausländer sind und Jan Hermelink, Die weltliche Bestattung und ihre somit häufig anderen religiösen Traditionen zuzu- kirchliche Konkurrenz, a.a.O., 66f. rechnen sind. 1980 wurden noch 40 Prozent aller 12 Vgl. Andreas Fincke, Freidenker – Freigeister – Frei- DDR-Bürger kirchlich bestattet. Vgl. Jan Hermelink, religiöse. Kirchenkritische Organisationen seit 1990, Die weltliche Bestattung und ihre kirchliche Konkur- EZW-Text 162, Berlin 2002, 5f. renz, in: JLH 39/2000, 65. 13 Vgl. Jan Hermelink, Die weltliche Bestattung und 4 Vgl. Schreiben des Grünflächenamtes der Stadt ihre kirchliche Konkurrenz, a.a.O., 67. Halle/S. vom 23. Oktober 2003. 14 Ebd., 66. 5 Vgl. Jan Hermelink, Die weltliche Bestattung und 15 Vgl. www.freie-humanisten.de/alternative.htm. ihre kirchliche Konkurrenz, a.a.O., 66. 16 Vgl. Andreas Fincke, Freidenker – Freigeister – Frei- 6 Vgl.www.ekd.de/statistik/3217_amtshandlungen.html. religiöse. Die Zahl für die Katholische Kirche konnte nur er- 17 Zit. nach: www.humanisten.de. rechnet werden (in 2001 = 265 307 Bestattungen 18 Zit. nach: www.humanisten.de. von etwa 830 000 Todesfällen). 19 Zit. nach: www.humanisten.de. 7 Vgl. Jan Hermelink, Die weltliche Bestattung und 20 Vgl. dazu genauer: Karin Starke, Kirchliche Bestat- ihre kirchliche Konkurrenz, a.a.O., 66 und www. tungen in moderner Lebenswelt, Arbeit zum 2. ekd.de/statistik/3217_amtshandlungen.html. Theologischen Examen, Hannover 2002, unveröf- 8 Statistisches Landesamt Berlin: Pressemitteilung vom fentlichtes Manuskript. 18.9.2003, zu finden unter www.statistik-berlin.de. 21 Im Internet unter www.tod-kultur.org.

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22 Zur dahinterstehenden Problematik vgl. Andreas 38 Vgl. www.die-barke.de/rahmenh.htm. Fincke, Freidenker – Freigeister – Freireligiöse, 30f. 39 Vgl. www.die-barke.de/rahmenh.htm. 23 Richtig geklärt scheinen diese Fragen jedoch noch 40 Vgl. www.die-barke.de/rahmenh.htm nicht zu sein. So findet sich noch Anfang 2004 auf 41 Claudia Marschner, Bunte Särge. Eine Event-Bestat- der Homepage des Deutschen Freidenker-Verban- terin erzählt, München 2002. Vgl. auch unter: des ein Hinweis auf den Fachverband, der hier als www.marschner-bestattungen.de. Mitglied der Freidenker beschrieben wird. 42 Vgl. www.statistik-berlin.de/framesets/such.htm. 24 Vgl. www.tod-kultur.org/. 43 Vgl. www.agft.fixwww.com/html/uber_uns.html. 25 Andrea Richau, Unser Name – unser Anspruch. Vor- 44 Vgl. www.agft.fixwww.com/html/uber_uns.html. trag auf dem Seminar des Fachverbandes für welt- 45 Vgl. www.agfit.fixwww.com/html/gundlach.html. liche Bestattungs- und Trauerkultur in Burg vom 46 Vgl. www.agfit.fixwww.com/html/grundsatze.html. 28.5. – 30.5.1999. Hier zit. nach: www.tod-kultur. 47 Vgl. www.alternativhochzeit.de/html/haufige_fragen. org/vunua.htm. html. 26 Vgl. ebd. 48 Vgl. www.agft.fixwww.com/html/uber_uns.html. 27 Z.B. das Herbstseminar „Was ist, worin drückt sich 49 Vgl. wwww.die-feier.de/heirat.htm. die Weltlichkeit unserer Arbeit aus?“ vom 24. – 26. 50 Vgl. www.ratgeber-hochzeit.de/Trauung_ohne_Pfarrer/ Oktober 2003 in Potsdam. trauung_ohne_pfarrer.htm. 28 Regina Malskies, Zur Formalisierung von Ritualen 51 Vgl. www.perfectday.de/Info/Kirche/Kirche.htm. und zur Entritualisierung von Bestattungsfeiern, hier 52 Vgl. www.perfectday.de/Info/Kirche/Theologen.htm. zit. nach: www.tod-kultur.org/vforieribefe.htm. Seltsamerweise sind die Angaben hier nicht iden- 29 Vgl. www.feierredner.de. tisch mit der Homepage der „Freien Theologen“. 30 Vgl. www.feierredner.de/. Vgl. auch: www.hochzeitsservice-online.de/trauung/ 31 Vgl. http://home.t-online.de/home/Jestrabek/bestatt. freietrauungen/freietrauung.html. htm. 53 Vgl. www.konfessionslos.ch/statuten.htm. 32 Vgl. www.peherrmann.de (Ausdruck vom 20. 1. 54 Vgl. www.konfessionslos.ch/statuten.htm. 2004). 55 Vgl. www.konfessionslos.ch/konfession.htm. 33 Vgl. die Linksammlung www.humanist.de/religion/ 56 Vgl. www.gisula.ch/page/zeremonien.html. trauerfeiern.html. 57 Fabrice Müller, Früher wäre ich wahrscheinlich als 34 Vgl. die Eintragung zu Rudolf Knoche unter Hexe verbrannt worden, in: Meyers Modeblatt vom www.batf.de. 2. Mai 2000. 35 Vgl. die Eintragung zu Klaus Hildenbrand unter 58 Vgl. www.gisula.ch/page/frames.html. www.batf.de. 59 Vgl. www.rituale.ch/Leitbild.html (diese Anbieterin 36 Vgl. die Eintragung zu Mechthild Ludwig-Mayer un- ist jedoch nicht Mitglied im „Verband freischaffen- ter www.batf.de. der Theologen und Theologinnen“). 37 Vgl. Marion Klose unter http://lebensfeiern.marion. 60 Vgl. www.postmortal.de. Vgl. auch: Ohlsdorf. Zeit- klose.bei.t-online.de/. schrift für Trauerkultur, Nr. 2, 2003.

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DOKUMENTATION

Wir haben vor einiger Zeit mit einem Kommentar des Erlanger Privatdozenten Dr. Werner Thiede in unserer Zeitschrift eine Diskussion zum schwelenden „Kopftuch-Streit“ eröffnet (vgl. MD 2/2004,71ff). Wir möchten die Reihe an dieser Stelle mit einem Beitrag von Prof. Dr. Ulrich Dehn, dem Referenten für nichtchristliche Religionen der EZW, fortsetzen.

Ulrich Dehn Entschleierung des Schleiers

Die Verse 30f. der 24. Sure gebieten den lungnahme von Mohammed Sayyed Tan- Männern wie auch den Frauen tawi, dem leitenden Scheich der al-Azhar- Keuschheit: „Sag den gläubigen Männern, Universität in Kairo, der es Mitte Januar sie sollen ihre Blicke senken und ihre 2004 für zulässig erklärte, dass Muslima in Keuschheit hüten. Dies ist reiner für sie. Frankreich als Tribut an den laizistischen Siehe, Gott kennt ihr Tun. Ebenso sage Staat das Kopftuch ablegen können, wäh- den gläubigen Frauen, dass sie ihre Blicke rend es ansonsten als religiöse Pflicht zu senken und ihre Keuschheit bewahren betrachten sei. Jedoch scheiden sich hier und ihre Schönheit nicht enthüllen. Und nicht nur die christlichen Geister, Tantawi sie sollen ihre Schleier über ihre Busen erhielt auch empörten Gegenwind aus den schlagen und ihre Schönheit nur ihren eigenen Reihen. Ehegatten zeigen oder ihren Söhnen ...“ In Das Kopftuch ist, soviel haben die Kontro- Sure 33,59 heißt es: „O Prophet, sag versen jedenfalls gezeigt, nichts, was aus deinen Gattinnen und deinen Töchtern der islamischen Rechtslage, der Sunna und den Frauen der Gläubigen, sie sollen oder gar aus dem Koran verbindlich in etwas von ihrem Überwurf über sich her- welcher Richtung auch immer abgeleitet unterziehen. Das bewirkt eher, dass sie werden könnte – keine Religion in ihrer erkannt werden und dass sie nicht Gesamtheit besteht nur aus ihren heiligen belästigt werden.“ Schriften und dem, was daraus herleitbar Diese Verse, ihre Detaillierungen in den ist – man vergleiche das Thema des Prophetensprüchen (Hadithen) und die In- „Weins“ im Abendmahl. Das Kopftuch hat terpretationen im Rechtskanon und in der sich verselbstständigt, ist Bestandteil der Rechtstradition (Scharia und Fiqh), ge- muslimischen Geschichte, es ist zum meint als Mahnung an die Männer und als „kulturellen Gedächtnis“ geronnen, es hat Schutz der Frauen vor den ersteren (für seinen Platz im Leben der Muslimas. Die den Bereich außerhalb des Hauses und einschlägigen Konnotationen „Reduzie- der Familie), gerieten in der Tradition zu rung der Frau auf ihre Sexualität“ oder weiten Teilen zu Mahnungen der Männer „politisches Symbol“ stechen nur partiell. an die Frauen, die besagten Hinweise zu Der „Platz“ des Kopftuchs ist sehr unter- befolgen. Die Gutachten und Interpreta- schiedlich strukturiert und mental unter- tionen sind zahl- und variationsreich, sie legt, ein Sachverhalt, der von der öffent- reichen bis hin zur spektakulären Stel- lichen Diskussion kaum oder ungern

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wahrgenommen wird. Manche (!) Mäd- intelligente junge Frauen, die den Weg chen im Grundschulalter erhalten Beifall vom Abitur ins Studium und durch die Lehr- und Belohnung in ihren Familien, wenn amtsausbildung hindurch erfolgreich ge- sie es schon tragen, manche (!) Zwölf- funden haben, entgegen ihren Selbstbe- jährige „probieren“ zur Verwunderung zeugungen jenem letzten antidemokrati- ihrer Eltern „das Kopftuch mal aus“ und schen Spektrum zuzurechnen seien, ist finden es cool (es ist eigentlich, wie auch höchst unwahrscheinlich. Sicher aller- die islamischen „Säulen“, ab 14 bzw. ab dings ist die Dynamik der „sich selbst er- der Pubertät gedacht), junge Frauen tragen füllenden Prophezeiung“: Je heftiger der es entweder als von ihren Müttern über- Diskurs suggeriert, das Kopftuch sei (haupt- kommenes Traditionsgut oder gegen den sächlich) ein politisches Symbol für ausdrücklichen Willen des Elternhauses Rechtsstaatsfeindlichkeit und/oder eine fa- als Symbol ihres neuen Selbstbewusst- natische muslimisch-missionarische Fan- seins, Mütter und Ehefrauen tragen Kopf- fare, desto fester bleibt es am Kopf kleben. tuch und knöchellangen Mantel, weil sie Das Kopftuch ist zur großformatigen Pro- es aus ihrer Sozialisation nicht anders jektionsfläche geworden, und die Projek- kennen und/oder weil der Ehemann (oder tionen bedienen sich selektiv einzelner Vater oder älteste Sohn) sie so sehen kopftuchkritischer Stimmen aus dem isla- möchte, Konvertitinnen, muslimische Fe- mischen Bereich. ministinnen und Akademikerinnen (aber Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts auch andere) tragen es als Zeichen ihrer hat auf die Notwendigkeit einer Gleichbe- kulturellen und religiösen Identität, als handlung der Religionsgemeinschaften im Bestandteil eines mit Körpersprache ge- Falle einer Gesetzgebung hingewiesen. führten Diskurses, und in von Migranten Auf der Basis des Grundgesetzes konnte geprägten Kiezen kann es der Pass zur es gar nicht anders. Abgesehen von der Akzeptanz in der Lebenswelt, zur freund- bemerkenswerten Beharrlichkeit, mit der lichen Bedienung im arabischen Textil- dieser Hinweis von vielen Diskutanten ig- geschäft sein. Für viele Muslima ist das noriert wird, ist er nur insofern problema- Kopftuch ein wichtiges Zeichen ihres selbst- tisch, als in der Tat „Religionen“ (die wir bewussten Andersseins in vielen Dimen- nur in Gestalt religiöser Menschen ken- sionen. Dies hat nichts mit einer Ableh- nen) nie im strengen Sinne einander kom- nung des Rechtsstaats oder einer allge- patibel sind. Muezzin-Ruf und Glocken- meinen Opposition gegen die sie umge- läuten sind nur auf einer oberflächlich-ju- bende Gesellschaft zu tun. In einer an- ristischen Ebene vergleichbar, als es sich schwellenden Kultur der auffälligen indi- in beiden Fällen um „Emissionen“ han- viduellen Selbstinszenierung sind diese delt. Kopftuch und Kreuz oder Kruzifix (meist jungen) Frauen sogar in guter Ge- haben evtl. nur das Vorhandensein in sellschaft. Für ein (vermutlich kleines) einem Klassenraum gemeinsam, ansons- Segment mag auch die Charakterisierung ten sind Konsistenz und Funktionen weit „Symbol des Islamismus“ zutreffen, aber voneinander entfernt. Allerdings ist ihnen wir tappen mit Quantifizierungen der Mi- auch gemeinsam, dass beide in je ande- lieus im Dunkeln. Die Projekte von Gritt ren Religionsgemeinschaften nicht nur Klinkhammer, Frauke Biehl und Sevim Wohlbehagen auslösen. Der Koran konnte Kabak, Hiltrud Schröter, Sigrid Nökel etc. es nicht ertragen, den Propheten Isa (Jesus) konnten alle nur qualitativ erheben, nicht am Kreuz sterben zu lassen, der Buddhist quantifizieren. Dass jedoch ausgerechnet Daisetz Suzuki assoziierte mit dem

