Plenarprotokoll 16/205

Deutscher

Stenografischer Bericht

205. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Inhalt:

Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- b) Beschlussempfehlung und Bericht des neten , Karin Roth (Esslin- Ausschusses für Bildung, Forschung und gen) und Dr. Michael Fuchs ...... 22087 A Technikfolgenabschätzung Wahl der Abgeordneten in den Bei- – zu dem Antrag der Abgeordneten Volker rat der Bundesnetzagentur für Elektrizität, Schneider (Saarbrücken), Dr. Lothar Gas, Telekommunikation, Post und Eisen- Bisky, Cornelia Hirsch, weiterer Abge- bahnen ...... 22087 B ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verlässliche Bildungsförderung für Entsendung der Abgeordneten Erwachsene noch in dieser Legisla- als stellvertretendes Mitglied im Stiftungsrat tur auf den Weg bringen der Stiftung zur Aufarbeitung der SED- Diktatur ...... 22087 B – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), , Krista Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- Sager, weiterer Abgeordneter und der nung ...... 22087 B Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Förderung des lebenslangen Nachträgliche Ausschussüberweisung ...... 22088 C Lernens unverzüglich entscheidend voranbringen Zusatztagesordnungspunkt 2: (Drucksachen 16/11374, 16/11202, 16/11904) ...... 22089 C Eidesleistung des Bundesministers für Wirt- schaft und Technologie ...... 22088 D Dr. , Bundesministerin BMBF ...... 22090 A Präsident Dr. ...... 22088 D Patrick Meinhardt (FDP) ...... 22091 B Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister BMWi ...... 22089 A Dr. (SPD) ...... 22092 B Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE) ...... 22094 B Tagesordnungspunkt 3: Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ a) – Zweite und dritte Beratung des von der DIE GRÜNEN) ...... 22096 A Bundesregierung eingebrachten Ent- (CDU/CSU) ...... 22098 A wurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung des Aufstiegsfortbildungsför- (FDP) ...... 22099 A derungsgesetzes Volker Schneider (Saarbrücken) (Drucksachen 16/10996, 16/11904) . . 22089 B (DIE LINKE) ...... 22100 B – Bericht des Haushaltsausschusses ge- Cornelia Pieper (FDP) ...... 22100 D mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 16/11905) ...... 22089 C Dieter Grasedieck (SPD) ...... 22101 A II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. , Donnerstag, den 12. Februar 2009

Uwe Schummer (CDU/CSU) ...... 22102 A terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Anreizregulierung im Strom- Jörg Tauss (SPD) ...... 22103 D und Gassektor nachbessern – Benach- teiligung von städtischen Versorgern verhindern Tagesordnungspunkt 4: (Drucksache 16/11878) ...... 22130 D Antrag der Abgeordneten (Müns- d) Bericht des Ausschusses für Bildung, For- ter), Heinz Lanfermann, Dr. , schung und Technikfolgenabschätzung ge- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der mäß § 56 a der Geschäftsordnung: Tech- FDP: Für ein einfaches, transparentes und nikfolgenabschätzung (TA) leistungsgerechtes Gesundheitswesen TA-Projekt: Gendoping (Drucksache 16/11879) ...... 22105 D (Drucksache 16/9552) ...... 22130 D Heinz Lanfermann (FDP) ...... 22106 A

Wolfgang Zöller (CDU/CSU) ...... 22107 A Tagesordnungspunkt 24: Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 22108 C Antrag der Abgeordneten Rainder Steenblock, Elke Ferner (SPD) ...... 22109 C , , weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Dr. Erwin Lotter (FDP) ...... 22111 A NIS 90/DIE GRÜNEN: Die Westeuropäi- (BÜNDNIS 90/ sche Union als überholtes Konstrukt auflö- DIE GRÜNEN) ...... 22113 C sen (Drucksache 16/11765) ...... 22131 A Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU) ...... 22115 D Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 22117 C Zusatztagesordnungspunkt 3: Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22119 C a) Antrag der Abgeordneten , Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen, Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) ...... 22121 C weiterer Abgeordneter und der Fraktion Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 22121 D DIE LINKE: Datenschutz für Beschäf- tigte stärken , Bundesministerin (Drucksache 16/11376) ...... 22131 A BMG ...... 22122 A b) Antrag der Abgeordneten Marion Seib, Heinz Lanfermann (FDP) ...... 22123 D , Michael Kretschmer, Dr. (DIE LINKE) ...... 22126 A weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. (CDU/CSU) ...... 22127 A Jörg Tauss, , , weiterer Abgeordneter und der Fraktion (CDU/CSU) ...... 22128 C der SPD: Förderung des wissenschaftli- Daniel Bahr (Münster) (FDP) ...... 22129 C chen Nachwuchses ausbauen (Drucksache 16/11883) ...... 22131 A c) Antrag der Abgeordneten , Tagesordnungspunkt 33: Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite- a) Antrag der Abgeordneten Hans-Michael rer Abgeordneter und der Fraktion der Goldmann, , Gisela FDP: Entwicklungschancen für den wis- Piltz, weiterer Abgeordneter und der Frak- senschaftlichen Nachwuchs schaffen tion der FDP: Nationale Küstenwache (Drucksache 16/11880) ...... 22131 B schaffen d) Antrag der Abgeordneten Dr. Heinrich L. (Drucksache 16/8543) ...... 22130 C Kolb, Jan Mücke, , weite- b) Antrag der Abgeordneten Hans-Michael rer Abgeordneter und der Fraktion der Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, FDP: Faires Nachversicherungsangebot Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abge- zur Vereinheitlichung des Rentenrechts ordneter und der Fraktion der FDP: Ver- in Ost und West braucherfreundliche und praxistaugliche (Drucksache 16/11236) ...... 22131 B Lebensmittelkennzeichnung durchset- zen – Verbots- und Bevormundungspo- litik verhindern Tagesordnungspunkt 34: (Drucksache 16/11671) ...... 22130 C a) Zweite und dritte Beratung des vom Bun- c) Antrag der Abgeordneten Hans-Kurt Hill, desrat eingebrachten Entwurfs eines Ge- Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, wei- setzes zur Änderung des Gesetzes über Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 III

den Bau und den Betrieb von Versuchs- beitszeitrichtlinie – Hohen Arbeitnehmer- anlagen zur Erprobung von Techniken schutz EU-weit sicherstellen für den spurgeführten Verkehr (Drucksachen 16/11758, 16/11894) ...... 22133 C (Drucksachen 16/9899, 16/11304) ...... 22131 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des Tagesordnungspunkt 5: Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadt- entwicklung Unterrichtung durch die Bundesregierung: Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Nachhaltigkeitsstrategie Götz, Dirk Fischer (), Dr. (Drucksache 16/10700) ...... 22133 D Klaus W. Lippold, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der CDU/CSU Ernst Kranz (SPD) ...... 22134 A sowie der Abgeordneten Petra Weis, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer (FDP) ...... 22135 C Abgeordneter und der Fraktion der Dr. (CDU/CSU) ...... 22136 D SPD: Die integrierte Stadtentwick- lung weiter ausbauen Lutz Heilmann (DIE LINKE) ...... 22138 B – zu dem Antrag der Abgeordneten (BÜNDNIS 90/ Patrick Döring, Gisela Piltz, Horst DIE GRÜNEN) ...... 22139 D Friedrich (Bayreuth), weiterer Abge- Dr. (SPD) ...... 22141 D ordneter und der Fraktion der FDP: In- nenstädte stärken – Kooperationen Patrick Döring (FDP) ...... 22143 A fördern – Städtebauförderung wei- (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . 22144 A terentwickeln (SPD) ...... 22145 B (Drucksachen 16/11414, 16/8076, 16/11875) ...... 22132 A Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 22146 D c) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie zu der Verordnung der Bundesregierung: Tagesordnungspunkt 6: Einhundertsiebenundfünfzigste Verord- Zweite und dritte Beratung des von der Bun- nung zur Änderung der Einfuhrliste – An- desregierung eingebrachten Entwurfs eines lage zum Außenwirtschaftsgesetz – Gesetzes zur Fortentwicklung des Pfand- (Drucksachen 16/11614, 16/11718 Nr. 2.1, briefrechts 16/11779) ...... 22132 C (Drucksachen 16/11130, 16/11195, 16/11886, d) Beschlussempfehlung und Bericht des 16/11929) ...... 22148 C Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Bernd Scheelen (SPD) ...... 22148 D Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Ände- Carl-Ludwig Thiele (FDP) ...... 22151 A rung der Verordnung zur Begrenzung (CDU/CSU) ...... 22152 C der Emissionen flüchtiger organischer Verbindungen beim Umfüllen und La- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 22153 D gern von Ottokraftstoffen – 20. BimSchV Dr. (BÜNDNIS 90/ (Drucksachen 16/11719, 16/11818 Nr. 2, DIE GRÜNEN) ...... 22154 B 16/11897) ...... 22132 D (Weiden) (CDU/CSU) . . . . 22155 B e) – k) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 523, 524, Tagesordnungspunkt 7: 525, 526, 527, 528 und 529 zu Petitionen (Drucksachen 16/11766, 16/11767, 16/11768, a) Erste Beratung des von den Abgeordneten 16/11769, 16/11770, 16/11771, 16/11772) 22133 A Kersten Naumann, Wolfgang Nešković, , weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Zusatztagesordnungspunkt 4: Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 45 c) Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- (Drucksache 16/10397) ...... 22156 B schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten , b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jürgen Trittin, Rainder Steenblock, weiterer Kersten Naumann, Wolfgang Nešković, Abgeordneter und der Fraktion BÜND- Karin Binder, weiteren Abgeordneten und NIS 90/DIE GRÜNEN: Europäische Ar- der Fraktion DIE LINKE eingebrachten IV Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Entwurfs eines Gesetzes über die Be- – zu dem Antrag der Abgeordneten Paul handlung von Petitionen und über die Schäfer (Köln), Inge Höger, Monika Aufgaben und Befugnisse des Petitions- Knoche, weiterer Abgeordneter und ausschusses des Deutschen Bundesta- der Fraktion DIE LINKE: Adäquate ges (Petitionsgesetz – PetG) Behandlungs- und Betreuungskapa- (Drucksache 16/10385) ...... 22156 D zitäten für an posttraumatischen Be- lastungsstörungen erkrankte Ange- Kersten Naumann (DIE LINKE) ...... 22156 D hörige der Bundeswehr Günter Baumann (CDU/CSU) ...... 22158 A (Drucksachen 16/7176, 16/8383, 16/10024) 22163 C Jens Ackermann (FDP) ...... 22159 A Dr. , Bundesminister BMVg ...... 22163 D Klaus Hagemann (SPD) ...... 22160 A (FDP) ...... 22165 A Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22161 C Jörn Thießen (SPD) ...... 22166 A Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 22167 B (CDU/CSU) ...... 22162 C Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22168 B Gert Winkelmeier (fraktionslos) ...... 22169 A Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Bernd Siebert, , Ernst-Reinhard Beck (Reut- Tagesordnungspunkt 9: lingen), weiterer Abgeordneter und der a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Fraktion der CDU/CSU, der Abgeordne- , (Köln), Monika ten , Dr. Hans-Peter Bartels, Lazar, weiteren Abgeordneten und der Petra Heß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Fraktion der SPD, der Abgeordneten Elke eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Hoff, Birgit Homburger, Dr. Rainer zur Änderung des Gesetzes über die Stinner, weiterer Abgeordneter und der Entschädigung für Strafverfolgungs- Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten maßnahmen Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, (Drucksache 16/11434) ...... 22170 A Renate Künast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- b) Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, NEN: Betreuung bei posttraumatischen Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann, Belastungsstörungen stärken und wei- weiterer Abgeordneter und der Fraktion terentwickeln der FDP: Angemessene Haftentschädi- (Drucksache 16/11882) ...... 22163 B gung für Justizopfer sicherstellen (Drucksache 16/10614) ...... 22170 A b) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ der Abgeordneten Bernd Siebert, Ulrich DIE GRÜNEN) ...... 22170 B Adam, Ernst-Reinhard Beck (Reutlin- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) gen), weiterer Abgeordneter und der Frak- (CDU/CSU) ...... 22171 A tion der CDU/CSU sowie der Abgeordne- ten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Jörg van Essen (FDP) ...... 22172 B Petra Heß, weiterer Abgeordneter und der Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Fraktion der SPD: Betreuung bei post- (CDU/CSU) ...... 22172 C traumatischen Belastungsstörungen stär- ken und weiterentwickeln Dr. Matthias Miersch (SPD) ...... 22173 B (Drucksachen 16/11410, 16/11842) . . . . . 22163 C Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 22174 B c) Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidigungsausschusses Tagesordnungspunkt 10: – zu dem Antrag der Abgeordneten Elke Zweite und dritte Beratung des von der Bun- Hoff, Birgit Homburger, Dr. Rainer desregierung eingebrachten Entwurfs eines Stinner, weiterer Abgeordneter und der Gesetzes zur Strukturreform des Versor- Fraktion der FDP: Medizinische Ver- gungsausgleichs (VAStrRefG) sorgung der Bundeswehr an die Ein- (Drucksachen 16/10144, 16/11903) ...... 22175 A satzrealitäten anpassen – Kompe- tenzzentrum für posttraumatische , Bundesministerin Belastungsstörungen einrichten BMJ ...... 22175 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 V

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) 22176 B Knoche, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Keine Abschiebungen in (CDU/CSU) ...... 22177 A das Kosovo Jörn Wunderlich (DIE LINKE) ...... 22179 A (Drucksachen 16/9143, 16/11370) ...... 22195 B Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22180 A Tagesordnungspunkt 14: (SPD) ...... 22181 B Antrag der Abgeordneten , Hubert Hüppe, Thomas Bareiß, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht Tagesordnungspunkt 11: (Tuchenbach), Renate Gradistanac, Angelika Antrag der Abgeordneten Dr. Edmund Peter Graf (Rosenheim), weiterer Abgeordneter und Geisen, Hans-Michael Goldmann, Dr. Christel der Fraktion der SPD: Frauen und Mädchen Happach-Kasan, weiterer Abgeordneter und mit Behinderungen wirksam vor Gewalt der Fraktion der FDP: Agrardieselbesteue- schützen und Hilfsangebote verbessern rung senken – Wettbewerbsnachteile der (Drucksache 16/11775) ...... 22195 C deutschen Landwirtschaft abbauen (Drucksache 16/11670) ...... 22182 A Tagesordnungspunkt 15: Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) ...... 22182 B Antrag der Abgeordneten , Norbert Schindler (CDU/CSU) ...... 22183 C , Christine Scheel, weiterer Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) ...... 22184 A Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Kontrollrechte aus Hans-Michael Goldmann (FDP) ...... 22185 B Bundesbeteiligungen strategisch nutzen Dr. (DIE LINKE) ...... 22185 D (Drucksache 16/11761) ...... 22195 D Ingrid Arndt-Brauer (SPD) ...... 22186 C Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) ...... 22187 C Tagesordnungspunkt 16: (BÜNDNIS 90/ Erste Beratung des von der Bundesregierung DIE GRÜNEN) ...... 22188 A eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Untersuchungshaftrechts (CDU/CSU) ...... 22189 A (Drucksache 16/11644) ...... 22196 A Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) ...... 22189 C Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) ...... 22190 A BMJ ...... 22196 B Jörg van Essen (FDP) ...... 22197 B Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) Tagesordnungspunkt 12: (CDU/CSU) ...... 22198 A Erste Beratung des vom Bundesrat einge- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 22199 B brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- grenzung der Haftung von ehrenamtlich Alfred Hartenbach (SPD) ...... 22199 D tätigen Vereinsvorständen Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (Drucksache 16/10120) ...... 22190 D (CDU/CSU) ...... 22200 B Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Dr. (SPD) ...... 22201 A BMJ ...... 22191 A Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 22191 D Tagesordnungspunkt 17: Peter Müller, Ministerpräsident (Saarland) . . 22192 C Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 22193 D Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeord- Dr. Peter Danckert (SPD) ...... 22194 C neter und der Fraktion DIE LINKE: Entschä- digungsregelung für durch Blutprodukte mit HCV infizierte Bluter schaffen (Drucksache 16/11685) ...... 22202 C Tagesordnungspunkt 13: Jens Spahn (CDU/CSU) ...... 22202 D Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- (SPD) ...... 22203 C ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten , Wolfgang Nešković, Monika Dr. Konrad Schily (FDP) ...... 22204 A VI Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 22204 B Karin Binder (DIE LINKE) ...... 22220 D Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22205 A DIE GRÜNEN) ...... 22221 D , Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär BMG ...... 22205 D BMJ ...... 22222 C

Tagesordnungspunkt 18: Tagesordnungspunkt 21: Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeord- zur Änderung der Bundesnotarordnung neter und der Fraktion DIE LINKE: Kran- (Neuregelung des Zugangs zum Anwalts- kenhausinfektionen vermeiden – Multiresis- notariat) tente Problemkeime wirksam bekämpfen (Drucksachen 16/4972, 16/11906) ...... 22206 B (Drucksache 16/11660) ...... 22223 C Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) ...... 22206 B Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU) ...... 22223 D Christoph Strässer (SPD) ...... 22207 C Dr. Carola Reimann (SPD) ...... 22225 A Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 22208 D Dr. Konrad Schily (FDP) ...... 22225 C Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 22209 C Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 22225 D Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22210 C DIE GRÜNEN) ...... 22226 D Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär BMJ ...... 22211 A BMG ...... 22227 C

Tagesordnungspunkt 19: Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Hans-Josef Fell, Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, weiterer Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, weite- Abgeordneter und der Fraktion BÜND- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Vertragstreue Ab- NIS 90/DIE GRÜNEN: Besitz und Anbau schaltung alter Atomkraftwerke in Ost- von Cannabis zum Eigengebrauch entkri- europa minalisieren – Glaubwürdige und am Men- (Drucksache 16/11764) ...... 22212 A schen orientierte Cannabisprävention um- setzen (CDU/CSU) ...... 22212 B (Drucksache 16/11762) ...... 22228 A Christoph Pries (SPD) ...... 22213 A Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 22228 B (FDP) ...... 22214 D Dr. Margrit Spielmann (SPD) ...... 22229 B Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 22215 B Detlef Parr (FDP) ...... 22230 A Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Monika Knoche (DIE LINKE) ...... 22230 C DIE GRÜNEN) ...... 22215 D Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22231 C Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von der Bundesregierung Tagesordnungspunkt 23: eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Antrag der Abgeordneten Frank Spieth, Klaus Umsetzung der Verbraucherkreditrichtli- Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeord- nie, des zivilrechtlichen Teils der Zahlungs- neter und der Fraktion DIE LINKE: Kürzun- diensterichtlinie sowie zur Neuordnung der gen bei künstlicher Befruchtung zurück- Vorschriften über das Widerrufs- und nehmen (Drucksache 16/11663) ...... Rückgaberecht 22232 C (Drucksache 16/11643) ...... 22216 C Maria Eichhorn (CDU/CSU) ...... 22232 D (CDU/CSU) ...... 22216 D Hubert Hüppe (CDU/CSU) ...... 22233 B Dirk Manzewski (SPD) ...... 22218 B (SPD) ...... 22234 B Mechthild Dyckmans (FDP) ...... 22219 A Dr. Konrad Schily (FDP) ...... 22236 B Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 VII

Frank Spieth (DIE LINKE) ...... 22236 B Keine Abschiebungen in das Kosovo (Tages- ordnungspunkt 13) Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22237 B Hans-Werner Kammer (CDU/CSU) ...... 22246 B Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin Rüdiger Veit (SPD) ...... 22247 C BMG ...... 22238 A Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) ...... 22248 B Ulla Jelpke (DIE LINKE) ...... 22249 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- DIE GRÜNEN) ...... 22249 C wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Jürgen Trittin, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, weiterer Abge- Anlage 4 ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Kontraproduktive US-Ope- Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung rationen in Pakistan sofort einstellen – Um- des Antrags: Frauen und Mädchen mit Behin- fassende Strategie zur Stabilisierung Pakis- derungen wirksam vor Gewalt schützen und tans entwickeln Hilfsangebote verbessern (Tagesordnungs- (Drucksachen 16/10333, 16/11251) ...... 22238 D punkt 14) Antje Blumenthal (CDU/CSU) ...... 22250 B

Tagesordnungspunkt 25: (CDU/CSU) ...... 22251 A Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . 22251 D Antrag der Abgeordneten Ulrike Höfken, Priska Hinz (Herborn), Jerzy Montag, weiterer Ab- Ina Lenke (FDP) ...... 22253 A geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) ...... 22253 C DIE GRÜNEN: Biopatentrecht verbessern – Patentierung von Pflanzen, Tieren und bio- Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ logischen Züchtungsverfahren verhindern DIE GRÜNEN) ...... 22254 D (Drucksache 16/11604) ...... 22239 A Dr. Günter Krings (CDU/CSU) ...... 22239 B Anlage 5 Dr. Matthias Miersch (SPD) ...... 22240 B Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) ...... 22241 B des Antrags: Kontrollrechte aus Bundesbetei- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) ...... 22241 D ligungen strategisch nutzen (Tagesordnungs- punkt 15) Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22242 C Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) ...... 22255 C (Hildesheim) (SPD) . . . 22257 A Nächste Sitzung ...... 22243 D Ulrike Flach (FDP) ...... 22257 D (DIE LINKE) ...... 22258 C Anlage 1 Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22259 B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 22245 A

Anlage 2 Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Un- Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvor- tersuchungshaftrechts (Tagesordnungspunkt 16) ständen (Tagesordnungspunkt 12) Wolfgang Nešković (DIE LINKE) ...... 22259 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 22245 C Anlage 7

Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung Kontraproduktive US-Operationen in Pakis- der Beschlussempfehlung und des Berichts: tan sofort einstellen – Umfassende Strategie VIII Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 zur Stabilisierung Pakistans entwickeln (Zu- Elke Hoff (FDP) ...... 22262 B satztagesordnungspunkt 5) Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 22263 C Holger Haibach (CDU/CSU) ...... 22260 C Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ Johannes Pflug (SPD) ...... 22261 D DIE GRÜNEN) ...... 22264 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22087

(A) (C) Redetext

205. Sitzung

Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Beginn: 9.01 Uhr

Präsident Dr. Norbert Lammert: Führungsverantwortung der Bundeskanzle- Die Sitzung ist eröffnet. rin in Zeiten der Wirtschaftskrise (siehe 204. Sitzung) Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich begrüße Sie alle herzlich. ZP 2 Eidesleistung des Bundesministers für Wirt- schaft und Technologie Vor Aufruf der Tagesordnung habe ich einige Mittei- lungen zu machen. Zunächst gibt es einige Geburtstage ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver- zu würdigen: Der Kollege Ortwin Runde feiert heute fahren seinen 65. Geburtstag. Dazu möchte ich ihm die Glück- (Ergänzung zu TOP 33) wünsche des ganzen Hauses übermitteln. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan (Beifall) Korte, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen, (B) weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (D) Bereits am vergangenen Freitag haben die Kollegin Ka- LINKE rin Roth und der Kollege Dr. Michael Fuchs ihre 60. Geburtstage begangen. Auch dazu die Glückwün- Datenschutz für Beschäftigte stärken sche des ganzen Hauses! – Drucksache 16/11376 – (Beifall) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Innenausschuss Die SPD-Fraktion hat mitgeteilt, dass der Kollege Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Dr. aus dem Beirat der Bundesnetzagen- Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und tur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post Verbraucherschutz und Eisenbahnen austritt. Als Nachfolgerin wird die Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Kollegin Ute Berg vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist Seib, Alexander Dobrindt, Michael Kretschmer, die Kollegin Berg in den Beirat der Bundesnetzagentur weiterer Abgeordneter und der Fraktion der gewählt. CDU/CSU sowie der Abgeordneten Jörg Tauss, Willi Brase, Der Kollege hat sein Amt als stellver- Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der tretendes Mitglied im Stiftungsrat der Stiftung zur Fraktion der SPD Aufarbeitung der SED-Diktatur niedergelegt. Als Nachfolgerin schlägt die Fraktion der CDU/CSU die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuch- Kollegin Maria Michalk vor. Darf ich auch dazu Ein- ses ausbauen vernehmen feststellen? – Das ist offenkundig der Fall. – Drucksache 16/11883 – Dann ist die Kollegin Maria Michalk hiermit zum stell- Überweisungsvorschlag: vertretenden Mitglied des Stiftungsrates gewählt. Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (f) Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun- Innenausschuss dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf- Finanzausschuss geführten Punkte zu erweitern: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haushaltsausschuss 22088 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Dividenden streichen – Gewinne in Arbeits- (C) Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite- plätze investieren rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP – Drucksache 16/11877 – Entwicklungschancen für den wissenschaftli- Überweisungsvorschlag: chen Nachwuchs schaffen Finanzausschuss (f) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Drucksache 16/11880 – Haushaltsausschuss Überweisungsvorschlag: Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so- Ausschuss für Bildung, Forschung und weit erforderlich, abgewichen werden. Technikfolgenabschätzung Der bisher mit Aussprache vorgesehene Tagesord- d) Beratung des Antrags der Abgeordneten nungspunkt 24 – dabei geht es um die Westeuropäische Dr. Heinrich L. Kolb, Jan Mücke, Jens Acker- Union – soll bei den Ohne-Debatte-Punkten aufgerufen mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion werden. der FDP Schließlich mache ich auf eine nachträgliche Aus- Faires Nachversicherungsangebot zur Verein- schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf- heitlichung des Rentenrechts in Ost und West merksam: – Drucksache 16/11236 – Der in der 200. Sitzung des Deutschen Bundestages Überweisungsvorschlag: überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz- Ausschuss für Arbeit und Soziales lich dem Ausschuss für Arbeit und Soziales (11. Aus- schuss) zur Mitberatung überwiesen werden. ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Ausspra- che Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- (Ergänzung zu TOP 34) gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verein- fachung und Modernisierung des Patentrechts Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales – Drucksache 16/11339 – (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten überwiesen: Manuel Sarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steen- Rechtsausschuss (f) block, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Ausschuss für Wirtschaft und Technologie BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ausschuss für Arbeit und Soziales (B) Ausschuss für Bildung, Forschung und (D) Europäische Arbeitszeitrichtlinie – Hohen Technikfolgenabschätzung Arbeitnehmerschutz EU-weit sicherstellen Sind Sie auch damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen. – Drucksachen 16/11758, 16/11894 – Ich rufe nun den Zusatzpunkt 2 auf: Berichterstattung: Abgeordneter Eidesleistung des Bundesministers für Wirt- schaft und Technologie ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- Es handelt sich dabei um Herrn Dr. Karl-Theodor schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen Freiherr zu Guttenberg. Dass er wesentlich mehr Vorna- Trittin, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nacht- men hat, als ich vorgetragen habe, ist inzwischen allge- wei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion mein bekannt, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Heiterkeit) Kontraproduktive US-Operationen in Pakis- wenn auch nicht ganz so viele, wie gelegentlich in Le- tan sofort einstellen – Umfassende Strategie xika zu lesen war. Wir setzen das für die Eidesleistung zur Stabilisierung Pakistans entwickeln als bekannt voraus. – Drucksachen 16/10333, 16/11251 – (Heiterkeit) Berichterstattung: Der Herr Bundespräsident hat mir mit Schreiben vom Abgeordnete Holger Haibach 10. Februar 2009 Folgendes mitgeteilt: (Wiesloch) Dr. Gemäß Art. 64 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Wolfgang Gehrcke Bundesrepublik Deutschland habe ich heute auf (Bremen) Vorschlag der Frau Bundeskanzlerin den Bundes- minister für Wirtschaft und Technologie, Herrn Mi- ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Werner chael Glos, auf seinen Antrag aus seinem Amt als Dreibus, Dr. Barbara Höll, Dr. Gesine Lötzsch, Bundesminister entlassen und Herrn Dr. Karl-Theo- weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE dor Freiherr zu Guttenberg, MdB, zum Bundesmi- LINKE nister für Wirtschaft und Technologie ernannt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22089

