K.Wilke: Die Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit 2012-1-082

Wilke, Karsten: Die „Hilfsgemeinschaft auf Ge- bis hin zu Unterlagen im Helmut-Schmidt- genseitigkeit“ (HIAG) 1950-1990. Veteranen der Archiv der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er will Waffen-SS in der Bundesrepublik. Paderborn: herausarbeiten, „ob und in welcher Weise ge- Ferdinand Schöningh Verlag 2011. ISBN: sellschaftliche Integration und Desintegrati- 978-3-506-77235-0; 464 S., 12 SW-Abb. on“ in Beziehung zueinander standen und „inwieweit es der HIAG gelang, nationalso- Rezensiert von: Wigbert Benz, Karlsruhe zialistische Deutungsmuster in den demokra- tischen Staat zu überführen“ (S. 23). Anfang der 1950er-Jahre gründeten ehema- Wilke formuliert vorsichtig und abwägend. lige Angehörige der Waffen-SS in verschie- Seinen Befunden zufolge lassen sich von denen regionalen Gruppen die „Hilfsgemein- den 1950er-Jahren bis 1980er-Jahre durch- schaft auf Gegenseitigkeit“ (HIAG). Sie zähl- gängig erhebliche rechtsextreme, antisemiti- te zu den von Norbert Frei als „Kriegsver- sche und demokratiefeindliche Einstellungen brecherbewegung“ bezeichneten Interessen- innerhalb der HIAG belegen. Sehr erfolg- gruppen.1 Diese einte das Ziel, als angebli- reich agierte die Organisation unter ihrem che Opfer der alliierten Siegerjustiz erstens Sprecher , einem ehemaligen SS- eine Freilassung und Amnestie zu erreichen Brigadeführer und Generalmajor der Waffen- sowie zweitens die volle politische, gesell- SS, der für seinen Befehl zur Erschießung schaftliche und auch materielle Reintegration kanadischer Kriegsgefangener (1944) unmit- durchzusetzen, zum Beispiel durch berufliche telbar nach Kriegsende zunächst zum To- Wiederverwendung oder ungekürzte Renten- de verurteilt worden war, ehe die Todesstra- und Pensionsansprüche. Im Unterschied zu fe zu einer lebenslänglichen Haftstrafe um- den Verbänden ehemaliger Wehrmachtssol- gewandelt wurde und er schließlich schon daten hatten die Angehörigen der Waffen- 1954 seine vorzeitige Haftentlassung erle- SS mit dem Problem zu kämpfen, dass die ben durfte. Bis zu seinem plötzlichen Un- SS im Nürnberger Prozess gegen die Haupt- falltod 1961 hatte die HIAG für die ehema- kriegsverbrecher 1946 als verbrecherische Or- ligen Angehörigen der Waffen-SS nicht nur ganisation verurteilt worden war. Ihre Stra- materielle Verbesserungen wie massive Zuge- tegie bestand deshalb von Anfang darin, ei- ständnisse bei der staatlichen Rentenbemes- ne apologetische Deutung der Waffen-SS als sung durchsetzen können, sondern avancierte Einheit ganz normaler Soldaten zu verbrei- auch zum akzeptierten Gesprächspartner der ten, wie dies der ehemalige Inspekteur der SS- großen Volksparteien CDU und SPD. Wäh- Verfügungstruppe, SS-Oberstgruppenführer rend sich die Lobbyarbeit der HIAG in mate- und spätere Gründungsaktivist der HIAG rieller Hinsicht auszahlte, konnten die frühe- 1951, , seit dem Nürnberger Pro- ren Angehörigen der Waffen-SS jedoch keine zess 1946 praktizierte. einflussreichen Positionen in der In seiner Bielefelder Dissertation unter- erringen. Diese politische Grenzziehung blieb sucht Karsten Wilke die HIAG als bisher wis- bestehen. senschaftlich kaum beachteten Akteur die- Wie sehr Meyer, über dessen Schreibtisch ses vergangenheitspolitischen Diskurses. Da- nach Aussage seines Sohnes ein Foto des Va- bei knüpft er an eine Studie von 1967 an, in ters mit Hitler hing (S. 218), sich des Pro- der die erfolgreiche Bündnispolitik der HIAG blems bewusst war, dass die von der HIAG sowohl mit den Soldatenverbänden als auch behauptete totale Unterscheidung zwischen mit Gewerkschaften und politischen Partei- Waffen-SS und anderen Teilgliederungen der en im Ansatz schon herausgearbeitet wurde.2 SS ein leicht zu widerlegendes Konstrukt war, Wilke konnte für seine Arbeit nun erstmals zeigt seine von Wilke ausführlich wieder- den kompletten, 650 Ordner umfassenden gegebene Rede anlässlich des zehnjährigen Aktenbestand des ehemaligen Bundesverban- 1 des der HIAG auswerten, der seit 1983 suk- Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München zessive dem Bundesarchiv übereignet worden 1996, S. 133-306. war. Diesen Bestand gleicht er quellenkritisch 2 Kurt Philipp Tauber, Beyond Eagle and Swastika. Ger- mit verschiedensten anderen Dokumenten ab, man Nationalism Since 1945, 2 Bde., Middletown 1967, hier Bd. 1, S. 359ff.