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Gekreuzigten den „sadistischen Impuls Eine wie weltanschaulich neutrale Schule einer seelisch überreizten Phantasie“ und erhofft sich der Staat und erhoffen sich die mit Jesu aufrechter Haltung am Kreuz Ak- Kopftuchgegner von einem Kopftuchver- tion, Streitbarkeit und Ausschließlichkeit. bot? Abgesehen von dem logischen Draht- In Ostasien zerschlugen christliche Mis- seilakt, dass offenbar christliche Symbolik sionare im 16. Jh. buddhistische Orna- unter die Rubrik „Wertneutralität“ fällt, mente mithilfe von Kruzifixen. D.h. wer scheint ein religiös aseptisch reines Schul- sich für eine Ungleichbehandlung reli- ambiente vorzuschweben, das eine Tren- giöser Symbole an Schulen (oder allge- nung von Staat und Religion suggeriert, die mein im öffentlichen Dienst) ausspricht, es in Deutschland nie gab. In einer Zeit, in muss sich und anderen Rechenschaft über der endlich auch die Präsenz der Religio- einen Prozess multipler Reflexe und Af- nen dieser Welt und insbesondere des Is- fekte ablegen. Die Gefühle, die Kreuze in lam in Deutschland in den schulischen Klassenzimmern bei buddhistischen oder Rahmenplänen berücksichtigt wird und muslimischen Schülern auslösen können, Religionslehrerinnen und -lehrer sich zu- sind normalerweise kein Gegenstand des nehmend einschlägige Kompetenz aneig- kopftuchkritischen Diskurses. nen, wird die Schule es auch konstruktiv Ein Kopftuchverbot hätte mehrere abseh- verarbeiten können und müssen, wenn bare und eine Reihe unabsehbarer Folgen: Religion, auch außerchristliche, augenfäl- Es würde zur Ausweitung muslimischer lig auch im Klassenraum vorkommt, es sei Schulen führen, die die arbeitslosen Kopf- denn, man nimmt in Kauf, dass alle Argu- tuchträgerinnen auffangen müssten – in mente gegen Islamisches in der Schule einigen Städten wird von muslimischen oder im ganzen öffentlichen Dienst eines Verbänden bereits aktiv darüber nach- Tages auch auf das Christentum zurück- gedacht. Dass es sich derzeit in ganz fallen – welches nunmehr die Deutungs- Deutschland lediglich um ca. 16 bis 20 hoheit nicht nur über das Kreuz, sondern potentielle oder aus diesem Grund bereits auch über das Kopftuch zu haben scheint, entlassene Lehrerinnen handelt, zeigt, dass will sagen, auch über das der anderen. das Problem in beiden Richtungen keine Kopftuchverbote in den Bundesländern mit wirkliche Dramatik hat. Allerdings wäre der Pauschalunterstellung, es handele sich ein Verbot tendenziell eher ghettoför- um (politische) Symbole der Unterdrückung dernd als -aufweichend, die internationa- der Frau, werden mehrere falsche Signale lisierte Variante dieser Ghettobildung ist, senden: Sie werden ghettoisierend und inte- dass Kopftuchträgerinnen hier eine Frei- grationserschwerend wirken und ein faktis- heit genießen, die sie in der Türkei nicht ches Berufsverbot für viele muslimische haben. Parallelgesellschaften und Ghettos Frauen darstellen. Und es wird wieder ein- sind nicht in erster Linie von den Migran- mal versucht werden, ein Thema per Gesetz ten geschaffen worden, sondern von einer zu regeln, das eigentlich im Miteinan- verfehlten Integrationspolitik. Der erhoffte derleben und in der gesellschaftlichen Ver- Impuls eines Kopftuchverbots als Be- ständigung zu behandeln wäre. Die indi- freiungsschlag für die unfreiwilligen Kopf- viduelle Eignungsprüfung und ggf. das Dis- tuchträgerinnen (unter Lehrerinnen und ziplinarrecht sind bestehendes Instrumen- Schülerinnen) dürfte eine kleine Minder- tarium der Schulbehörden und des Staates, heit betreffen, und offenbar keine der und Bundesländer, die es auch in Zukunft derzeit anstehenden Kandidatinnen. dabei belassen, können als Modell dienen.

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BERICHTE Michael Nüchtern, Karlsruhe Die Verwandlung des Gewöhnlichen Warum boomen Kochsendungen im Fernsehen?

Erscheinungen des Zeitgeistes gleichen mit Ted Herold. Nach kurzer Pause beginnt einer Bilderschrift, die sich entziffern und um 18:15 Uhr das „Kochduell“ in Vox. Ver- übersetzen lässt. So unterschiedliche Phä- säumt wurden dabei die Reisewege Bo- nomene wie die Zunahme von gelände- densee, wo es diesmal unter anderem gängigen Allrad-Pkws auf Straßen in auch Rezepte von „helvetischen Ufern“ einem Land, in dem selbst Feldwege ge- gab. Biolek lässt sich natürlich auch am teert sind, die Harry-Potter-Hysterie oder Samstag in diversen dritten Programmen die atemberaubende Karriere eines Be- verfolgen. Auf Video aufgenommen wer- griffs wie Wellness sind nicht gänzlich den sollte dagegen wegen der Überschnei- zufällig, sondern lassen sich interpretieren dung mit dem Kochduell unbedingt in und auch ein Stück weit deuten. SWR 3 ab 18:15 Uhr „Lafers Himmel und Erd“. Glücklicherweise steht an diesem Von Bio bis Vincent Klink Freitag nicht „Kochkunst“ mit Vincent Klink auf dem Programm. Schuhbecks Zu den Auffälligkeiten der Zeit gehört die bayerische Hausmannskost für Fein- Zunahme der Kochsendungen im Fernse- schmecker lässt sich gemütlich und kon- hen. Prominente Köche raspeln, schnei- kurrenzlos am Sonntag als Dessert genie- den, rühren, kneten, mischen mit anderen ßen. Kochen ist – berücksichtigt man die Prominenten plaudernd an Küchenblock Medienpräsenz – offenbar enorm wichtig und Herd-Ensemble vor einem Millionen- und selbst ein Star im Fernsehen. Warum? publikum. Wer nennt und kennt die Na- men nicht: Lafer, Schuhbeck, Klink, Biolek Man gönnt sich ja sonst nichts … … Kochduelle ergänzen das Spektakel. In Reisesendungen über ferne, vorwiegend „Schlaraffenland – nimm’s in die Hand!“ – mittelmeerische Länder verraten der Kü- hieß ein politisch korrektes Kochbuch im chenchef oder die Großmama das alte lan- (linken!) Wagenbach-Verlag aus dem An- destypische Rezept. fang der 1970er Jahre. Der Untertitel war An einem gewöhnlichen Freitag, z. B. programmatisch: „Kochbuch für Gesell- 10. Oktober 2003, können Kochhungrige schaften, Kooperativen, Wohngemein- in Pro Sieben um 11:25 Uhr mit „Zacherl: schaften, Kollektive und andere Men- einfach kochen!“ beginnen. Um 11:35 schenhaufen sowie isolierte Fresser“. Da Uhr sollte man aber schnell und unbedingt es keine Rezepte für die bürgerliche Klein- zu „Johann Lafer – Genießen auf ita- familie enthielt, waren nicht nur die Men- lienisch“ ins ZDF umschalten. Ab 16:30 genangaben entsprechend groß; immer Uhr gibt es in Alfredissimo (ARD) wieder sorgten auch Zitate von Brecht, Quetsch-Kartoffeln und Wirsing-Rouladen Marx und Bloch für das richtige Kochbe-

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wusstsein im Kollektiv. Die Lust am Abschied von Alltag und Werktag Kochen wurde nicht verschwiegen, aber sie wurde dadurch, dass Kochen als „Ar- Kochsendungen verteilen sich nicht beit für sich selber und zugleich für an- gleichmäßig über die Fernsehwoche. Sie dere“ definiert wurde, über die Idee des häufen sich am Wochenende, wobei letz- Sozialen gleichsam gerechtfertigt. Für den teres etwa am Freitagmittag beginnt (s. o.). (westdeutschen) kirchlichen Raum brachte Der Sendeplatz ist Programm. Kochen im die „Beratungsstelle für Gestaltung“ in Fernsehen ist „something for the week- Frankfurt 1977 im Auftrag der „Aktion end“. Die Absicht ist nicht, dass die Haus- Dritte Welt Handel“ das Werkbuch „Ge- frau wie auf alten Abreißkalendern oder meinsam Kochen“ heraus. Ausdrücklich Fleischerzeitungen der 1950er Jahre einen schreibt das Autorenpaar Eileen Candappa Tipp für ein preiswertes, gesundes und ab- aus Sri Lanka und der Studierendenpfarrer wechslungsreiches Mittagessen erhält. Harry Haas im Vorwort: „Wenn wir etwas Faktisch und zumindest am Werktag herr- vermitteln wollen, so sind es nicht be- schen nämlich Fastfood und Fertiggericht stimmte Rezepte, sondern es ist das Zu- in deutschen Töpfen und Schüsseln. Die sammensein.“ Kochen und Essen dienen Mikrowelle und nicht das mehrgängige der Gemeinschaft, der Bildung, der Auf- Menü ist die Metapher für die deutsche klärung über Frauenrollen und Dritte- Küche. Nie zuvor wurden in Deutschland Welt-Handel. so viele Fertiggerichte verkauft wie in der Solche Rechtfertigungen braucht es für Zeit, in der gleichzeitig auch so viele Koch- Kochen und Essen in der Erlebnis- und bücher gedruckt und gekauft wurden wie Spaßgesellschaft nicht mehr. Der sinnliche nie zuvor. Genuss hat seinen Wert in sich selbst. Er Dieser auffällige Befund muss in zwei bedarf keiner Rechtfertigung, sondern Richtungen gedeutet werden: rechtfertigt selber alles andere. Ästhetik, nicht Ethik steht im Mittelpunkt. Kochen 1. Beim Kochen im Fernsehen geht es um im Fernsehen steht zunächst für die einen virtuellen Genuss. Das Medium Gewissheit unmittelbaren Genießens in Fernsehen ist dadurch gekennzeichnet, der Unsicherheit des Lebens und der Welt. dass es die sinnlichen Genüsse nicht un- Orale Bedürfnisse und Lüste sind die mittelbar erleben lässt, sondern die Per- elementarsten und frühesten des Säugers spektive des Voyeurs gewährt. Wir lieben Mensch. Gefühle passiver, wohliger Ge- nicht, sondern sehen zu, wie andere lie- borgenheit auslösen zu können, lässt sich ben; wir spielen nicht, sondern sehen zu, das Medium Fernsehen nicht entgehen. wie andere spielen; wir diskutieren nicht, Die Mattscheibe versucht sich als Mutter- sondern sehen zu, wie andere diskutieren; brust. Die Kochsendungen gehören in eine wir kochen nicht, sondern sehen zu, wie Welt, der die Zeitdiagnose „Wir amüsieren andere kochen und essen. In dieser Per- uns zu Tode“ (Neil Postman) gestellt wird. spektive dient das Fernsehen nicht dem So ungefähr wusste das der Apostel Paulus realen Leben, z. B. dem eigen Kochen, auch schon: „Lasst uns essen und trinken, sondern schafft seine eigene Wirklichkeit, denn morgen sind wir tot“ (1. Kor 15,32). an der wir durch Zuschauen Anteil gewin- Eine protestantisch-asketische Deutung nen und uns „satt sehen“. Wir sehen, wie und Beurteilung der Kochsendungen im sich Gewöhnliches verwandeln, veredeln Fernsehen alleine würde freilich zu kurz oder vervollkommnen lässt – und das greifen. vergewissert über den Sinn der Welt.