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Nach Art. 64 Abs. 2 des Grundgesetzes leistet ein – Bericht des Haushaltsausschusses (8. Aus- (C) Bundesminister bei der Amtsübernahme den in Art. 56 schuss) gemäß § 96 der Geschäftsordnung vorgesehenen Eid. – Drucksache 16/11905 – Herr Kollege Dr. Karl-Theodor zu Guttenberg, ich darf Sie nun zur Eidesleistung zu mir bitten. Berichterstattung: Abgeordnete Klaus-Peter Willsch Ich darf Sie bitten, den im Grundgesetz vorgesehenen Klaus Hagemann Eid zu sprechen. Ulrike Flach (Die Anwesenden erheben sich) Anna Lührmann Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- desminister für Wirtschaft und Technologie: richts des Ausschusses für Bildung, Forschung Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha- den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze – zu dem Antrag der Abgeordneten Volker des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge- Schneider (Saarbrücken), Dr. , wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann Cornelia Hirsch, weiterer Abgeordneter und üben werde. So wahr mir Gott helfe. der Fraktion DIE LINKE (Beifall – Abgeordnete aller Fraktionen gratu- Verlässliche Bildungsförderung für Erwach- lieren Bundesminister Dr. Karl-Theodor sene noch in dieser Legislatur auf den Weg Freiherr zu Guttenberg – Bundesminister bringen Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg wird ein Blumenstrauß und ein Präsent überreicht) – zu dem Antrag der Abgeordneten Priska Hinz (Herborn), Kai Gehring, , weiterer Präsident Dr. Norbert Lammert: Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ Sehr geehrter Herr Minister, nachdem Sie den vom DIE GRÜNEN Grundgesetz vorgeschriebenen Eid geleistet haben, darf Förderung des lebenslangen Lernens unver- ich Ihnen auch im Namen all derjenigen Mitglieder des züglich entscheidend voranbringen Deutschen Bundestages, die Ihnen noch nicht persönlich die Hand schütteln konnten, ganz herzlich zur Über- – Drucksachen 16/11374, 16/11202, 16/11904 – (B) nahme dieses Amtes gratulieren, (D) Berichterstattung: (Beifall) Abgeordnete Freude an der Aufgabe wünschen und Gottes Segen für Dr. Ernst Dieter Rossmann die Wahrnehmung dieses Amtes. Patrick Meinhardt Volker Schneider (Saarbrücken) Zugleich möchte ich dem ausgeschiedenen Bundes- Priska Hinz (Herborn) minister für seine Tätigkeit als Mitglied der Bundesregierung danken. Zur dritten Beratung des Gesetzentwurfs liegt ein Entschließungsantrag der FDP-Fraktion vor. (Beifall) Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 3 a und 3 b Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für auf: die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten (Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Gesetzes zur Änderung des Aufstiegsfortbil- Guttenberg nimmt weitere Glückwünsche ent- dungsförderungsgesetzes gegen) – Drucksache 16/10996 – Herr Wirtschaftsminister, darf ich einen Verfahrens- vorschlag machen? Wenn Sie sich am Ende des Ganges Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- aufbauen würden, könnten Sie die Gratulationscour der ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- ausziehenden Kollegen ohne Störung der weiteren Bera- schätzung (18. Ausschuss) tungen abnehmen. Diejenigen, die an der Beratung die- – Drucksache 16/11904 – ses Tagesordnungspunktes beteiligt sind, könnten sich dann den damit verbundenen Themen widmen. Berichterstattung: Abgeordnete Uwe Schummer Das Wort erhält zunächst die Frau Bundesministerin Dr. Ernst Dieter Rossmann Annette Schavan. Patrick Meinhardt Volker Schneider (Saarbrücken) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Priska Hinz (Herborn) der SPD) 22090 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) dung und Forschung: neten der SPD) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir motivieren Berufstätige, sich beruflich weiterzu- Meine Damen und Herren! Zur Qualifizierungsinitiative entwickeln und fortzubilden. Dabei stehen die Ab- der Bundesregierung gehören Impulse für eine konzep- schlüsse nach dem Berufsbildungsgesetz und der Hand- tionelle Weiterentwicklung von Bildung und Qualifizie- werksordnung im Vordergrund des Gesetzentwurfs. Wir rung und Anreize für Weiterqualifizierung, also Anreize übernehmen mit der Förderung von Abschlüssen im so- dafür, Bildungschancen und Qualifizierungschancen zialen Bereich auch eine sozialpolitische Verantwor- wahrzunehmen. tung. Es gibt einen breiten gesellschaftlichen Konsens Wir haben dies im Hohen Hause auch deshalb beraten darüber, dass zum Beispiel die frühkindliche Bildung und beschlossen, weil wir davon überzeugt sind, dass und Erziehung verbessert werden muss. das Thema Fachkräftebedarf in den nächsten Jahren Deshalb ist es wichtig gewesen – dies ist ein ganz noch stärker als in den vergangenen Jahren auf der Ta- deutliches Signal an diese Berufsgruppe –, jetzt auch die gesordnung stehen wird. Wir beschäftigen uns also nicht Aufstiegsfortbildungen der Erzieherinnen und Erzieher allein mit der Sicherung von Beschäftigung, sondern im- ebenso wie die Aufstiegsfortbildungen in den Pflegebe- mer stärker auch mit der Frage, wie es uns gelingt, am rufen zu fördern. Wir wissen, dass die Attraktivität die- Hochtechnologiestandort Deutschland genügend hoch- ser beiden Berufe darunter leidet, dass es weder Auf- qualifizierte Fachkräfte zu haben. stiegschancen noch lebenslange Berufsbiografien gibt. Erste wichtige Schritte sind erfolgt. Dazu gehört zum Eine Erzieherin scheidet in der Regel nach acht Berufs- Beispiel, dass wir im Jahre 2008 mit rund 616 000 Aus- jahren aus dem Beruf aus. Das ist ein wichtiger Schritt bildungsverträgen ein Niveau des Ausbildungsumfangs zur Modernisierung der Aufstiegsqualifikation für Er- wie seit langem nicht mehr erreicht haben. Diesen jun- zieherinnen und Erzieher und für die Pflegeberufe. gen Menschen wird mit ihrer qualifizierten Ausbildung (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) eine Chance auf weitere Berufs- und Lebensperspekti- ven gegeben. Eine qualifizierte Ausbildung ist die Vo- Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt ganz deutlich raussetzung für den Aufstieg durch Bildung. auf, dass es nach der Ausbildung weitergeht. Wir unter- stützen die berufliche Weiterbildung. Mit dem neuen Bund und Länder haben in Dresden ihren Willen zum Darlehensteilerlass bei Bestehen der Prüfung geben wir Ausdruck gebracht, jeden zu unterstützen, der lernen das Signal, dass sich Leistung lohnt. Wir fördern die will. Diese Vereinbarung von Dresden setzen Bund und Motivation, eine Fortbildung zu beginnen und erfolg- Länder im AFBG, also mit dem sogenannten Meister- reich zum Abschluss zu bringen. Damit wird eine Vo- (B) BAföG, jetzt konkret um. Die Förderung wird vom Bund (D) raussetzung für die weitere Entwicklung der Berufsbio- und den Ländern gemeinsam verantwortet und finan- grafie geschaffen. ziert. An zahlreichen Stellen sind in den letzten Wochen Mit dem Meister-BAföG wird die zukünftige mittlere und Monaten sowohl die Erfahrungen der Länder als Führungsebene in den Betrieben gefördert. Meister, auch die Anregungen der Wirtschaftsverbände und Techniker und Fachwirte leisten einen wesentlichen Bei- Sozialpartner in die Beratungen über die Novelle einge- trag zur Entwicklung von Innovationen in den Unterneh- flossen. Auch die Experten haben sich in der Anhörung men. Sie erarbeiten Produkte und Dienstleistungen und am 26. Januar 2009 positiv zu dem Gesetzentwurf und gestalten diese kundengerecht. In der Regel nehmen sie den Veränderungen geäußert. Schlüsselfunktionen bei der Sicherung der Wettbewerbs- fähigkeit der Betriebe wahr. Die Koalitionsfraktionen – dafür möchte ich aus- drücklich danken – haben in einer sehr vertrauensvollen Ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Weiterentwick- und konstruktiven Weise und vor allen Dingen sehr lung dieses Gesetzes sind die besseren Perspektiven für schnell zu einer Verständigung gefunden. Ich freue mich Fachkräfte mit Migrationshintergrund. Dies ist ein auch, dass es in der Opposition in den letzten Tagen besonderer Beitrag zur Förderung der Integration von positive Stellungnahmen hierzu gegeben hat. Ausländern. Wir wissen, dass sich nach wie vor gerade diese Gruppe nur in sehr geringem Umfang an Weiterbil- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der dungsmaßnahmen beteiligt. Erst kürzlich hat eine Studie SPD und der FDP) des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung gezeigt, dass gerade in dieser Bevölkerungsgruppe noch – Jawohl, Frau Pieper, ich weiß, woher sie kommen. Ich ein großes Potenzial steckt. habe in der Opposition aber auch noch um weitere Zu- stimmung geworben. Zugleich sollen diejenigen, die nach der Fortbildung eine Existenz gründen, Auszubildende einstellen, Ar- Mit dem Meister-BAföG stärken wir das lebensbe- beitsplätze schaffen und in diesem Kontext weitere fi- gleitende Lernen, das – davon sind wir alle überzeugt – nanzielle Vergünstigungen erhalten. immer bedeutsamer werden wird, und zwar nicht nur, wie es durch den Namen suggeriert wird, im Handwerk, Meine Damen und Herren, wir haben das AFBG breit sondern in allen Berufsbereichen. Das ist ein entschei- aufgestellt. Die Förderung beruflich Qualifizierter – da- dender Punkt der Weiterentwicklung des Gesetzent- von bin ich überzeugt – darf nicht hinter der von Schü- wurfs. lern und Studenten zurückstehen. Dies ist ein Prüfstein Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22091

Bundesministerin Dr. Annette Schavan (A) für die Frage, ob wir es mit der Gleichwertigkeit von Wir als Liberale haben deswegen einen eigenen Ent- (C) beruflicher und allgemeiner Bildung ernst nehmen. schließungsantrag vorgelegt. Das ändert aber nichts da- ran, dass dieser Gesetzentwurf genau in die richtige (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Richtung geht. Das Meister-BAföG wird auf wichtige Deshalb folgt nach der Modernisierung und Weiter- Zielgruppen ausgedehnt. Dabei geht es nicht um Opposi- entwicklung des BAföG nun die Modernisierung und tion oder Regierung, sondern es ist eine Frage der richti- Weiterentwicklung des Meister-BAföG. Damit sollen für gen Zukunftspolitik dieses Parlamentes. Deswegen neue Berufsgruppen neue Anreize, mehr finanzielle stimmt die FDP-Bundestagsfraktion zu. Leistungen und eine höhere Akzeptanz im öffentlichen Bildungssystem geschaffen werden. Außerdem soll (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei deutlich gemacht werden, dass wir längst an lebenslan- Abgeordneten der CDU/CSU) gen Bildungsbiografien arbeiten. Das sind die Vorausset- Wir stimmen auch deswegen zu, weil die Berufsgrup- zungen dafür, den künftigen Fachkräftebedarf in pen der Altenpflegerinnen und Altenpfleger und Erzie- Deutschland zu decken. herinnen und Erzieher diese Chance auf Fortbildung Mit den vorgesehenen Leistungsverbesserungen von brauchen. Die höchste Verantwortung in dieser Gesell- zusätzlich 272 Millionen Euro in den nächsten vier Jah- schaft tragen zum einen die Menschen, die sich um die ren werden Bund und Länder spürbare Anreize für die Entwicklung der Kinder von Anfang an kümmern, ihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer an beruflichen Auf- Talente unterstützen und fördern sollen und mit Sprach- stiegsfortbildungen schaffen. Ich appelliere an dieser standserhebungen und der persönlichen Förderung jedes Stelle ausdrücklich an die Länder, im Interesse der Fort- einzelnen Kindes eine herausragende Aufgabe wahrneh- bildungswilligen im Bundesrat den Weg freizumachen men, und zum anderen selbstverständlich auch diejeni- für diese Verbesserungen. Wir brauchen bis zum Ende gen, die den letzten Abschnitt des Lebens fürsorglich den Schulterschluss. und mit viel Liebe begleiten. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Beide Berufe sind aus unserer Gesellschaft nicht weg- zudenken. Beide Berufe verdienen nicht das, was sie ge- Meine Damen und Herren, ich muss es nicht wirklich sellschaftlich verdienen sollten. betonen: In den nächsten Jahren werden uns in vielen Bereichen von der frühkindlichen Bildung bis zum le- (Beifall bei Abgeordneten der FDP und der bensbegleitenden Lernen die Fragen beschäftigen: Wie SPD) kommen wir zu besserer Bildung? Wie kommen wir zu mehr Qualifikation? Wie kommen wir zu einer höheren Auch deswegen ist heute für diese so wichtigen, zentra- (B) Beteiligung an Weiterbildung? len Berufe ein guter Tag, wenn auch für sie das Meister- (D) BAföG geöffnet wird. Denn damit wird ihre Arbeit stär- Was wir heute beraten und beschließen, ist ein guter ker gewürdigt und ihnen die Möglichkeit zur aktiven nächster Schritt, es ist ein Meilenstein in der Akzeptanz Weiterbildung gegeben. Das ist ein wichtiger Schritt zu und der hohen Bewertung der beruflichen Bildung in mehr Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Deutschland. Damit wird Aufstieg durch Bildung noch besser möglich. Aus unserem Entschließungsantrag darf ich zwei Punkte herausgreifen, die uns wichtig sind. Erstens. Wir Vielen Dank. sollten uns in der Frage des Meister-BAföG nicht so sehr (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) auf die Frage der starren Förderung für Kurse ab 400 Stunden Unterricht orientieren. Solche starren Rege- Präsident Dr. Norbert Lammert: lungen bringen in der Bildungsdebatte nichts. Viel wich- Das Wort erhält nun der Kollege Patrick Meinhardt, tiger ist es, Qualitätskriterien zu schaffen. Auch für ei- FDP-Fraktion. nen freien Träger, der einen Kurs mit 380 Stunden in der gleichen Qualität anbietet, sollte die Förderung gelten. (Beifall bei der FDP) Wir brauchen mehr Flexibilität. Qualität muss beim Meister-BAföG vor Quantität stehen. Patrick Meinhardt (FDP): (Beifall bei der FDP) Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Ministerin, Politik – gerade Wir brauchen Systeme des intelligenten Bildungsspa- Bildungspolitik – darf nicht nach der Abgrenzungsscha- rens. Notwendig ist auch die Stärkung der bestehenden blone „Hier Opposition, dort Regierung“ erfolgen. Maßnahmen wie die nach dem AFBG. Aber wir sagen als Liberale ganz klar: Wir brauchen kein neues Mam- (Beifall bei der FDP) mutgesetz für die Erwachsenenbildung in der Bundesre- Wenn wir ins Detail gehen und das Aufstiegsfortbil- publik Deutschland. Wir brauchen kein Gesetz, das von dungsförderungsgesetz Punkt für Punkt genauer durch- der Wiege bis zur Bahre alles allumfassend in seinen en- gehen, dann werden wir darin sicherlich eine ganze gen Rahmen hineinpressen will. Wir brauchen kein Reihe von Einzelmaßnahmen finden, die uns Liberalen neues Bürokratiemonster, das in den Anhörungen nur nicht weit genug gehen. Wir würden auch sehr schnell von Gewerkschaftsvertretern gewünscht wurde, sondern feststellen, wo jeweils der CDU/CSU und der SPD ihre eine gute und offensive Weiterbildungspolitik. Deswe- Handschrift zu undeutlich erscheint. gen positionieren wir uns an dieser Stelle klar: Wir wol- 22092 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Patrick Meinhardt (A) len kein neues Gesetzeswerk. Wir wollen kein neues Bü- den damaligen Bildungsminister Rüttgers vollzogen (C) rokratiemonster. worden. Er hat damals – nicht unumstritten – mit dem Meister-BAföG eine steuerfinanzierte Erwachsenen- (Beifall bei der FDP) bildungsförderungsleistung in das Gesetzeswerk Ich glaube, wir werden heute insoweit ein gutes Zei- hineingebracht. Das war wichtig, obwohl es sicherlich chen setzen. Wir brauchen ein großes Paket für den Auf- kritisch zu sehen ist, dass es aus dem damaligen Arbeits- bruch in der Weiterbildung. Davon sind wir noch viele förderungsgesetz ausgekoppelt wurde. Das Ergebnis Schritte entfernt. Notwendig ist auch eine Stärkung der war: 60 000 bis 70 000 Menschen in der anspruchsvollen Weiterbildungsfinanzierung, aber nicht in Form einer Aufstiegsfortbildung bekamen Förderung. Das war ein Weiterbildungsprämie von 154 Euro als Kernstück ei- erster guter Schritt. ner Offensive in der Weiterbildung, wie Sie es sich sei- Der zweite gute Schritt erfolgte dann im Jahr 2001, tens der Regierungsfraktionen vorstellen. Eine Weiter- als wir unter der rot-grünen Regierung mit Herrn Schrö- bildungsprämie in Höhe von 154 Euro pro Person und der und Frau Bulmahn das Aufstiegsfortbildungsförde- Jahr wird nie den qualitativen Aufbruch in der Weiterbil- rungsgesetz tatkräftig und energisch erweitert haben. Die dung bringen, den wir in der Bundesrepublik Deutsch- Zahl der Geförderten stieg so auf 140 000; denn es wur- land brauchen. Wir Liberale wollen nicht, dass die Sta- den nicht nur Vollzeitmaßnahmen, sondern auch Teil- tistik verbessert wird, sondern wir wollen, dass die zeitmaßnahmen durch den Maßnahmebeitrag gefördert. Weiterbildungsqualität in der Bundesrepublik Deutsch- Ich darf an dieser Stelle Kollegin Aigner, die nun Minis- land verbessert wird. terin ist, sozusagen eine Blume überreichen. Damals hat (Beifall bei der FDP) sie für die konservative Seite eingefordert: Fördert die Maßnahme, damit jeder, der in der Aufstiegsfortbildung Umso wichtiger ist es, dass die Gesamtkonzeption der ist und nicht viel Geld hat, Unterstützung bekommt! Weiterbildung vorangebracht wird. Hier brauchen wir hat es dann umgesetzt. Das ist ein mehr Anstrengungen und mehr Initiativen. Zum Schluss ganz wichtiger Schritt gewesen. meiner Rede darf ich Bundespräsident Horst Köhler zum Thema Weiterbildung zitieren: (Beifall bei der SPD) Wie also schaffen wir es, in einer alternden Gesell- Der dritte Schritt wird heute vollzogen. Dass wir ihn schaft die richtigen Anreize für Weiterbildung und tun können, ist in erster Linie eine Leistung des Parla- lebenslanges Lernen zu setzen? Das ist nicht nur ments. Wenn Sie sich die Koalitionsvereinbarung an- eine Frage von Strukturen. Dass Weiterbildung bei schauen, dann stellen Sie fest, dass dort weder eine Ver- uns so selten stattfindet, dürfte auch damit zusam- besserung des BAföG noch eine Verbesserung des (B) menhängen, dass wir uns angewöhnt haben und im- Meister-BAföG vorgesehen ist. Es sind bestimmte Abge- (D) mer noch glauben, es sei der normale Rhythmus, ordnete, auf die diese Novelle zurückgeht. Die Fraktionen das Leben in drei Abschnitte einzuteilen … Dieses haben aufbegehrt und sind initiativ geworden. Wenn ich Phasenmodell … entspricht jedoch nicht mehr un- nun einzelne Abgeordnete aufzählte, wären andere si- serer Lebenswirklichkeit, denn immer mehr Ältere cherlich enttäuscht. Jedenfalls handelt es sich um eine sind länger aktiv, und Lernen ist längst von der Ju- Parlamentsinitiative. gend- zur Lebensaufgabe geworden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Heute schaffen wir mit der vorliegenden Novelle für Er- der CDU/CSU) zieherinnen und Erzieher sowie für Altenpflegerinnen Es ist sicherlich nicht falsch, wenn das Parlament Pro- und Altenpfleger mehr Bildungsgerechtigkeit und mehr bleme aufgreift, Perspektiven aufzeigt und dann entspre- Aufstiegschancen; das ist überfällig. Die FDP-Fraktion chende Initiativen in enger Zusammenarbeit mit der Re- unterstützt diesen Gesetzentwurf. gierung umsetzt. Ich sage an dieser Stelle Staatssekretär Herzlichen Dank. Storm ein Dankeschön für die gute Zusammenarbeit auf fachlicher Ebene. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir haben damals analysiert und uns die Entwicklung Der Kollege Ernst Dieter Rossmann hat nun für die der Gefördertenzahl genau angeschaut; denn diese Zahl SPD-Fraktion das Wort. ist auch ein Abbild der Dynamik in der Aufstiegsfort- bildung. Ich möchte in diesem Zusammenhang ein paar (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Zahlen nennen. Jährlich machen rund 400 000 Men- schen einen Berufsbildungsabschluss. 200 000 erlangen Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): einen akademischen Abschluss. Aber nur ein Fünftel Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! derjenigen mit einem Berufsbildungsabschluss kommt Heute haben wir eine breite Übereinstimmung, was die aktuell in eine Aufstiegsfortbildung; das ist nicht gut. Förderung von Erwachsenenweiter- und Erwachsenen- Wenn wir die Balance bzw. die Gleichwertigkeit von an- fortbildung angeht. Daher ist es gut, den Dreischritt, spruchsvoller beruflicher und akademischer Bildung den wir im deutschen Parlament vollzogen haben, in wollen, dann müssen wir die Gefördertenzahl im berufli- Erinnerung zu rufen. Der erste Schritt ist 1996 durch chen Bereich steigern. Das Ziel könnten ja auch für die- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22093

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) sen Bereich 200 000 Geförderte sein. Wenn wir es errei- Vierter Punkt der Analyse. Es gibt zu wenige Men- (C) chen, die Zahl von 80 000 Geförderten auf 100 000 oder schen aus Einwandererfamilien, die unser Bildungssys- 120 000 zu steigern, dann hätten wir in allen wirtschaft- tem erfolgreich für sich nutzen können. Wenn wir auch lichen Bereichen einen ganz wichtigen Beitrag zur Qua- bei der Aufstiegsfortbildung Migranten erleichtern, mit lifizierung geleistet. einem festen Aufenthaltstitel ohne lange Vorlaufzeiten dieses Bildungsrecht in Anspruch nehmen zu können, (Beifall bei der SPD) dann ist das ein Zeichen für die Zukunft. Als man angesichts dieser Perspektive allerdings fest- Fünfter und letzter Punkt. Die Ministerin hat schon gestellt hat, dass die Zahl derjenigen, die eine Aufstiegs- angesprochen, dass wir den Förderkreis deutlich erwei- fortbildung absolviert haben, und auch die Zahl der Ge- tern. Es wird in Zukunft nicht mehr nur und ausschließ- förderten erstmals wieder rückläufig war – das war im lich die erste Fortbildung gefördert werden, sondern es Jahr 2006 –, war das ein Anlass, parlamentarisch initia- kann auch eine weitere Fortbildung gefördert werden. tiv zu werden und auf eine grundsätzliche Leistungsver- Damit wird die Bildungsförderung zu einem kontinuier- besserung zu dringen, damit die Zahl wieder steigen lichen Prozess. Wir nennen das, über das wir reden, kann. Das ist der erste Punkt. Die Analyse der Situation Meister-BAföG, aber in Wirklichkeit ist es ein Fach- führte zur politischen Schlussfolgerung, die heute in kräfte-BAföG. Nur 36 Prozent der Abschlüsse kommen dem Reformgesetz aufgenommen wird. aus dem Handwerk, 46 Prozent kommen aus der Indus- trie und dem Dienstleistungsbereich, der Rest aus dem Ein zweiter Punkt. Wenn wir feststellen, dass 68 Pro- Gesundheitssektor und anderen Bereichen. Wenn wir zent derjenigen, die eine Aufstiegsfortbildung absolvie- dies aufgreifen und die Aufstiegsfortbildung auf die Be- ren bzw. sich überhaupt im Rahmen der beruflichen Bil- reiche der Altenpflege und Kindererziehung ausdehnen, dung qualifizieren, Männer und 32 Prozent Frauen sind dann eröffnen wir den Menschen in diesen Zukunfts- und die meisten in der Altersgruppe zwischen 20 und branchen die Chance zur Qualifizierung. 35 Jahren sind, dann müssen wir erkennen, dass die Ver- einbarkeit von Aufstiegsfortbildung und Familie ein Das ist ein Gesetz, das aus der Analyse der bestehen- Problem darstellt. Schätzungsweise haben nur 10 Pro- den Verhältnisse notwendige Konsequenzen zieht. Fest- zent derjenigen, die in einer Aufstiegsfortbildung sind, zustellen ist, dass die bereitgestellten Mittel einen Zu- Kinder. Dass uns dies nicht ruhen lassen kann, dass man wachs von 60 Prozent darstellen. In welchem Bereich im Gegenteil schauen muss, wie man speziell die Fami- haben wir das schon, wenn es nicht gerade um den lien, in denen sich jemand intensiv anstrengt, eine Auf- Schutzschirm für Banken oder konjunkturpolitische stiegsfortbildung zu absolvieren, und gleichzeitig Kinder Maßnahmen geht? (B) erzieht, fördern kann, ist klar. Das ist ein wichtiges An- (D) liegen. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Hier geht es um einen Schirm für die Bildung, den wir der CDU/CSU) aufspannen müssen, damit in Zukunft möglichst viele davon profitieren können. Wir haben das analysiert und eine Verbesserung durch- Es bleibt eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund und gesetzt. Der Kinderzuschlag wird nämlich jetzt um fast Ländern. Wir stehen nachdrücklich dazu, dass sich die- 40 Euro erhöht, und er wird nur zu 50 Prozent als Darle- ses gemeinsame Anliegen auch materiell niederschlagen hen gegeben. Das ist eine wichtige Konsequenz. Wir muss. Es bleibt auch entwicklungsfähig – um auf die hoffen, dass sich die Aufstiegsfortbildung in Zukunft mit Anträge der Linken und der Grünen einzugehen. Sie for- der Kindererziehung besser vereinbaren lässt. dern natürlich von diesem Parlament ein, es dabei nicht (Beifall bei der SPD) bewenden zu lassen und eine längere Perspektive ins Auge zu fassen. Ich will angesichts der Tatsache, dass Ein dritter Punkt der Analyse. 20 Prozent derjenigen, wir in der Koalition uns darüber noch nicht so einigen die eine Aufstiegsfortbildung machen, brechen sie ab, konnten, wie es für die Zukunft wünschenswert gewesen nur 80 Prozent bestehen beim ersten Versuch die Prü- wäre, wenigstens den sozialdemokratischen Standpunkt fung. Auch daraus muss man Schlussfolgerungen ziehen erläutern. und fragen, ob man helfen kann. Man kann natürlich in- sofern helfen, als man den Anreiz verstärkt, eine Auf- Wir sind für ein Erwachsenenbildungsförderungs- stiegsfortbildung wirklich bis zum erfolgreichen Ende gesetz. durchzuführen. Das heißt, man kann einen Bonus ge- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker währen, wenn die Aufstiegsfortbildung erfolgreich abge- Schneider [Saarbrücken] [DIE LINKE]) schlossen wird. Man kann auch helfen, indem man die schwierige Prüfungsphase – Werkstücke entstehen oft Wir sind dafür, dass wir die Bildungskette vom Schüler- hinterher, und die intensive Vorbereitung erfolgt eben- BAföG über das Studenten-BAföG bis zum Meister- falls oft nach dem Zeitraum, für den man eine Dauerför- BAföG erweitern. Wenn es ein Meister-BAföG für die derung bekommt – durch eine Verbesserung der Förde- beruflich Hochqualifizierten gibt, dann brauchen wir in rung erleichtert. Auch dies tun wir. Wir hoffen, dass der Struktur von Bachelor und Master – das haben wir dadurch die Aufstiegsfortbildung für all diejenigen, die gelernt – ein Master-BAföG und auch eine Differenzie- sich darauf einlassen, erfolgreich wird. rung der einzelnen Bildungswege. 22094 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Ernst Dieter Rossmann (A) Herr Meinhardt, das, was Sie in Bezug auf die Stun- Fahrrad erhält, und es unter dem Weihnachtsbaum ein (C) denzahl gesagt haben, soll man so verstehen, dass wir Taschenbuch findet, dann wird die Enttäuschung groß differenzierter hinschauen sollen. Angesichts der Bil- sein, egal wie schön Sie den Raum geschmückt haben, dungsförderungsgesetzeskette – vom Schüler-BAföG über egal wie groß der Weihnachtsbaum ist und egal wie toll das BAföG und das Meister-BAföG bis hin zu einem Er- das Taschenbuch ist. wachsenenbildungs-BAföG – verstehe ich Ihre Volte (Beifall bei der LINKEN) nicht, das als bürokratisch zu denunzieren. Das Fahrrad, das Sie versprochen haben, heißt: Inte- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ gration der Weiterbildung als vierte Säule unseres Bil- DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der dungssystems. Das, was Sie heute hier weitergeben – die LINKEN) Änderung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes, Schließlich machen Sie an anderer Stelle mit: Sie be- AFBG –, hat, befürchte ich, noch nicht einmal das Zeug schließen heute hier ein Leistungsgesetz hinsichtlich zu einem Taschenbuch. Sie haben in Ihrem Koalitions- ganz wichtiger Anliegen für ganz viele Menschen mit. vertrag versprochen – Zitat –: Es geht darum, Vorschläge zu machen, wie dieses Gesetz Wir wollen mittelfristig die Weiterbildung zur verbessert werden kann. Lassen Sie uns dieses Bildungs- förderungsgesetz zu dem gemeinsamen Anliegen dieses 4. Säule des Bildungssystems machen und mit bun- Parlamentes machen! Das wird eine Aufgabe der nächs- deseinheitlichen Rahmenbedingungen eine Weiter- bildung mit System etablieren. ten Legislaturperiode werden. Auch in dieser Regierung dürfen wir selbstbewusst Nun neigt sich diese Legislaturperiode ihrem Ende sagen, dass wir mit dem heutigen Parlamentsbeschluss zu. Es ist daher nicht falsch, anzunehmen, dass Sie mit nicht nur bei den steuerfinanzierten Leistungen für die dem heute vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung des Weiterbildung Gutes bewirken; auch dort, wo es um So- Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes Ihre Initiati- zialversicherungsbeiträge geht, haben wir über den Ar- ven zur Stärkung der Weiterbildung abschließen und beitsminister und Bildungsminister Scholz mit dem krönen wollen. Für Sie ist dieser Gesetzentwurf ein ganz Rechtsanspruch auf die Förderung für den Hauptschul- großer Wurf. Sie wollen – man kann das in Ihrem Ge- abschluss Positives bewirkt. Auch beim Kurzarbeiter- setzentwurf nachlesen – nicht weniger, als dem Fach- geld gibt es notwendigerweise eine Verbindung zur Qua- kräftemangel durch individuelle und kontinuierliche Hö- lifizierung. In dieser Zeit ist es nämlich sehr wichtig, im herqualifizierung begegnen, die Wettbewerbsfähigkeit Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nicht nur an Absiche- der Wirtschaft sichern und die Qualifikation der Bevöl- rung, sondern auch an Qualifizierung zu denken. kerung auf Dauer erhalten. Damit dies gebührend gefei- ert werden kann, haben wir heute die Ehre, das zur aller- (B) (D) (Beifall bei der SPD) besten Debattenzeit diskutieren zu dürfen. Die Große Koalition hat die Perspektive, gemeinsam Es ist schon bezeichnend, dass Sie aus so wenig einen den Dualismus – das steuerfinanzierte Erwachsenenbil- so großen Anlass machen. Sicher, das ist kein schlechter dungsförderungsgesetz und das über die Sozialversiche- Gesetzentwurf. rung finanzierte Arbeitssicherungsgesetz und damit die Arbeitsversicherung bzw. die Arbeitsversicherung – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und weiterzuentwickeln. Das ist die sozialdemokratische der SPD) Perspektive. Heute machen wir einen großen Schritt in Das will auch ich zugestehen. Was positiv zu bewerten diese Richtung. ist, ist hier ausführlich dargestellt worden. Ich will das Wir bedanken uns und freuen uns. nicht alles wiederholen. Ich will nur einen Punkt heraus- greifen: Auch wir Linke sind der Meinung, dass die För- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten derung von Migrantinnen und Migranten ein wichtiger der CDU/CSU) Fortschritt ist, insbesondere weil Menschen mit Migra- tionshintergrund in unserem Beschäftigungssystem er- Präsident Dr. Norbert Lammert: heblich benachteiligt sind. Das ist nicht zuletzt darauf Das Wort erhält nun der Kollege Volker Schneider, zurückzuführen, dass unser Bildungssystem und unsere Fraktion Die Linke. Bildungsförderung diese Menschen vielfach eher aussor- tiert als gezielt fördert. Ich betone noch einmal: Das ist (Beifall bei der LINKEN) ein wichtiger Schritt. (Beifall bei der LINKEN) Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Es gibt auch kritische Anmerkungen zu Ihrem Geset- ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! So ganz kann ich zesentwurf; das betrifft Punkte, auf die bis jetzt noch in die vielen Lobeshymnen, die hier gesungen werden, nicht eingegangen worden ist. So sind die Förderbedin- nicht einstimmen. gungen im AFBG weiter schlechter als im BAföG – und das, obwohl Sie selbst angeben, dass mit Strukturverbes- (Beifall des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU] – serungen in der beruflichen Bildung der angestrebten Jörg Tauss [SPD]: Das haben wir befürchtet!) Gleichwertigkeit beruflicher und allgemeiner Bildung Wenn Sie einem Kind die Hoffnung gemacht haben, Rechnung getragen werden soll. Man muss schon sagen: dass es zu Weihnachten endlich das lange versprochene ein merkwürdiges Verständnis von Gleichwertigkeit. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22095