© H-Net, Clio-online, and the author, all rights reserved. Bestehens der HIAG-Gruppe Bremen. Mey- Distanz. Wilke sieht darin den Anfang vom er sprach vage von einem „Dokumentenbe- Ende der Organisation, die sich 1992 auflös- weis“, der aussage, „zur Waffen-SS gehö- te, denn durch den Positionswandel der SPD ren das Bewachungspersonal der Konzentra- „besaß die HIAG-Führung keine Handhabe tionslager [...], das Bewachungspersonal der mehr, um radikale Kräfte an der Basis zur Mä- Sicherheitslager, die [...] und ßigung zu bewegen“ (S. 421). Die eingangs die Truppe [als] schwächste und kleinste Zahl der Studie gestellte Frage, wie das Verhält- in dieser Aufstellung“ (zit. auf S. 69). Der nis von Integration und Desintegration der HIAG-Bundessprecher versuchte mit diesen HIAG im demokratischen Staat zu gewich- Ausführungen bei seiner Klientel Verständnis ten ist und inwieweit es der Organisation ge- für die Mühen der Politiker zu wecken, defi- lang, die bundesdeutsche Gesellschaft mit ih- nieren zu sollen, wer denn von der Waffen- ren Wertemustern zu beeinflussen, kann der SS „Soldat, und wer nicht Soldat“ gewesen sei Autor jedoch nur partiell beantworten. Um (ebd.). die Wirkungsgeschichte umfassender zu er- Die von Wilke dargelegte weitgehende Ak- gründen, hätte er die Interaktion der HIAG zeptanz der HIAG bei Vertretern der großen mit den gesellschaftlichen Kräften auf regio- Volksparteien hat, bei Dissertationen gewiss naler und lokaler Ebene stärker in den Blick nicht der Normalfall, sogar das Interesse des nehmen müssen. Deutlich wird auf jeden Fall, „Spiegels“ gefunden, der zu diesem Inter- dass die in der Bundesrepublik lange vor- aktionsprozess der HIAG mit Vertretern der herrschende vergangenheitspolitische Milde CDU und SPD im Oktober 2011 einen Ar- nicht allein mit pragmatischen Integrationser- tikel brachte.3 In der Tat kann Wilke zei- wägungen oder gar -zwängen erklärt werden gen, wie die Volksparteien aus Sorge um die kann, sondern auch stark mit Vorannahmen Wählerstimmen des laut HIAG zwei Millio- und autobiographischen Erfahrungen des po- nen Menschen umfassenden Spektrums de- litischen Führungspersonals zusammenhing, ren Vertretern und Wünschen entgegenka- dessen eigene Vergangenheit (etwa in der men – obwohl tatsächlich nur rund 250.000 , wie im Falle Helmut Schmidts) Veteranen der Waffen-SS in der Bundesrepu- ja ebenfalls kaum zur Sprache kam – oder blik Deutschland lebten, von denen wieder- falls doch, dann in sehr verklausulierter und um weniger als jeder Zehnte in der HIAG verschobener Weise. Alles in allem hat Kars- organisiert war (so dass man mit Recht von ten Wilke ein gut belegtes und quellenkri- „Bluff“ und „maßloser Übertreibung“ spre- tisch fundiertes Buch geschrieben, das unser chen kann4). Als Beispiel für dieses Entgegen- Wissen über das Wirken der ehemaligen SS- kommen führt Wilke in einem eigenen Unter- Angehörigen und ihres Interessenverbandes kapitel an, der in den 1950er- in der Bundesrepublik Deutschland beträcht- Jahren des Öfteren als Referent an Veranstal- lich erweitert. tungen der HIAG teilnahm. Es war wohl nicht bloß ein situatives Kalkül, wenn Schmidt HistLit 2012-1-082 / Wigbert Benz über Wilke, meinte, „die Waffen-SS werde zu Unrecht mit Karsten: Die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitig- der Schuld anderer ‚Runenträger’ belastet“ keit“ (HIAG) 1950-1990. Veteranen der Waffen- (S. 338f.), und den HIAG-Vertretern zusag- SS in der Bundesrepublik. Paderborn 2011, in: te, „bei seiner künftigen Arbeit im H-Soz-u-Kult 07.02.2012. auf eine gleichmäßige Gerechtigkeit zuguns- ten aller ehemaligen Soldaten hinzuwirken“ (S. 340). 3 Rafael Binkowski / Klaus Wiegrefe, Brauner Bluff. Auf Während CDU und SPD bis in die 1970er- der Jagd nach Wählerstimmen warben CDU und SPD Jahre – erstaunlich lange – die gemeinsame Li- in der Nachkriegszeit um die Veteranen der Waffen- nie verfolgten, die organisierten Ehemaligen SS. Eine Studie beschreibt, wie die Volksparteien dabei der Waffen-SS durch Zugeständnisse und re- ausgenutzt wurden, in: Spiegel, 17.10.2011, S. 44f.; auch online unter (17.1.2012). System einzubinden, gingen die Sozialdemo- 4 Ebd. Die Sicht der „Spiegel“-Autoren, SPD und CDU kraten zuerst ab Anfang der 1980er-Jahre auf seien von der HIAG „ausgenutzt“ worden, erscheint allerdings etwas undifferenziert.

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