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Das Risiko des Misslingens fällt in der me- vollzieht sich die Veredlung und Ver- dialen Inszenierung des Kochens fort. Plei- feinerung von Lebensmitteln und Sätti- ten, Pech und Pannen, die im Alltag des gungsbeilagen in Kunstwerke. Bei der Ein- Lebens und des Herdes normal sind, feh- ladung der Freunde gibt es dann nicht ein- len im Fernsehen bzw. haben einen eige- fach frittierten Fisch im Weinteigmantel, nen Sendeplatz. Die Gerichte der Profis sondern ein Gericht des Sternekochs oder gelingen immer und oft auch im Zeitraffer. die Erinnerung an den Strand von Patmos. Sie sehen lecker auf dem Teller aus. Bio Das deutende Wort, das die vor aller Au- und seine Gäste überbieten sich in begeis- gen liegenden Fischstücke in ein Produkt terten Hmms und Ohs nach dem ersten aus dem Gourmettempel verwandelt, wird Bissen. Kochsendungen fügen sich so per- nicht immer gesprochen. Aber der Hob- fekt ein in die schöne Welt medialen bykoch weiß es und ist gewiss, dass vom Scheins. Sie sollen primär unterhalten – Ruhm des Schöpfers des Gerichts etwas und nicht in erster Linie Kochrezepte auf ihn fällt. In jedem Fall fungiert das liefern! Gericht als sichtbares Zeichen, ja Real- präsenz einer anderen, besseren Welt. 2. Kochen gehört nicht mehr zum Alltag, sondern zum Festtag. Es ist als gesell- Wie Priester hinter dem Altar schaftliches Ereignis, über das man spricht und das man im Fernsehen bestaunt, von In der Mehrzahl sind es Männer, die im Werktag und Speiseplan entkoppelt und in Fernsehen kochen. Wir sehen zu, wie sie die Sphäre des Besonderen gewandert. hinter der modernen, blank geputzten Stu- Das zeigt sich auch in der Entwicklung der dioküchenzeile hantieren. Kamera und Küchenarchitektur zum Gesellschafts- und Perspektive machen aus dem geübten, Erlebnisraum mit Herd in der Mitte und schnellen Feinschneiden der Schalotten großem Tisch in der Ecke. eine magische, heilige Handlung, die wir Laien nur bestaunen können. Der Reiz Insofern ist es nicht ausgeschlossen, dass und das Geheimnis des Kochens im Fern- die Gerichte der Schuhbecks und Klinks sehen ist sein kultischer Charakter. Schräg doch auch dem realen Kochen dienen. und erhöht liegt Bioleks großes Rezept- Wie die Muster der Medieninszenierungen buch zwischen Herd und Anrichte, in das die Rituale der Alltagswelt prägen, wenn der Meister immer wieder einen Blick Jugendgruppen „Wetten, dass …“ oder wirft, damit er keinen Fehler macht. Auf Fernsehratespiele imitieren, so wirken das Buch könnte verzichtet werden. Die auch die Kochsendungen in die häusliche Kamera könnte leicht die Illusion des Küche hinein. Man kocht das Gericht von Freigesprochenen und -gekochten erzeu- Lafer oder Bio nach und verlängert so den gen. Offensichtlich gehört das Buch zur In- Glanz des Fernsehens und des Sterne- szenierung. Das Kochbuch soll natürlich kochs ins eigene Leben. So wie man Re- verkauft werden, aber es erinnert in seiner zepte aus fernen Ländern und dem Urlaub Präsentation auch von ferne an das Mess- in der Toskana zuhause wiederholt, um ein buch auf dem Altar. Stück des Urlaubsparadieses in den Alltag Wir Zuschauenden nehmen an einer heili- zu retten, so gewinnt man durch Nachah- gen Handlung teil, die gewiss mit Essen et- mung des Gerichts Anteil an der beson- was zu tun hat, deren Sinn sich aber nicht deren und makellosen Welt des Fernse- in der Befriedigung leiblicher Bedürfnisse hens. Im Fernsehen – aber nicht nur dort – erschöpft. Wir gewinnen zuschauend in

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geistigem Sinne oder durch Nachahmung realen letzten Mahles Jesu mit seinen Anteil am Besonderen. Schlichtes Gemüse Jüngern, an der die Feiernden nun mit teil- verwandelt sich in Genüsse. Fisch wird nehmen. Wie die Gemeinde vor dem Al- verfeinert und vollendet. Im Kochduell wird tar, so befinden sich die Zuschauenden der aus wahllos und wild Gekauftem Harmo- Kochsendungen vor Anrichte und Herd, nisches komponiert. Nicht plumpe orale hinter dem die Priester mit ihren Helfern Bedürfnisbefriedigungen machen den Reiz agieren. und die Attraktivität der Kochsendungen Die bei Kochsendungen gewährte Kom- im Fernsehen aus, sondern die eher geisti- munion ist mehrfach; sie bezieht sich auf gen Vorgänge der Vermittlung von Sinn. Personen, Orte und Handlungen. Wer Kochsendungen im Fernsehen stillen Kochsendungen sieht, gewinnt zusehends durch die Zubereitung von Speisen geisti- Gemeinschaft mit der Prominenz, die gen Hunger. Es sind Messen, freilich kocht. Ohne das eigene Haus zu ver- verkappte. lassen, wird man anwesend im Allerhei- ligsten des Gourmettempels des Drei- Kommunion und Verwandlung Sterne-Kochs – in der Küche der Lafers, Witzigmanns und Schuhbecks. Unter den Die Beziehungen zwischen Abendmahl Augen verwandeln sich alltägliche Le- und neuen Medien sowie die Beerbung bensmittel in exquisite Köstlichkeiten. Die des ersteren durch die letzteren hat Jochen Möglichkeit der Nachahmung dessen, was Hörisch in mehreren Studien aufgedeckt man sieht, wird eröffnet. und interpretiert: Im Abendmahl ver- Die Kochsendungen im Fernsehen dienen schränke sich Sein und Sinn; es verspre- nicht auf indirekte Weise der Sättigung, che, dass Sein sinnvoll und Sinn existent sondern der Erhebung der Zuschauenden sei. Eben dieses Versprechen macht das durch die Teilnahme am Besonderen. Fernsehen und gerade auch in seinen Nicht mit Ethik kommt man ihnen bei, Kochsendungen. Ja, man könnte sagen: sondern mit Liturgie und Spiritualität. Wer den Sinn von Sein versprechen will, Menschen sind der Überhöhung ihres All- stößt notwendig auf das Thema Kochen tags bedürftig. Neben der medialen Koch- und Essen. gemeinschaft mit der Prominenz ist die Bei den Kochsendungen im Fernsehen ist Anwesenheit bei einer gelingenden Ver- die Beziehung zwischen dem Abendmahl wandlung der Reiz der Kochsendung. Eine und dem Medium besonders deutlich. Ist Verwandlung ist jeder Kochvorgang – und doch die Feier des Abendmahls selbst das zugleich eine der tiefsten Sehnsüchte des Gedächtnis und die Wiederholung des Lebens.

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Matthias Pöhlmann Virtuelle Kosmetik als Programm Neue Initiativen der umstrittenen Thelema Society Michael D. Eschners

Kritische Reportagen provozieren Wider- aus dem engeren Kreis der TS protokolliert spruch. Jüngstes Beispiel: Am 8. Februar wurden (www.new-eon.de/index.php?ts_ 2004 zeigte das ZDF in der sonntäglichen monalisa_material). Die Absicht ist klar: Magazinsendung „Mona Lisa“ den Film- Es soll der Eindruck erweckt werden, der bericht „Der Mensch sei Gott – Die okkult- Journalist Fromm habe unzutreffend über esoterische ‚Thelema Society‘“ des Journa- die TS berichtet. Solcherlei Vorwürfe der listen Rainer Fromm, der vor kurzem in kritisierten Gruppe sind nicht neu. Neu ist einem Buch eine kritische Bestands- sicherlich, dass Eschner und die TS sich aufnahme zum „Satanismus in Deutsch- überhaupt kritischen Fragen stellen. land“ (München 2003) vorgelegt hat (vgl. Gleichzeitig bestreiten sie – auch rück- die Rezension im MD 3/2004, 116). Im blickend – alle von Opfern erhobenen Zentrum seines Filmbeitrags standen z.T. Vorwürfe. Im Gegenzug wird nach außen drastische Erfahrungsberichte von zwei hin mit vielfältigen Initiativen ein neues Frauen, die rückblickend über ihre leid- Erscheinungsbild der TS präsentiert. volle Zeit in dieser Gruppe berichteten. Auch der Gründer der Gruppe, Michael „Thelema: Der Kult des Stern Dietmar Eschner (Jg. 1949), kam in dem und der Schlange“ Beitrag zu Wort. Er wies alle Vorwürfe der Gewaltanwendung entschieden zurück. 2002 erschien eine Sonderausgabe der Eschner war 1992 wegen gefährlicher Kör- Zeitschrift AHA mit dem Titel „Thelema: perverletzung und Vergewaltigung eines Der Kult des Sterns und der Schlange“. Gruppenmitglieds zu einer sechsjährigen Das 66 Seiten umfassende Heft erläutert Haftstrafe verurteilt worden. in Form einer Selbstdarstellung das An- Nach Ausstrahlung des kritischen Beitrags liegen und die Ziele der „Thelemiten“. ließ der Protest der Gruppe nicht lange „Thelema“, das altgriechische Wort für auf sich warten. Zorn und Wut von Mit- „Wille“, wird aufgrund des gleichen gliedern und Sympathisanten entluden Zahlenwertes im kabbalistischen Sinne sich im virtuellen Netz. Man ging zur mit Agape (Liebe) gleichgesetzt. Die Gegenoffensive über. Auf der Internet- TS beruft sich dabei auf „die Bibel des plattform „New Aeon City“, die zum Um- Neuen Äons“, das „Liber Al vel Legis“, das feld der Thelema Society (TS) zu rechnen der britische Okkultist Aleister Crowley ist, hieß es: „Wir haben das Filmteam bei (1875-1947) vom 8. bis 10. April 1904 den Dreharbeiten selbst gefilmt und angeblich „in Kairo von einer über- stellen Euch hier die Abschriften der Ori- menschlichen Wesenheit, die sich Aiwass ginal Interviews zur Verfügung.“ Per Maus- nannte“ über Diktat empfangen haben klick gelangt man an den entsprechenden soll. Eschner hält sich nicht nur für den Ort im Netz, an dem die Gespräche des geistigen Erben Crowleys, sondern auch Journalisten mit Eschner und zwei Frauen für dessen Wiedergeburt.

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Die „Thelemiten“ sehen sich der Leitidee Fähigkeiten hatten, die über die mensch- des Neuen Äons verpflichtet: „Tue was Du lichen Fähigkeiten weit hinausgingen: willst sei das ganze Gesetz. Liebe ist das übermenschliche Fähigkeiten zu Liebe, Gesetz, Liebe unter Willen. Der Tod, o Kampf, Schöpfung und Freude – und weil Mensch, ist dir verboten“ (Thelema: Der sie unsterblich waren.“ (ebd.) Kult des Sterns und der Schlange, 6). Die TS, die aus Menschen Götter machen Neue Initiativen: vom Thelema-Netzwerk will, bezeichnet sich auch als „Kult des über Ethos Gemeinschaft Thelema zur Sterns und der Schlange“: „Unser blauer Thelema Society Planet ist der Kindergarten der Götter. Jetzt werden wir erwachsen und überwin- Das Jahr 2001 wird von der Gruppe, die den die materielle Welt. Wir sind nicht ge- sich seit 1993 als „Ethos Gemeinschaft boren, um Staub zu werden. Wir sind Thelema“ (zuvor: „Netzwerk Thelema“) Sterne mit der Kraft der Schlange, ge- bezeichnet, rückblickend als Zäsur betrach- boren, um Welten zu erschaffen, Welten tet: „Mit der Umbennennung in ‚Thelema zu zerstören und Welten zu erhalten“ (9). Society‘ wird eine neue Phase begonnen. Der Stern gilt dabei als eine Art inneres Die klassische (hierarchische) Gradstruk- Potential des Menschen, als „Metapher für tur wird ersetzt durch parallele, thema- den inneren Kern jedes Menschen, den tisch orientierte Kerngruppen – Wählen & Sinn seines individuellen Lebens und Gestalten der Entwicklung: Selbsterschaf- seinen Wahren Willen, in dem sich dieser fung rückt (wieder mehr) in den Vorder- Sinn ausdrückt: ‚Jeder Mann und jede grund. Die Thelema Society öffnet sich ab Frau ist ein Stern.‘“ Die Schlange wie- 2000 verstärkt nach außen, knüpft Kon- derum steht „für die spirituelle Kraft jedes takte in der Szene und zu anderen spiri- Menschen, welches als Kundalini-Shakti tuellen Gruppen. ... Den tiefgreifenden bezeichnet wird, was mit Schlangenkraft Veränderungen wird durch den neuen übersetzt werden kann“. Ziel ist es, mit Namen Ausdruck verliehen.“ Hilfe bestimmter Techniken diese Schlan- Seit den letzten Jahren vergrößert die TS genkraft zu erwecken und den Menschen ihre Anstrengungen, um – der öffentlichen in eine neue Daseinsform zu überführen, kritischen Berichterstattung zum Trotz – wobei er einen „unsterblichen Astralkör- esoterisch interessierte junge Menschen per“ erhält. Wenn dies gelingt, also anzusprechen. Dies geschieht durch neue „Stern“ und „Schlange“ einander ergän- Kommunikationsmedien (Internet, DVD), zen, wird der Mensch zum Gott: „Wir neugeschaffene interne Strukturen sowie nennen Menschen, die dieses Potential durch Veranstaltungen und „Events“ in verwirklicht haben, Immortalisten. Sie größeren Städten Deutschlands. Im Fol- leben in und zwischen den Dimensionen genden sollen die einzelnen Initiativen der Inneren und Äußeren Räume und Zei- gesondert betrachtet werden. ten. Sie leben in einer endlosen Welt der Freiheit und der Abenteuer, des Kampfes • Internet-Plattform www.new-aeon.de: und der Liebe. Sie leben in einer Welt, die Selbstsicher behaupten die Betreiber der sie selbst erschaffen, so wie sie sich selbst Internetplattform New Aeon City, „daß erschaffen haben. Diese Menschen sind die Community NewAeon City eine der Götter geworden.“ (ebd.) Intendiert wird professionellsten Internetplattformen (ist), dabei „das pralle Leben der alten Götter“: an der sich Esoteriker, Hexen, Satanisten „Die Alten Götter waren Götter, weil sie und Okkultisten beteiligen – wir meinen