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) Den Veränderungen durch den Bologna-Prozess wird geht es hier nicht einmal um einen Anstieg von 0,5 auf (C) in dem Entwurf in keiner Weise Rechnung getragen. Wer 0,6 Prozent oder – exakter – um einen Anstieg von et- sein Studium mit einem Bachelor beendet und sich ent- was mehr als 0,9 Promille. Damit verliert man sicher den schließt, sofort in die berufliche Praxis zu gehen, um Führerschein, aber damit werden Sie mit Sicherheit nicht später eine theoretische Vertiefung in Form eines Mas- dem Fachkräftemangel begegnen, die Wettbewerbsfä- ter-Abschlusses draufzusetzen – ein Szenario, das im higkeit der Wirtschaft sichern und die Qualifikation der Rahmen der Hochschulreform übrigens ausdrücklich ge- Bevölkerung auf Dauer erhalten. wünscht war –, der schaut bei der Förderung schlicht in die Röhre. Ab 30 gibt es kein BAföG mehr, und das (Beifall bei der LINKEN) AFBG ist für diesen Personenkreis auch weiter nicht zu- Viel Lärm um verdammt wenig! Da graut mir nur noch ständig. davor, dass die Finanzkrise massiv auf den Arbeitsmarkt Bei aller Freude über die Einbeziehung der Pflegebe- durchschlägt. rufe sowie der Erzieher und Erzieherinnen: Seit Jahren diskutieren wir über veränderte Qualifikationsbedarfe. Schließlich zu Ihrem eigenen Anspruch, die Weiter- Seit Jahren stellt sich dabei die Frage, welche Bildungs- bildung zur vierten Säule des Bildungssystems auszu- wege – auch und gerade in Erziehung und Pflege – an bauen und mit bundeseinheitlichen Rahmenbedingungen die Hochschulen gehören. Längst ist klar, wo die bishe- eine Weiterbildung mit System zu etablieren: Außer star- rige berufliche Qualifizierung an Grenzen stößt und Be- ken Worten in der ganzen Legislaturperiode wenig ge- rührungspunkte mit der akademischen Bildung entstan- wesen, allenfalls Trostpflästerchen – und die oft noch an den sind. Mit der beruflichen Qualifizierung allein den falschen Stellen! werden Sie diese Probleme nicht lösen können. Bis Seit den 70er-Jahren, verstärkt seit Beginn der 80er- heute ist kaum zu erkennen, dass Sie auf diese Entwick- Jahre, wird über die Notwendigkeit lebenslangen Ler- lungen politisch reagieren. Schon gar nicht haben Sie nens diskutiert. Seit Anfang der 80er-Jahre ist es eine über die Instrumente der Bildungsförderung hierfür ge- politische Forderung, Weiterbildung zu einem Bestand- zielte Anreize geschaffen. teil des Bildungssystems zu machen. Nichts Wirksames Frau Ministerin, wenn Erzieher und Erzieherinnen be- in dieser Richtung ist in dieser Legislaturperiode gesche- reits nach acht Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden, hen. Die Weiterbildungsförderung bildet auch nach der dann sollte man sich vielleicht einmal überlegen, ob das vorliegenden Gesetzesänderung einen Flickenteppich nicht auch etwas mit der beschämend niedrigen Bezah- unübersichtlicher Einzelmaßnahmen: von WeGebAU bis lung für eine so anspruchsvolle Tätigkeit zu tun hat. zum Meister-BAföG – und das mit riesigen Lücken. Ein konsistentes System der Förderung ist nicht erkennbar. (B) (Beifall bei der LINKEN) So können Bildungsbarrieren nicht überwunden werden. (D) Ein letzter Punkt: Qualitätssicherung findet allen- So wird lebenslanges Lernen für die Mehrheit der Bevöl- falls auf dem Papier statt. Nach dem Entwurf müssen die kerung keine tatsächlich erfahrbare Realität. Träger ein – das heißt wohl: irgendein – Qualitätssiche- Dabei liegen die Reformvorschläge seit Jahren auf rungssystem vorweisen. Ich habe mich beim Lesen ge- dem Tisch. Die Bundesregierung selbst hat eine Exper- fragt, ob auch jene Tante Käthe die Qualität überwachen tenkommission „Finanzierung Lebenslangen Lernens“ kann, die durch die Reden einer Kollegin aus dem Haus- ins Leben gerufen, die umfassende Konzepte für eine haltsausschuss geistert. Das alles ließe sich noch fortset- Stärkung der Weiterbildung vorgelegt hat. So forderte zen, aber ich will hier nicht Erbsen zählen. die Kommission nicht nur eine Ausweitung bestehender Es bleibt dabei: Dieser Gesetzesentwurf ist nicht der Leistungen, sondern ausdrücklich auch die Schaffung ei- schlechteste. nes gemeinsamen Rahmens, unter dem diese Leistungen vereint werden. Das waren wichtige Vorschläge für ei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nen ganzheitlichen Ansatz in der Bildungsförderung. Aber ist es auch der große Wurf? Können Sie so – das ist Nur dafür, dass diese Vorschläge jetzt im Papierkorb ver- Ihr Anspruch – wirklich dem Fachkräftemangel begeg- schwinden, haben Sie doch wohl nicht so viel Geld be- nen, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft sichern zahlt? und die Qualifikation der Bevölkerung auf Dauer erhal- ten? Die Linke hält die Umsetzung dieser Vorschläge nach wie vor für elementar. Auch hier und heute wiederhole Sie selbst rechnen mit einem Anstieg – das muss ich ich unsere Forderung, nicht länger bei Flick- und Stück- schon fast in Anführungszeichen setzen – der Zahl der werk zu verharren, sondern mit einem Erwachsenenbil- Geförderten von 134 000 im Jahr 2007 auf 160 000 im dungsförderungsgesetz verlässliche Rahmenbedingun- Jahr 2012. gen für Nachfrager und Anbieter der Weiterbildung zu (René Röspel [SPD]: Immerhin!) schaffen. Selbst wenn ich nicht 50 Millionen Menschen zwischen (Ulla Burchardt [SPD]: Sie fordern, wir 20 und 65 Jahren als potenzielle Adressaten lebenslan- arbeiten daran!) gen Lernens sehe, sondern nur 27 Millionen sozialversi- So viel Mut werden Sie schon brauchen, damit Sie die cherungspflichtig Beschäftigte, bislang doch recht hohle Formel vom lebenslangen Ler- (Jörg Tauss [SPD]: Jahr für Jahr!) nen mit Leben erfüllen können. 22096 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Volker Schneider (Saarbrücken) (A) Ein letztes Wort zur FDP: Ihre Angst vor Bürokra- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (C) tiemonstern macht Sie blind für die Erkenntnis, dass Ihre Sonntagsreden und Ihr Alltagshandeln klaffen hier kaum ein Markt so sehr versagt hat wie der Weiterbil- weit auseinander. dungsmarkt. Meine Damen und Herren, auch die Weiterbildungs- (Patrick Meinhardt [FDP]: Da hat der Staat prämie, über die ja immer wieder diskutiert wird und versagt!) die gerade von der Ministerin gerne ins Feld geführt Dort herrscht in hohem Maße Intransparenz, da finden wird, bewahrt Sie nicht davor, dass Sie sich eingestehen Angebot und Nachfrage nur in seltenen Fällen zueinan- müssen, dass Sie Ihre eigenen Ansprüche nicht einlösen der. Viel schlimmer als jedes noch so schlimme Bürokra- können. tiemonster ist ein krebsartig wuchernder Wildwuchs in diesem Bereich. (Patrick Meinhardt [FDP]: So ist es!) (Patrick Meinhardt [FDP]: Pure Ideologie!) Eine Weiterbildungsprämie von 154 Euro kann nämlich Individuen nicht dazu verführen, zusätzlich viel Auf- Um dem abzuhelfen, braucht es Strukturen und ein wand und Zeit in Weiterbildung zu investieren und tat- Erwachsenenbildungsförderungsgesetz. sächlich an formalisierten Weiterbildungsangeboten teil- Danke schön. zunehmen. Mit den beiden jetzt von mir angesprochenen Instrumentarien erreichen Sie die Weiterbildungsquote (Beifall bei der LINKEN) von 50 Prozent nicht. Das muss heute klar und deutlich gesagt werden. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Priska Hinz ist die nächste Rednerin für die Fraktion sowie bei Abgeordneten der FDP) Bündnis 90/Die Grünen. Auch innerhalb des Systems entstehen durch die Re- form des Meister-BAföG Probleme. Warum wird der Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Kinderzuschlag teilweise nur als Darlehen gezahlt und nicht generell als Vollzuschuss? Warum werden die Un- Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich terhaltszuschüsse im AFBG nicht in gleicher Weise ge- muss Wasser in den Wein gießen. regelt wie im BAföG? Warum sehen Sie einen Darle- (Jörg Tauss [SPD]: Oh!) hensteilerlass für bestandene Prüfungen vor, obwohl Sie die dafür nötigen Mittel zur Gewährung des Kinderzu- Denn was heute als großer Schritt der Koalition gefeiert schlages als Vollzuschuss einsetzen könnten? (B) wird, ist in Wahrheit nur ein Trippelschritt im Bereich (D) des lebenslangen Lernens. Herr Schneider hat ja schon Gerade wenn man Frauen für die Weiterbildung zur angeführt, was im Koalitionsvertrag steht. Da heißt es, Altenpflegerin oder zur Erzieherin interessieren will, dass die Weiterbildung „mit bundeseinheitlichen Rah- dann muss man wissen, dass diese Frauen in aller Regel menbedingungen“ zu einer „Weiterbildung mit System“ ganz wenig Geld haben, dass sie aber Kinder haben. Sie zu etablieren ist. Davon ist gegen Ende der Wahlperiode brauchen einen Vollzuschuss. Die Menschen, die eine wirklich nichts übrig geblieben. Weiterbildung machen, brauchen keinen Darlehensteil- erlass für das Bestehen einer Prüfung. Wer sich nach drei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Jahren Weiterbildung auf eine Prüfung vorbereitet, will Dass das Meister-BAföG fortentwickelt wird, ist diese auch bestehen. Von daher setzen Sie innerhalb die- ser Reform eine falsche Gewichtung. Wir sagen: Der (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sagen Sie Trippelschritt ist in Ordnung. Aber wir enthalten uns, es ruhig: Ist gut!) weil noch nicht einmal dieser Schritt richtig ausgefeilt ein sinnvoller Trippelschritt. Natürlich ist es auch sinn- ist. voll, im entsprechenden Gesetzentwurf dieses auch auf (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – zukunftsträchtige Berufsfelder wie Altenpfleger und Al- Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das war ein tenpflegerinnen sowie Erzieherinnen und Erzieher aus- Rittberger! Kompliziert eingesprungen!) zudehnen. Der Effekt, den Sie damit erzielen, nämlich Weiterbildung für 26 000 Menschen mehr zu ermögli- Wissen Sie, was das Hauptproblem ist? Das Haupt- chen, ist zwar im Hinblick auf diesen Personenkreis gut problem ist, dass Sie mit dem AFBG immer noch von und sinnvoll, der klassischen Bildungsbiografie ausgehen: Man erlernt einen Beruf, arbeitet ein paar Jahre und macht dann den (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Meister, den Techniker oder eine Ausbildung zur Erzie- [SPD]) herin oder Altenpflegerin. Das läuft aber der heutigen aber in Bezug auf Ihr Vorhaben, die Weiterbildungsquote Alltagsrealität und den heutigen Lebens- und Lernbio- von jetzt 43 Prozent auf 50 Prozent im Jahre 2015 zu grafien völlig hinterher. Viele Menschen haben weder ei- steigern, nen Schulabschluss noch einen Berufsabschluss. Sie ar- beiten seit Jahren und wollen eine Weiterbildung (René Röspel [SPD]: Schaffen wir!) machen. Dafür brauchen sie aber einen Unterhaltszu- ist das einfach nichts. Das müssen Sie doch heute auch schuss, weil sie oft schon eine Familie haben und aus ih- zur Kenntnis nehmen. rem Beruf nicht völlig aussteigen können. Diese Men- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22097

Priska Hinz (Herborn) (A) schen stehen aber heute vor dem Nichts, wenn sie eine schaffen Beratungsstrukturen. – Geschehen ist bislang (C) Weiterbildung machen wollen, um den Berufsabschluss nichts. nachzuholen. Nötig sind aber Beratungsstrukturen, die so niedrig- Viele Menschen gehen nach dem Bachelor in den Be- schwellig sind, dass die Menschen zu diesen Beratungs- ruf und wollen später den Master nachholen. Darauf sind stellen tatsächlich hingehen und die notwendige indivi- diese Studiengänge im Sinne eines lebenslangen Lernens duelle Förderung und Unterstützung erhalten. Wir schließlich ausgerichtet worden. Diese Menschen erhal- plädieren nach wie vor dafür, Kooperationsstrukturen zu ten aber wegen ihres Alters kein BAföG. Auch das Meis- nutzen, um die Beratung in den Verbraucherberatungs- ter-BAföG bekommen sie nicht, weil sie eine akademi- stellen anzusiedeln. sche Laufbahn eingeschlagen haben. Notwendig ist Beratung für die KMU; denn gerade Viele Menschen wollen im Sinne des lebenslangen Fachkräfte in den kleinen und mittleren Betrieben sind Lernens – man soll es kaum glauben – mehrere Weiter- heute zu wenig in der Weiterbildung präsent. Es reicht bildungen machen. Auch diese Menschen haben keine nicht, ein Programm wie WeGebAU aufzulegen und Chance auf Förderung. Insofern ist das AFBG tatsäch- BA-Mitarbeiter in die Betriebe zu schicken. Das ist ver- lich nicht der große Wurf, als den Sie es heute feiern. fehlt. Wir legen Ihnen einen echten Alternativvorschlag (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist zu vor, der auf Rot-Grün und die Ergebnisse der Experten- wenig, aber gut ist es!) kommission „Finanzierung Lebenslanges Lernen“ zu- rückgeht. Wir wollen ein Erwachsenenbildungsförde- Wir brauchen Beratungsstrukturen für die KMU, die rungsgesetz. es ermöglichen, dass die einzelnen Betriebe dahin ge- hend beraten werden, wie sie sich selber weiterentwi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ckeln können und welche angepassten Weiterbildungs- sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Ernst strukturen sie etablieren können. Da liegen Sie weit Dieter Rossmann [SPD]: Wir auch!) hinter dem zurück, was selbst in Großbritannien möglich ist. Wir wollen ein Erwachsenen-BAföG. Die verschiedenen Instrumente sollen transparent, verständlich und klar ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) ordnet sein. Dann wird das kein Bürokratiemonster, Außerdem brauchen wir ein Bildungssparprojekt, Herr Meinhardt. Die Instrumentarien müssen so auf- das nicht nur auf eine Weiterbildungsprämie in Höhe einander abgestimmt werden, dass lebenslanges Lernen von 154 Euro setzt, sondern Bildungssparkonten für alle (B) auch für die Menschen möglich wird, die gebrochene (D) erwachsenen Menschen möglich macht. Wir brauchen Biografien haben, die schon eine Familie haben und teil- eine Förderung für das Bildungssparen, das besonders weise aus dem Beruf aussteigen wollen, um eine Weiter- die Geringqualifizierten begünstigt, die eben auch Ge- bildung zu machen. ringverdiener sind. Dieses Instrument des Bildungsspa- Unser Erwachsenen-BAföG kennt keine Altersgren- rens soll wie die steuerlichen Anreize wirken, die den zen und auch keine Beschränkung auf Berufsgruppen Hochqualifizierten und Gutverdienenden zugutekom- wie Meister, Techniker, Altenpfleger oder Erzieher. Un- men. Wer mit einer guten Qualifikation und einem hohen ser Erwachsenen-BAföG ist so ausgestaltet, dass alle Einkommen eine Weiterbildung macht, erhält steuerliche Menschen, die eine formale Weiterqualifikation anstre- Anreize durch Anrechnung auf das zu versteuernde Ein- ben, die Möglichkeit erhalten, dies durch Zuschüsse, kommen. Wer hingegen nur ein geringes Einkommen Darlehen oder Bildungskredite zu erreichen, im wahrs- hat, hat diese steuerlichen Anreize nicht. Insofern ist ein ten Sinne des Wortes: je nach eigenem Vermögen. Das Bildungssparkonto mit einer besonders hohen Prämie ist ein modernes Instrument der Weiterbildung. wichtig für diejenigen, die geringqualifiziert und gering- verdienend sind. Darauf haben Sie mit Ihrem Weiterbil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – dungssparmodell überhaupt nicht geachtet. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Kämpfen wir dafür!) Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir wollen, dass es einen Rechtsanspruch auf Förde- Frau Kollegin. rung von zertifizierter Weiterbildung gibt. Wir brauchen flankierende Maßnahmen, und zwar in Form von Bera- Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- tung, Beratung, Beratung. Wir brauchen individuelle Be- NEN): ratung für die verschiedenen Formen der Weiterbildung, die heutzutage möglich sind. Wir brauchen Beratung für Ich komme zum Schluss. – Deswegen wird es in die die Finanzierungsmöglichkeiten, die es gibt. Diese Bera- Leere laufen. tung muss niedrigschwellig sein. Das ist ein ganz we- Meine Damen und Herren – – sentliches Moment. Auch da haben Sie bis heute versagt. Auf diesem Gebiet hat es schon viele Versprechungen gegeben: beim Bildungsgipfel und entsprechende Forde- Präsident Dr. Norbert Lammert: rungen in der Koalitionsvereinbarung. Im Rahmen der Nein, Sie können jetzt wirklich nicht zu einem weite- Weiterbildungsprämie wurde ebenfalls beschlossen: Wir ren Abschnitt kommen. 22098 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie sind die Basis für die Qualität „Made in “, (C) NEN): den größten Wettbewerbsvorteil, den Deutschland hat. Nein, das ist kein weiterer Abschnitt, sondern der Aus diesem Grund setzen wir in diesem Bereich ganz letzte Satz. konsequent eine Politik fort, die wir 1996 mit dem da- maligen Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers begon- Präsident Dr. Norbert Lammert: nen haben, der das Meister-BAföG eingeführt hat. Im Sie wollten also nur noch ein Schlusswort sprechen; Jahr 2007 wurden damit insgesamt 134 000 Personen das ist schön. gefördert. Allein diese Zahl zeigt, zu welch großem Er- folg die Politik von Jürgen Rüttgers geführt hat. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Ernst Dieter NEN): Rossmann [SPD]: Vergessen Sie nicht Frau Das ist der letzte Satz, Herr Präsident. – Weil die Bulmahn! Die Fairness gebietet es!) Große Koalition sich mit Kleinigkeiten zufrieden gibt, ist es eben kein großer Tag für die Weiterbildung. Es Wir wollen, dass es noch mehr werden. Deswegen wird erst ein großer Tag, wenn wir das Erwachsenenbil- werden wir gemeinsam in der Koalition die Ausgaben dungsgesetz im Bundestag beschlossen haben. für das Meister-BAföG deutlich erhöhen und die Förder- konditionen verbessern. Wir werden den Kreis der För- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) derberechtigten deutlich ausweiten und mehr Geld in diesem Bereich ausgeben. Präsident Dr. Norbert Lammert: Wir wollen, dass auch die in Deutschland lebenden Das Wort hat nun der Kollege Michael Kretschmer Ausländer, die hier ausgebildet wurden, in Zukunft von für die CDU/CSU-Fraktion. diesen Möglichkeiten profitieren können; denn wir brau- chen auch diese Fachkräfte und wollen sie mobilisieren. (Beifall bei der CDU/CSU) Wir wollen dieser Gruppe in unserer Bevölkerung eine Chance geben und sie mitnehmen. Michael Kretschmer (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Meine Damen und Herren, die Fortbildung soll auch Herren! In dieser Legislaturperiode wird ein deutlicher in einem anderen Bereich, nämlich in der Altenpflege, Schwerpunkt auf Innovation und Fortschritt gesetzt. in Zukunft gefördert werden. Dies ist ein wichtiger Be- Keine Bundesregierung in der Geschichte der Bundesre- reich. Gerade hier ist Qualität notwendig. Wir wollen denjenigen, die in Pflegeheimen arbeiten, die Chance ge- (B) publik Deutschland hat so viel wie diese für Forschung (D) und Entwicklung getan. Denn wir alle wissen, dass wir ben, sich weiterzuqualifizieren und ein höheres Einkom- nur mit den besten Produkten und mit Innovation unse- men zu erzielen. Auch hier gilt: Aufstieg durch Bildung. ren Lebensstandard in Deutschland halten können. Wir wollen den beruflichen Aufstieg bzw. die Höher- qualifizierung des Einzelnen erreichen. Dafür setzen wir Wir haben uns in einer ganz umfassenden Weise für klare Leistungsanreize. Beim Bestehen der Fortbil- Bildung und Forschung eingesetzt: Wir haben die Exzel- dungsprüfung gibt es einen Erlass von 25 Prozent auf die lenzinitiative auf den Weg gebracht, um Spitzenwissen- Restdarlehensschuld. Wir wollen damit die Abbrecher- schaftler und den Nachwuchs in den Naturwissenschaf- quote von 20 Prozent, die im Vergleich zu der im Stu- ten zu fördern. Wir haben das BAföG erhöht, um den dium eher gering ist, weiter senken. akademischen Nachwuchs zu fördern. Wir wollen und werden für Unternehmensgründun- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Vergessen gen etwas tun: Diejenigen, die nach der Qualifizierung Sie nicht Frau Bulmahn! – Ulla Burchardt ein Unternehmen gründen und ausbilden, sollen stärker [SPD]: Wir setzen fort, was Frau Bulmahn an- davon profitieren. Wir werden einen Anreiz für Ausbil- gefangen hat!) dung in diesem Bereich schaffen. Diejenigen, die ausbil- Wir haben den Bildungsgipfel auf den Weg gebracht, den, werden noch stärker gefördert. Frau Kollegin, um in einem nationalen Kraftakt zwi- Dieser Gesetzentwurf zum Meister-BAföG, der Ent- schen Ländern und Bund etwas für die Bildung zu tun, wurf eines Aufstiegsqualifizierungsgesetzes, ist ein und zwar von den Gymnasiasten bis hin zu den Kindern wichtiger Schritt. Wir lassen ihn uns nicht kleinreden. in der vorschulischen Bildung. 10 Prozent des Bruttoin- Im Gegenteil: Wir sind stolz darauf. Wir glauben, dass landsprodukts für Bildung und Forschung ausgeben zu wir damit Aufstieg durch Bildung und Wohlstand durch wollen, das ist eine gewaltige Aufgabe, die wir gemein- Qualifikation erreichen. Das gilt für jeden Einzelnen; sam angehen. Damit setzen wir ein deutliches Zeichen. das gilt aber vor allen Dingen für unseren Wirtschafts- Was wir heute tun, ist nicht minder wichtig. Es ist die standort Deutschland. Das Meister-BAföG leistet dazu Fortführung dieser Politik für Bildung, die das Verspre- einen wichtigen Beitrag. Deswegen werben wir für eine chen beinhaltet, dass Aufstieg und Wohlstand durch Bil- breite Zustimmung. dung erreicht werden können. Die ganze Welt ist voller Vielen Dank. Anerkennung für die deutschen Meister, Techniker und Fachwirte. Sie sind unsere Praxiselite. Ihr Fachwissen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ihre Führungskompetenz sind der Schlüssel zum Erfolg. neten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22099

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Uns allen ist bewusst, dass die Arbeitslosenquote bei (C) Cornelia Pieper ist die nächste Rednerin für die Frak- Akademikern sehr niedrig ist. Sie liegt bei 3 Prozent. Ich tion der FDP. glaube nicht nur, dass wir mit dem Gesetz, das wir heute verabschieden, dem Ziel, eine Gleichwertigkeit von aka- (Beifall bei der FDP) demischer und beruflicher Bildung herzustellen, näher- kommen, sondern auch, dass wir mit diesem Gesetz Cornelia Pieper (FDP): gewährleisten können, dass bei Personen, die durch Qua- Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen lifikation aufsteigen, die Arbeitslosenquote sinkt. Das ist und Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Kretschmer, uns wichtig. bei aller berechtigten Zustimmung, die Sie von der FDP (Beifall bei der FDP) zur Änderung des AFBG erhalten, sollte man doch bei der Wahrheit bleiben. Wir alle wissen, dass Deutschland Je höher die Qualifizierung, desto niedriger die Arbeits- mehr Bildungsinvestitionen braucht, dass wir im interna- losenquote; das wissen wir. Deswegen unterstützen wir tionalen Vergleich hinterherhinken und dass wir bei den die Novelle des AFBG nachdrücklich. Bildungsinvestitionen immer noch unter dem OECD- Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie wis- Durchschnitt liegen. Dass Deutschland inzwischen sen, dass wir bereits im Winter 2007 die BAföG- 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Reform mitgetragen und damit die Situation der Studie- Forschung ausgibt, ist immer noch eine Mär. Sie haben renden mit BAföG-Anspruch verbessert haben. Auch das dies auf dem Bildungsgipfel nicht beschlossen, sondern war uns wichtig. Es ging uns darum, einen größeren Teil angekündigt. Sie haben eine Arbeitsgruppe eingesetzt. des Nachwuchses auf ein möglichst hohes Qualifika- Wir wissen natürlich, dass wir mehr in Bildung investie- tions- und Kompetenzniveau zu bringen. Das ist das Ziel, ren müssen. Wir wollen auch mehr in Bildung investie- das wir in diesem Land verfolgen sollten. Deswegen be- ren. Wir können Ihnen aber nur sagen: Machen Sie es grüßen wir, dass mit diesem Gesetzentwurf Änderungen und reden Sie nicht nur darüber! Das wäre eine Politik, vorgenommen werden, die zu einer Verbreiterung der die glaubwürdig ist und nicht auf Märchen beruht. Zielgruppe und zur Senkung der Zugangshürden führen. (Beifall bei der FDP) Natürlich muss – auch das sagen wir ganz deutlich – Ich will meinem Kollegen Schneider von den Linken noch mehr getan werden. Deswegen hat die FDP einen sagen: Ich halte das, was Sie zu den Weiterbildungs- Entschließungsantrag vorgelegt. Wir sehen die Notwen- unternehmen gesagt haben, für einen Skandal. 84 Pro- digkeit, die Förderfähigkeit mittelfristig auf mehr als zent der Weiterbildungsunternehmen leisten eine gute eine Maßnahme der Aufstiegsfortbildung auszuweiten. (B) Bildungsarbeit und behaupten sich auf dem Bildungs- (Beifall bei der FDP) (D) markt mit qualitativ hohen Standards. Ich finde, das sollte man einmal anerkennen. Sie haben die freien Wei- Gerade in der Wissensgesellschaft brauchen wir eine terbildungsträger hier diffamiert. Dies unterstützen wir stärkere Orientierung auf lebenslanges Lernen. Nach un- auf keinen Fall. Wir sind für eine verantwortungsvolle serer Auffassung ist die Förderung mehrerer Aufstiegs- Politik und sind dagegen, dass man Bildungsunterneh- fortbildungen genauso wichtig wie die Anerkennung von men in ein Licht stellt, das ihnen nicht gerecht wird, Fortbildungsmodulen. bzw. ihr Licht unter den Scheffel stellt. Ihre Behauptung Ferner meinen wir, dass wir unseren Blick – das hat möchte ich, auch im Namen der Bildungsunternehmen, Herr Rossmann zu Recht angesprochen – insbesondere zurückweisen. auf die Frauen richten müssen, die Maßnahmen nach (Beifall bei der FDP) dem AFBG nutzen können. 34 Prozent nutzten diese Maßnahmen im Berichtsjahr 2007. Während die Frauen Präsident Dr. Norbert Lammert: die akademische Bildung förmlich erobert haben – die Mehrheit der Hochschulabgänger ist weiblich, wie wir Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des wissen –, ist es im Bereich der beruflichen Bildung, bei Kollegen Schneider? der Aufstiegsfortbildung nicht so. Durch die Aufnahme des Altenpflege- und des Erzieherberufs in den Katalog Cornelia Pieper (FDP): wird sich eine Verbesserung ergeben; das ist klar. Wir Nein. Das, was er hier gesagt hat, kann durch eine meinen, dass man auch bei den Gesundheitsberufen ei- Zwischenfrage nicht besser werden. nen Schritt voran hätte gehen können, indem man auch die Gesundheitsberufe – also Ergotherapeuten, Physio- (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Da ist eine therapeuten und Logopäden – in den Katalog aufgenom- Menge Selbstgerechtigkeit bei der FDP!) men hätte. Das wäre gut gewesen, gerade für die Frauen Die größte soziale Herausforderung, vor der wir in in diesem Land. diesem Land stehen, ist, bessere Bildungschancen für (Beifall bei der FDP) junge Menschen zu schaffen. Aufstieg durch Bildung, hat der Bundespräsident dazu zu Recht gesagt. Heute Frau Ministerin, schließlich will ich Ihnen mit auf den können wir sagen: Aufstieg durch Aufstiegsfortbildung. Weg geben: Sie haben zu Recht gesagt, dass wir mit der Das ist das beste Konjunkturprogramm. Das ist die beste Novelle des AFBG einen wichtigen Schritt seitens des Versicherung gegen Arbeitslosigkeit und natürlich auch Bundes tun, aber viele Länder noch nachziehen müssen. gegen Perspektivlosigkeit im Leben. Das wissen wir. Wir müssen darauf drängen, dass die 22100 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Cornelia Pieper (A) notwendigen landesrechtlichen Regelungen geschaffen (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN sowie (C) werden, damit das AFBG gerade im Bereich der Alten- des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]) pflege- und der Erzieherberufe bundesweit Wirksamkeit Ich empfehle Ihnen, nachzulesen, was ich in meiner entfalten kann. Bis heute ist das AFBG in zehn Bundes- Rede gesagt habe. Ich habe gesagt, dass dieser Markt ländern noch nicht anerkannt. Das ist die Mehrheit der versagt – das sind nicht die Unternehmen –; denn auf Bundesländer in Deutschland. Ich denke, angesichts des- diesem Markt herrscht ein erschreckendes Maß an In- sen muss man als Bundesministerin Druck auf die Bun- transparenz. Jeder dort oben auf den Tribünen, der schon desländer ausüben, damit es umgesetzt wird. einmal versucht hat, irgendwo an einer Weiterbildungs- (Jörg Tauss [SPD]: In wie vielen Länder re- maßnahme teilzunehmen giert ihr eigentlich zwischenzeitlich mit? – Ge- (Jörg Tauss [SPD]: Auch hier unten! – genruf des Abg. Jörg van Essen [FDP]: Gott Heiterkeit) sei Dank in immer mehr!) – ja, auch hier unten –, wird die Erfahrung gemacht ha- – Es sind viele, Herr Tauss. ben, wie schwierig es ist, das passende Angebot zu fin- (Jörg Tauss [SPD]: Dann macht mal!) den. Das ist das Problem: Dieser Markt ist intransparent, und Angebot und Nachfrage finden nicht zueinander. Ich weiß, dass Ihnen das Sorge bereitet, aber das ist jetzt Dies allerdings erkennen Sie in Ihrer bornierten Sicht auf nicht das Thema. den Markt überhaupt nicht an.

Präsident Dr. Norbert Lammert: (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP) Frau Kollegin. Vor lauter Schrecken über angebliche Bürokratiemonster begreifen Sie noch immer nicht, dass die wahre Gefahr Cornelia Pieper (FDP): auf diesem Markt das wie ein Krebsgeschwür wu- Herr Präsident, ich komme zum Ende meiner Rede. – chernde Angebot ist. Sorgen Sie dafür, dass insbesondere bei der Erzieherin- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- nen- und Erzieherausbildung die Qualität zunimmt. Das, neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE was die Ministerin geleistet hat, das Internetportal, trägt GRÜNEN) sicher nicht zu einer Steigerung der Qualität der Erzie- herausbildung bei. Wir erwarten eine Weiterbildungs- Präsident Dr. Norbert Lammert: offensive, die diesen Namen wirklich verdient, insbeson- dere für den Erzieherberuf in Deutschland. Frau Pieper zur Erwiderung. (B) (D) Vielen Dank. Cornelia Pieper (FDP): (Beifall bei der FDP) Herr Schneider, ich glaube nicht, dass wir durch sol- che polemischen Diskussionen dazu beitragen werden, dass wir in Deutschland eine bessere Qualität im Bereich Präsident Dr. Norbert Lammert: der beruflichen Weiterbildung und Fortbildung erreichen Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Volker werden. Deswegen will ich diese polemische Form der Schneider das Wort. Auseinandersetzung auch nicht fortführen.

Volker Schneider (Saarbrücken) (DIE LINKE): (Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Sie haben Frau Kollegin Pieper, als jemand, der 16 Jahre lang sie aber angefangen! – Volker Schneider [Saar- als Dozent in der beruflichen Weiterbildung gearbeitet brücken] [DIE LINKE]: Sie haben angefan- hat, gen!) (Jörg Tauss [SPD]: Das sind Sie!) Für die Freien Demokraten mache ich noch einmal deutlich, dass es uns darum geht, dass Angebot und bin ich sicherlich der Allerletzte, der in irgendeiner Nachfrage auf dem Bildungsmarkt funktionieren. Das Form Weiterbildungsunternehmen und die Kolleginnen heißt aber auch, dass man Wettbewerb zwischen den und Kollegen in diesen Weiterbildungsunternehmen be- Bildungsträgern zulassen muss leidigt. (Dr. [DIE LINKE]: Aber (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. zu welcher Qualität?) Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Dr. Ernst und diesen Markt nicht überregulieren und durch neue Dieter Rossmann [SPD], an Abg. Cornelia Gesetze blockieren darf. Ich erinnere Sie daran, dass Pieper [FDP] gewandt: Sie haben doch einen viele freie Weiterbildungsunternehmer gerade auch Popanz aufgebaut!) durch Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit daran Im Gegenteil, ich halte es, nachdem wir im Weiterbil- gehindert wurden, ihre Angebote zu machen, sodass sie dungsbereich jetzt Mindestlöhne haben, nach wie vor für letztendlich ihre Angebote nicht unterbreiten konnten. einen Skandal, dass man Akademikern zumutet, für Dann ist es für solche Bildungsunternehmen auch 1 800 Euro in solchen Unternehmen zu arbeiten. Es ist schwer, sich auf dem Markt zu behaupten. Zu viel Staat, fantastisch, dass sie dennoch eine so hervorragende Ar- zu viele Gesetze sind für diesen Markt nicht gut. Wir beit leisten. müssen den Rahmen setzen und dafür sorgen, dass die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22101

Cornelia Pieper (A) Qualität der Bildungsunternehmen gut ist, dass bei ihnen retische Arbeit durchzuführen hat. Auch dieses Beispiel (C) die Qualität und die Zertifizierung stimmen. zeigt: Wir brauchen eine kontinuierliche Weiterbil- dung. (Ulla Burchardt [SPD]: Deswegen müssen wir Regeln schaffen!) Der Gesetzentwurf der Koalition bietet viele Qualifi- zierungsmöglichkeiten. Da kann man nicht von Stück- Es ist aber nicht Aufgabe des Staates, zu verhindern, werk oder von Trippelschritten sprechen. dass Angebot und Nachfrage auf dem Bildungsmarkt funktionieren. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marion Seib [CDU/CSU]) (Beifall bei der FDP) Das ist ein Gesamtkonzept. Ist es kein Gesamtkonzept, Präsident Dr. Norbert Lammert: wenn man die eigentlichen Probleme aufgreift, zum Bei- Nun hat der Kollege Dieter Grasedieck für die SPD- spiel den Mangel an Ausbildungsplätzen? Ausbildungs- Fraktion das Wort. plätze für Jugendliche und für Altbewerber werden auch dadurch gefördert, dass man die Existenzförderung mit (Beifall bei der SPD) berücksichtigt. Das ist ein wichtiger Punkt. Ist es kein Gesamtkonzept, wenn man die frühkindliche Erziehung Dieter Grasedieck (SPD): in den kommenden Jahren für entscheidend hält und des- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und halb eine bessere Qualifizierung der Erzieherinnen und Herren! Wer die Zukunft gewinnen will, darf an der Bil- der Erzieher erreichen möchte? Ist es kein Gesamtkon- dung nicht sparen. Genau dies ist das Ziel dieses Geset- zept, wenn man die Migranten berücksichtigt, wenn man zes. Auch deshalb begrüßen die Gewerkschaften, die In- zum Beispiel den ausländischen Jugendlichen, die länger dustrie und das Handwerk dieses Gesetz. Eine solche in Deutschland leben, eine Weiterbildungschance, eine Kombination gibt es ja selten. Insgesamt geht es hier um Ausbildungschance bietet? Ist es kein Gesamtkonzept, eine Steigerung von 60 Prozent. Jeder Jugendliche hat wenn die Seniorenbetreuung in den Blick genommen eine Chance und bekommt eine Möglichkeit der Weiter- wird? bildung. Ältere Menschen können sich fit machen und (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE die Herausforderungen des Marktes annehmen. Die ei- GRÜNEN]: Nein!) gentliche Botschaft des Gesetzes lautet: Macht mit, eure Qualifikation wird gefördert! Damit führt die Koalition Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Die Hospizpflege muss jetzt das fort, was Edelgard Bulmahn damals eingeführt verbessert werden. Wir brauchen auch eine Verbesse- hat. Wir wollen durch solche Initiativen auch unseren rung der Pflege der Senioren. Auch das ist in diesem Ge- (B) Status als Exportweltmeister erhalten. setzentwurf berücksichtigt. (D) (Beifall bei der SPD) Ein Punkt ist besonders entscheidend: Unsere Leis- tungsträger, unsere Stützen der Industrie und des Hand- Handwerk und Industrie suchen heute schon Fach- werks werden weiterqualifiziert. Die Ausbildung der arbeiter, sie suchen händeringend Ingenieure und andere Meister, Techniker und Fachwirte wird ganz besonders Akademiker. Eine weitere Herausforderung, die man na- gefördert. Wir benötigen mehr Meister. türlich berücksichtigen muss, stellen die sinkenden Ge- burtenzahlen dar, was man in Deutschland besonders (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marion deutlich sieht. Das bedeutet, dass es wesentlich mehr äl- Seib [CDU/CSU]) tere und weniger jüngere Menschen gibt. Dies führt Denn eines muss man sehen: Meistermangel ist gleich- dazu, dass wir unbedingt qualifizieren müssen. Auf der zeitig Fachkräftemangel, und zwar aus dem einfachen anderen Seite gehen ältere Menschen natürlich auch in Grund, weil eine Ausbildung im Handwerk nur durch ei- Pension. Wir brauchen eine langfristige Planung. Für die nen Meister durchgeführt werden kann. Deshalb brau- Qualifizierung ermöglichen wir durch diesen Gesetzent- chen wir in der Zukunft mehr Meister. Unsere Ausbil- wurf eine langfristige Planung. Auch Betriebe und der dung wird in der Welt anerkannt. Unsere Meister werden öffentliche Dienst müssen dies bieten. Es fehlt an der ei- zum Beispiel in England, in Frankreich und auch in Ös- nen oder anderen Stelle, ist aber unbedingt erforderlich. terreich gesucht. Ist es kein Gesamtkonzept, wenn man Unsere Betriebe brauchen qualifizierte Facharbeiter, bei allen Weiterbildungsmaßnahmen die Familienkom- und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen ponente berücksichtigt? Kinder werden unterstützt. Qualifizierungsmöglichkeiten. Denn der Wissensstand Ich meine, dass dies ein gelungener Gesetzentwurf steigt. Tagtäglich kommen neue Patente hinzu. Die Ar- ist. Wir von der CDU/CSU und SPD haben ihn gemein- beitsprozesse verändern sich dramatisch. Im Bereich der sam erarbeitet. Die Wissensexplosion, die eigentliche kaufmännischen Arbeit sieht man das besonders deut- Herausforderung des Jahrhunderts, erfordert lebenslan- lich. Der Informationsfluss ist heute wesentlich schnel- ges Lernen. Dafür brauchen wir mehr Ausbildungs- ler. Schauen Sie sich einmal die Technik an. Vergleichen plätze. Die schleichende Dequalifizierung muss verhin- Sie einmal den Beruf des Drehers von vor 15 Jahren mit dert werden. Wir können das nur durch solche dem des Zerspanungsmechanikers von heute. Hier sieht Maßnahmen verhindern, wie sie hier aufgeführt wurden. man besonders deutlich, dass man eine Qualifizierung benötigt. Der Dreher hat eine handwerkliche Arbeit ver- (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Marion richtet, während der Zerspaner mehr und mehr eine theo- Seib [CDU/CSU]) 22102 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dieter Grasedieck (A) Nur so ist ein Wissensvorsprung erreichbar und erhaltbar. Herr Kollege Grasedieck hat zu Recht darauf hinge- (C) Um Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit in der Welt zu er- wiesen, dass der Meisterbrief zur Lösung des Problems halten, müssen wir unsere Facharbeiter und Ingenieure des Facharbeitermangels beitragen kann; denn ein Meis- qualifizieren. Deshalb brauchen wir dieses Gesetz. ter bildet auch aus. Wir haben festgestellt: Dort, wo der Meisterbrief weggefallen ist, beispielsweise bei den Zusammenfassend kann man feststellen: Deutsch- Fliesenlegern oder bei den Parkettbodenlegern, hat die land braucht auch in der Zukunft kreative, innovative Meisterkultur von 2005 bis zum letzten Jahr dahin ge- Fachkräfte. In der Vergangenheit haben unsere Fachar- hend Schaden gelitten, dass nicht mehr 560 Meister- beiter, Ingenieure, Fachwirte, Techniker und Akademi- briefe, sondern nur noch 90 Meisterbriefe pro Jahr aus- ker ihr Können längst bewiesen. Das Können und die gehändigt werden. Fähigkeiten müssen weiterentwickelt werden. Das kön- nen wir durch die Qualifizierungsmaßnahmen, die wir Das hat die Konsequenz, dass die Zahl der Betriebe in eingeführt haben. Nur so gewinnen wir die Zukunft. diesen Bereichen um 342 Prozent gestiegen ist, dass aber die Zahl der Ausbildungsplätze um 20 Prozent gesunken Glück auf! ist. Fast alle diese Betriebe sind Ein-Mann-Unternehmen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bzw. Ein-Frau-Unternehmen, die in Konkurrenz zu Hand- der CDU/CSU) werksbetrieben mit sozialversicherungspflichtigen Ar- beitsplätzen stehen. Über diesen Irrweg sollten wir mit- einander und mit der Gruppe Wirtschaft im Sinne des Präsident Dr. Norbert Lammert: Meister-BAföG noch einmal diskutieren. Wir sollten Das Wort hat nun der Kollege Uwe Schummer, CDU/ darüber nachdenken, ob wir an dieser Stelle eine Korrek- CSU-Fraktion. tur vornehmen können. Als es damals um diese Rege- lung ging, saßen die Grünen übrigens in der ersten Reihe (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und waren an der Regierung beteiligt. der SPD) (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, richtig! So war es!) Uwe Schummer (CDU/CSU): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Sie haben Beifall geklatscht, als dieser Irrweg beschrit- Kollegen! Liebe Frau Hinz, ich mag Sie. Ich muss Ihnen ten worden ist. Auch das gehört zur Wahrheit. aber sagen: Ihre Reden haben immer den Dreiklang: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie Man sollte, man könnte, man müsste. des Abg. Patrick Meinhardt [FDP]) (B) (Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE Im Handwerk gibt es mittlerweile 500 000 Auszubil- (D) GRÜNEN]: Ja! So ist es! Man muss ja auch ei- dende. Daran wird deutlich, dass es beim Handwerk nicht niges tun!) nur um Wirtschaft geht – die FDP nickt freundlich –, son- Der Punkt ist, dass die Große Koalition konkret und dern auch um eine Ausbildungskultur, die wir stärken Schritt für Schritt etwas im Sinne der beruflichen Bil- müssen und nicht schwächen dürfen. Das Potenzial un- dung bewegt. Dafür steht auch die Reform der Auf- seres Landes ist nicht das Erdöl und sind nicht die Erze, stiegsförderung bzw. des alten Meister-BAföG. sondern qualifizierte und motivierte Menschen. Bildung ist auch der Schlüssel zur Lösung sozialer und wirt- Wenn man solche Reden hält wie Sie, Frau Hinz, schaftlicher Probleme. Weiterbildung bringt Beteili- dann sollte man auch einmal in den Rückspiegel gungschancen für die Menschen, aber auch Beteili- schauen. Das erste Problem, das die Große Koalition zu gungschancen für unsere Volkswirtschaft. lösen hatte, war, dass Sie damals die agenturgeförderte Schon heute wird uns vom Institut der deutschen Weiterbildung, die Berufsorientierung und die Berufsbe- Wirtschaft prognostiziert, dass der deutschen Wirtschaft ratung – teilweise durch die Hartz-Gesetze – in Grund aufgrund des Facharbeitermangels jährlich Aufträge in und Boden geschossen haben. einer Größenordnung von 18,5 Milliarden Euro verlo- (Beifall des Abg. Volker Schneider [Saarbrü- ren gehen. Dies zeigt, dass mangelnde Qualifikation be- cken] [DIE LINKE]) reits heute ein großes Wachstumshemmnis für die bun- desdeutsche Wirtschaft ist. Hinzu kommt, dass der Das haben wir korrigiert. Das wird auch am Instrument Anteil der an unseren Hochschulen Studierenden, die der Kurzarbeit deutlich. Wir wollen sie nicht nutzen, um kein Abitur haben, bisher nur 2 Prozent beträgt. In den den Menschen eine Prämie dafür zu zahlen, dass sie zu skandinavischen Ländern liegt er bei über 20 Prozent. Hause bleiben; vielmehr wollen wir Kurzarbeit mit Qua- Ich glaube, dass mehr Praktiker an den Hochschulen so- lifizierung und Förderung verbinden. wohl für die Universitäten als auch für unser Land gut wären. Ein weiterer Punkt. Ein Kernelement des Meister- BAföG ist der Meisterbrief. Im Rahmen der Hand- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und werksnovelle 2004 konnte noch in letzter Minute, übri- der SPD – Priska Hinz [Herborn] [BÜND- gens auch vonseiten der Union und des Handwerks, NIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie doch auch durchgesetzt werden, dass neben der Gefahrengeneigt- einmal etwas zur Finanzierung! Wie sollen heit auch die Ausbildungsleistung im Handwerk für den diese Menschen denn ihren Unterhalt finanzie- Erhalt des Meisterbriefes gewertet wird. ren?) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22103

Uwe Schummer (A) Im Übrigen ist die Aussage von Herrn Schneider, dass weil damit die Koordination, das Zusammenwirken von (C) ein 30-Jähriger, der aus der beruflichen Weiterbildung Bund und Ländern, sichergestellt werden kann. kommt und im Anschluss daran eine Hochschule besu- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) chen möchte, kein BAföG mehr bekommt – auch wenn das in der Anhörung so gesagt worden ist –, falsch. Für – Ich sehe große Euphorie bei der SPD; das wird bei der Studierende, die aus der beruflichen Weiterbildung kom- CDU/CSU sicher auch noch zunehmen. men, gibt es Ausnahmeregelungen, sodass auch sie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und BAföG beantragen können. Das ist ein wichtiger Punkt. der SPD – Jörg Tauss [SPD]: Rechts noch Er ist allerdings bereits Realität. nicht so! Das steigert sich!) (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE Aufstiegsfortbildung ist ein Teil der vorhandenen LINKE]: Mir ging es aber um die Bachelor- Instrumente, die wir, Christliche Demokraten und Absolventen!) Christlich-Soziale Demokraten und Sozialdemokraten, Bei dieser Reform geht es darum, das Meister-BAföG miteinander geschaffen haben. Hinzu kommen die Sti- weiter zu verbessern. Wir wollen konkrete Schritte nach pendien für Berufsausbildungsabsolventen, die beson- vorne machen, statt Fata Morganas aufzuzeigen. Wenn ders exzellent sind; mehr als 15 000 Menschen werden durch die Verbesserung der Förderung die Zahl der Ge- gefördert. Die Bildungsprämie ist mehrfach – auch kri- förderten um 20 Prozent steigt, dann sind es mehrere tisch – angesprochen worden; aber sie ist ein neues In- Zehntausend Menschen zusätzlich, die in den Genuss strument, ein Instrument, an dem wir weiter arbeiten von Meister-BAföG kommen. können. Hinzu kommt die Öffnung der Vermögensbil- dung – neben Bausparen und Produktivsparen – für das (Beifall der Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann Bildungssparen, hinzu kommen aber auch Weiterbil- [SPD] und Dieter Grasedieck [SPD]) dungsdarlehen und Langzeitkonten für Qualifizierungs- phasen. Es gibt einen roten Faden. Wenn wir statt der Darlehensleistung den Zuschuss bei erfolgreichem Abschluss von bisher 30,5 Prozent auf Ich habe noch 0,3 Sekunden Zeit. Liebe Freunde, ich fast 48 Prozent verbessern, dann ist auch dies eine wich- möchte abschließen mit dem, was Ludwig Erhard in sei- tige Hilfe für diejenigen, die diesen Weg beschreiten. nem Manifest ‘72 formulierte: Nicht Privilegien, son- dern persönliche Leistungen legitimieren den berufli- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) chen Aufstieg in der sozialen Marktwirtschaft. – Das ist die Politik der Union. Ganz wichtig ist die Öffnung für Pflege- und Erzie- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (B) hungsberufe, ein Zukunftsfeld der Arbeit. Auch hier (D) schaffen wir Optionen. Erstmals können wir mit den neten der SPD) Ländern bundeseinheitliche Standards für Erziehungs- und Pflegeberufe entwickeln. Präsident Dr. Norbert Lammert: In der gefühlten Zeit des Präsidiums hat der Kollege Mut zum Risiko wird belohnt: Wenn ein Absolvent Schummer die verbliebenen 0,3 Sekunden optimal ge- zum Unternehmensgründer wird und ausbildet, sein nutzt. Wissen weitergibt, erhöht sich der Zuschuss, reduziert sich der Darlehensanteil. (Heiterkeit) Dass nicht nur die erste, sondern eine Weiterbildung Nun erhält als letzter Redner zu diesem Tagesord- gefördert wird, sorgt dafür, dass nicht derjenige bestraft nungspunkt der Kollege Jörg Tauss das Wort. wird, diejenige bestraft wird, die aus eigenen Mitteln (Beifall bei der SPD) oder mit einer anderen Finanzierung eine Weiterbildung bereits absolviert hat. Ihm stehen dafür sieben Minuten zur Verfügung.