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sogar: die professionellste solche Platt- kannst du dir dein eigenes Bild machen.“ form“. Wenngleich sie in diesem Zusam- In Interviews äußern sich u.a. der Öster- menhang bestreiten, dass es sich dabei reicher Thomas Kovacs, der auch einen um „das okkult-esoterische Internet-Netz- Vortrag über „Mystik und Kabbala“ hielt, werk der Thelema-Society“ handelt, so sowie überraschenderweise auch Bert- fällt doch auf: In den vergangenen 18 hold Röth, AHA-Autor und dritter Vor- Monaten hat sich die Mitgliederzahl der sitzender des okkultistisch geprägten registrierten Nutzer nach Aussagen der Dachverbandes Concilium GENA, den Betreiber „mehr als verdoppelt“. Gleich- die TS nach schweren internen Auseinan- zeitig wird sie intensiv zu Werbezwecken dersetzungen verlassen hat (vgl. MD für die TS genutzt. Spätestens seit Grün- 1/2003, 31f). Er sieht die Brücke zwischen dung der virtuellen Plattform New Aeon der TS und der von ihm – Röth – vertrete- City im Internet, die im Herbst 2001 nen -Religiosität hauptsächlich dar- geschaffen wurde und mittlerweile über in, dass die TS sich neuerdings in höhe- 5000 Nutzer vorweisen kann, betreibt die rem Maße „als Religion“ definieren TS eine mulitmedial angelegte Öffent- möchte. lichkeitsarbeit. Auf ihrer eigenen Internet- seite stellt sie sich als die „derzeit aktivste • „Thelema-Konvente“: Die TS strebt in und bedeutendste thelemitische Grup- der okkult-magischen Szene eine stärkere pierung Deutschlands“ vor (www.thelema- Vernetzung an. Hierzu führt sie seit No- societey.de). vember 2003 in Berlin, Frankfurt a. M., Stuttgart und Leipzig sog. Thelema-Kon- • DVD-Image-Kampagne: Vor kurzem vente durch. Auf der Internetseite der TS hat die Thelema Society eine DVD mit heißt es dazu: „Ein Thelema-Konvent ist dem Titel „Das Thelema Society Festival eine Veranstaltung, die etwa jeweils 2 x 2003. Eine Dokumentation“ veröf- im Jahr in verschiedenen großen Städten fentlicht. Die DVD kostet 15 Euro und Deutschlands stattfinden und als Anlauf- kann beim Tiphareth Verlag bezogen wer- stelle des Netzwerk 93 für Thelemiten, den (www.aha-zeitschrift.de). Darauf zu Freunde und Interessierte dienen. Für je- finden ist ein Mitschnitt des letzten Som- weils ein Wochenende werden Workshops, merfestivals (21. – 25. August 2003) in Vorträge, Rituale und andere Veranstaltun- Bergen-Dumme, dem Sitz der Thelema gen konzipiert ... natürlich neben der Society. Außerdem enthält sie Ausschnitte Möglichkeit, sich im lockeren Gespräch aus den Vorträgen und Workshops, Inter- auszutauschen.“ views mit Festivalgästen sowie Informatio- nen über die Gruppe. Wie es heißt, haben • Einrichtung des „Netzwerk 93“: Hierzu sich viele der Teilnehmer über die New heißt es: „Das Netzwerk 93 ist der Zusam- Aeon City-Gemeinschaft im Internet ken- menschluß thelemisch arbeitender Grup- nen gelernt! Die TS preist ihr mediales pen und Einzelpersonen, der aus der er- Produkt als „Novum“ an: „Es ist der erste heblich intensivierten Zusammenarbeit der Film von der TS über sich: über die Ge- Thelema Society mit anderen Gruppen in meinschaft, die seit 25 Jahren Impulse für diesem Jahr hervorgegangen ist. Der Aus- das Neue Aeon und die magische Szene gangspunkt dieser Entwicklung waren die gibt. Über die Gemeinschaft, die von der zum diesjährigen Liber Al Fest gegründe- Presse als ‚gefährlichste Psycho-Sekte ten und in der Zwischenzeit sehr lebendi- Deutschlands‘ ausgemacht wurde. Jetzt gen neuen Kreise der Thelema Society –

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ein erster Höhepunkt war das TS Sommer- Zweck in der Regel in der näheren Umge- festival, zu dem sich genau 93 Gäste in bung wohnen oder anders sicherstellen Bergen einfanden, um in Workshops, können, regelmäßig an den entsprechen- Vorträgen, Performances und Ritualen 5 den Veranstaltungen teilzunehmen.“ Fol- Tage lang vorzuleben, mitzuteilen und er- gende Themen spielen eine Rolle: „Bauch- lebbar zu machen, was ihre Vision des tanz, afrikanischer Tanz, Trommeln, Tai neuen Aeons und einer thelemischen Le- Chi, Kampfkunst, Yoga, Body Building, bensform bedeutet. Gemeinschaften, die Dehnungsübungen, Energiearbeit, , sich dem Netzwerk 93 anschließen, errei- , Philosophie, Magick, Psycho- chen eine Potenzierung der eigenen Kräf- logie, Soziologie, Symposien, bewußt- te durch Synergien und durch Erfahrungs- seinsverändernde Techniken, Computer- und Wissensaustausch mit anderen Grup- spiele spielen und gestalten, Program- pen. Dieser Effekt ist offensichtlich für mieren, Communities im Internet...“ jede Gruppe interessant, die sich der Rea- Als Mitglieder des zweiten Kreises werden lisierung des Neuen Aeons verpflichtet solche bezeichnet, die zwar an der Arbeit sieht.“ Damit wird die Hoffnung verbun- der TS interessiert sind, aber nicht regel- den, dass das Netzwerk 93 „bereits Mitte mäßig an Veranstaltungen teilnehmen des Jahres 2004 diverse hundert Mitglie- können. Wie es heißt, hätten sie jedoch der umfassen“ könnte, „die in Deutsch- die Möglichkeit, „eine individuelle Be- land, Österreich, der Schweiz und voraus- ratung zum Wahren Willen und thelemi- sichtlich weiteren europäischen Ländern tischer Lebensgestaltung, Fragen von aktiv an der Realisierung des neuen Aeons Sinn- und Lebensgestaltung in Anspruch arbeiten“. Damit ist deutlich, dass nach zu nehmen“. Erwartet wird ein Mitglieds- den Erfahrungen mit der gescheiterten beitrag in Höhe von 3 Prozent des Netto- Dachverbandsgründung die TS sich grö- einkommens bzw. von minimal 20 Euro. ßere Einflussmöglichkeiten in der okkult- Als Mitglieder des dritten Kreises gelten magischen Szene erschließen möchte. In- alle Personen, die die Arbeit der TS ideell tendiert wird damit offensichtlich ein grö- und auch finanziell durch Spenden unter- ßerer, wenngleich verdeckter, Werbeeffekt stützen. für die TS. Medial inszenierte Arbeit an der • Das Modell der „3 Kreise der Thelema thelemitischen Außenfassade? Society“: Die TS hat eine neue interne Struktur entwickelt. Hierzu heißt es: „Die Die TS spricht mit ihrem Angebot Men- Zusammenarbeit innerhalb der drei Kreise schen zwischen 20 und 40 an, die an al- unterscheidet sich durch den Grad an ternativer Spiritualität, Esoterik und Magie Verbindlichkeit und Nähe, den die Mit- interessiert sind. Über das professionell glieder anstreben.“ gestaltete Internetportal New Aeon City Den ersten Kreis bildet die „Kerngemein- kommt man mit dem breit gefächerten schaft“ in Bergen. Sie „bildet das Zen- okkult-esoterischen Angebot anonym bzw. trum, die Kraftquelle und den Motor der über sogenannte „Nicknames“ schnell in Thelema Society“. Er dürfte etwa 30 Per- Berührung, begegnet sich in Diskussions- sonen umfassen und ist eigenen Angaben foren und tauscht Gedanken aus. Dieser zufolge für Menschen bestimmt, „die sehr virtuelle Kontakt soll – so die offen- intensiv an ihrer persönlichen Entwick- sichtliche Strategie – über Einladungen zu lung arbeiten wollen und zu diesem regionalen Treffen oder zum alljährlichen

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Sommerfestival in einen persönlichen überführt werden. Die neu geschaffenen INFORMATIONEN Veranstaltungsformen und neu entwi- ckelte interne Organisationsstruktur sollen ESOTERIK einen „Verdichtungseffekt“ erzielen, d.h. die einzelnen Interessenten sollen im Kawwana am Ende? Kerstin und Thorwald „Netzwerk 93“ bzw. im sog. 3. Kreis der Dethlefsen laden zu „Privat“-Veranstal- TS „gesammelt“ werden. Gerade im letz- tungen ein. (Letzter Bericht: 6/2003, teren besteht die Möglichkeit, lose – zu- 232ff) Ruft man die Internetseite www. mindest aber finanziell fördernd – mit der kawwana.de auf, so findet man lediglich Gruppe in Kontakt zu bleiben oder ganz den Satz: „Kawwana ist das Ziel – das nach Bergen zu ziehen. Der innere, sog. Ziel, es heißt Kawwana“. Dethlefsens Pro- 1. Kreis bleibt in seinem Anspruch als Mo- jekt einer „Kirche des Neuen Aeon“ tor und Vordenkerkreis fest bestehen. scheint – zumindest in der bisherigen Über die dortigen internen Vorgänge und Form – am Ende. Dies ließen bereits Praktiken lässt sich derzeit wenig sagen. zurückliegende Aussagen des Kawwana- Großer Wert wird gegenwärtig auf die Ar- Gründers und „Vicarius“ Dethlefsen ver- beit an der „Außenfassade“, also am Er- muten (vgl. MD 6/2003, 232ff). Dafür, scheinungsbild in der Öffentlichkeit ge- dass die „Kirche“ nicht mehr in der bis- legt. Im Inneren bleiben die alten Struk- herigen Form fortgeführt wird, spricht turen gleichwohl erhalten. Es ist davon auch, dass neuerdings per Post nur noch auszugehen, dass ein tiefgreifender Wand- Einladungen zu Veranstaltungen „mit lungsprozess der TS trotz mancher multi- Thorwald Dethlefsen“ bzw. „mit Kerstin medial inszenierten Neuerung nicht zu er- Dethlefsen“ (der Ehefrau) verschickt wer- warten ist. Dies belegen nicht zuletzt die den – offensichtlich an den Personenkreis, im Filmbeitrag gezeigten Interview-Aus- der Interesse an den vergangenen sagen Eschners, der keinerlei Schuldbe- „Kawwana-Events“ geäußert hatte und in wusstsein erkennen ließ. Diese neue PR- den entsprechenden Verteiler aufgenom- Aktion steht offensichtlich im Zusammen- men wurde. hang mit den Auseinandersetzungen in Ende Februar wurde eine Übersicht mit der Okkultszene um den Dachverband Veranstaltungen für das Jahr 2004 ver- Concilium GENA (vgl. MD 1/2003, 31ff). schickt. So sind für Ende Mai/Anfang Juni Hinzu kommt noch die kritische Bericht- bzw. in der ersten Juliwoche wieder die erstattung in den Medien, gegen die man „Himmlischen Sinnlosigkeiten I und II“ sich offensiv zur Wehr setzen möchte. für Menschen ab 50 im Botanikum Als Eindruck bleibt: Die von der TS ent- München zur Gebühr von 555 Euro im wickelten neuen Formen haben nur Programm. Dazu heißt es: „Diese fünf virtuell-kosmetischen Charakter. Außen- Tage sind eine Art ‚Buffet‘, auf dem Kost- stehende bzw. okkult-magische Sinn- proben der verschiedensten geistigen sucher mögen das von der TS medial Speisen serviert werden – geistige Häpp- inszenierte Bild für verlockend halten. chen (Bücher – Zitate – Gedanken), zum Dabei übersehen sie das im „Kult des Probieren, zum Genießen – in Ruhe...“ Stern und der Schlange“ innewohnende Warum sich Dethlefsen an die spezielle konfliktträchtige Potential, das in der the- Altersgruppe der über 50-Jährigen wen- lemitisch propagierten Selbstvergottung det, wird im Einladungstext näher er- des Menschen nach wie vor stecken kann. läutert: „Die dritte Lebensphase, der sich