Hinzu kommt die verbesserte Förderung von Fami- Jörg Tauss (SPD): lien und die Einbeziehung der Prüfungsphase. Recht herzlichen Dank, Herr Präsident. – Meine lieben Das Gesetz leitet also sehr konkrete, zielgerichtete Kolleginnen! Liebe Kollegen! Der SPD-Fraktionsvorsit- Schritte zur Verbesserung der Weiterbildung ein. Es ist zende hat diese Woche gefragt, ob uns nichts Schöneres ein Beitrag der Großen Koalition zur Umsetzung der Be- als „Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetz“ eingefallen schlüsse des Bildungsgipfels mit den Ländern. Die natio- sei. Wir haben darüber nachgedacht. Ich werde im Wei- nale Bildungskonferenz, die in Dresden stattgefunden teren vom „Aufstiegs-BAföG“ reden. Ich glaube, dass hat und die sich die Aufgabe gestellt hat, darauf hinzu- diese Formulierung, die analog zum Meister-BAföG ist, wirken, dass für Bildung und Forschung in den nächsten dem Sachverhalt gerecht wird. Jahren öffentliche Mittel im Umfang von bis zu (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes eingesetzt wer- den, sollte eine ständige Einrichtung werden, Was wir hier heute beschließen, ist, glaube ich, die richtige Antwort auf die Krise, über die ja im Moment (Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann viel diskutiert wird. Wir brauchen in Deutschland – das [SPD] – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: ist festzustellen, egal wie tief das Tal ist oder in den Aus öffentlichen Mitteln! Bravo!) nächsten Jahren noch wird – Fachkräfte, mit denen wir 22104 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Jörg Tauss (A) unseren wirtschaftlichen Erfolg – wir sind Exportnation Voraussetzung dafür, dass so mancher einen Job be- (C) Nummer eins – fortsetzen können. Dieser wirtschaftli- kommt. Das gilt gerade für die An- und Ungelernten, die che Erfolg sichert erst die sozialen Leistungen. Insofern zum Teil keinen Schulabschluss haben. Sie können ei- ist das, was wir heute beschließen, in der Tat ein wichti- nem Arbeitgeber beweisen, dass sie noch in der Lage ger Baustein. sind, qualifiziert zu werden, etwas aufzunehmen, zu ler- nen und die betrieblichen Aufgaben zu bewältigen. Das (Beifall bei der SPD) ist doch nicht nichts, sondern das ist im Grunde genom- Allen, die kritisieren, dass die Mittel nicht reichen men eine zentrale Entscheidung für ein ganzes Leben, würden, will ich sagen: Auch die Maßnahmen, um die es die Chancen beinhaltet. heute geht, stehen nicht für sich allein. Ich war letzte (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Woche im Wahlkreis in Karlsruhe in einer Einrichtung der CDU/CSU) des Handwerks. 7 Millionen Euro wurden dort in den Ausbau eines überbetrieblichen Ausbildungszentrums Heute haben wir in der Tat sehr viel über das Auf- investiert. Wir haben uns gestern in der Anhörung darü- stiegs-BAföG geredet. Die Erzieherinnen und Erzieher ber unterhalten, wie wir im Rahmen des Konjunkturpa- und die Pflege sind angesprochen worden. Christel kets etwas für Wohnungen für Studierende tun können, Humme, das ist eine gute Geschichte. Ich will noch ein- die landauf, landab, insbesondere dort, wo viele Men- mal daran erinnern, dass ihr für diesen Bereich und des- schen studieren, gebraucht werden. Warum wird eigent- sen Verbesserung kämpft. lich gemäkelt? Wir haben die Leistungen des BAföG um 10 Prozent erhöht und die Freibeträge angehoben. Das 36 Prozent der Leistungen fließen weiterhin ins gibt vielen Menschen aus sozial schwächeren Familien Handwerk. Ich halte dies für richtig und wichtig. Kol- zusätzliche Chancen. lege Schummer, was wir in diesem Bereich zusätzlich tun, ist auch angesprochen worden: Wer diese Leistung (Beifall bei der SPD) in Anspruch nimmt und einen zusätzlichen Ausbildungs- platz schafft – auch als Existenzgründer –, der bekommt Lasst uns das einmal würdigen! dies angerechnet und muss keine Leistungen zurückge- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) währen. Das ist also auch ein Anreiz, Ausbildungsplätze zu schaffen. Sie geht also nicht nur darum, sich selber Vielleicht hat die schlechte Stimmung im Land, die wir weiterzubilden, sondern auch darum, das in der eigenen gelegentlich beklagen, auch damit zu tun, dass all das, Weiterbildung Gelernte an junge Menschen weiterzuge- was wir hier tun, zerredet und nicht so rübergebracht ben. Auch das ist großartig. wird, wie es notwendig wäre. (B) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (D) 154 Euro Prämie für die berufliche Weiterbildung! der CDU/CSU) Mein Gott, natürlich sind 154 Euro nicht furchtbar viel; aber das ist ein bisschen mehr als 0 Euro, um das an die- Lieber Kollege Kretschmer, Sie haben hier schon ein ser Stelle einmal deutlich zu sagen. Vorher gab es bisschen viel Wahlkampf betrieben. Das ist okay. Wir 0 Euro, jetzt gibt es 154 Euro. beide sind ja Generalsekretäre unserer Parteien in unter- schiedlichen Bundesländern. Insofern kann ich das nach- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten vollziehen. Der Kollege Schummer hat mir aber besser der CDU/CSU) gefallen. Warum gibt es 154 Euro? Wir wollen damit ein Signal (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) setzen und den Menschen – beispielsweise den 20 Pro- zent der 6 Millionen Menschen, die zu den Volkshoch- Ich habe Ihnen hoffentlich nicht geschadet, lieber Kol- schulen gehen, um sich dort beruflich fortzubilden – sa- lege Schummer. Sie haben ja gemerkt, dass wir auch bei gen: Leute, was ihr da tut, das ist nicht allein euer Privat- Ihnen geklatscht haben. Auch dem Kollegen Storm ha- vergnügen. Es ist toll, dass ihr das tut, und wir wollen ben wir heute Beifall gezollt. Ich bedanke mich übrigens euch auch Anreize dazu geben. Wir zeigen, dass dieser beim gesamten Haus und bei allen, die dafür zuständig Staat, dieses Land, nicht nur darüber redet, dass wir qua- waren, dieses Werk auf den Weg zu bringen. lifizierte Menschen brauchen, sondern wir wollen, dass diejenigen, die etwas für ihre Fortbildung tun, auch et- Frau Kollegin Pieper, Ihnen wollte ich mich nun zu- was dafür bekommen, wenn es auch aus fiskalischen wenden. – Sie ist leider nicht mehr hier; das ist wirklich Gründen noch nicht so viel ist, wie wir uns vorstellen jammerschade. Frau Flach, dann muss ich Sie an- könnten. schauen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Heiterkeit bei der SPD und der CDU/CSU) der CDU/CSU) Frau Kollegin Pieper hat heute kritisch gefragt, was Wir sollten hier etwas positiver über diese Dinge reden. wir eigentlich mit den 10 Prozent des Bruttoinlandspro- Das ist auch meine Bitte an Teile der Opposition. dukts tun. 7 Prozent wollen wir für Bildung ausgeben und 3 Prozent für Forschung und Entwicklung. Das ist Das gilt auch für den Rechtsanspruch auf einen be- doch ein tolles Ziel. Eines ist aber doch klar – das sollten rufsqualifizierenden Schulabschluss. Man kann fra- wir hier in aller Ehrlichkeit sagen, weil Sie gefragt ha- gen, warum jemand in hohem Alter eigentlich noch ei- ben, wie weit wir mit unserer Vereinbarung sind –: Das nen Schulabschluss nachholen soll. Das ist die bedeutet 50 Milliarden Euro mehr für den Bund pro Jahr, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22105

Jörg Tauss (A) hat also den Umfang des Konjunkturprogramms, das wir che 16/10996 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich (C) gerade besprochen haben, und zwar jedes Jahr. Das bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschuss- kommt doch nicht von irgendwo. Liebe Liberale, die ihr fassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer euch so nennt, ihr müsst euch schon darüber im Klaren stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Da- sein, ob ihr diese 50 Milliarden Euro auf Pump finanzie- mit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung angenom- ren wollt – wenn dies gefordert wird, stimme ich zu – men. oder ob ihr Steuersenkungen wollt. Ihr müsst mal sagen, was ihr wollt. Wir kommen zur (Beifall bei der SPD) dritten Beratung Mit Steuersenkungen werden wir dieses 10-Prozent-Ziel und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem nie im Leben erreichen. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Liebe Kollegin Hinz, jetzt nehme ich Sie mir auch Damit ist der Gesetzentwurf mit den Stimmen der CDU/ noch ein bisschen vor. 52 Sekunden habe ich noch; der CSU, der SPD und der FDP bei Stimmenthaltung der Herr Präsident ist heute ganz großzügig. Bei Rot-Grün Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion Die war es nicht so, dass ihr Grünen bei der Weiterbildung Linke mit breiter Mehrheit angenommen. die Vorreiter wart. Ich sage das ganz zart und bedächtig. Das können wir an anderer Stelle aber noch einmal an- Wir kommen nun zur Abstimmung über den Ent- sprechen. schließungsantrag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/11914. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Wir wollen heute ja keine Schlechte-Laune-Beiträge ab- Entschließungsantrag abgelehnt. geben. Wir setzen die Abstimmungen mit der Beschlussemp- Liebe FDP, Sie haben gesagt, wir würden mit der fehlung des Ausschusses auf Drucksache 16/11904 zu Aufstiegsfortbildung etwas von der Wiege bis zur Bahre Tagesordnungspunkt 3 b fort. Der Ausschuss empfiehlt fordern. Nein, das tun wir weiß Gott nicht. Für die unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung die Ab- „Wiege“ brauchen wir keine Aufstiegsfortbildung und lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- auch keine Weiterbildung. Hierfür haben wir Maßnah- sache 16/11374 mit dem Titel „Verlässliche Bildungsför- men ergriffen. Wir tun etwas für die Kindergärten und derung für Erwachsene noch in dieser Legislatur auf den für die Schulen. Wir wollen mit der Aufstiegsfortbildung Weg bringen“. Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung etwas für die Erwachsenen tun. Dies muss sinnvoll in ein zu? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich der (B) Erwachsenenbildungs- bzw. Erwachsenenfortbildungs- Stimme? – Damit ist die Beschlussempfehlung mit brei- (D) förderungsgesetz eingebettet sein, egal wie es dann ter Mehrheit angenommen. heißt; dafür finden wir noch einen schönen Namen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c Heute wird mit unserem Aufstiegs-BAföG ein wichtiger seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des An- Schritt in diese Richtung gegangen. Wir sind stolz da- trags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck- rauf, dass wir das hinbekommen haben. sache 16/11202 mit dem Titel „Förderung des lebenslan- Liebe Kolleginnen und Kollegen, dies ist ein wichti- gen Lernens unverzüglich entscheidend voranbringen“. ges Signal, dass wir in diesem Lande etwas für die Wei- Wer stimmt dieser Beschlussempfehlung zu? – Wer terbildung tun, und zwar entgegen all denjenigen, die he- stimmt dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Auch rummäkeln. Das dürfen sie zwar, aber ich mache dabei diese Beschlussempfehlung ist mit breiter Mehrheit an- nicht mit. genommen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE der CDU/CSU) LINKE]: Enthaltung!) – Nachdem wir nun die Stimmenthaltung der Fraktion Präsident Dr. Norbert Lammert: Die Linke ordnungsgemäß ins Protokoll aufgenommen Ich schließe die Aussprache. haben, stelle ich Einvernehmen über meine Mitteilung fest, dass auch diese Beschlussempfehlung mit breiter Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zu- Mehrheit angenommen worden ist. nächst zur Abstimmung über den von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Ände- Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 4 auf: rung des Aufstiegsfortbildungsförderungsgesetzes. Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniel (Jörg Tauss [SPD]: Aufstiegs-BAföG!) Bahr (Münster), Heinz Lanfermann, Dr. Konrad Schily, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Sie haben nach unserer Geschäftsordnung die Mög- der FDP lichkeit, noch Anträge zur Veränderung des Titels dieses Gesetzentwurfs zu stellen. Für ein einfaches, transparentes und leistungs- gerechtes Gesundheitswesen Der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technik- folgenabschätzung empfiehlt unter Buchstabe a seiner – Drucksache 16/11879 – Beschlussempfehlung auf der Drucksache 16/11904, Überweisungsvorschlag: den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksa- Ausschuss für Gesundheit 22106 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Präsident Dr. Norbert Lammert (A) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für kompliziert. Im Gesundheitswesen hat sich Planwirt- (C) die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt 75 Mi- schaft breitgemacht: höhere Kosten, geringere Effizienz, nuten vorgesehen. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dirigismus, Zuteilung und am Ende Mangel und Pleite. Dann kann das als vereinbart gelten. Genau deswegen warten viele Menschen hoffnungsvoll auf die nächste Bundestagswahl. Sie warten auf den Po- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- litikwechsel, auf die Umkehr weg von der Staatsmedi- ner dem Kollegen Heinz Lanfermann für die FDP-Frak- zin. tion das Wort. Wir wollen den einzelnen Bürger, der jetzt Objekt ei- (Beifall bei der FDP) nes aufgeblähten bürokratischen Systems ist, das seine Beiträge verschlingt und verstreut, wieder in den Mittel- Heinz Lanfermann (FDP): punkt stellen. Seine Bedürfnisse, seine Wünsche, seine Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- Wahlfreiheit als Kunde sind unser Maßstab für die Ge- ren! Fragt man die Bürger, wie sie unser Gesundheits- sundheitspolitik. system beurteilen, gibt es durchaus viel Lob, nämlich für die vielen Menschen, die dort nicht nur ihre Pflicht tun, (Beifall bei der FDP – Dr. sondern oft viel mehr und den Patienten helfen. [SPD]: Ihn alleinlassen wollt ihr!) Die Gesundheitspolitik als solche wird jedoch kaum Wir schützen seine Rechte, sehen aber auch seine Pflich- gelobt und die zuständige Ministerin am allerwenigsten. ten gegenüber den Mitbürgern. Er hat Rechte und Pflich- Das kann man auch gut verstehen: Für den höchsten ten. Zwangsbeitrag aller Zeiten gibt es immer schlechtere Die FDP sieht daher für alle Bürger eine gesetzlich Leistungen und längere Wartezeiten. In der Apotheke verankerte Pflicht zur Versicherung vor, die alles Not- gibt es mal dieses, mal jenes Medikament, je nachdem, wendige abdeckt und gleichzeitig für jeden Bürger wer mit wem welchen Rabattvertrag geschlossen hat. Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Bei den Hilfsmitteln gibt es große Probleme, und die freie Arztwahl ist sehr gefährdet. (Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Wo Vieles ist nur noch absurd. steht das denn in Ihrem Antrag? Das steht hier doch gar nicht drin!) (Elke Ferner [SPD]: Ihr Antrag!) – Wenn Sie das lesen wollen, Frau Ferner, brauchen Sie Ein aktuelles Beispiel: SPD und Union haben gegen alle nur in den Antrag zu sehen, der hier diskutiert wird. – In Warnungen einen hoch komplizierten, morbiditätsorien- einem gesetzlichen Rahmen, der für alle gleich und fair (B) tierten Risikostrukturausgleich geschaffen und damit ist, können alle Krankenversicherungen ihre Erfahrun- (D) bewusst die falschen Anreize gesetzt. Was ist das für ein gen und Kompetenzen einbringen und den Bürgern ihre System, in dem Ärzte und Krankenkassen einen finan- Angebote machen, unter denen dann jeder Bürger frei ziellen Vorteil davon haben, dass die Menschen in den wählen kann. An dieser klaren Ansage kann auch jeder Akten kranker als bisher eingestuft werden? erkennen, dass die Behauptung, wir wollten die Kran- kenkassen abschaffen, wie hier und da zu lesen war, (Beifall bei der FDP) schlichtweg falsch ist. Das ist erstens eine Einladung zur Manipulation. (Beifall bei der FDP) (Elke Ferner [SPD]: Das ist rechtswidrig!) Sie erhalten vielmehr neue Möglichkeiten. Genauer ge- Zweitens stellt sich die Frage, ob Folgen für die Thera- sagt: Wir befreien sie aus der Schmidt’schen Bevormun- pie – zum Beispiel bei einem Arztwechsel – wirklich dung. auszuschließen sind. Wir wollen selbstverständlich eine soziale Kranken- Oder denken Sie an die Honorarreform. Die Ge- versicherung, bei der denen geholfen wird, die ihren sundheitsministerin verspricht 3 Milliarden Euro mehr Beitrag nicht oder nur teilweise aus eigener Kraft auf- für ärztliche Behandlung, aber Tausende von Praxen be- bringen können. Das ist vernünftige Sozialpolitik; sie kommen erheblich weniger Geld. Frau Schmidt spielt setzt dort an, wo Hilfe nötig ist, im Gegensatz zu der das Unschuldslamm und schiebt die Schuld auf Ärzte angeblich sozialen Politik, bei der der Staat den Bür- und Krankenkassen. Die Selbstverwaltung soll schuld gern möglichst viel Geld abnimmt, um es dann wieder sein. In Wahrheit macht sie ein schlechtes Gesetz und höchst kompliziert zu verteilen. Wir wollen keine mischt sich massiv in die Verhandlungen ein – das be- Bürgerzwangsversicherung mit einer Einheitskasse à la richten alle, die dabei waren –, aber dann hat sie nichts Schmidt. mehr damit zu tun. Nein, Verantwortung und Chaos ha- ben einen Namen, Frau Schmidt. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Wir wollen drei Ziele erreichen. Erstens wollen wir FDP!) eine gesundheitliche Versorgung für alle Bürger, garan- tiert durch die Pflicht zur Versicherung und getragen Unser Gesundheitswesen ist krank. Es erstickt an der durch die Solidarität der Bürger. Regulierungswut. Es gibt immer mehr Gesetze und Vor- schriften, die keiner mehr versteht. Es ist alles viel zu (Lachen bei der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22107

Heinz Lanfermann (A) Zweitens wollen wir die größtmögliche Freiheit für alle Die freie Arztwahl ist für uns ein hohes Gut, genauso (C) Bürger mit einem Wahlrecht, zum Beispiel durch Eigen- wie die Beitragsfinanzierung. Man kann natürlich eine beteiligungen selber Einfluss auf die Gestaltung ihrer Finanzierung allein über Beiträge als nicht zukunftsfähig Krankenversicherung zu nehmen, und zwar stärker als darstellen; das ist richtig. Aber eine Finanzierung ohne bisher. Damit erreichen wir drittens bessere Leistungen Beiträge ist nicht krisenfest. Deshalb müssen wir zu ei- für alle zu günstigeren Preisen; ner vernünftigen Mischkalkulation kommen. Wir brau- chen zudem mehr Transparenz. Wie ist der Geldfluss? (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und Wir treten dafür ein, dass die gesetzlich Krankenversi- der SPD) cherten eine Rechnung bekommen, wenn sie zum Arzt denn es kann ein fairer Wettbewerb zwischen allen An- gehen. Auch das schafft mehr Transparenz. Schließlich bietern stattfinden, die sich um den Gesundheitsbürger treten wir für die Selbstverwaltung ein. Allerdings als Kunden bemühen müssen. muss auch die Selbstverwaltung in schwierigen Zeiten ihre Hausaufgaben erledigen. Ich lade Sie zu dieser Diskussion ein und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Ich habe noch nie so viele Widersprü- Ich bestreite nicht, dass es innerhalb der gesetzlichen che in einer Rede gehört!) Krankenversicherung eine Reihe von Problemen gibt. Deshalb werden strukturelle Verbesserungen der Kran- Präsident Dr. Norbert Lammert: kenversicherung sowie die Optimierung von Qualität und Effizienz eine Daueraufgabe bleiben. Das Wort hat der Kollege Wolfgang Zöller, CDU/ CSU-Fraktion. (Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz (Beifall bei der CDU/CSU) [CDU/CSU]) Ich halte es im Übrigen für eine Illusion, dass es bei der Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Reform des deutschen Gesundheitswesens eine Wunder- Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und waffe gäbe, die man nur realisieren müsste, um ein für Kollegen! Herr Kollege Lanfermann, man kann mit eini- allemal Ruhe im System zu schaffen. Gestatten Sie mir gen Zielen, die Sie angesprochen haben, einiggehen. in diesem Zusammenhang eine Anmerkung: Wir können Aber die entscheidende Frage, wie Sie das alles finanzie- uns in diesem System zu Tode reformieren. Wenn aber ren wollen, haben Sie nicht beantwortet. die Moral der Beteiligten nicht stimmt, fahren wir alle Sozialsysteme an die Wand. (B) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (D) neten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Damit eines klar ist: Mit uns wird es eine Abschaffung der gesetzlichen Krankenversicherung nicht geben. Es ist ärgerlich, wenn zum Beispiel in einem Bundes- land behauptet wird, ein Arzt bekomme im Quartal nur (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) 30 Euro pro Patient. Die Ärzte sind dadurch verunsi- Die deutsche Krankenversicherung ist ein Modell, das chert; das kann ich verstehen. Wenn man das aber auf aufgrund der Qualität, des Versorgungsgrades, des Aus- das Jahr hochrechnet und mit der Versichertenzahl multi- maßes der Leistungen sowie des Nebeneinanders von pliziert, dann kommt man auf einen Bedarf von gesetzlicher und privater Krankenversicherung weltweit 600 Millionen bzw. maximal 1 Milliarde Euro. Tatsäch- geachtet wird. Sie steht weltweit an erster Stelle. Nun lich stehen dieser KV aber 2,5 Milliarden Euro zur Ver- muss die Politik ihren Teil dazu beitragen, dass dies so fügung. Angesichts dessen muss doch die Frage erlaubt bleibt. Wenn jemand das System ändern will oder ein sein: Wo ist das Geld? neues System einführen will, muss er zuerst die Frage (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) beantworten: Welche medizinische Versorgung wollen wir? Wollen wir rein wirtschaftlich vorgehen, oder Es wird höchste Zeit, dass solche Widersprüche wollen wir mehr Menschlichkeit? Wollen wir mehr Frei- schnellstens aufgeklärt werden, damit die Ärzte wieder beruflichkeit oder mehr Staatsmedizin? Wollen wir me- Planungssicherheit bekommen und damit die Verunsi- dizinischen Fortschritt für alle, oder wollen wir Aus- cherung der Patienten endlich aufhört. grenzung? (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) (Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, was wollen wir denn? Das ist eine gute Frage!) Ich habe auch kein Verständnis dafür, wenn zum Bei- spiel Krankenkassen ihren Versicherten ein Wellness- Um eine qualitativ hochwertige medizinische Versor- wochenende anbieten und dafür mehr Geld erstatten, als gung zu gewährleisten, sind für uns grundlegende Ele- die Vergütung eines Arztes für die Behandlung über das mente unverzichtbar. Dazu gehören an erster Stelle die ganze Jahr beträgt. Das passt nicht zu einem solidarisch Solidarität und an zweiter Stelle die Freiberuflichkeit. finanzierten Gesundheitssystem. Letztere kann man durch Planungssicherheit, Beendigung der Budgetierung – das haben wir bereits gemacht –, leis- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Da- tungsgerechtere Bezahlung, feste Preise und weniger niel Bahr [Münster] [FDP]: Wer hat die An- Bürokratie stärken. Aber alle müssen daran mitarbeiten. reize denn gesetzt?) 22108 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Wolfgang Zöller (A) Ich halte es ebenfalls für nicht richtig, wenn Ärzte flächendeckende und wohnortnahe ärztliche und fach- (C) Krankenkassen drohen, ihre Versicherten niedriger ein- ärztliche Versorgung oder große Kliniken und zentrale zustufen, wenn die Verträge nicht in ihrem Sinne abge- Versorgung. schlossen werden. Wir brauchen gerade in diesem Wenn alle am System Beteiligten ihr Handeln danach Gesundheitssystem mehr Ehrlichkeit und Ethik statt Mo- ausrichten, wie man dem Patienten optimal helfen kann, netik. dann ist es mir um unser Gesundheitssystem nicht (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) bange. Ein weiterer Punkt. Pluralität ist für uns ein Garant (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- für Wettbewerb und Qualität; dies kommt bei den betrof- neten der SPD) fenen Menschen an. Deshalb bekennen wir uns zu unse- rem System mit seiner Vielfalt und dem Nebeneinander Präsident Dr. Norbert Lammert: von gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Die Das Wort erhält nun der Kollege Frank Spieth für die zentrale Frage der Politik besteht doch darin, wie wir Fraktion Die Linke. Rahmenbedingungen so verändern können, dass die Ak- teure im Gesundheitswesen diesen Prozess möglichst (Beifall bei der LINKEN) ohne ständige gesetzgeberische Begleitung gestalten können. Die Diskussionen über die Finanzierung der Frank Spieth (DIE LINKE): Krankenversicherung haben gezeigt, dass es ein Irrweg Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ist, wenn man glaubt, ein System nur zentralistisch durch Meine Damen und Herren! Man kann der FDP-Bundes- den Gesetzgeber steuern zu können. Dies führt automa- tagsfraktion vorwerfen, was man will, aber eines mit Si- tisch zu mehr Kontrolle, Bürokratie und immer neuen cherheit nicht, Paragrafen. Die Politik sollte die Menschen nicht bevor- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Jetzt sind wir munden und ihnen bis ins Detail vorschreiben, was sie gespannt!) zu tun haben. Daraus ergibt sich nämlich eine falsche Si- cherheit. nämlich dass sie unehrlich in den Bundestagswahlkampf geht und nicht klar ihre gesundheitspolitischen Vorstel- Die Menschen müssen allerdings auch mehr für ihre lungen für die nächste Legislaturperiode hier im Hause eigene Gesundheit tun. Es gibt eine Fülle von Möglich- auf den Tisch legt. Man kann sich bei ihr regelrecht da- keiten und Angeboten zur Prävention von Krankheiten, für bedanken, dass sie heute mit diesem Antrag der Be- ob das die Krebsvorsorge ist, ob das die Zahnprophylaxe völkerung klar sagt: Wir wollen den Ausstieg aus der so- ist oder ob das der Gesundheits-Check-up ist. Diese soll- lidarischen gesetzlichen Krankenversicherung (B) ten und müssten mehr als bisher in Anspruch genommen (D) werden. (Zuruf von der FDP: Oh!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und und hinein in die Abdeckung der Gesundheitsrisiken der SPD) durch die Privatversicherung. Wenn es stimmt, dass durch falsche Ernährung oder (Beifall bei der LINKEN und der SPD) durch mangelnde Bewegung ursächlich circa 30 Prozent Allianz und Co. geben nicht nur Spenden, sondern lassen der Gesundheitsausgaben entstehen, dann brauchen wir hier auch grüßen. Sie verlassen mit Ihren Vorschlägen schnellstmöglich einen Bewusstseinswandel. nach unserer festen Überzeugung das Solidarprinzip im Gesundheitswesen, in der gesetzlichen Krankenversi- (Beifall der Abg. Annette Widmann-Mauz cherung. Das wird von fast allen Akteuren, die sich mit [CDU/CSU]) Ihren Vorschlägen in den letzten Tagen auseinanderge- Jeder muss sich selbst fragen, wie gesundheitsschädi- setzt haben, genauso gesehen. gendes Verhalten eingeschränkt werden kann. Fehlende Was mich dabei erstaunt, ist, dass Sie selbst – an- Mundhygiene, Nikotinkonsum und mangelnde Bewe- scheinend aufgrund Ihrer guten Umfrageergebnisse – gung sind nicht schicksalhaft. Hier kann jeder mehr für mittlerweile soweit im Orbit gelandet sind, dass Sie jede sich tun. Dies kann aber kein Gesetzgeber vorschreiben; Bodenhaftung verloren haben, sogar zu Ihren eigenen er kann allenfalls finanzielle Anreize setzen. Wählerinnen und Wählern. 80 Prozent von diesen sagen Künftig wird es darauf ankommen, der Bevölkerung – nachzulesen im letzten Gesundheitsmonitor der die Alternativen aufzuzeigen: entweder die solidarische Bertelsmann-Stiftung –, dass Gesunde Kranke unterstüt- Absicherung einer hochwertigen medizinischen Versor- zen müssen und dass Junge Alte in den Risiken unter- gung der großen Risiken und Übernahme von Eigenver- stützen sollen. Außerdem sagen sie: Besserverdienende antwortung bei kleinen Risiken und Selbstbeteiligung im sollen Schlechterverdienende unterstützen. Ich betone: Gesundheitswesen oder eine Vollversorgung auf niedri- Für all diese Aussagen gibt es eine 80-prozentige Zu- gerem Niveau mit Leistungsausgrenzung und Reduzie- stimmung, sogar bei den FDP-Wählerinnen und -Wäh- rung der medizinischen Versorgung; entweder ein frei- lern. heitliches Gesundheitswesen, in dem die Versicherten (Beifall bei der LINKEN – Daniel Bahr ihre Krankenkassen, das Krankenhaus und ihren Arzt [Münster] [FDP]: Alles in unserem Konzept frei wählen und sich für verschiedene Gestaltungsfor- drin, Herr Spieth! Das müssen Sie mal lesen!) men ihrer medizinischen Versorgung entscheiden kön- nen oder Bevormundung der Versicherten; entweder eine Genau das missachten Sie mit Ihren Vorschlägen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22109