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der Mensch ab der heute sog. ‚mid-life- ADVENTISTEN crises‘ zu nähern beginnt, dieser Herbst des Lebens, bringt den Menschen Der Antichrist in der ACK. (Letzter schließlich mit der Geistigkeit in Kontakt. Bericht: 10/1997, 317f) Seit Januar er- Jetzt gilt es, Geistigkeit zu entdecken und scheint die wichtigste deutschsprachige genießen zu lernen.“ – „Jason, die Ar- Zeitschrift der Siebenten-Tags-Adventisten gonauten und die Suche nach dem Gol- (STA), das Adventecho, in neuer Auf- denen Vlies“ heißt der diesjährige dritte machung. Man hofft damit die Auflage und letzte Programmpunkt, der vom 23. von derzeit lediglich rund 6500 Exem- bis 27. August wiederum für fünf Tage plaren deutlich steigern zu können; im- „auf einer Isar-Insel – auf der Prater-Insel“ merhin leben in Deutschland etwa 22000 zum Preis für 555 Euro vorgesehen ist. adventistische Familien. Angekündigt sind „5 Tage Mythos – 5 Tage Die Dezemberausgabe 2003 und damit magische Wirklichkeit“ – eine Veranstal- die letzte Ausgabe des „alten“ Adventecho tung, die für Menschen geplant ist, die präsentierte den Lesern eine Beilage zum auch jünger als 50 sind. Thema „Der Antichrist“. Es handelte sich Als Novum liegen den Einladungen zu um den (gekürzten) Nachdruck eines den speziellen Angeboten des Kawwana- Fachbeitrages aus der englischsprachigen Gründers auch Hinweise auf Veranstaltun- Adventist Review vom 25. Mai 2000. Der gen von Ehefrau Kerstin bei. So findet vom Autor, Woodrow W. Whidden, ist Theolo- 4. bis 8. Oktober bzw. vom 1. bis 5. No- gieprofessor an der adventistischen An- vember 2004 jeweils ein Kurs mit dem Ti- drews-Universität in Berrien Springs tel „Die fünf Vitamine. Ein Gewinnspiel (Michigan). Warum dieser Beitrag dreiein- für die Seele“ statt. Er richtet sich an halb Jahre nach seinem ersten Erscheinen „Spielernaturen im Erwachsenenalter“ nunmehr in Deutschland publiziert wird, und bietet eigenen Angaben zufolge „Fünf bleibt ungesagt. Tage Unterricht in den Fächern“ „Qual- Der Autor eröffnet seine Überlegungen quellen-Analyse (die Kleshas)“, „die fünf gleich in der ersten Zeile mit der rheto- VITAmine (die Tattwas)“, Motivations- rischen Frage: „Welche Haltung sollten Training, Lebensziel-Fokussierung, „Sezier- Adventisten heute gegenüber der katholi- Kurs: Einführung in die Pathologie psy- schen Kirche und dem Papsttum ein- chischer Leichen“ sowie „Leiden und nehmen? Ist es Zeit, unseren traditionellen Lieben Lernen“. Auch ein „Praktikum“ ist Standpunkt zu ändern?“ Langsam tastet vorgesehen: „Im Praktikum bearbeiten wir sich Whidden an das schwierige Thema das Thema ‚Flurbereinigung‘ – über neue heran: Was sagt die Bibel über die Natur Möglichkeiten der Auflösung künstlich des Antichristen? Und: Hat sich das päpst- gesetzter Grenzziehungen und Neugestal- liche Rom in den letzten Jahrzehnten so tung moderner Seelenlandschaften; Bän- entscheidend verändert, dass eine Neupo- digung der Hybris und vorsichtige An- sitionierung des Adventismus angezeigt näherung an das Thema Demut.“ Zum wäre? Die Überlegungen ziehen einige fünften und letzten Tag heißt es schließ- Kreise und enden in der Feststellung: „Das lich: „Ende des Wahn-sinns – mit Leichen- päpstliche Rom ist immer noch die in schmaus“. Die Veranstaltung wird eben- Daniel 7 und 8, in 2. Thessalonicher 2 falls in München stattfinden. Die Teilnah- und Offenbarung 13 beschriebene große megebühr beträgt 555 Euro. Macht.“ Ein recht handfestes Ergebnis, Matthias Pöhlmann auch wenn der Autor reichlich unvermit-

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telt einräumt, dass dieses ihn „sehr trau- müht jedoch Ellen White mit einem etwas rig“ macht. Auf die abschließende rheto- mühsamen Zitat und schließt mit der all- rische Frage, ob die Adventisten nun eine gemeinen Feststellung: „Jede irdische neue Kampagne zur Entlarvung des Papst- Macht, ... deren Motivationskraft zum tums (wörtlich: „to give the Papacy a good Gehorsam nicht auf der Liebe Gottes ba- roasting“) anregen sollten, schlägt der Au- siert, wird ihre Überzeugungen und Prak- tor vor, Jesus und seine Erlösungstat tiken letztlich mit Gewalt durchsetzen.“ wieder vermehrt in das Zentrum der ad- Somit ist klar: Rom ist der Antichrist, weil ventistischen Arbeit zu rücken, zumal die Römische Kirche theoretisch ihre In- dieses Zeugnis dann „aufrichtig Suchende teressen mit Gewalt durchsetzen kann. aus dem ‚babylonischen‘ System heraus- Im Februarheft 2004 des Adventecho fand rufen kann“. sich ein kritischer Leserbrief zu Whiddens Sieht man sich die von Whidden vorgetra- Beitrag. Der Artikel sei „ein Beispiel für genen Überlegungen genauer an, so eine fragwürdige und unsaubere theologi- fallen zwei zentrale Thesen auf: Wer die sche Arbeit“ und eines Professors der An- ewige Autorität der Zehn Gebote leugnet, drew-Universität „unwürdig“. Es gelte der ist der Antichrist. Nun werden die vielmehr festzuhalten, dass die verwende- Gebote von allen Christen hoch geachtet ten Bibelstellen nicht den Antichrist be- – auch, das dürfte man in adventistischen schreiben, wohl aber das Papsttum. In- Kreisen wissen, in der katholischen Kir- sofern ist es „nicht verwunderlich, dass sie che. Dies möchte der Verfasser mit dem darauf zutreffen“. Weiter verweist der Hinweis widerlegen, dass etwa das Gebot Leser darauf, dass der Begriff „Antichrist“ der Sabbat-Heiligung (Samstag oder Sonn- lediglich in den Briefen des Johannes vor- tag) von Rom nicht hinreichend inter- kommt und zwei Kriterien nennt: Der An- pretiert wird. In der Tat gibt es in dieser tichrist leugnet, dass Jesus der Christus ist Frage Meinungsverschiedenheiten zwi- und bekennt nicht, dass Jesus Christus in schen den Adventisten und den meisten das Fleisch gekommen ist (vgl. 1. Joh ökumenischen Kirchen. Whidden zieht je- 2,22; 4,2f; 2. Joh 7). Das sind Kriterien, doch einen recht eigenwilligen Schluss die weder auf die katholische Kirche aus seinen Überlegungen: Da die rö- noch auf andere christliche Kirchen zu- misch-katholische Kirche dieses eine Ge- treffen. bot anders als die Adventisten auslegt, Auf Anfrage teilte uns die „Zentralstelle verwirft sie den gesamten Dekalog. Reich- für Apologetik“ der Gemeinschaft der lich kühn – und inkonsequent. Denn nach Siebenten-Tags-Adventisten mit, dass die dieser Logik wären nahezu alle Kirchen Entscheidung über den Abdruck des der Reformation mit dem Antichrist zu Beitrages allein vom (damaligen) Chefre- identifizieren. Eine Konsequenz, bis zu der dakteur getroffen wurde. Für diesen war der Autor offenbar nicht gehen will. das Dezemberheft die letzte von ihm ver- Ein zweites Argument des adventistischen antwortete Ausgabe; er übernahm plan- Verfassers geht davon aus, dass der Anti- mäßig zum 1. Januar 2004 eine neue Auf- christ seine Ansprüche mit Hilfe „vor- gabe. Ferner wurden wir noch einmal auf getäuschter Wunder, durch Manipulation die bekannte Position der STA hinge- oder mithilfe der Staatsmacht“ zeigt. Nun wiesen, wonach man im Papsttum den räumt der Verfasser zwar ein, dass die Antichristen sieht, nicht jedoch in be- katholische Kirche derzeit niemanden auf- stimmten Personen oder in der (ganzen) grund seines Glaubens verfolgt, er be- römisch-katholischen Kirche.

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Zweifellos steht es der Gemeinschaft der ERWECKUNGS- UND Siebenten-Tags-Adventisten frei, die rö- ERNEUERUNGSBEWEGUNGEN misch-katholische Kirche bzw. das Papst- tum zu kritisieren. Das ist nicht die Frage. Samuel Külling gestorben. Der in der Der Artikel von Whidden und sein Ab- Gegend von Thun geborene Schweizer druck ein halbes Jahr nach dem Ökume- Theologe ist am 15. Dezember 2003 im nischen Kirchentag verwundert deshalb, Alter von 80 Jahren verstorben. Am 9. Ja- weil es hier nicht um Kritik, sondern um nuar nahm eine große Trauergemeinde in Dämonisierung der katholischen Kirche der Reformierten Kirche Basel-Roehen geht. Wer ernsthaft glaubt, dass die ka- von ihm Abschied. Bereits während des tholische Kirche der in der Bibel benannte Studiums der Theologie nahm er eine ab- Antichrist sei, der müsste über die weitere lehnende Haltung gegenüber der universi- Zusammenarbeit in der Arbeitsgemein- tären Theologie ein und traf den Ent- schaft Christlicher Kirchen (ACK) oder bei schluss, eine alternative Ausbildungsform Kirchentagen nachdenken. Wer den öku- zu entwickeln, die durch unbedingte Bi- menischen Schonraum für sich in An- beltreue bestimmt sein sollte. Külling pro- spruch nimmt, muss auch die Idee der movierte 1964 an der Freien Universität Ökumene akzeptieren. Amsterdam mit einer Arbeit zum Thema Andreas Fincke „Zur Datierung der ‚Genesis-P-Stücke‘, namentlich des Kapitels Genesis XVII“ zum Doktor der Theologie und war bis ANTHROPOSOPHIE 1970 u. a. als theologischer Lehrer an der Bibelschule St. Chrischona und als Profes- www.rudolf-steiner.com: Datenbank zu sor für Altes Testament an der „Faculté Li- Schriften Rudolf Steiners im Internet. bre de Théologie Évangélique“ in Vaux- (Letzter Bericht: 12/2003, 465ff) Seit Ja- sur-Seine (Paris) tätig. 1970 kam es zur nuar 2004 ist das schriftliche Werk Rudolf Gründung der Freien Evangelisch-Theolo- Steiners als Datenbank im Internet verfüg- gischen Akademie (FETA) in Basel, die bar. Auf der entsprechenden Internetseite sich zur Aufgabe setzte, eine Ausbildung steht dem Benutzer nach einer Regist- für Pfarrer unter Verzicht auf die Metho- rierung eine Schlagwortsuche in der Ge- den historisch-kritischer Bibelforschung samtausgabe von fast 350 gedruckten zu ermöglichen. Die Hochschule trägt Bänden zur Verfügung. Die Nutzung heute den Namen „Staatsunabhängige dieses Dienstes ist kostenlos. Wie der Theologische Hochschule Basel (STH Pressespiegel von Info3 per E-Mail mit- Basel)“, sie versteht sich selbst als „ein- teilte, kamen „die Dornacher Steiner- zige bibeltreue, interdenominationelle Nachlassverwaltung und der Steiner-Verlag Ausbildungsstelle, die ein volles Theolo- mit diesem Schritt vielfachen Anfragen giestudium evangelischer Theologie auf nach einer zeitgemäßen Recherche- Universitätsniveau anbietet“. Külling war Möglichkeit entgegen, die die bisherigen mehr als 30 Jahre Rektor der Hochschule Register- und Schlagwort-Bände ablösen und Dozent im Fachbereich Altes Testa- wird“. Im Oktober 2004 wird nach einer ment und prägte durch seine langjährige Mitteilung des Steiner-Archivs die Gesamt- Tätigkeit zahlreiche Studentinnen und ausgabe der Werke Steiners auch auf Studenten. Er war im deutschsprachigen einer DVD-ROM erhältlich sein. Raum fraglos der bekannteste Repräsen- Matthias Pöhlmann tant eines Bibelfundamentalismus, dessen

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Grundlage die absolute Irrtumslosigkeit dungsstätten im Blick auf das Bibelver- (inerrancy) und Unfehlbarkeit (infallibility) ständnis durchaus verschiedene und teil- der „ganzen Heiligen Schrift in jeder Hin- weise widerstreitende Anschauungen ver- sicht“ ist. Mit seiner Auffassung stimmte er treten. Külling hat durch seine pointierten überein mit der Chicago-Erklärung zur Irr- und polarisierenden Stellungnahmen glei- tumslosigkeit der Bibel (1978), in der es chermaßen die Anliegen, aber auch die u.a. heißt: „Wir verwerfen die Ansicht, inneren Probleme und Grenzen einer be- daß die Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit stimmten Ausprägung des Evangelikalis- der Bibel auf geistliche, religiöse oder die mus zum Ausdruck gebracht. Erlösung betreffende Themen beschränkt Reinhard Hempelmann seien, sich aber nicht auf historische und naturwissenschaftliche Aussagen bezöge.“ Diese Positionsbestimmung führte ihn NEUE RELIGIÖSE BEWEGUNGEN dazu, nicht nur jede Form historisch-kriti- scher Bibelforschung auszuschließen, Shoko Asahara zum Tode verurteilt. sondern auch kritische Stellungnahmen zu Shoko Asahara, der Gründer der japani- einer gemäßigten Rezeption historischer schen AUM Shinrikyo, der Buddhismus- Bibelforschung abzugeben, wie sie in Tei- nahen Gruppe, die für den Giftgasan- len der evangelikalen Bewegung vorge- schlag in der Tokyoter U-Bahn am 20. nommen wird. In der Ausgabe 4/2003 der März 1995 verantwortlich ist (vgl. MD Zeitschrift Fundamentum (Zeitschrift der 2/1996, 43ff), wurde am 27. Februar 2004 Staatsunabhängigen Theologischen Hoch- in Tokyo zum Tode durch den Strang ver- schule Basel) würdigt Pfarrer Reinhard urteilt. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, Möller das Wirken von Samuel Külling dass Asahara wie alle anderen in diesem und weist darauf hin, dass sein „letzter Falle bisher zum Tode Verurteilten Beru- geistlicher Kampf“ sich auf die Debatte fung einlegen wird, so dass der Prozess über die angemessene Schriftauslegung in noch lange nicht zuende sein dürfte. Der der „Konferenz Bibeltreuer Ausbildungs- Saringasanschlag forderte (einschließlich stätten (KBA)“ bezog. Im letzten Rundbrief Spätfolgen) insgesamt 27 Todesopfer und der Freunde der STH hatte er begründet, viele weitere Opfer, die z.T. noch heute warum seine Ausbildungsstätte zur Zeit an den physischen und psychischen Fol- nicht mehr Mitglied der KBA sein könne: gen des Anschlags leiden. Die Sekte konn- „Seit der Gründung gehören neben bibel- te trotz des Verbrechens aufgrund der gel- treuen Ausbildungsstätten auch solche tenden Gesetzeslage nie vollständig ver- dazu, die der Bezeichnung ‚bibeltreu‘ boten werden, benannte sich aber um nach unserer Überzeugung nicht ent- und entsagte der Gewalt. Der Anschlag sprechen.“ führte zu einer erheblichen Verschärfung Wie sich hier zeigt, ist die evangelikale der Bestimmungen für religiöse Organisa- Bewegung keineswegs ein einheitliches tionen in Japan. Die Gruppe bediente sich Gebilde. Zwar ist die Betonung der ver- eines Gemischs aus buddhistischem Ge- pflichtenden Bindung an die Heilige dankengut, einigen Yoga-Elementen und Schrift und die Überzeugung von ihrer einem Endzeitszenario, das z.T. aus Com- göttlichen Inspiration ein gemeinsames puterspielen gespeist war. Asahara selbst Merkmal evangelikaler Frömmigkeit. Zu- ist halbblind und stammt aus ärmlichen gleich ist nicht zu übersehen, dass evan- Verhältnissen. gelikal geprägte Gruppen und Ausbil- Ulrich Dehn

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Lila Suka und weitere Anhänger der spiri- zu Teil wurde, sind Lila Suka und sein tuellen Lebensgemeinschaft AUM ver- engster Anhängerkreis weiter aktiv. Zu- urteilt. (Letzter Bericht: 10/2001, 344- nächst hat Lila Suka kurz nach seiner 346) Im August 2003 hat das Berliner Verurteilung seinen alten Namen, der Landgericht acht Anhänger der Berliner noch von seiner vormaligen Einweihung spirituellen Lebensgemeinschaft AUM we- bei der ISKCON stammte, abgelegt und gen gefährlicher Körperverletzung und den Namen Feroniba angenommen. Seine Freiheitsberaubung verurteilt. Die Ge- Anhänger haben begonnen, die Zeitschrift meinschaft wurde 1996 auf Initiative von Terasof – Ein Forum für die Welt und ihre Lila Suka, alias Ramin Hassani (*1962), Meister zu edieren. Hier werden in Tage- gegründet und hatte sich mit ihrem Kurs- buchform die Zwiegespräche von Fero- und Lehrangebot inzwischen als ein niba und Sof wiedergegeben, „einem En- kleiner aber fester Bestandteil des Eso- gel Gottes, einem höheren Wesen, einer terikmarktes der Hauptstadt etabliert. Die unbedingten Seele ohne Körper, der Kon- Bewegung orientiert sich dabei an einer takt mit Gott, den Engeln und den Meis- Synthese von vor allem (neo-)hinduisti- tern hat“ (Terasof 2, 6). Diese medialen schen und buddhistischen Lehren, ver- Sitzungen behandeln vorrangig das Ver- bunden mit ekklektisch wahrgenomme- hältnis von Feroniba zu Gott, den Engeln, nen Schriften vieler anderer Religionen. den so genannten Meistern (Gabriele, In der Wohnung der Gemeinschaft war Krishna, Asrael, Amadeus, den Plejaden es im Februar 2003 während einer spiri- u.a.) und seinen eigenen „Teilpersön- tuellen Sitzung zu einem Streit zwischen lichkeiten“. Auf diesem Wege wurde Fero- dem Initiator und Führer der Bewegung, niba auch das spirituelle Symbol Ter für Lila Suka, und einer seiner Anhängerin- seine Gemeinschaft übermittelt, das in nen gekommen. Vier bis fünf Stunden lang seiner zugespitzten Dreiecksform stark an wurde die 30-jährige Frau daraufhin Abzeichen aus der Fernsehserie „Star von Lila Suka selbst und nach seiner An- Trek“ erinnert. Die Kontakte mit Sof sollen leitung auch von anderen Frauen der in dem geplanten zweibändigen Werk Gemeinschaft misshandelt. Sie erlitt da- „Gespräche mit Sof: ES IST!“ veröffentlicht bei vier Rippenbrüche und multiple Prel- werden. Dass Feroniba seine Gespräche lungen. als Medium von Sof im Gefängnis auf- Vor Gericht zeigte sich der Hauptan- zeichnen muss, wird in der Zeitschrift geklagte Lila Suka uneinsichtig und recht- nicht erwähnt – vielmehr treten Elemente fertigte die Gewalttat damit, dass er seine einer hagiographischen Lebensdeutung Schülerin von ihren schlechten Eigen- hervor: Feroniba wird als musikalisches schaften befreien wolle. Das Gericht folg- „Wunderkind“ präsentiert, das sich bereits te nicht dem Plädoyer der Verteidigung, in den frühesten Lebensjahren in die Bibel die das Vorgehen von der Religionsfreiheit vertieft habe und auch die vedische Tradi- gedeckt sehen wollte, und verurteilte Lila tion kennen gelernt habe. Jetzt stelle er Suka zu drei Jahren und zwei Monaten sein Leben in den Dienst der Meister und Haft. Die sieben Mitangeklagten wurden aller Menschen und Wesenheiten der zu Bewährungsstrafen zwischen acht und Erde. 24 Monaten und gemeinnütziger Arbeit Die Gemeinschaft bietet weiterhin Klas- verurteilt. sen, Einzel- und Gruppenkurse an, die Auch nach dem Verfahren, dem in der sich teils meditativen Übungen, teils der Berliner Lokalpresse viel Aufmerksamkeit Texte von Sof u.a. widmen. Um explizit

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den Zusammenhalt zu stärken, werden lim-Führers Elijah Muhammad treu blieb, die „Schüler von Sof“ nun in vier Kreise während Muhammads Sohn Wallace eingeteilt: „1. Verantwortungsträger, die Deen die Black Muslims in den Haupt- von ganzem Herzen alles geben, um alles strom-Islam integrierte. zu bekommen; 2. Helfer, die unterstützen Die NOI ist als eine dem Islam nahe möchten und anstreben, Verantwortungs- neureligiöse Bewegung 1930 entstanden, träger zu sein; 3. Anwärter, die sich für als der Textilhändler Wallace D. Fard Kreis 1 oder 2 qualifizieren möchten; 4. (alias Wali Farad Muhammad) aus Detroit Freunde ... Wer eine Ebene nicht schafft, damit begann, seine vom Islam inspirierte wechselt auf eine andere, ebenso wer sich Botschaft unter Schwarzen zu verbreiten. qualifiziert und die Verantwortungsträger Fard berief sich auf den „Noble Prophet davon überzeugt.“ (Terasof 2, 2003, 19) Ali Drew“, Gründer des „Moorish Science Eine Prognose über die weitere Entwick- Temple of America“, der eine Mischung lung der Gruppe lässt sich trotz der Krise aus christlichen Prinzipien, islamischen nicht machen, da es Feroniba offenbar Idealen und schwarzem Nationalismus gelingt, seine Haft als selbstloses Mar- predigte. Fard verschwand 1934 auf mys- tyrium darzustellen, die er zudem zur teriöse Weise, sein Nachfolger wurde sein Niederschrift seines schon lange ange- prominentester Schüler Elijah Poole, nun kündigten Offenbarungswerkes nutzt. Elijah Muhammad genannt. Muhammad Oliver Krüger, Heidelberg betrachtete Fard als eine Erscheinung Gottes auf Erden und sich selbst als Pro- pheten Gottes. Er forderte die Rassentren- Nation of Islam in Deutschland. Nach- nung von Schwarzen und Weißen mit der dem die Schwarzen-Bewegung Nation of Herrschaft der Schwarzen als Ziel, das Islam (NOI) mit einer deutschsprachigen sich in der Endschlacht von Armageddon Arbeitsgruppe Fuß in der Schweiz gefasst verwirklichen würde. Auch Malcolm X hat, ist sie nun dabei, sich auch in schloss sich 1952 den Black Muslims an, Deutschland zu organisieren. Am 14. Feb- deren prominenter Sprecher er bis 1963 ruar 2004 fand eine Veranstaltung in der war, als er sich nach einer Pilgerfahrt nach Berliner Werkstatt der Kulturen statt, zu Mekka zum orthodoxen Islam bekannte. der nur Schwarze zugelassen waren, und Er wandte sich von der Ideologie der deren Hauptthema Reparationszahlungen Rassentrennung und anderen Elementen für die schwarze Sklaverei waren. der Black-Muslim-Botschaft ab und wurde Während deutsche Entschädigungen an ein Jahr später ermordet. Elijah Muham- die Juden gezahlt worden seien, gebe es mad starb 1975, sein Sohn Wallace Deen keine Zahlungen an die Nachkommen wurde sein Nachfolger. Louis Farrakhan der ca. 500 Mio. Afrikaner, die bei der At- prägte sich den Amerikanern ins Gedächt- lantik-Überfahrt mit dem Ziel Sklaverei in nis ein durch den „Million Man March“ Amerika ums Leben kamen. Eine Home- auf Washington D.C. am 16. Oktober page unter dem Namen www.nation-of- 1995, der mit ca. 400 000 Teilnehmern islam.de ist im Aufbau begriffen. Führer etwa doppelt so viele Menschen mobili- der NOI (www.noi.org) ist Louis Far- sierte wie seinerzeit der legendäre Marsch rakhan, der sich 1977 von den Black Mus- Martin Luther Kings nach Washington im lims abspaltete, um seine eigene Bewe- Jahre 1963 – und dies mit einer dezidiert gung zu gründen, die dem ursprünglichen anderen Botschaft. Die Bewegung feiert Kurs des gerade verstorbenen Black-Mus- alljährlich Ende Februar mit dem soge-

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nannten Saviors’ Day die Geburt des Auf wie fruchtbaren Boden die schwarze Gründers Wallace D. Fard. Apartheid-Botschaft des Farrakhan-NOI NOI vertritt die Anschauung, dass der und die Zuspitzung auf Forderungen nach Islam die ursprüngliche Religion der Reparationszahlungen in Deutschland Schwarzen sei und dass diese ihre fallen werden, bleibt abzuwarten. Herkunft in Asien haben. Zur Ideologie Ulrich Dehn der Rassentrennung gehört auch die Ab- lehnung von Mischehen (Fragen danach wurden auf der Berliner Veranstaltung CHARISMATISCHE BEWEGUNGEN einem Zeitungsbericht zufolge gewunden beantwortet). Die Lehren der NOI sind Die Theologie der Vineyard. Die Vineyard- schwer zu klassifizieren. Nachdem Elijah Bewegung entwickelte sich zwischen Muhammad eine unterschwellig poly- 1977 und 1982 aus der Calvary Chapel in theistische Botschaft vertreten hatte (Gott Yorba (USA), wurde von dem kaliforni- hat sich in allen Schwarzen und speziell schen Pastor und Musiker John Wimber in Wallace D. Fard inkarniert, es gab Göt- (1934-1997) gegründet und stellt eine ter, die geboren wurden und auch star- eigenständige Gemeinschaftsbildung in- ben), hat sich Farrakhan deutlich dem ei- nerhalb des enthusiastischen Christen- gentlichen Islam angenähert, jedoch nicht tums dar. Die neueste Ausgabe des Vine- in einer Weise, die zu einer Akzeptanz yard-Magazins equipped vom 4. Februar durch die amerikanischen Muslime führen 2004 widmet sich dem Thema „Theologie könnte. Elijah Muhammad allerdings gilt der Vineyard“. In einem grundlegenden der Bewegung nach wie vor als „Messias“. Artikel von Don Williams erläutert er die Farrakhan werden Polemik gegen Homo- theologische Basis und Struktur der Bewe- sexuelle sowie Äußerungen nachgesagt, gung und nennt sechs Kontexte, innerhalb die antisemitisch interpretiert werden derer die Vineyard-Theologie zu verstehen können, auch sei er bei Treffen mit Mit- ist: 1. im Kontext des apostolischen Glau- gliedern neo-nazistischer Organisationen bensbekenntnises und der lehrmäßigen beobachtet worden. Das sind Indizien, Entscheidungen der Kirchenväter; 2. im über deren Nachprüfbarkeit schwer ge- Zusammenhang der Entscheidungen der urteilt werden kann. Michael Jackson theologischen und praktischen Orientie- wurde laut einem Bericht der New York rungen der Reformation (die Unterschei- Post angeblich Mitglied der Farrakhan-Or- dung zwischen Gesetz und Evangelium, ganisation, kurz bevor er wegen sexuellen die Rechtfertigung allein durch den Glau- Kindesmissbrauchs angeklagt wurde (ein- ben, das reformatorische Schriftprinzip, schließlich einer angeblichen Umbenen- die Betonung des geistlichen Kampfes); nung in „Jacko X“). 3. im Anschluss an die Erweckungsbe- In den USA leben insgesamt ca. 1,2 Mio. wegung des 18. Jahrhunderts (John und afroamerikanische Muslime, von denen Charles Wesley) und ihrer Betonung von die überwältigende Mehrheit (ca. 1 Mio.) Neugeburt und Heiligung; 4. in Kontinui- Hauptstrom-Sunniten sind. Die übrigen tät des „großen Jahrhunderts der Weltmis- 200 000 verteilen sich auf kleine Unter- sion (19. Jahrhundert)“ und dem Auftrag gruppen z.T. auch schwarz-nationalisti- „die Nationen zu Jesus zu führen“ durch schen Charakters, die Farrakhan-Gruppe den Ruf zur Umkehr und durch Gemein- kann vermutlich ca. 10 Prozent davon auf degründung; 5. in der Tradition der sich verbuchen. pfingstlich-charismatischen Erneuerung,