Frank Spieth (A) Damit Sie das nachvollziehen können – vielleicht – So ist doch die Regel. Da können Sie reden, was Sie (C) wissen Sie das selbst nicht –, möchte ich das einfach ein- wollen. Das steckt dahinter. Ihre Aufregung ist beredt, mal an ausgewählten Punkten klarmachen. meine Damen und Herren von der FDP. Mit der von Ihnen geforderten Abschaffung der Kran- (Beifall bei der LINKEN) kenkassen als Körperschaften des öffentlichen Rechts würde der Ausstieg aus der gesetzlichen Krankenversi- Der Versicherte legt also vor und holt sich dann bei cherung herbeigeführt; die Risiken wollen Sie privat ab- der Krankenkasse einen Zuschuss. Der Versicherte weiß sichern lassen. Das ist Ihre eindeutige Botschaft. Das hat in der Regel nicht, wie hoch dieser Zuschuss sein wird. mit Solidarität nichts mehr zu tun. Das ist Abenteurertum. Das hat mit sozial verantwortli- cher Politik überhaupt nichts mehr zu tun. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie Sie wollen die Absicherung im Krankheitsfall über der Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE leistungsgerechte Prämien. Sie sollten uns hier einmal GRÜNEN]) erklären – wir haben im weiteren Verfahren Gelegenheit dazu –, was Sie mit „leistungsgerechten Prämien“ mei- Ich könnte Ihnen eine Reihe weiterer Beispiele nennen. nen. Meinen Sie das Kopfpauschalmodell der CDU mit Die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die ja eher Ihr 170 Euro für jeden Erwachsenen? Kampfblatt ist, (Heinz Lanfermann [FDP]: Lesen Sie doch (Lachen bei der FDP – Zurufe von der FDP: mal den Antrag!) Kampfblatt? – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Oder meinen Sie, dass zwar im Mittel 170 Euro gezahlt Jetzt kommt hier der Klassenkampf ins Spiel!) werden, dass die Versicherten aber pauschal einen risi- hat am 10. Februar sehr konkret und deutlich zu Ihrem kobezogenen Vertrag abschließen? Das sollten Sie uns Antrag geschrieben: Man kann sich nur verwundert die und der Öffentlichkeit erklären. Ich meine, die Öffent- Augen reiben. Offenkundig hat die FDP nicht begriffen, lichkeit sollte wissen, was Sie vorhaben. dass sie 2005 gemeinsam mit der CDU die Mehrheit ver- Tatsache ist: Wenn wir von jedem Erwachsenen eine fehlt hat, weil sie schon damals mit derartig unsozialen Prämie verlangen – ich will es einmal an dem alten Konzepten in der sozialen Absicherung gestartet ist. CDU-Modell klarmachen –, dann heißt das, dass in der Ich glaube, das kapieren die Menschen in diesem Krankenversicherung zukünftig pauschal für jeden Er- Land auch diesmal. Ich hoffe, dass Sie von Ihrem Hö- wachsenen über 18 Jahre 170 Euro zu zahlen sind. Die henflug wieder auf den Boden kommen. (B) beitragsfreie Mitversicherung von Familienangehörigen (D) ohne eigenes Einkommen gibt es dann nicht mehr. Bei- Danke. spiel: Ein Kind in einem Dreipersonenhaushalt wird nach Ihren Vorstellungen möglicherweise steuerfinan- (Beifall bei der LINKEN) ziert abgesichert, während ein bisher beitragsfrei mitver- sicherter Angehöriger, der kein eigenes Einkommen hat, Präsident Dr. Norbert Lammert: dann Krankenversicherungsbeiträge – 340 Euro – zahlen Nächste Rednerin ist die Kollegin Elke Ferner, SPD- muss. Das ist fast doppelt so viel, wie ein Krankenversi- Fraktion. cherter jetzt in der gesetzlichen Krankenversicherung zu zahlen hat. Das ist die Realität hinter diesem Vorschlag. (Beifall bei der SPD) Ich finde, das ist nicht nur unsozial, sondern asozial. Das hat mit Solidarität nichts mehr zu tun. Elke Ferner (SPD): (Beifall bei der LINKEN und der SPD) Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Der Antrag, den Sie vorgelegt haben, sehr geehrte Her- Sie sagen, dass das Sachleistungsprinzip, das dem Pa- ren und Damen von der FDP, zeigt, wes Geistes Kind Sie tienten nach Zahlung der Krankenversicherungsbeiträge sind. Sie wollen zurück zu einer Ellenbogengesell- einen freien Zugang zu den Gesundheitsleistungen bie- schaft, die wir eigentlich seit Bismarck überwunden ha- ten soll, durch das Kostenerstattungsprinzip ersetzt ben, statt die elementaren Risiken, die wir in solidari- werden soll. Das hört sich fantastisch an. Allerdings schen Sozialversicherungssystemen abzusichern haben, weiß kaum jemand das vernünftig zu bewerten. Was auch tatsächlich solidarisch abzusichern. heißt das denn? Das heißt auf gut Deutsch: Wenn jemand ein künstliches Hüftgelenk braucht, dann kostet das in Was Sie hier vorlegen, ist eigentlich ein Zeugnis kol- der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland lektiver Verantwortungslosigkeit. im Durchschnitt 15 000 Euro. Sie erwarten, dass ein Ver- (Beifall bei der SPD) sicherter künftig diese 15 000 Euro vorlegt, also die Rechnung des Leistungserbringers begleicht, und an- Es ist im Übrigen – wenn man sich die Einzelpunkte an- schließend mit dieser Rechnung zur Krankenversiche- schaut, stellt man das fest; ich werde nachher noch da- rung geht und sich dort diese Sachleistung erstatten lässt. rauf zu sprechen kommen – die Lizenz zum Gelddru- cken für die Leistungserbringer. (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist unseriös bis zum Gehtnichtmehr!) (Zuruf von der LINKEN: Richtig!) 22110 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Elke Ferner (A) Die Patienten und Patientinnen werden zum Spielball Das ist im normalen Insolvenzrecht nicht der Fall. (C) der Leistungserbringer. Ihre Forderungen schaffen nicht mehr, sondern weniger Transparenz. (Heinz Lanfermann [FDP]: Also geht es doch, wenn Sie es gemacht haben!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Alles Platti- tüden, Frau Ferner!) – Es scheint Sie sehr aufzuregen, dass ich auf die rich- tige Spur gekommen bin. Die Ausgaben für die Versicherten, insbesondere für die Patienten und Patientinnen, werden mit Ihrem Konzept (Heinz Lanfermann [FDP]: Wir wollten Sie in schwindelerregende Höhen steigen. loben, weil Sie es gemacht haben!) (Beifall bei der SPD) Außerdem frage ich mich: Wem sollen diese Unter- Sie wollen einen Sozialausgleich über das Steuer- nehmen mit sozialer Verantwortung gehören, was pas- und Transfersystem. Das ist viel bürokratischer als das, siert mit möglichen Gewinnen usw. usf.? was wir schon heute zur Umverteilung im System der (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Den Versicher- gesetzlichen Krankenversicherung haben. Gleichzeitig ten zum Beispiel, den Mitgliedern!) fordern Sie Steuersenkungen für die Spitzenverdiener. Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses will Einspa- Was ist mit den Versicherten? Wer soll deren Rechte rungen bei den Ausgaben. Ich frage Sie ernsthaft: Wie wahrnehmen? Muss jeder Arzt dann mit jeder Kasse ei- wollen Sie das finanzieren? Was Sie hier bieten, das sind nen Vertrag schließen? Wie soll das praktisch funktio- alles Luftnummern. nieren? (Beifall bei der SPD) Sie fordern in der Nr. 1 auch, den RSA zu reduzieren. Sie verabschieden sich vom bisherigen gesellschaftli- Das heißt, Sie wollen weniger Gerechtigkeit im Gesund- chen Konsens, nach dem im Krankheitsfall die Starken heitssystem, als wir mit dem Gesundheitsfonds geschaf- für die Schwachen, die Gesunden für die Kranken, die fen haben. Jungen für die Alten und die Besserverdienenden für die weniger gut Verdienenden einstehen. Ich glaube nicht, (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Eine dolle dass Sie dafür hier irgendeinen Koalitionspartner finden Gerechtigkeit!) – zumindest war das aus den bisherigen Redebeiträgen Das verzerrt die Wettbewerbsbedingungen und macht sie nicht zu ersehen – oder dass es dafür eine Mehrheit in nicht fairer. der Bevölkerung gibt. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) (B) (D) Jetzt komme ich zu den einzelnen Punkten. In der Die Nr. 2 des Antrags betrifft das Thema „Verständ- Nr. 1 des Antrags fordern Sie, dass die Krankenkassen lichkeit und Transparenz für alle Beteiligten“. sich von Körperschaften öffentlichen Rechts zu Unter- (Heinz Lanfermann [FDP]: Sind Sie auch nehmen mit sozialer Verantwortung wandeln. dagegen?) (Zuruf von der FDP: Richtig!) Sie wollen gesetzlich vorgegebene Budgets durch leis- Ich kenne keinen Rechtsbegriff, der da lautet „Unterneh- tungsgerechte Preise ersetzen. Was heißt das? Das heißt men mit sozialer Verantwortung“. Die Krankenkassen klipp und klar, dass die Ausgaben für die ärztliche Be- würden sofort dem normalen Insolvenzrecht unterlie- handlung im ambulanten Bereich deutlich steigen wer- gen. den. Wir reden dann locker von 4 bis 5 Milliarden Euro. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das haben Sie Sie wollen die Reduzierung der Zahl der Instrumente doch beschlossen!) im Arzneimittelbereich. Das bedeutet höhere Arzneimit- Was heißt das eigentlich für die Versicherten und für die telausgaben. Das bedeutet, dass wir noch einen Beitrags- Leistungserbringer, Herr Bahr? satzpunkt oder 1,5 Beitragssatzpunkte draufpacken müs- sen, damit die Ausgaben finanziert werden können. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das haben Sie doch beschlossen!) Ich möchte an dieser Stelle auch noch etwas zu dem sagen, was im Moment in den Praxen bezüglich der Be- – Moment! Sie wissen ganz genau, dass es nicht das nor- male Insolvenzrecht ist, zahlung von Leistungen abläuft. Das Honorarsystem und insbesondere die Verteilung des Honorars ist Sache (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Doch!) der Selbstverwaltung. Offensichtlich schafft es die sondern dass es durchaus Einschränkungen gibt, Selbstverwaltung in den einzelnen Kassenärztlichen Ver- einigungen nicht, den Ärzten in den Praxen klarzuma- (Jörg van Essen [FDP]: Aber trotzdem! Sie chen, wie viel sie am Jahresende wirklich aus dem Ho- haben es geöffnet!) norartopf zu erwarten haben. Von den Ärztinnen und sodass dann, wenn es um die Verteilung der Masse geht, Ärzten, aber auch von den Krankenkassen erwarte ich, die Ansprüche der Versicherten und der Leistungserbrin- dass dieser ganze Zoff nicht auf dem Rücken der Patien- ger absolut gesichert sind. tinnen und Patienten ausgetragen wird. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Also (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie kann man Regeln setzen!) bei Abgeordneten der LINKEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22111

Elke Ferner (A) Ich erwarte von den KVen, dass sie den Ärztinnen und unabhängig davon, dass noch einige Probleme zu regeln (C) Ärzten, die in ihren Praxen Vorkasse verlangen oder die sind. Ich begreife nicht, dass die 3 Milliarden Euro, die behaupten, dass die Kassen bestimmte Behandlungen jetzt mehr im System sind, nirgendwo ankommen. Das nicht bezahlen, obwohl die Kassen sie natürlich bezah- verstehe ich nicht, und das versteht auch niemand in der len, aufs Eisen steigen. Von den Kassen erwarte ich, dass Bevölkerung. sie für ihre Patienten eintreten und darauf achten, dass die Verträge, die sie mit den KVen ausgehandelt haben, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten auch eingehalten werden. der CDU/CSU und der LINKEN – Heinz Lan- fermann [FDP]: Das ist doch Ihr Gesetz!) (Beifall bei der SPD) Weiterhin fordern Sie strikte Einhaltung der Subsidia- rität. Sie sagen, Eigenverantwortung gehe vor Kollek- Vizepräsident Dr. : tivverantwortung und Unterstützung solle es nur für den- Frau Kollegin Ferner, erlauben Sie eine Zwischen- jenigen geben, der nicht in der Lage ist, selbst für sich zu frage des Kollegen Lotter von der FDP-Fraktion? sorgen. Das heißt übersetzt: Wenn jeder für sich selber sorgt, ist für alle gesorgt. Das ist also das Motto der FDP. Elke Ferner (SPD): (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist Ihre Selbstverständlich. Übersetzung! Ihre Interpretation! – Heinz Lan- fermann [FDP]: Das ist Ihre Interpretation! Sie Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: können nicht einmal richtig lesen!) Bitte schön. Nächster Punkt: Beitragsgerechtigkeit. Die Einfüh- rung einer Kopfprämie – das haben wir im letzten Bun- Dr. Erwin Lotter (FDP): destagswahlkampf gesehen – wäre absolut ungerecht. Frau Kollegin Ferner, ist Ihnen bekannt, dass die Die Leute akzeptieren das nicht, und zu Recht akzeptie- Selbstverwaltung gesetzliche Vorgaben erfüllen und um- ren sie es nicht. setzen muss, also der Gesetzgeber den Rahmen schafft, in dem die Selbstverwaltung tätig wird? (Beifall bei der SPD) Sie sprachen auch von Gerechtigkeit. Finden Sie es Das Beispiel, das Sie in diesem Zusammenhang anbrin- gerecht, dass zum Beispiel ein Augenarzt ein Regelleis- gen, ist nun wirklich an Dümmlichkeit nicht mehr zu tungsvolumen von 17 Euro pro Quartal und Patienten überbieten. hat? Finden Sie es gerecht, dass Hausbesuche von mir (Zuruf von der LINKEN: So ist es!) (B) als Hausarzt grundsätzlich schon mit dem Regelleis- (D) tungsvolumen abgegolten sind und nur Besuche außer- Ich habe mir einfach einmal die Zahlen herausgesucht; halb der Routine, also nur zu bestimmten Zeiten, extra- das liegt ja heute alles offen. Eine Bäckereifachverkäufe- budgetär vergütet werden? rin im Westen zahlt bei einem Bruttoeinkommen von 1 399 Euro inklusive des Sonderbeitrags 114,72 Euro als (Widerspruch von der LINKEN – Gegenruf Krankenversicherungsbeitrag. Die Millionen von Gene- des Abg. Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Der ist raldirektoren, die nach Ihrer Auffassung ja in der gesetz- in der Praxis! Der weiß das!) lichen Krankenversicherung freiwillig versichert sein sollen, würden monatlich inklusive Sonderbeitrag je- Elke Ferner (SPD): weils 301,35 Euro zahlen. Zum einen ist in keinem Gesetz die Höhe dieser Ver- (Zuruf von der SPD: Viel zu wenig!) gütungen festgelegt. Zum anderen: Ja, wir haben den Rahmen geschaffen, aber die Entscheidung darüber, wie Selbst wenn die Ehegattin des Generaldirektors bei ihm das ärztliche Honorar auf die einzelnen Arztgruppen ver- beitragsfrei mitversichert ist, ist es nach meiner Berech- teilt wird – man kann ja durchaus auch fragen, ob es bis- nung nicht so, dass die Bäckereifachverkäuferin die her gerecht verteilt worden ist –, obliegt allein den Kas- Krankheitskosten des Generaldirektors mitfinanziert. Ich senärztlichen Vereinigungen und der KBV. weiß nicht, was Sie sich bei Ihrem Beispiel gedacht ha- ben, aber auf jeden Fall ist es völlig daneben. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Darauf haben Sie Einfluss genommen!) Weiterhin fordern Sie eine Kapitaldeckung. Das ist eine alte Forderung. Hierfür gibt es den Bewertungsausschuss; da wird über all das diskutiert. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Eine gute Forderung!) (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie haben die doch nicht alleine beraten lassen! Wollen Sie das ab- Das hieße – das muss man den Menschen aber auch sa- streiten?) gen –, dass jeder zusätzlich zu den Ausgaben und Auf- wendungen für die Finanzierung der medizinischen – Herr Lanfermann, Sie können gerne auch noch einmal Leistungen noch etwas drauflegen muss, damit ein Kapi- eine Zwischenfrage stellen, aber ich möchte Ihnen eines talstock gebildet werden kann. sagen: Selbst Herr Köhler sagt durchaus – Sie kennen ja wahrscheinlich den Brief von Herrn Köhler an die Ärzte- (Jens Spahn [CDU/CSU]: Das nennt sich schaft in Deutschland –, dass mehr Geld im System ist, sparen!) 22112 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Elke Ferner (A) Dass man sich traut, gerade in Zeiten einer Finanzkrise gilt immer noch das Nonallokationsprinzip. Man kann (C) Steuerzuschüsse politisch binden. Aber Sie sind dabei (Zuruf von der SPD: In dieser Zeit, ja!) nicht davor gefeit, dass irgendwann andere Entscheidun- den Aufbau von Kapitalstöcken zu fordern, ist irrwitzig. gen getroffen werden. Man sollte sich nur einmal vor Augen führen, dass ver- Ein anderer Punkt in Ihrem Antrag wird die Men- schiedene Pensionsfonds in ausgewählten OECD-Staa- schen zum Nachdenken bringen. Sie fordern die ten im letzten Jahr nahezu 20 Prozent ihres Wertes verlo- Konzentration der obligatorisch durch die Solidarge- ren haben. Auch damit werden die Kosten nicht meinschaft zu finanzierenden Leistungen auf das medi- verringert, sondern das ist eine zusätzliche Belastung. zinisch wirklich Notwendige. Ich frage Sie: Was ist Ich sage Ihnen: Die beste Absicherung ist, wenn Men- denn medizinisch wirklich notwendig? Welche Leistun- schen für Menschen einstehen, gen der GKV sind denn heute nicht medizinisch wirklich (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist das notwendig? Was heißt denn: Menschen sollen zunächst Prinzip einer Versicherung!) einmal für sich selbst einstehen? anstatt auf windige Kapitalstöcke zu setzen, die nicht (Heinz Lanfermann [FDP]: Nicht fragen, richtig kontrolliert werden und für kommende Genera- sondern antworten!) tionen keine echte Vorsorge darstellen. – Ich frage Sie: Welche Leistungen sind das? Das steht (Beifall bei der SPD) nicht in Ihrem Antrag. Sie machen eine Politik nach dem Motto: Jeder für sich und keiner für den anderen! Das ist Dann kommt Ihr Lieblingsvorschlag: Planungssicher- alles andere als solidarisch und wird nicht dazu führen, heit für Arbeitsplätze. Der Arbeitgeberanteil soll als den Zusammenhalt in der Gesellschaft wirklich zu stär- Lohnbestandteil ausgezahlt werden. ken. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Stimmt!) Unter dem Stichwort „Stärkung der Patientenautono- Das bedeutet, dass dieser Lohnbestandteil direkt der mie“ wollen Sie eine gemeinsame Therapiefestlegung Steuer- und Sozialversicherungspflicht unterliegt. Das zwischen Arzt und Patienten. Das ist schon heute so. Ich wiederum bedeutet, dass schon nach dem heutigen Mo- kenne niemanden, der sich eine Therapie aufzwingen dell für die Bezahlung des Krankenversicherungsbeitra- lässt. ges weniger Geld als bisher zur Verfügung steht (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Oh! – Heinz (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das stimmt Lanfermann [FDP]: Bonus-Malus-Prinzip!) doch gar nicht!) (B) – Von Ärzten oder Patienten? In dem Fall sind Sie offen- (D) – natürlich stimmt das –, bar nicht da unterwegs, wo ich unterwegs bin. Aber was Sie eigentlich meinen, ist, dass auch Therapien finanziert (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Steuerliche werden sollen, deren Erfolg zumindest zweifelhaft oder Absetzbarkeit!) nicht wissenschaftlich erwiesen ist. Sie wollen solche es sei denn, Sie wollen – wie auch immer – die Steuern Therapien aus Geldern der Versichertengemeinschaft senken. teilfinanzieren und durch eine Eigenbeteiligung der Patienten ergänzen. Das trägt aber nicht dazu bei, Geld (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Fragen Sie mal zu sparen, sondern das hat etwas mit zusätzlichen Kos- den Finanzminister nach der steuerlichen Ab- ten zu tun. setzbarkeit!) Ich frage Sie: Welcher Patient kann seinem Arzt wirk- Auf alle Fälle ist dieser Teil steuer- und sozialversiche- lich auf Augenhöhe begegnen? Das, was wir in unseren rungspflichtig. Bürgersprechstunden über IGeL-Praktiken hören, spricht (Heinz Lanfermann [FDP]: Da gab es doch ein doch Bände. Urteil aus Karlsruhe, Frau Ferner!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Zur Sozialversicherung gehören nicht nur die Kranken- LINKEN) versicherung, sondern auch die Arbeitslosenversiche- rung, die Rentenversicherung und die Pflegeversiche- Ich glaube, dass hinter dem Stichwort „Stärkung der rung, falls Ihnen das noch nicht bekannt ist. Das heißt Patientenautonomie“ auf Ihrer Ebene etwas ganz anderes also: Es gibt nicht mehr Netto für alle, sondern weniger steckt. Netto für alle. Sie fordern eine Stärkung des Verantwortungsbe- (Heinz Lanfermann [FDP]: Nur bei Ihnen!) wusstseins auf allen Ebenen. Sie wollen, dass die Versi- cherten über die unbedingt notwendige Grundversor- Dann fordern Sie eine Zweckbindung für die Steu- gung hinaus weitere Leistungen absichern. Sie können erzuschüsse. Man kann zwar Steuerzuschüsse politisch aber schon heute weitere Leistungen absichern. Die binden, aber man kann sie nicht zweckbinden. spannende Frage ist: Was ist die Grundversorgung? Die heutige Grundversorgung umfasst das medizinisch Not- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Was?) wendige. Wenn Sie als Grundversorgung weniger als das Das ist eben das System mit Steuern. Beiträge und Ge- medizinisch Notwendige wollen, dann müssen Sie das bühren können Sie zweckbinden, aber keine Steuern. Da sagen. Was soll denn dann nicht mehr bezahlt werden? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22113

Elke Ferner (A) Ist das die Hüftprothese für über 70-Jährige? Ist das die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) Psychotherapie für misshandelte Kinder? Ist das die Ent- der LINKEN – [FDP]: Das ziehungskur für Drogenabhängige oder die Behandlung entscheiden andere!) von Freizeitunfällen? Was soll denn Ihrer Meinung nach nicht mehr bezahlt werden? Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie müssen auch erklären, wie die Menschen, die es Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von sich nicht leisten können, Zusatzversicherungen abzu- Bündnis 90/Die Grünen. schließen, diese Leistungen in Zukunft bezahlen sollen. Sie wollen offenbar den Zugang zur Spitzenmedizin nur Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): noch denen ermöglichen, die dafür das Geld haben. Die Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir bli- anderen können dann sehen, wie sie klarkommen. Das cken in dieser Republik auf 1,6 Billionen Euro Staats- ist aus meiner Sicht menschenverachtend. verschuldung und auf 50 Milliarden Euro Neuverschul- dung; weitere Kreditaufnahme ist nicht ausgeschlossen. (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Und was macht die FDP? Sie fordert Steuersenkungen. Zum Sachleistungsprinzip und zum Kostenerstat- (Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist aber ein tungsprinzip ist eben schon etwas gesagt worden. Ich anderer Antrag!) sage dazu nur noch so viel: Man sollte sich einmal die Verwaltungsausgaben bei der GKV und bei der PKV Aber das ist noch nicht alles. Heute legen Sie uns, Herr anschauen. Lanfermann, einen Antrag vor, dessen Realisierung für den Bundeshaushalt zu Mehrausgaben weit im zwei- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Äpfel und stelligen Milliardenbereich führen würde. Da fragt man Birnen!) sich als Erstes: Haben Sie eigentlich den Verstand verlo- Ausweislich der Zahlen des PKV-Bundesverbandes be- ren? trugen pro Versicherten die Verwaltungsausgaben im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und Jahr 2007 370 Euro; in der GKV waren es 160 Euro. Das bei der SPD – Elke Ferner [SPD]: Ja!) hat auch etwas mit dem Kostenerstattungsprinzip zu tun. Als Nächstes sagt man sich: Na ja, vielleicht doch nicht. Sie wollen intelligente Selbstbehalttarife. Das heißt Die FDP wird sich schon etwas dabei denken. Sie denkt im Klartext: Jung und Gesund wählt den Selbstbehaltta- an alle möglichen Gruppen im Gesundheitswesen. Sie rif, Alt und Krank muss dafür mehr bezahlen. Das ist denkt an Ärzte, an Pharmaunternehmen, an private wirklich intelligent, Herr Kollege Bahr. Krankenversicherer und sicher auch an Arbeitgeber. (B) (D) Dann hatten Sie groß angekündigt: ohne Kontrahie- (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Dann kommt rungszwang, sie nicht über 10 Prozent!) (Heinz Lanfermann [FDP]: Nicht ohne, son- Versicherte tauchen bei Ihnen nur auf, wenn sie gut ver- dern mit Kontrahierungszwang!) dienen und gesund sind. ohne Altersprüfung, ohne Risikoprüfung und ohne Dif- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ferenzierung nach dem Geschlecht. sowie bei Abgeordneten der SPD – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Lesen Sie mal den An- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Mit Kontra- trag!) hierungszwang!) Menschen mit geringen Einkommen, Sozialleistungs- Ausweislich Ihrer Homepage heißt es: „umlagefinan- empfänger und Kranke müssen Ihre Politik ausbaden, zierte Krankenversicherung abschaffen“. In Ihrem An- denn sie interessieren Sie nicht. trag ist davon nichts zu lesen. Ich kann Ihnen nur sagen: Mit diesem Vorschlag werden Sie mit Sicherheit keine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Unterstützung im Parlament oder bei den Bürgerinnen Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ach!) und Bürgern finden. Doch der Reihe nach. Die FDP will den sozialen (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dass Sie uns Ausgleich aus der gesetzlichen Krankenversicherung nicht unterstützen, haben wir erwartet, Frau herausschneiden. Statt einkommensabhängiger Beiträge Ferner! Aber gut, dass Sie es noch mal sagen!) zahlt man dann – wie heißt es so schön? – „leistungsge- rechte Prämien“. Die, die das nicht bezahlen können Wir werden für die Bürgerversicherung kämpfen, da- – denn dass viele das nicht bezahlen können, wissen Sie –, mit wir ein solidarisch und zukunftsfähig finanziertes sollen „zielgerichtete Unterstützung“ erhalten. Was heißt Gesundheitswesen haben, denn das? Das ist Prämiensubvention per Bundeshaus- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) halt. Dazu allerdings, was das kostet, schweigen Sie sich aus. in dem Menschen für Menschen einstehen: die Jungen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für die Alten, die Gesunden für die Kranken und die, die und bei der SPD) mehr Einkommen haben, für die, die weniger Einkom- men haben. Ich wünsche Ihnen noch weitere vier Jahre Aber es ist ja nicht so, als hätten wir nicht schon Er- Spaß in der Opposition. fahrung mit solchen Modellen und der Diskussion da- 22114 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Birgitt Bender (A) rüber. Blicken wir doch einmal zurück auf den letzten schön heißt, „medizinisch wirklich Notwendige“ be- (C) Bundestagswahlkampf. Da waren es CDU und CSU, die grenzen. sich auf ein Kopfpauschalenmodell mit einem Steuer- mehraufwand von etwa 20 Milliarden Euro festgelegt (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hatten. Das ist das Modell, das der Union jetzt wie Kau- und bei der SPD – Daniel Bahr [Münster] gummi unter der Schuhsohle klebt [FDP]: Steht im SGB V!) (Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Was heißt das? Das medizinisch Notwendige entspricht Was?) der Rechtslage in der gesetzlichen Krankenversicherung. Etwas anderes wird nicht bezahlt. Wenn Sie also vom und das sie verzweifelt loszuwerden versucht. medizinisch „wirklich“ Notwendigen sprechen, dann kann das nur als Drohung gemeint sein, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aber was die FDP heute vorlegt, dürfte noch ein gutes und bei der SPD) Stück teurer sein. Denn offenbar denken Sie nicht an den Einheitsbeitrag, sondern an eine Prämie, wie sie derzeit als Drohung nämlich, dass ganze Leistungsbereiche hi- in der privaten Krankenversicherung üblich ist, eine so- nausfliegen werden. genannte risikoadjustierte Prämie. Das heißt auf Deutsch: Dort müssen Frauen, Alte und Kranke höhere Die FDP verschweigt lieber, welche das sein werden. Beiträge zahlen als junge und gesunde Männer. Man kann leicht ausrechnen, dass das mit dem Kranken- geld anfängt. Dann geht es mit der gesamten Zahnmedi- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) zin weiter. Was als Nächstes kommt, darüber darf speku- liert werden. Das ist doch nichts anderes als ein riesiges Weitet man diese Art der Beitragsfestsetzung auf die ge- Abbruchunternehmen in der gesetzlichen Krankenversi- samte Bevölkerung aus, entsteht ein gigantischer Sub- cherung. ventionsbedarf, sofern man gewährleisten will, dass alle sich weiterhin eine Krankenversicherung leisten können. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Die genannten 20 Milliarden Euro für das Kopfpauscha- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der lenmodell der Union werden da bei weitem nicht ausrei- LINKEN) chen. Wer könnte so etwas nun attraktiv finden? Da gibt es Hinzu kommt der ganze schöne Verwaltungsapparat, bestimmt welche. Zum einen die privaten Krankenver- der dadurch entsteht, dass alle, die diese Prämie nicht sicherungsunternehmen. Ihnen erschließt sich auf ein- (B) zahlen können, Anträge stellen müssen. Es würden An- mal ganz umsonst ein großer Markt. Sie dürfen die (D) träge über Anträge gestellt. Dies wäre eine monströse ganze Bevölkerung versichern, ohne irgendetwas an ih- Bürokratie. rem Geschäftsmodell ändern zu müssen. Für das, was die Leute nicht bezahlen können, also die durch alte und (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kranke Versicherte entstehenden Kosten, geht die Rech- NEN]: Bürokratieabbau?) nung an den Bundeshaushalt. Gratuliere, FDP! Das ist wohl der Weg, den Sie wollen. Zudem freuen sich sicher die Arbeitgeber, wenn sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, an weiteren Steigerungen der Kosten im Gesundheitswe- bei der SPD und der LINKEN) sen nicht beteiligt werden, sondern dies nur zulasten der Versicherten geht. Natürlich freuen sich auch solche Tatsächlich ist es doch so: Angesichts der Rekordver- Ärztinnen und Ärzte, die in wohlhabenden Regionen schuldung wird jede Bundesregierung in den nächsten und Stadtteilen tätig sind; denn durch die Reduzierung Jahren die Aufgabe haben, die Konsolidierung des Bun- des Leistungskataloges auf das vermeintlich wirklich deshaushalts ganz oben auf der Tagesordnung anzusie- Notwendige würde ja der Anteil der Leistungen wach- deln. Wer aber in dieser Situation den Zugang weiter Be- sen, die man dann zu den höheren privatärztlichen völkerungsteile von ebendiesem Bundeshaushalt mit Gebührensätzen extra abrechnen kann. Rekordverschuldung abhängig macht, stellt letztlich die Gesundheitsversorgung von Millionen Menschen zur Diesem Zweck dient ja auch Ihre Absicht, anstelle der Disposition. Wir hätten Jahr für Jahr im Bundestag da- Sachleistung das Kostenerstattungsprinzip einzufüh- rüber zu entscheiden, wie die Gesamtsumme der Sub- ren und mit, wie Sie so schön sagen, „intelligent ausge- ventionen ausfallen soll. Jedes Jahr würden wir wieder stalteten Selbstbeteiligungslösungen“ zu verbinden. Das überlegen, wie die steigenden Ausgaben für diese Zu- lohnt sich für Ärztinnen und Ärzte mit zahlungskräftiger schüsse im Bundeshaushalt unterzubringen sind. Das Kundschaft. Nur die anderen schauen dann wiederum in würde natürlich ständig zu weiteren Leistungskürzungen die Röhre. führen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der NEN]: So ist es!) LINKEN) Es ist ja nicht so, dass die FDP gar nicht daran ge- Das heißt also: Die FDP umreißt in ihrem Antrag ein dacht hätte; denn Sie wollen den Leistungskatalog in Krankenversicherungssystem, in dem sich private Kran- der gesetzlichen Krankenversicherung auf das, wie es so kenversicherer, eine Ärztearistokratie und auch gutver- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22115