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die den Heiligen Geist mit seinen Gaben ihre spezifische Theologie weitgehend un- willkommen heißt; 6. im Kontext einer berücksichtigt bleibt. Auch das Erbe der „Biblischen Theologie“, in der akzentuiert Quäkerbewegung, das in Wimbers Le- wird, dass die Vollendung der Zeiten mit bensgeschichte eine Rolle spielte und sein „dem Leben, Sterben und Auferstehen“ Auftreten mit beeinflusste, bleibt uner- Jesu Christi und „der Ausgießung des wähnt. Dagegen beschreiben die Bücher Heiligen Geistes an Pfingsten bereits be- von John Wimber, Kevin Springer, Charles gonnen“ hat. H. Kraft, Jack Deere, John White, C. Peter Peter Davids, der ebenfalls im Vineyard- Wagner die charismatischen Orientierun- Magazin zu Wort kommt, weist darauf gen und Vorgehensweisen, zum Beispiel hin, dass die Bewegung und ihr Gründer die „Techniken des Heilens“, in detail- zwar nichts völlig Neues in den Bereich lierter Form und geben einen realistischen des erwecklichen Christentums einge- Einblick in die Theologie und Glaubens- bracht haben, dass sie jedoch verschie- praxis der Bewegung. Bezeichnend ist da- dene theologische Impulse „kombiniert“ bei u.a. die zentrale Funktion, die Worte und mit „Innigkeit und Echtheit“ verbun- der Erkenntnis (unmittelbare Eingebungen den haben. Die kombinatorische Theolo- des Geistes) für die Diagnose von Krank- gie der Vineyard nimmt für sich insbeson- heiten haben. Ebenso charakteristisch ist dere in Anspruch, „kulturelle und bibli- die enge Verbindung des Heilungsdienstes sche Elemente mit anderen Themen“ ver- mit dem Gebet um Befreiung von dämo- bunden und so einen „theologischen Fort- nischen Mächten, die als Ursache zahlrei- schritt“ ermöglicht zu haben. cher Krankheiten, Zwänge und Störungen Fraglos hat die Resonanz der Vineyard angesehen werden. Die Konzentration der ihren Grund in der praxisbezogenen, Gotteserfahrung auf die Erfahrung des pragmatischen und „induktiven“ Vorge- Außergewöhnlichen, des Wunderhaften, hensweise der Bewegung, die in Stil und des Paranormalen dürfte ein wesentlicher Musik die Jugend- und Erwachsenenkultur Grund für die Attraktivität der Vineyard- einander anzunähern bemüht ist. Das Bewegung sein. In dieser Frage trennen skizzierte Profil von Vineyard hat mit der sich freilich die theologischen Wege der Schwierigkeit zu kämpfen, welche der ge- historischen Kirchen und der neuen nannten Grundlagen und frömmigkeits- pfingstlich-charismatischen Gemeinschafts- geschichtlichen Traditionen im Vorder- bildungen. grund stehen sollen. Das Verhältnis zwi- Die großen Themen der global und inter- schen reformatorischer Theologie und den national agierenden charismatischen Be- impliziten und expliziten theologischen wegung wurden in den letzten Jahrzehn- Orientierungen der Pfingstbewegung ist ten maßgeblich mitbestimmt durch die spannungsvoll. Wer das eine ernst nimmt, Vineyard-Bewegung: Evangelisation mit muss das andere relativieren. Die Tradi- Zeichen und Wundern, Ruhen im Geist, tion der pfingstlich-charismatischen Be- Befreiungsdienst, geistliche Kampfführung, wegung für die Praxis und das Selbstver- Heilung in der Kraft des Geistes, Wieder- ständnis der Bewegung wird dabei ten- herstellung des prophetischen Dienstes, dentiell eingeebnet. Bemerkenswert ist Praxis der stellvertretenden Buße und Ver- auch, dass die praktische und theoretische söhnung, Toronto-Segen. Nach wie vor Bedeutung der religiösen Ekstase für die gehört die Vineyard-Bewegung zu den individuelle und gemeinschaftliche Fröm- einflussreichen Gruppierungen der pfingst- migkeit der Vineyard in den Artikeln über lich-charismatischen Bewegung. Eine her-

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ausragende und prägende Gestalt fehlt ihr auch jeweils zwei Teilnehmerinnen finden aber nach dem Tod ihres Gründers, John müssen. Es entsteht eine Pyramide. Wenn Wimber. Das neueste Heft des Vineyard- 16 Spielerinnen zusammen sind, be- Magazins deutet darauf hin, dass die kommt die „Organisatorin“ als erste Spie- Frage nach dem Profil der Bewegung lerin von den zuletzt Beigetretenen (Un- gegenwärtig offensichtlich unterschied- terstützerinnen) Geld geschenkt und liche Antworten findet und neu bearbeitet scheidet aus. Die Pyramide teilt sich, und werden muss. Weltweit gehören 850 die neu Hinzugekommenen rücken lang- Gemeinden zur Vineyard-Bewegung. In sam zur Spitze auf und kassieren ihrerseits Europa hat sie sich insbesondere in Eng- – zumindest theoretisch. Damit die letz- land ausgebreitet. Aber auch im kontinen- ten acht beigetretenen Spielerinnen nach talen Europa finden sich eine ganze Reihe dem gleichen Muster „beschenkt“ werden von Gemeinden: 17 in der Schweiz, 29 in können, müssen allerdings 119 weitere Deutschland, 7 in Österreich. Einzahler gefunden werden – die Zahl der Reinhard Hempelmann benötigten Mitspielerinnen steigt in Zweierpotenz. Bereits bei der 17. Aus- zahlung erstreckt sich das System auf GESELLSCHAFT mehr als 65 000 Pyramiden und über eine Million Teilnehmer. Die Quote der Ver- Unterschiedliche Rechtsauslegungen in lierer bei dem zwangsläufig folgenden zwei Schenkkreis-Prozessen. Ein Urteil Crash liegt bei mindestens 87,5 Prozent. des Kölner Amtsgerichts machte im Feb- Verboten sind die Schenkkreise in ruar Schlagzeilen. „Herzkreis-Klägerin Deutschland nicht, weil sie nicht zu den ging leer aus“ titelten die Medien und Glücksspielen zählen. Und sie fallen auch widmeten dem vermeintlich bundesweit nicht unter das Gesetz gegen unlauteren ersten Zivilprozess, in dem ein Opfer Wettbewerb, weil alles privat abläuft und dieses Schneeballspiels geklagt hatte, aus- es schwer fallen dürfte, jemandem ein führliche Berichte. Doch im westfälischen geschäftliches Interesse nachzuweisen. Gütersloh wurde schon im November Der Tatbestand des Betrugs kommt nur in- 2003 prozessiert, und dort nahm der frage, wenn Teilnehmer mit einem garan- Prozess einen gänzlich anderen Verlauf. tierten Gewinn geködert werden. In beiden Städten hatte ein Opfer der so- In der Kölner Rechtssprechung forderte genannten „Herz- oder Schenkkreise“ auf eine 50-Jährige 5000 Euro zurück, die sie die Rückerstattung des Spieleinsatzes in das nach dem Schneeballsystem funk- geklagt. Sie hatten jeweils 5000 Euro in tionierende Geldspiel eingezahlt hatte. den Kreis eingezahlt und auf eine Laut dem Urteil hat die Frau aber keinen „Schenkung“ von 40000 Euro spekuliert. Anspruch auf Rückzahlung, weil sie sich In Köln verlor die Klägerin, in Gütersloh in dem als sittenwidrig einzuordnenden gewann sie (die Urteile sind abzurufen Spiel selbst sittenwidrig verhalten habe. unter http://schenkkreise-recht.de). Die Klägerin habe sich zumindest leicht- Das Prinzip, nach dem vor allem Frauen fertig der möglichen Erkenntnis verschlos- in den bundesweit aktiven Schenkkreisen sen, dass sie an einem zweifelhaften mitspielen (und in der Regel ihren Spiel- Rechtsgeschäft teilgenommen hat. Die einsatz verlieren), funktioniert immer ähn- Klägerin wollte das Geld von einer an- lich. Die Gründerin eines Schenkkreises deren Frau zurückbekommen, über die sie sucht zwei Mitspielerinnen, die wiederum in das „Herzkreis“-Spiel vermittelt worden

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war. Belastend wies das Gericht darauf tiert schon seit längerem ein eigener Straf- hin, dass die Klägerin auf einer Veranstal- tatbestand für Veranstaltungen von Pyra- tung im Haus der Beklagten über das miden- bzw. Kettenspielen. Spiel aufgeklärt worden sei. Zudem sei ihr Michael Utsch eine Informationsschrift zugänglich ge macht worden. Weil sich die Klägerin aber dennoch nicht über den Charakter des Spiels kundig gemacht habe, habe sie BÜCHER sich damit leichtfertig der Einsicht über die Sittenwidrigkeit verschlossen. Mit der Reiner Preul, So wahr mir Gott helfe! Re- Teilnahme am „Herzkreis“ hat sich dem ligion in der modernen Gesellschaft, Wis- Gericht zufolge aber keine der beteiligten senschaftliche Buchgesellschaft, Darm- Frauen strafbar gemacht. Da kein Teil- stadt 2003, 208 Seiten, 19,90 €. nehmer über das Risiko getäuscht worden sei, liege auch kein Betrug vor. Dieses wichtige Buch des Kieler prakti- Ganz anders urteilte das Gütersloher schen Theologen erscheint in einer Zeit, in Gericht. Dort muss dem „Opfer“ der der zunehmend die Notwendigkeit Spieleinsatz zurückgezahlt werden. Unter wahrgenommen wird, das Religiöse in der anderem mit der Begründung, dass die Alltagswelt, die Benutzung religiöser Ele- Klägerin aufgrund des gehobenen Rahmens mente in Zusammenhängen wie Kino, und der Auskünfte der bereits beschenk- Werbung und der Inszenierung öffent- ten Damen auf die „Seriosität der Ver- licher Gelegenheiten zu analysieren und anstaltung“ vertraut habe. Es sei nicht gegenüber traditioneller Religion/Reli- davon auszugehen, dass die Klägerin die giosität zu profilieren. Das Buch verspricht laut Urteil des Bundesgerichtshofes fest- die großen Felder des Lebens abzuschrei- gestellte „Sittenwidrigkeit“ solcher Schnee- ten und auf ihre Religionshaltigkeit hin ballsysteme ausreichend kannte. Sie habe abzutasten. Preul bezieht sich mit seinem vielleicht blauäugig gehandelt, aber eben Religionsbegriff auf Schleiermacher, Paul nicht „sittenwidrig“. Tillich und Max Scheler und definiert Reli- Angesichts der hohen Verbreitung der gion als Beziehungsstruktur: Der Mensch Schenkreise, die sich immer häufiger ein findet sich vor in einer Beziehung auf esoterisches Gewand anlegen, sei an eine Gott/den Urgrund der Wirklichkeit. Die Forderung erinnert, die von der Enquete- Beziehung werde immer im Zusammen- kommission „Sog. Sekten und Psy- hang mit einer konkreten Religion wahr- chogruppen“ schon 1998 gestellt wurde: genommen, nie als eine „allgemeine na- die Schaffung eines selbstständigen Straf- türliche Religion“. Dieser Religionsbegriff bestandes bei Veranstaltungen sogenann- wird an reformatorischer Theologie veri- ter Pyramidensysteme. Im Verlauf derar- fiziert, was unter Rekurs auf Luther ins- tiger Gewinnspiele werden zumeist mas- besondere auf die Unterscheidung von Re- sive verhaltenspsychologische Beeinflus- ligion und Pseudoreligion hinausläuft. Reli- sungstechniken verwendet, um den dro- gionstheorie entspringt für Preul der theolo- henden Einsatzverlust abzuwenden und gischen Selbstauslegung des christlichen neue Mitspieler anzuwerben. Im Sinne Glaubens im evangelischen Sinne. Damit eines besseren Verbraucherschutzes schei- führt er in die Beobachtung potentiell re- nen hier juristische Verbesserungen nötig ligiöser Phänomene eine Wertung ein, die zu sein. Im österreichischen Recht exis- in einem kontroverstheologischen Diskurs