Birgitt Bender (A) dienende und gesunde Versicherte so richtig wohlfühlen rung stärken und nicht schwächen. Die Bürgerversiche- (C) können. rung ist die Alternative, nicht Ihr Modell. (Heinz Lanfermann [FDP]: Sie werden noch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN bei der Linkspartei landen, wenn Sie so weiter- sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- machen, Frau Kollegin!) KEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Also doch der Gesundheitsfonds!) Das geschieht aber, Herr Lanfermann, zulasten derjeni- gen, für die die Krankenversicherung vor allem da sein Es wäre doch aberwitzig, wenn wir unser Krankenversi- sollte: cherungssystem ausgerechnet jetzt schleifen würden, wo in den USA Barack Obama nicht zuletzt deswegen ge- (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Richtig!) wählt wurde, weil er eine Krankenversicherung für alle für die Kranken, für die Geringverdienenden, für Men- versprochen hat. schen, die Sozialleistungen beziehen. Diese müssen bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ihnen nämlich damit rechnen, dass die Zuschüsse zu den sowie bei Abgeordneten der SPD und der LIN- Krankenversicherungsbeiträgen gekürzt und ihre Leis- KEN) tungsansprüche ausgedünnt werden. In Zukunft müssten sie sich vor jedem Arztbesuch überlegen, ob sie so viel Lassen Sie uns die Stärken des jetzigen Systems aus- Geld haben, die Rechnungen vorab zu begleichen; denn bauen und seine Schwächen abschaffen, indem wir uns das Kostenerstattungsprinzip bedeutet ja nichts anderes. von der Zweiklassenmedizin, von der Trennung in ge- Dazu kann ich nur sagen: Der derzeitige Zustand in US- setzliche und private Krankenversicherung, abwenden, Amerika lässt grüßen. Das kann unser Weg nicht sein. indem wir die Bürgerversicherung und damit gleiche Spielregeln für alle einführen und das Ganze nachhaltig (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN finanzieren. Was wir nicht brauchen, ist Luxusmedizin und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der für wenige und Schrumpfmedizin für viele. Das ist nicht LINKEN) unser Weg. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, hier (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein sehr ernsthaftes Wort: Sie fordern in Ihrem Antrag sowie bei Abgeordneten der SPD) die Abschaffung des Gesundheitsfonds. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dafür waren Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Sie bisher auch!) Das Wort hat jetzt die Kollegin Annette Widmann- Mauz von der CDU/CSU-Fraktion. (B) Durch ihn werde die Krankenversicherung zu einem (D) Spielball wechselnder bundespolitischer Interessen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Wohl wahr, Herr Kollege Bahr. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Da haben wir Annette Widmann-Mauz (CDU/CSU): eine Einigkeit!) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beschäftigen uns heute mit einem Antrag der FDP, mit Was wird aber Ihr Antrag bewirken? Besteht Ihrer dem sie die Bundesregierung auffordert, das Fünfte Ansicht nach die einzige Alternative zum Gesundheits- Buch Sozialgesetzbuch komplett neu zu fassen. fonds darin, das Solidarsystem vollständig abzuschaffen und durch eine Privatversicherung zu ersetzen, die nur (Zurufe von der FDP: Richtig!) für Teile der Ärzteschaft, für Versicherungskonzerne und Im Grunde will die FDP also die gesetzliche Kranken- Gesunde attraktiv ist? versicherung in ihrem Kern abschaffen. Dazu sage ich (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Quatsch! Risi- Ihnen: Das brauchen wir ganz bestimmt nicht. kostrukturausgleich! – Gegenruf der Abg. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sowie der Abg. Elke Ferner [SPD]) NEN]: Natürlich!) Die Menschen in unserem Land haben die jüngste Re- Das wäre eine Ewigkeitsgarantie für den Gesundheits- form in weiten Teilen noch nicht einmal richtig ange- fonds; denn dann würde man sich für das kleinere Übel nommen. Sie ist bei vielen auch noch nicht wirklich an- entscheiden. gekommen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Zurufe von der FDP) Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ich bin auf Ihre Vorschläge gespannt, Frau Bender!) Die ersten Kinderkrankheiten sind noch nicht einmal überstanden, da wollen Sie schon wieder alles umkrem- Machen wir uns doch nichts vor: Bei der Bevölkerung peln, alles durchschütteln und erneut auf Weltreise ge- in Deutschland genießt das Prinzip, dass man Beiträge hen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, Menschen nach der eigenen Leistungsfähigkeit zahlt und man sind keine Objekte, die sich von Jahr zu Jahr, beliebig Leistungen nach Bedarf bekommt – je nachdem, wie oft, von der einen in die andere Ecke stellen lassen. Das stark krank man ist –, eine große Akzeptanz. Was wir tun geht nicht. Die im Gesundheitswesen beschäftigten müssen, ist Folgendes: Wir müssen das Solidarprinzip Menschen und die Versicherten, die Patientinnen und durch eine Ausweitung auf die jetzige Privatversiche- Patienten, haben eine Phase der Konsolidierung und der 22116 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Annette Widmann-Mauz (A) Verlässlichkeit verdient. Auf dieser Grundlage muss das aber Sie sagen überhaupt nichts dazu, wie und in wel- (C) System weiterentwickelt werden. Darum muss es gehen. chem Umfang sie aufgebaut werden soll: kollektiv, indi- Wir dürfen nicht für Verunsicherung in unserem System viduell, im Bestand oder nur für die Neuzugänge, mit sorgen. welcher zusätzlichen Beitragsbelastung? Wir würden gern von Ihnen einfach einmal hören, was bei Ihrem (Beifall bei der CDU/CSU) Konzept auf die Menschen zukommen soll. Sie reden zwar viel über Transparenz – darüber steht auch viel in Ihrem Antrag –, aber Sie werden diesem An- Sie sagen an einer anderen Stelle, Sie wollten das spruch noch nicht einmal in Ihrem eigenen Antrag ge- Sachleistungsprinzip aufheben und über das Rechnungs- recht. Sie wollen die GKV abschaffen, das Gesundheits- legungsprinzip zum Kostenerstattungsprinzip kom- wesen komplett privatisieren und vereinheitlichen, Sie men. Das hört sich wunderbar an. Sie sagen aber nicht, wollen eine Bürgerversicherung mit einer Bürgerprä- dass damit jede Rechnung für alle Versicherten in unse- mie, aber Sie trauen sich noch nicht einmal, das auszu- rem Land nach der privatärztlichen Gebührenordnung sprechen. Das kann ich mir erklären: Sie wollen allen gestellt wird. Sie sagen nichts darüber aus, was dies für gefallen. Darum wählen Sie schöne Worte und reichen die Beiträge bedeutete, und Sie sagen schon gar nicht, das Kleingedruckte später nach. Vielleicht wollen Sie wie Sie die Kostenentwicklung im Griff halten wollen. auch nur kräftig wedeln, weil Sie wissen, dass die ver- (Frank Spieth [DIE LINKE]: Gnadenlose antwortungsbewussten Menschen in diesem Land das Abzocke!) am Ende wieder austarieren und korrigieren werden. Sie wissen es eigentlich besser. Die Prämiensteigerun- Sie wollen die Privatisierung der Krankenkassen, ei- gen im privatärztlichen System betrugen in den letzten nen einheitlichen Versicherungsmarkt, einkommensun- Jahren im Durchschnitt 10 Prozent pro Jahr. Wie wollen abhängige Beiträge, und Sie sprechen von Kontrahie- Sie das finanzieren, wo sind Ihre Antworten an dieser rungszwang. Sie haben aber überhaupt nichts zur Stelle? Risikoeinstufung bei der Prämienkalkulation gesagt. Für die Bürgerinnen und Bürger ist das aber eine ent- Es kann natürlich auch sein, dass Sie dies nicht wol- scheidende Frage; denn hier geht es darum, ob man trotz len, weil Sie sagen, die Kostensteigerungen seien sonst Vorerkrankungen einen bezahlbaren Versicherungs- viel zu hoch. Aber dann müssen Sie hier schon eine ehr- schutz erhalten kann oder nicht. Oder habe ich Sie miss- liche Antwort auf die Frage geben, ob Sie für die Öff- verstanden? nungsklausel in den Gebührenordnungen für Ärzte (Heinz Lanfermann [FDP]: Mit Sicherheit!) und Zahnärzte sind. Dazu schweigen Sie sich aus. Schaf- fen Sie Klarheit; dann wissen auch Ihre Wählerinnen Vielleicht wollen Sie ja gar keine Risikoeinstufung. und Wähler, was auf sie zukommt. Das aber tun Sie wie- (B) (D) Dann wollen Sie also den PKV-Basistarif für alle? Den der einmal nicht. haben Sie in letzter Zeit aber immer kritisiert. Was wol- len Sie jetzt eigentlich? (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sie haben eine Hilfe für die sozial Schwachen vor- Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Es gibt ja auch gesehen, die die Prämien nicht mehr zahlen können. noch andere Modelle, Frau Widmann-Mauz!) Aber Sie sagen natürlich nichts darüber aus, bei wel- chem Eurobetrag die Zumutbarkeit endet und die Unzu- Ich kann auch über andere Themen sprechen. Sie wol- mutbarkeit beginnt. An welchem Prozentsatz des Ein- len einen Risikostrukturausgleich mit einfacheren Kri- kommens wollen Sie das festmachen? Sie sagen hier terien. schon zum zweiten Mal nicht, woher Sie das Geld neh- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Den wollten men wollen und welche Milliardensummen Sie brau- Sie auch immer, Frau Widmann-Mauz!) chen, und das in der größten Wirtschaftskrise, die unser Land seit dem Zweiten Weltkrieg überhaupt erlebt. Die Morbiditätsorientierung kritisieren Sie. Jetzt sagen Sie mir aber einmal, lieber Herr Bahr, welche Aus- Sie haben sich natürlich viele Gedanken darüber ge- gleichskriterien Sie wollen. Wollen Sie nur Alter und macht, woher das Geld kommen kann, und sprechen von Geschlecht? Wollen Sie auf die Aufnahme von Krank- der Auszahlung und Festschreibung des Arbeitgeber- heitskosten verzichten? Was schlagen Sie denn vor? Das beitrags. Sie bleiben uns aber auch hier eine Antwort alte System hat doch gerade dazu geführt, dass der Run auf die entscheidende Frage schuldig. Die Frage der Ver- auf die Jungen, gut Verdienenden und Gesunden ausge- steuerung ist aus meiner Sicht nicht entscheidend. Viel brochen ist. Das führte am Ende dazu, dass mehr für entscheidender ist doch, wie Sie diese Beträge auch bei Wellnesswochenenden als für medizinische Behandlun- neuen Verträgen und beim Arbeitgeberwechsel sichern gen ausgegeben wird. Genau diese Themen waren also wollen. Wollen Sie, die Sie doch sonst die Vertragsfrei- falsch angesprochen. Morbiditätsorientierung ist richtig; heit so hoch einschätzen, in die Tarifautonomie eingrei- ein paar Krankheiten weniger tun es auch. Aber Sie blei- fen? Wie wollen Sie denn dieses Niveau dauerhaft si- ben jede Antwort schuldig, wie Sie es besser machen chern? – Keine Antworten auf entscheidende Fragen, die wollen. bei einem solchen Konzept gestellt werden müssen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Sie reden zu Recht von mehr Kapitaldeckung; Ein weiteres Lieblingsthema der FDP ist der Leis- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Immerhin!) tungskatalog. Ich kann es wirklich langsam nicht mehr Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22117

Annette Widmann-Mauz (A) hören. Sie reden – Frau Kollegin Bender hat schon da- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) rauf hingewiesen – wieder einmal von der Reduzierung Das Wort hat jetzt der Kollege Daniel Bahr von der auf das „medizinisch wirklich Notwendige“. Was verste- FDP-Fraktion. hen Sie denn darunter? Ist die palliativmedizinische Ver- (Beifall bei der FDP – Frank Spieth [DIE sorgung in den letzten Lebenstagen medizinisch wirklich LINKE]: Antrag zurück!) notwendig oder nicht? Ist die geriatrische Rehabilitation medizinisch wirklich notwendig oder nicht? Ist die Be- Daniel Bahr (Münster) (FDP): handlung von psychiatrischen Erkrankungen medizi- nisch wirklich notwendig oder nicht? Sagen Sie es uns! Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Bürger verstehen nicht mehr, was im Ge- Sie schlagen die Reduzierung des Leistungskatalogs vor. sundheitswesen vor sich geht. Wir wollen wissen, wo und für welche Betroffenen. (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- NEN]: Die FDP auch nicht!) neten der SPD) Sie merken, dass die gewohnt gute Qualität der medizi- Sie reden unter der Überschrift „Subsidiarität“, ein nischen Versorgung nachlässt. wichtiges Prinzip, vor allen Dingen von der Eigenver- (Beifall bei der FDP) antwortung der Patientinnen und Patienten, der Versi- cherten. Das Wort Selbstverwaltung im Gesundheits- In ihrer Apotheke erhalten sie einmal dieses, einmal je- wesen habe ich in Ihrem gesamten Antrag nicht ein nes Arzneimittel, je nachdem mit welchen Firmen Ra- einziges Mal gelesen. Haben Sie sie mittlerweile abge- battverträge abgeschlossen worden sind. schrieben? (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wer ist denn der Apothekenbeschützer? (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Die haben Sie Das sind doch Sie!) kaputt gemacht!) In den Krankenhäusern müssen sie zum Teil lange war- Oder passt sie mittlerweile schon gar nicht mehr in Ihr ten, bis jemand kommt, um ihnen zu helfen. Bei Hilfs- System, in dem nach Ihrer Vorstellung der freie Markt mitteln dürfen sie nicht mehr zum Belieferer ihrer Wahl und das freie Spiel der Kräfte alles regeln werden? Wir gehen, sondern die Krankenkassen bestimmen, auf wen wollen nicht, dass Krankenkassen in Zukunft den medi- sie zurückgreifen dürfen. zinischen Bedarf bestimmen. Wir wollen kein Heraus- kaufen, keine Rosinenpickerei, sondern wir wollen eine (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Herr Bahr, wer unterstützt denn die (D) (B) flächendeckende Versorgung durch freiberuflich tätige Apotheken?) Fachärzte und durch Krankenhäuser. Ihre Vorstellungen, Ihre Rosinenpickerei lehnen wir schlichtweg ab. Die Patienten werden durch die Politik der schwarz-ro- ten Bundesregierung gegängelt. Sie werden zunehmend (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- in eine standardisierte Schablone gepresst. neten der SPD) (Beifall bei der FDP) Ich will zum Schluss ein letztes Prinzip, das Ihnen Die aktuelle Gesundheitspolitik raubt ihnen mehr und und uns wichtig ist – in vielen Zielen sind wir uns einig –, mehr ihre Selbstbestimmung, gemeinsam mit ihrem herausgreifen. Therapeuten eine Behandlung zu vereinbaren, die bei ih- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Also nen den besten Erfolg verspricht. Das deutsche Kranken- versicherungssystem ist durch die letzten Reformen der doch! Ich hatte schon das Gefühl, Sie gehören schwarz-roten Bundesregierung, aber auch der rot-grü- zur SPD! Sie reden wie eine Sozialdemokra- nen Bundesregierung deutlich in Richtung eines zentra- tin!) listischen staatsgesteuerten Einheitskassensystems ver- Sie wollen mehr Vertrauen in das System bringen. Da schoben worden. haben Sie recht. Das Misstrauen unter den Beteiligten ist (Beifall bei der FDP – Ernst Burgbacher der Humus, auf dem die Bürokratie gedeiht. Das ist die [FDP]: Das ist die Tatsache!) schwierigste Aufgabe. Denn Vertrauen in das System können Sie weder durch Anträge noch per Gesetz ver- Das letzte Reformgesetz hieß Wettbewerbsstärkungs- gesetz. Da dachte man, dass mehr Wettbewerb das Ziel ordnen, sondern es muss gegenseitig erarbeitet werden. war. Schauen wir uns einmal an, wie der Wettbewerb jetzt Darin besteht die große Bewährungsprobe für alle Ver- aussieht. Sie haben einen Einheitsbeitragssatz für alle antwortlichen im Gesundheitswesen: für uns Politiker, Krankenkassen beschlossen. Den Wettbewerb um die Bei- für Ärzte, für alle Leistungserbringer, für die Kranken- tragsautonomie, um den Zusammenhang zwischen Bei- kassen, für die Patientinnen und Patienten und Versi- trag und Leistung einer Versicherung, haben Sie kaputt cherten. Daran zu arbeiten, lohnt sich im Interesse der gemacht. Wir haben jetzt auf der Beitragsseite eine Ein- Menschen in unserem Land. heitskasse, und auf der Leistungsseite ist es ähnlich. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: neten der SPD) Stimmt nicht!) 22118 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Daniel Bahr (Münster) (A) Denn was ist denn durch den Fonds passiert? Die men, was sie bisher bekommen haben, oder Zuzahlun- (C) Krankenkassen haben Zusatzleistungen gestrichen: gen verlangt werden? Auslandsschutzimpfungen wurden gestrichen, Sozial- (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Auch das wird psychiatrievereinbarungen, Hausarztverträge und Onko- schlimmer bei Ihnen!) logievereinbarungen wurden gekündigt. Das heißt, in Wahrheit bringen Sie hier die Umsetzung der sogenann- Das sind die Folgen der Politik, die Sie gemacht haben. ten Bürgerversicherung auf den Weg, also nichts anderes Davon wollen Sie ablenken. als eine staatlich gelenkte Einheitskasse. Das ist die Poli- tik, die Sie als Ministerin machen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP) Wir, die FDP, wollen ein Gesundheitssystem, bei dem die Versicherten im Mittelpunkt stehen. Die Bürger müs- Hier wird gesagt, die FDP wolle unfairen Wettbe- sen weitgehende Wahlfreiheit haben, wie sie ihren werb. Schauen wir uns einmal an, wie der Wettbewerb Versicherungsschutz gestalten. Vertragsfreiheit, Thera- aussieht, den Sie gestalten. Sie bewirken einen Wettbe- piefreiheit und freie Arztwahl sollten selbstverständlich werb, bei dem Krankenhäuser, Krankenkassen und Ärzte sein. ein Interesse daran haben, dass Deutschland – zumindest (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Reden Sie jetzt statistisch gesehen – kränker wird. Denn dann bekom- doch endlich einmal über Ihren Antrag! Wir men sie mehr Geld. Das ist das perverse System, das Sie sind doch schon so gespannt!) geschaffen haben. Wir wollen ein leistungsfähiges Gesundheitswesen mit (Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: mehr Wahlfreiheit, Wettbewerb und Eigenverantwor- Schwachsinn!) tung. Es kommt nicht mehr Geld in der Versorgung an. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Geben Heute lesen wir in der Zeitung – Sie sagen ja, dass Sie Sie doch auch einmal Antworten auf unsere mit dem Fonds einen Wettbewerb der Krankenkassen Fragen! Oder haben Sie etwa keine?) geschaffen haben –, dass die Berliner jetzt ein Schreiben Wir wollen nicht, dass die Verantwortung dafür an zen- der AOK Berlin bekommen, das ein schönes Angebot tralistische staatliche Organisationen abgegeben wird. enthält. Sie wollten ja einen Wettbewerb der Kranken- Wir appellieren an die Eigenverantwortung der Versi- kassen, eine bessere Versorgung erreichen. cherten. Dafür wollen wir die richtigen Anreize geben. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Ihr wollt doch (Beifall bei der FDP – Annette Widmann- (B) Wettbewerb!) Mauz [CDU/CSU]: Ach was! Das sind alles (D) In dem Schreiben heißt es, dass AOK-Versicherte in nur Floskeln! Das sind doch keine Antworten Berlin vier Erholungstage im Viersternehotel Ramada auf die Fragen, die wir gestellt haben! – Elke Wismar für nur 199 Euro buchen können; dabei würden Ferner [SPD]: Diese Eigenverantwortung kann sie 100 Euro sparen. Die Barmer Ersatzkasse hatte für sich nur nicht jeder leisten!) ihre Versicherten – Sie wollten ja Wettbewerb der Kran- Frau Ferner, Sie haben viel über Solidarität gespro- kenkassen untereinander – eine Angebotsaktion im Pro- chen. gramm, in dessen Rahmen sie bei Karstadt satte Rabatte auf Einkäufe bekamen. (Elke Ferner [SPD]: Allerdings! Solidarität ist ja auch wichtig! Die „Solidarität“, die Sie wol- (Ernst Burgbacher [FDP]: Unglaublich!) len, kann sich aber längst nicht jeder leisten!) Das hat nichts mit einem Wettbewerb um bessere Ver- Auch für uns Liberale ist Solidarität eine wichtige Kate- sorgung, günstigere Tarife und um innovative Lösungen gorie und eine Voraussetzung für ein leistungsfähiges zu tun; in Wahrheit bereiten Sie hier die Einheitskasse Gesundheitswesen. vor. (Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Wodarg (Beifall bei der FDP) [SPD]: Sie und Solidarität? Das läuft bei Ihnen Das ist doch kein Wettbewerb um bessere Versorgung. doch unter Marketing! – Weitere Zurufe von der SPD: Oh! – Das ist aber neu! – Seit wann (Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: Das würde bei denn das?) Ihnen noch viel schlimmer werden!) Frau Ferner, wissen Sie eigentlich, dass Sie ein verkürz- Dass Sie alle hier über die Auswirkungen der tes Verständnis von Solidarität haben? Reform gar nicht sprechen wollen, dass Sie sich nur mit (Elke Ferner [SPD]: Ach was! Dass ich nicht la- unseren Ideen auseinandersetzen, zeigt, dass Sie ein che! Das müssen ausgerechnet Sie sagen!) schlechtes Gewissen haben. Sechs Wochen nach der Umsetzung des Gesundheitsfonds wollen Sie gar nicht Eine Versicherung ist eine Solidargemeinschaft. Es ist über die Fehler der Reform sprechen. Das spüren die die Aufgabe einer Versicherung, zwischen den Kranken Leute. Warum gibt es denn Massendemonstrationen in und den Gesunden, die für die Kranken einstehen, einen Bayern, Herr Zöller? Warum gibt es Unruhe in den Pra- Ausgleich zu schaffen. Das tut jede Versicherung. Das xen, weil bestimmte Patienten nicht mehr das bekom- Solidarprinzip, das dem zugrunde liegt, und den solidari- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22119