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sicherlich plausibel wäre, allerdings in An- sen Überfrachtung und thematischen Zer- betracht der Absicht, allgemein „Religion in fransung des schmalen Buches zurück. der modernen Gesellschaft“ wahrzu- Es fällt auf, dass die Äußerungen der EZW nehmen und zu analysieren, den Boden in einem Buch, das zielgenau ihr Auf- religionswissenschaftlichen Arbeitens ver- gabenfeld betrifft, mit bemerkenswerter lässt. Im Zuge dieses streng „evangelischen Gründlichkeit ignoriert werden, was nicht Religionsbegriffs“ ist für Preul ein (nur) an nur eine Frage der Vollständigkeit des Lite- der Sinnfrage orientierter Religionsbegriff raturverzeichnisses, sondern auch des nicht ausreichend, weil er nicht für das Niveaus der Argumentation ist. Nichts- „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ destoweniger bleibt das Buch dank seiner (Schleiermacher) stehen kann (25). zahlreichen interessanten Einzelbeobach- Trotz dieses aus religionswissenschaft- tungen und eines klaren praktisch-theolo- licher Sicht etwas inkonsistenten Anfangs gischen Konzeptes willen lesenswert. gelingt ihm ein interessantes Kaleidos- Ulrich Dehn kop der Beobachtungen, das von zahl- reichen zeitgeistlichen Feldern über das Gebiet der neureligiösen Bewegungen Diethard Sawicki, Leben mit den Toten. und boomenden Jugendkulte bis hin zu Geisterglauben und die Entstehung des ekklesiologischen Themen und zu Fragen Spiritismus in Deutschland 1770-1900, nach der Sinnlichkeit des protestantischen Schöningh Verlag, Paderborn 2002, 421 Gottesdienstes reicht. Im erhellenden Ab- Seiten, 35,80 €. schnitt über die Mediengesellschaft wird zwar N. Luhmann rezipiert, die einschlägi- Das Jahr 1848, in dem es im US- gen Arbeiten von Wilhelm Gräb jedoch amerikanischen Hydesville im Haus des nicht. Preul rät in seinen Hinweisen zur Farmers John Fox zu merkwürdigen Klopf- Gestaltung kirchlichen Lebens, dass lauten kam, gilt von jeher als Auftakt für Kirche ihr Fähnchen nicht nach dem Wind den modernen Okkultismus. Die vor- der vielfältigen Bedürfnisse hängen solle, liegende Bochumer Dissertation im Fach sondern ihre Aktivitäten und Außenwir- Neuere Geschichte untersucht vor allem kung deutlich im Sinne ihres eigenen Pro- die Vorgeschichte dieser Bewegung in fils zu gestalten habe. Der Abschnitt zum Deutschland. Zugleich will der Verfasser Fundamentalismus hat gut informierte Par- eine Lücke schließen, „die bislang für die tien und solche, etwa zum Thema des Is- Esoterik- und Magieforschung zum 18. lam, denen tiefere Vorarbeit gut getan Jahrhundert und den Studien zum Spiri- hätte. Differenziert und erhellend sind die tismus als neureligiöser Bewegung klafft“ Überlegungen zur „Zivilreligion“. Preul (12). Unter Geisterglauben versteht der entscheidet sich angesichts des schillern- Autor „die Überzeugung, es existierten den Begriffs und einer divergenten De- Geister, die sich unter ganz bestimmten batte gegen die Verwendung des Wortes. Bedingungen den Menschen mitteilen Wenn im letzten Kapitel zum Thema der und Veränderungen in der materiellen religiösen und interreligiösen Kommu- Welt bewirken können“ (19). Als Spiri- nikation auch noch Hinweise zum Thema tismus im engeren Sinn bezeichnet er die Mission, zum Weltethos, zur Kommunika- spezifische Form neuzeitlichen Geister- tion der EKD mit der gesamtgesell- glaubens, wie er sich nach 1848 entwi- schaftlichen Öffentlichkeit u.a. gegeben ckelt hat. Er entfaltet dies vor dem Hinter- werden, bleibt der Eindruck einer gewis- grund des Ende des 18. Jahrhunderts auf-

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kommenden Neuen Jenseits, das „eine pietistisch geprägten Anhängern des philosophische Aktualisierung“ wie auch Neuen Jenseits auch Vertreter der luthe- eine „Sublimierung der christlichen Jen- rischen Orthodoxie finden, die Geister- seitsvorstellung“ darstellte (20f) und mit erscheinungen befürworteten. Anhand von dem Namen Emanuel Swedenborgs aufs Fallstudien wird nachgewiesen, „dass geis- Engste verknüpft ist. Auf der Grundlage terkundliche Typologien und Beschwö- archivalisch überlieferter Aktenbestände rungspraktiken im letzten Drittel des 18. der weltlichen und geistlichen Obrigkeit, Jahrhunderts eben kein typisches Phäno- darunter auch Eingaben und Briefe von men einer magischen Volkskultur waren, direkt Betroffenen, legt der Verfasser sondern ein schichtübergreifend veran- zahlreiche interessante Fallstudien vor. kerter Wissensbestand“ (99). Besonders in Ein erstes Kapitel befasst sich mit der Zeit den gebildeten Eliten gab es eine hohe der Spätaufklärung und untersucht die Kenntnis von Magie und Geisterkontak- „Geisterseher“ zwischen 1770 und 1810. ten. Im katholischen Milieu verband sich Es setzt ein mit dem genannten Neuen dies mit dem Arme-Seelen-Glauben (114). Jenseits. Fortschrittsoptimismus und „das Das zweite Kapitel („Schlafend in das Ideal familiärer Intimität“ waren prägende Zwischenreich“) fokussiert die Jahre 1810- Faktoren. Die Grenze zwischen Lebenden 1850 und untersucht besonders den und Verstorbenen wurde durchlässig. „Mesmerismus als Vorschein der Utopie Beide Bereiche begannen zu verschmel- und Brücke in die Geisterwelt“ sowie ge- zen, und die Kontaktaufnahme zu den schlechtsspezifische Besonderheiten visio- jenseitigen Bereichen wurde vorstellbar närer Begabung. und möglich. Der Verfasser deutet den Das „Tischrücken und die Anfänge des Wandlungsprozess christlicher Himmels- Spiritismus“ zwischen 1850 und 1860 ste- vorstellung als theologische Widerspiege- hen im Zentrum des dritten Kapitels (229- lung der sozialen und mentalen Indivi- 296). Ab 1853 setzte in Deutschland „ein dualisierungsprozesse. In weltanschau- geradezu fieberhaftes Interesse“ am Tisch- licher Hinsicht verschmolzen darin „Theo- rücken ein. Diese Praxis spielte bereits bei logie und Astronomie, aufklärerischer zeitgenössischen amerikanischen Medien Fortschrittsgedanke und die Idee der See- eine Rolle, die aus dem Milieu mesmeris- lenwanderung, aristotelisch geprägte Na- tischer Laienheilerinnen kamen und den turwissenschaft und Traditionen der ma- Spiritismus als zusätzliches Betätigungs- gisch-alchemistischen Hermetik“ (41). feld für sich entdeckt hatten (231). Das Emanuel Swedenborgs visionär entfalteter Motiv für die spiritistische Praxis in der neuer Jenseits-Entwurf, in dem er christ- Mitte des 19. Jahrhunderts war keineswegs liche Elemente mit hermetischen Aspekten nur wissenschaftlich-experimenteller Natur. verband, fand in Deutschland eine nach- Im Vordergrund standen häufig gesellige haltige Rezeption. In Johann Heinrich Jung- Unterhaltung, alltagspraktische Magie Stillings „Theorie der Geisterkunde“ von und religiöses Erlebnis (246). „Eine spezi- 1808 findet sich eine Zusammenstellung fische weltanschauliche Programmatik von Erzählmaterial, in dem der Verfasser fehlte dem frühen deutschen Spiritismus „eine um 1800 in Deutschland noch im- ebenso wie – eine noch so lockere – orga- mer existierende Vielzahl nur lose nisatorische Struktur“ (251). Die Verbin- verknüpfter geisterkundlicher Diskurse“ dung von idealistisch-naturphilosophi- (58) beobachtet. Innerhalb des Protestan- schem Gedankengut, spiritistischen Prak- tismus lassen sich neben insbesondere tiken und sozialreformerischen Ideen tritt

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besonders deutlich – als bislang wenig be- schen Bewegung war neben dem Wandel kannte Seite – bei der Dichterin Bettina von der Jenseitsvorstellungen auch „die Präsenz Arnim hervor (271ff), die sich zwischen eines vielfältig angeeigneten und aktuali- 1854 und 1856 an Séancen beteiligte. sierten alltäglichen Wissens um Erschei- Zwischen 1860 und 1877 nahm in nungen und magische Praktiken“ (357). Deutschland das öffentliche Interesse am Fazit: Sawicki ist eine äußerst material- Spiritismus deutlich ab. Der Verfasser macht wie kenntnisreiche Arbeit gelungen. dafür das „Zusammenwirken wissenschafts- Mehrere bislang unbekannte Fallstudien geschichtlicher und politischer Faktoren“ illustrieren die historische Reflexion. Ein verantwortlich. Angeregt durch die Ideen umfangreiches Personen- und Ortsregister des französischen Spiritisten Allan Kardec rundet das Werk ab. Wer mehr über die kam es zu Beginn der 1870er Jahre im Entstehungs- und Milieubedingungen des deutschen Kaiserreich zur Gründung spiri- „deutschen“ Spiritismus bis 1900 erfahren tistischer Vereine und Zeitschriften. möchte, kommt an dieser interessanten Mit dem „Deutschen Spiritismus“ in den kulturgeschichtlichen Studie nicht vorbei. Jahren von 1877 bis 1900 befasst sich das Matthias Pöhlmann abschließende vierte Kapitel (297ff). Nach 1881 verlor der Spiritismus in Deutsch- land „den Charakter der privaten Passion einiger Kleinbürger, Bourgeois und Adli- AUTOREN ger“. Er wurde zu einer neuen weltan- schaulichen Bewegung. Ihre Hauptorte Prof. Dr. theol. Ulrich Dehn, geb. 1954, Pfarrer, waren das Königreich Sachsen und das Religionswissenschaftler, EZW-Referent für nichtchristliche Religionen. nördliche Böhmen. Vor allem für den „ple- bejischen Spiritismus Sachsens“ arbeitet Dr. theol. Andreas Fincke, geb. 1959, Pfarrer, EZW-Referent für christliche Sondergemein- der Verfasser mehrere Varianten heraus schaften. (312) und bietet am Beispiel des Schrift- stellers Karl May und seiner ersten Ehefrau Dr. theol. Reinhard Hempelmann, geb. 1953, Pfarrer, Leiter der EZW, zuständig für Grund- Emma Pollmer interessante „Innenan- satzfragen, Strömungen des säkularen und re- sichten aus dem sächsischen Spiritismus“ ligiösen Zeitgeistes, pfingstlerische und charis- (324-330). Die Zeit nach 1890 ist durch matische Gruppen. eine intensive spiritistische Vereinsbildung Dr. Oliver Krüger, geb. 1973, Religionswis- geprägt, wofür nicht zuletzt eine intensive senschaftler, Mitarbeiter im Sonderforschungs- okkultistische Kleinpublizistik sorgte. Auf bereich Ritualdynamik an der Universität Hei- die zeitgenössische kirchliche Apologetik, delberg und Dozent am dortigen Institut für Re- ligionswissenschaft. wie sie sich u.a. durch Adolf Stoecker ar- tikulierte, wird im Abschnitt „Alte und neue OKR Dr. theol. Michael Nüchtern, geb. 1949, Gegner“ (345-353) kurz eingegangen. Pfarrer, von 1995 bis 1998 Leiter der EZW, The- ologisches Mitglied des Oberkirchenrats der Ev. Eine abschließende Bilanz (354ff) unter- Landeskirche Baden, Karlsruhe. streicht, dass die Entstehung des Spiritis- Dr. theol. Matthias Pöhlmann, geb. 1963, Pfarrer, mus in Deutschland nicht ausschließlich EZW-Referent für Esoterik, Okkultismus, „auf den Verlust religiöser Glaubens- Spiritismus. gewissheit durch die Erkenntnisse einer la- Dr. phil. Michael Utsch, geb. 1960, Psychologe tent materialistischen Naturwissenschaft“ und Psychotherapeut, EZW-Referent für religiö- zurückgeführt werden kann. Treibendes se Aspekte der Psychoszene, weltanschauliche Motiv für die Formierung einer spiritisti- Strömungen in Naturwissenschaft und Technik.

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IMPRESSUM

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