Daniel Bahr (Münster) (A) schen Ausgleich zwischen Jung und Alt wollen wir na- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) türlich beibehalten. Genau diese Solidarität machen Sie Bitte, Frau Bender. kaputt. (Beifall bei der FDP – Dr. Wolfgang Wodarg Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): [SPD]: Solidarität im Golfclub!) Herr Kollege Bahr, Sie sagten, die FDP wolle am Solidaritätsprinzip festhalten. Die Politik, die Sie betreiben, ist eine Politik zulasten der kommenden Generationen. Sie schieben die Lasten (Elke Ferner [SPD]: Ach! Die wissen doch gar auf die kommenden Generationen und versprechen nicht, wie „Solidarität“ geschrieben wird! – mehr, als Sie halten können. Ich frage Sie: Wer soll das Weiterer Zuruf von der SPD: Alles Lippenbe- in Zukunft bezahlen? Wenn Sie so vorgehen, wird es zu kenntnisse! Das kennt man doch von denen!) Konflikten kommen. Diese Aussage verträgt sich nicht mit dem Inhalt Ihres (Elke Ferner [SPD]: Ihre Definition von „Soli- Antrags. darität“ ist nach unserem Verständnis höchst unsolidarisch, Herr Kollege!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der LINKEN) Wenn die Beitragszahler in Zukunft vor der Entschei- dung stehen, entweder Beiträge in Höhe von 25 Prozent Klären Sie mich bitte auf, wo die Solidarität bleibt, zu zahlen oder ihren Leistungsanspruch rationieren zu wenn Sie den Ausgleich zwischen Gesunden und Kran- lassen, werden sie die Solidarität aufkündigen. Frau Fer- ken im Rahmen des Krankenversicherungssystems ab- ner, wer wird unter einer Politik, die diesem Verständnis schaffen! Das fordern Sie ja ausdrücklich. Sie wollen, von Solidarität folgt, leiden? Wer wird unter einem Um- dass die Höhe der Prämien je nach Krankheit variiert. lagesystem, das zur Folge hat, dass die Menschen von (Heinz Lanfermann [FDP]: So ein Quatsch! der Hand in den Mund leben müssen, und mit dem die Das steht in unserem Antrag doch überhaupt Lasten auf die kommenden Generationen geschoben nicht drin! Sie erzählen uns hier einen vom werden, leiden? Pferd!) (Elke Ferner [SPD]: Erklären Sie doch einmal, Klären Sie mich bitte auch auf, wo die Solidarität welche Maßnahmen Ihrer Meinung nach not- bleibt, wenn der Ausgleich zwischen Gering- und Bes- wendig wären!) serverdienenden aus dem Krankenversicherungssystem herausgenommen und auf die Ebene der steuerlichen Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Subventionen verlagert wird! (B) Herr Kollege Bahr. (D) Klären Sie mich bitte auch auf, was Sie im Generatio- nenmaßstab unter Solidarität verstehen, wenn Sie ange- Daniel Bahr (Münster) (FDP): sichts der Rekordverschuldung des Bundes ein solch gi- Lassen Sie mich diesen Gedanken bitte noch kurz zu gantisches Subventionsprogramm fordern! Ende führen. – Unter einem solchen staatlichen Einheits- kassensystem werden nicht die Reichen leiden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – [FDP]: Frau Bender ist der Beleg (Elke Ferner [SPD]: Wo, bitte schön, gibt es dafür, dass PISA überall ist!) denn bei uns ein „staatliches Einheitskassen- system“?) Daniel Bahr (Münster) (FDP): Sehen Sie sich einmal die Situation in Großbritannien Frau Kollegin Bender, vielen Dank für Ihre Fragen. oder Spanien an. Sie geben mir nämlich die Möglichkeit, meine kurze Re- (Elke Ferner [SPD]: Wir leben in Deutschland, dezeit etwas zu verlängern, indem ich auf Ihre Fragen Herr Kollege!) eingehe. Dort kann man beobachten, dass sich die Reichen eine Wir von der FDP wollen die Solidarität zwischen bessere Versorgung leisten können. Unter einer solchen Kranken und Gesunden, zwischen Jungen und Alten und staatlichen Einheitskasse leiden die sozial Schwachen zwischen Einkommensstarken und Einkommensschwa- und die Mittelschicht. Diese Menschen haben nämlich chen. keinen hinreichenden finanziellen Spielraum, um sich eine Zusatzversorgung zu leisten. (Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LIN- KEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der FDP) NEN – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja interessant! Jetzt bin ich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: wirklich gespannt, wie Sie den Bogen zu Ih- Herr Kollege Bahr, erlauben Sie eine Zwischenfrage rem Antrag hinkriegen! – Frank Spieth [DIE der Kollegin Bender? LINKE]: Wo steht das denn in Ihrem Antrag?) Aber die Frage ist: Muss diese Solidarität durch prozen- Daniel Bahr (Münster) (FDP): tuale Krankenversicherungsbeiträge gewährleistet wer- Wenn Sie die Uhr anhalten, gerne. den? Ich frage Sie: Ist die Finanzierung der gesetzlichen 22120 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Daniel Bahr (Münster) (A) Krankenversicherung bzw. ist der Einkommensaus- (Beifall bei der FDP – Zurufe von der CDU/ (C) gleich gerecht? CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Die Bäckereifachverkäuferin, von der Frau Ferner ge- sprochen hat, Sie haben im Zusammenhang mit der Solidarität zwi- schen Jungen und Älteren auch nach der Kapitalde- (Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ckung gefragt. Was die Kapitaldeckung angeht, Frau NEN]: Warum reden Sie denn immer von Frau Kollegin Bender, muss ich Ihnen ein Lob aussprechen. Ferner? Erläutern Sie uns doch mal Ihren An- Mit der Riester-Rente haben Sie in der Altersvorsorge trag! Wie lange sollen wir denn noch warten?) den Einstieg in die Kapitaldeckung gemacht. Die Frage, zahlt mit ihrem prozentualen Beitrag zur gesetzlichen die Sie mir stellen, ist nun: Wie kann diese Solidarität Krankenversicherung – sie hat keine Wahlmöglichkeit, zwischen den Generationen auf die Gesundheitsversor- sondern ist in der GKV zwangsversichert – für die Fami- gung übertragen werden? lie des Generaldirektors mit, der davon profitiert, dass (Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und seine Familie mit mehreren Kindern kostenlos in der ge- dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) setzlichen Krankenversicherung mitversichert ist. Was für die Altersvorsorge nicht falsch war – auf Ka- (Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: pitaldeckung zu setzen, weil wir eine alternde Bevölke- Das stimmt so doch überhaupt nicht! – rung haben –, kann doch auch für die Gesundheitsver- Dr. Wolfgang Wodarg [SPD]: So ein Unsinn!) sorgung nicht falsch sein. Warum schaffen Sie nicht den Der Einkommensausgleich, den Sie vorschlagen, ist Erkenntnisgewinn, das auch auf die Gesundheitsversor- auf ein Lohneinkommen in Höhe von etwa 3 500 Euro gung zu übertragen? begrenzt. (Beifall bei der FDP – Frank Spieth [DIE (Elke Ferner [SPD]: Beherrschen Sie eigent- LINKE]: Das ist in dem einen Bereich so lich die Grundrechenarten? – Volker Schneider falsch wie in dem anderen!) [Saarbrücken] [DIE LINKE]: Was für ein Un- Auch im Gesundheitssystem brauchen wir eine Kapital- sinn!) deckung. Wir haben allerdings schon ein System, das für den Aus- Hier wurde pauschal und diffamierend von Amerika gleich zwischen Einkommensstarken und Einkommens- gesprochen. Als ob wir amerikanische Verhältnisse woll- schwachen da ist: das Steuer- und Transfersystem. ten! Wir schlagen eine Pflicht zur Versicherung vor. (B) (Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jeder muss Anspruch auf eine Krankenversicherung ha- (D) NEN]: Sehr interessant! Fragen Sie einmal die ben. Es darf eben nicht so sein wie in Amerika, dass Bürger, was die davon halten!) viele gar nicht versichert sind. Wir brauchen keine neuen Systeme. Frau Bender, der (Elke Ferner [SPD]: Die Versicherungspflicht Gesundheitsfonds darf nicht zu einem neuen Finanzamt haben wir längst!) werden, das die Mittel noch mehr als bisher umverteilt. Schauen Sie in die Niederlande – die Niederlande Dafür gibt es bereits Systeme. Beim Wohngeld zum Bei- sind nicht dafür bekannt, unsozial zu sein –: In den Nie- spiel wurde bewusst ein System geschaffen, das dafür derlanden gibt es eine Pflicht zur Versicherung; übrigens sorgt, dass diejenigen, die die Unterstützung der Gesell- nur bei privaten Versicherungen. schaft brauchen, diese Unterstützung auch erhalten. Je- der Einzelne trägt dazu in Abhängigkeit von der eigenen (Elke Ferner [SPD]: Wo steht das denn in Ih- Leistungsfähigkeit bei. rem Antrag?) (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ich lebe im Münsterland; eine Fluchtbewegung von den NEN]: Ach! Das wollen Sie doch in Wirklich- Niederlanden nach Nordrhein-Westfalen, weil das Sys- keit überhaupt nicht! – Markus Kurth [BÜND- tem in den Niederlanden als unsozial wahrgenommen NIS 90/DIE GRÜNEN]: Was für ein Ziel würde, kann ich jedoch nicht feststellen. Diffamieren Sie verfolgen Sie denn in Wahrheit?) dieses System also nicht! Das ist der Unterschied zwischen dem, was Sie wollen, (Beifall bei der FDP) und dem, was wir wollen. Sie verfolgen mit Blick auf die gesetzliche Krankenversicherung nicht das Ziel einer Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: gerechteren Einkommensumverteilung. Herr Kollege Bahr, erlauben Sie eine weitere Zwi- (Iris Gleicke [SPD]: Dieses Beispiel ist wirk- schenfrage? lich absoluter Schwachsinn!) Daniel Bahr (Münster) (FDP): Gerechter ist unser Modell: Trennung von Beiträgen und Ich habe nur noch eine Minute und würde gerne Versicherungsleistungen, Einrichtung eines Prämiensys- meine Punkte zu Ende ausführen. tems und Umverteilung von Einkommensstarken zu Ein- kommensschwachen dort, wo es treffsicher ist, nämlich (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE über das Steuer- und Transfersystem. LINKE]: Bringen Sie es zu Ende!) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22121

Daniel Bahr (Münster) (A) Ich glaube, ich bin bei der Beantwortung der letzten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (C) Frage auf viele Punkte eingegangen. Ich erteile dem Kollegen Dr. Faust das Wort zu einer Kurzintervention. Sie haben das Thema Kostenerstattung angespro- chen. An diesem Thema sieht man, dass wir hier auch eine gesellschaftspolitische Debatte führen. Es geht Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): nämlich um die Frage, wie viel Mündigkeit wir den Bür- Lieber Herr Kollege Bahr, eine Frage bleibt auch gerinnen und Bürgern zutrauen. nach dem ausführlichen Studium Ihres Antrages offen. (Lachen bei Abgeordneten der SPD) (Elke Ferner [SPD]: Eine Frage nur?) 70 Millionen gesetzlich Krankenversicherte in Deutsch- – Es bleiben viele Fragen offen; aber ich habe nur Zeit land erhalten keine Arztrechnung, für sie ist nicht trans- für eine entscheidende Frage. parent, was für Leistungen sie nachfragen und wie diese Wie halten Sie es mit dem Krankheitsrisiko des Versi- Leistungen abgerechnet werden. cherten? Möchten Sie in die Versicherung einen Risiko- (Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: bezug aufnehmen oder nicht? Ohne einen Risikostruk- Aber eine Patientenquittung! – Dr. Wolfgang turausgleich kommen Sie bei der gesamten Problematik Wodarg [SPD]: Trotzdem werden sie bezahlt!) nicht weiter. Entscheidende Punkte fehlen also in Ihrem Antrag. Ich bitte Sie um Aufklärung, ob ein mit Krank- Diese 70 Millionen Menschen dürfen aber Kreditver- heit belasteter Versicherter einen höheren Beitrag zahlen träge abschließen, dürfen Lebensversicherungen ab- soll als ein gesunder und, wenn nein, wie Sie es dann mit schließen, ja sie dürfen sogar Kinder auf die Welt brin- dem Risikostrukturausgleich halten wollen und ob nicht gen und die Verantwortung für sie übernehmen. am Ende bezüglich dieser wichtigen Frage der normale Basistarif, den wir in der privaten Krankenversicherung (Elke Ferner [SPD]: Schlimmer geht es nicht schon eingeführt haben, Modell gestanden hat. mehr!) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Eine Arztrechnung zu prüfen und sie bei der Kranken- versicherung einzureichen, trauen Sie ihnen jedoch nicht zu. Daran sieht man, dass Sie von einem anderen Gesell- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: schaftsbild ausgehen als wir. Herr Kollege Bahr, zur Erwiderung. Bitte schön. (Beifall bei der FDP) Daniel Bahr (Münster) (FDP): (B) Zu einem Krankenversicherungssystem gehören na- Lieber Herr Kollege Faust, wenn Sie den Antrag le- (D) türlich intelligente Selbstbeteiligungen. Sie haben die sen, dann werden Sie dort die Antwort auf Ihre Frage Praxisgebühr eingeführt. Ist die Praxisgebühr eine intel- finden. ligente Selbstbeteiligung? Es weiß doch keiner, wofür er diese 10 Euro zahlt. Das ist eine Abkassiergebühr. Da (Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und sagen die Versicherten zu Recht: Ich habe eben 10 Euro der SPD) gezahlt. Was machen Sie damit? Dafür will ich wenigs- Wir haben den Risikostrukturausgleich nicht abge- tens geröntgt werden. – Wir brauchen eine Selbstbeteili- schafft, sondern wir haben gesagt, dass er auf das not- gung, die in einem Zusammenhang steht. Nur wenn die wendige Maß reduziert werden muss. Versicherten Transparenz haben im Hinblick auf die Leistungen, die sie nachfragen, werden sie bereit sein, (Elke Ferner [SPD]: Was ist denn das notwen- die Beiträge zu zahlen. dige Maß?) (Lachen bei Abgeordneten der SPD) Das genau ist die Kritik, die wir an dem morbiditäts- orientierten Risikostrukturausgleich üben, den Sie einge- Insofern glaube ich, dass Ihre Modelle – Praxisge- führt haben. Sie haben ja die Idee: Je mehr Krankheiten bühr, Einheitskasse, Gängelung; vor allem, Lasten im- wir dabei berücksichtigen, desto gerechter wird das Sys- mer weiter auf die kommenden Jahre zu schieben; aus- tem. ufernde Bürokratie, die den Versicherten die Wahl- und Therapiefreiheit nimmt – An der jetzigen Umsetzung dieser Reform sehen Sie, wie neue Ungerechtigkeiten entstehen, weil nur eine be- (Zurufe von der LINKEN) stimmte Anzahl von Krankheiten in diesem Risikostruk- turausgleich berücksichtigt wird. angesichts der Herausforderungen einer alternden Be- völkerung nicht die Lösung sind. Die Lösung ist die Um- (Elke Ferner [SPD]: Das wollte die Union so!) stellung auf Kapitaldeckung, ist das Setzen auf Eigen- verantwortung mit einem sozialen Ausgleich für die, die Damit gibt es Krankheiten erster und zweiter Klasse, die Unterstützung der Gesellschaft brauchen. Genau das weil die Krankenkassen plötzlich ein Interesse daran ha- schlagen wir Liberale vor. ben, nur diese Krankheiten, für die sie mehr Geld be- kommen, zu berücksichtigen. Herzlichen Dank. (Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt will er (Beifall bei der FDP) alle ausgliedern!) 22122 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Daniel Bahr (Münster) (A) Daneben haben sie plötzlich ein Interesse daran, mög- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem (C) lichst viele Versicherte diesen Krankheitsbildern zuzu- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Burgba- ordnen, um mehr Geld aus dem Gesundheitsfonds zu er- cher [FDP]: So ein Quatsch!) halten. Das ist ja mein Vorwurf: Statistisch gesehen Gelernt haben Sie auch nichts. In der Vorbereitung zu machen Sie Deutschland durch diese Reform in Wahr- dieser Debatte fiel mir ein Interview Ihres Vorsitzenden heit kränker. vom 11. Dezember 2008 im Stern ein. Dort wurde Herr (Beifall bei der FDP) Kollege Westerwelle gefragt: Hinsichtlich der Prämien haben wir klar gesagt, dass Ist Ihr Weltbild durch die Finanzkrise auf den Kopf unser Modell der dritte Weg zwischen der heutigen ge- gestellt worden? setzlichen Krankenversicherung und der heutigen privaten Antwort: „Nein“. – Es wurde weiter gefragt: Krankenversicherung ist. Unser Modell ist der dritte Weg zwischen der sogenannten Bürgerversicherung – letztlich Die freien Finanzmärkte kollabieren – und für den der Einheitskasse – und einer einheitlichen Kopfpau- Marktanhänger Westerwelle ändert sich nichts? schale. Mit unserem Modell sehen wir eine Pflicht zur Antwort: „Nein“. Versicherung vor, und jeder, auch derjenige mit einer Vorerkrankung, hat einen Anspruch auf einen Versiche- Mit Ihrem Antrag, einen Angriff auf die gesetzliche rungsschutz zumindest im Umfang der Regelleistungen. Krankenversicherung zu starten und die gesamte Ge- sundheitsversorgung in ein kapitalgedecktes System zu (Beifall bei der FDP – Elke Ferner [SPD]: Mit überführen, zeigen Sie, dass Sie nichts gelernt haben, oder ohne Risikoprüfung? Männer anders als nicht einmal in Zeiten, in denen alle Menschen merken, Frauen?) dass man dem Kapitalmarkt nicht alles anvertrauen kann. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Ulla der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/ Schmidt. DIE GRÜNEN] – Daniel Bahr [Münster] (Beifall bei Abgeordneten der SPD) [FDP]: Wollen Sie jetzt die Riester-Rente ab- schaffen, Frau Schmidt?) Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: Das, was Sie hier vorlegen, ist ein Angriff auf das Herz- Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen stück unseres Sozialstaates; und Kollegen! Herr Bahr, ich hätte Ihnen gerne noch län- (B) (Beifall bei der SPD) (D) ger zugehört; denn je länger Sie reden, desto deutlicher wird, was tatsächlich in dem Antrag steht. Zu Beginn denn die medizinische Versorgung für alle, also unab- hatte ich schon befürchtet, Sie würden nicht über den hängig vom Einkommen, zeichnet unseren Sozialstaat Antrag reden, weil Sie lieber darüber schweigen, was da- und auch das europäische Modell aus. Sie wollen hier mit im Einzelnen verursacht wird. das bisherige amerikanische Modell einführen. Ich bleibe dabei. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Frank Spieth Auch Ihre letzte Antwort ist sehr bezeichnend. Sie sa- [DIE LINKE]) gen, jeder werde versichert, aber auf die Frage des Kol- legen Faust, ob es risikoadjustierte Prämien gibt, ha- ben Sie geschwiegen. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Frau Ministerin, erlauben Sie eine Zwischenfrage des (Beifall der Abg. Britta Haßelmann [BÜND- Kollegen Bahr? NIS 90/DIE GRÜNEN]) Wohin risikoadjustierte Prämien führen, die für Men- Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: schen, die eine Vorerkrankung haben, nicht mehr bezahl- Nein. bar sind, kann ich Ihnen überall auf der ganzen Welt zei- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sehr schwach, gen. dass Sie meine Frage nicht zulassen!) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem Wenn man Sie fragt, was Sie eigentlich dazu treibt, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- dann müssten Sie sagen, dass das die Interessen Ihrer geordneten der LINKEN) Klientel und derjenigen sind, die Sie wählen. Die Sorge Herr Kollege, dadurch wird deutlich, was die FDP will um die Patientinnen und Patienten kann das aber nicht – das hat sie klar gesagt –, sein. Dabei geht es auch nicht um Kostenerstattung oder um Rechnungslegung. Wir alle haben nichts gegen (Frank Spieth [DIE LINKE]: So ist es!) Rechnungslegung. Wir haben ein neues, transparentes System eingeführt nämlich eine Spitzenmedizin für Wohlhabende und eine Armenversorgung für das Volk. Das ist und bleibt Ihre (Lachen des Abg. Daniel Bahr [Münster] Devise in der Gesundheitspolitik. [FDP]) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22123

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) und wollen auch, dass die Versicherten wissen, was eine dafür sorgt, dass die Frage, wo man eine gute Versor- (C) Leistung kostet. Das bewirken wir im Moment durch die gung bekommt, wenn man krank ist, nicht davon ab- Umstellung des Honorarsystems. Wir wollen aber nicht hängt, ob man viel Geld oder wenig Geld hat. Das wer- das Kostenerstattungsprinzip, Herr Kollege. den wir nicht zulassen. Wir werden dafür streiten, dass dieses System in unserem Land erhalten bleibt, weil es (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten das Kernstück ist. der LINKEN) (Beifall bei der SPD und der LINKEN) Liebe Kollegen von der FDP, eines ist auch klar: Heute hat jeder Bürger und hat jede Bürgerin in Deutschland Zugang zu einer medizinischen Versorgung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: auf der Höhe des medizinischen Fortschritts, und zwar Frau Ministerin, erlauben Sie jetzt eine Zwischen- durch die Leistungen der gesetzlichen Krankenversiche- frage? rung. Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: Wenn Sie das Kostenerstattungsprinzip wollen, dann Lassen Sie mich jetzt weiter zur Sache sprechen. sagen Sie den Menschen doch auch, was das bedeutet. Das heißt, die Kreditkarte zu zücken, wenn man zum Arzt geht. Etwas anderes ist das nicht. Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wenn Sie die Kollegen persönlich ansprechen, dann (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem sollten Sie ihnen auch eine Zwischenfrage erlauben. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Quatsch!) Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: Man muss die Rechnung bezahlen und sich dann mit der Gut. Das ist Ihr Kollege. Ich verstehe das, Herr Präsi- Versicherung darüber streiten, was erstattet wird und dent. was nicht erstattet wird. Deshalb wird zu Recht von de- (Widerspruch bei der FDP) nen, die gegen Ihre Vorschläge sind, die Frage aufgewor- fen, wie denn ein Durchschnittsverdiener in Deutsch- Vielleicht darf man aber auch eine Rede zu Ende hal- land, dessen Verdienst bei rund 1 700 Euro netto liegt, ten. – Bitte schön. eine Transplantation bezahlen soll. Soll er mit bis zu (Zurufe) 30 000 Euro für einen Herzschrittmacher in Vorleistung treten? Muss man erst bezahlen, bevor man ins Kranken- haus gehen darf? Was alles muss sonst noch vorgelegt Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: (B) werden? Das hat damit nichts zu tun, Frau Kollegin. (D) Nein, die Spitzenmedizin und die medizinische Ver- (Iris Gleicke [SPD]: Das hat damit etwas zu sorgung für alle in Deutschland funktioniert nur deshalb, tun! Das ist nicht gerechtfertigt!) weil Menschen diese Leistungen erhalten, ohne dass sie Sie wissen das. Wenn Sie persönlich ansprechen, sollten in Vorleistung treten müssen. Sie auch eine Zwischenfrage erlauben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: GRÜNEN) Ich hatte die FDP angesprochen. Aber bitte. Sie von der FDP wollen ein bewährtes System zer- (Heinz Lanfermann [FDP]: Ich hatte mich schlagen. Gleichzeitig gehen Sie in der derzeitigen auch angesprochen gefühlt!) Situation einen weiteren Schritt, indem Sie den Bereich der Gesundheitsversorgung den Risiken der Finanzkrise Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: aussetzen wollen. Wir sind sehr froh darum, dass unser Herr Kollege Lanfermann. Gesundheitssystem sehr unanfällig für diese Krise ist. Sie hingegen holen die Krise rein. Wir könnten dann in (Elke Ferner [SPD]: Der neue Westerwelle!) eine Situation wie in den USA kommen, wo heute Rent- nerinnen und Rentner um ihre Rentenansprüche aus der Heinz Lanfermann (FDP): Kapitaldeckung bangen müssen. Frau Ministerin, stimmen Sie mir zu, dass es in Deutschland circa 8 Millionen Menschen, darunter circa Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir 4 Millionen Beamte, gibt, die privat versichert sind, von werden mit dem ganzen Herzblut kämpfen, das wir ha- denen die meisten keineswegs Großverdiener sind, son- ben: Menschen für Menschen. Das hat nichts damit zu dern Menschen mit ganz normalem oder oft sogar gerin- tun, dass man von der Hand in den Mund lebt. gem Einkommen, die alle nicht nach dem Sachleistungs- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das ist doch so prinzip, sondern nach dem Kostenerstattungsprinzip bei Umlagesystemen!) behandelt werden? Das heißt, diese Menschen bekom- men Rechnungen, die sie prüfen und einreichen können. Sondern das hat etwas damit zu tun, dass nur die Solida- rität aller, die Solidarität der Jungen mit den Alten, die Ist Ihnen bekannt, dass diese Menschen vor teuren Solidarität der Gesunden mit den Kranken, die Solidari- Behandlungen, deren Kosten sie schlecht verauslagen tät derer, die mehr haben, mit denen, die weniger haben, können, eine entsprechende Anfrage bei ihrer Versiche- 22124 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Heinz Lanfermann (A) rung einreichen können und die Versicherung dann Kos- kasse einführen zu können? Ich kann mir lebhaft vorstel- (C) tendeckung zusagt und die Kosten übernimmt, sodass len, wie das aussähe. Dafür brauche ich nicht viel Fanta- keineswegs – wie es vorhin schon falsch behauptet wor- sie. Dann würde von Kunden, von denen ein Arzt den ist – Menschen über ihre Leistungsfähigkeit hinaus befürchtet, sie könnten das Geld für die Behandlung in Vorleistung treten müssen? nicht aufbringen oder das Geld von der Versicherung würde nicht beim Arzt ankommen, Vorkasse verlangt, (Elke Ferner [SPD]: Das ist aber wenig ehe die Behandlung stattfinden kann. Das wollen wir Bürokratie!) nicht. Sind Sie deswegen etwa der Meinung, dass diese Mil- (Beifall des Abg. Dr. Wolfgang Wodarg lionen von Bürgern in Deutschland jetzt in Armut verfal- [SPD]) len oder geknebelt sind durch ein System, das Sie den anderen 70 Millionen Menschen vorenthalten wollen? Wir werden mit unserer ganzen Kraft dagegen kämpfen, dass so etwas in diesem Land eine Mehrheit findet. Denn (Beifall bei der FDP) das wäre das Ende unseres Sozialstaats.

Ulla Schmidt, Bundesministerin für Gesundheit: (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – Heinz Lanfer- Herr Kollege Lanfermann, bevor ich Ihnen antworte, mann [FDP]: Was ist jetzt mit der Antwort auf möchte ich mich zunächst bei dem Herrn Präsidenten meine Frage?) entschuldigen. Das war vorhin nicht in Ordnung. – Das ist die Antwort auf Ihre Frage. Herr Kollege Lanfermann, sicher werden auch Sie in Ihrer Eigenschaft als Abgeordneter deswegen ange- (Heinz Lanfermann [FDP]: Und die schrieben. Ist Ihnen bekannt, dass es viele Menschen Beamten?) gibt, die privat versichert sind, ihre Rechnungen einrei- chen und dann feststellen, dass das eine oder andere – Für die Beamten gilt das auch. Bekommen Sie solche nicht von der Versicherung bezahlt wird? Das nimmt im- Briefe nicht? Die Beamten haben aber zumindest die Si- mer mehr zu. cherheit, dass sie die Beihilfe bekommen. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das kennen Sie wollen ein ganzes Land privat mit risikoadjustier- die Gesetzlichen auch!) ten Prämien versichern. Sie wollen Kapitaldeckung einführen. Rechnen Sie das einmal hoch! Heute hat die Wie wäre denn die Situation, wenn wir das flächende- PKV für 10 Prozent der Versicherten Altersrückstellun- ckend einführen würden? Wie viele Menschen würden gen in Höhe von 130 Milliarden Euro. Das muss man (B) erst gar nicht zum Arzt gehen, weil sie die Rechnung be- auf 82 Millionen Menschen hochrechnen. Dann kommt (D) zahlen und anschließend einreichen müssen, aber nicht man bis auf zu 2 Billionen Euro. Wo sollen die 2 Billio- wissen, was sie zurückbekommen? nen Euro denn angelegt werden? In Deutschland, bei Lehman Brothers, oder was schlagen Sie vor? Ein System, wie wir es haben, ist wirklich ideal. Da- bei geht es nicht darum, dass wir nicht die Transparenz (Beifall bei der SPD) haben, dass der Versicherte weiß, welche Kosten entste- hen. Mit der Transparenz habe ich kein Problem. Ich will Wo soll das Geld denn hin? Nach Island? Ich kann das sie, und auch die Menschen wollen sie. Es geht darum, noch weiter ausführen. Wenn Sie mit diesem Geld die dass man nicht in Vorleistung treten muss, sondern si- deutsche Industrie aufkaufen wollen, so könnten Sie da- cher sein kann, nach einer Krankenhausbehandlung mit alle Dax-Unternehmen fünfmal bezahlen. Kommen nicht anschließend eine Rechnung seiner Krankenkasse Sie auf den Boden der Tatsache zurück! Die Kapitalde- oder des Krankenhauses zu bekommen, weil die Kran- ckung können wir in der Gesundheitsversorgung nicht kenkasse sie nicht bezahlt hat. Das ist ein Herzstück der gebrauchen. Klar ist auch: Selbst in den USA kommt gesetzlichen Krankenversicherung. Daran wollen wir keiner – nicht einmal die Republikaner – auf die Idee, nichts ändern; denn es ist die Voraussetzung dafür, dass die Kapitaldeckung in der Gesundheitsversorgung einzu- wir die nötige Infrastruktur und eine medizinische Ver- führen. Das sollte Ihnen zu denken geben. sorgung haben, an der jeder unabhängig vom Alter teil- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie haben kann. bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE (Heinz Lanfermann [FDP]: Was ist denn mit GRÜNEN) meiner Frage?) Ein anderer Punkt: Unsere gesetzliche Krankenversi- – Denn sonst muss man die Kreditkarte zücken. cherung, die bald 126 Jahre alt wird, ist gegründet wor- den, um Menschen gegen Lohnausfall bei Krankheit (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Man muss abzusichern und eine gute Versorgung der Versicher- doch keine Kreditkarte vorlegen! Das ist doch ten einschließlich der Familien für den Fall, dass ihr Er- Unsinn!) nährer krank wird, im Krankheitsfall sicherzustellen. Die gesetzliche Krankenversicherung hat sich bewährt. Sie Wie sähe es denn bei den Ärzten aus, wenn nicht nur hat zwei Kriege überstanden. 10 Prozent der Patientinnen und Patienten, sondern 100 Prozent privat versichert wären? Wie sähe es dann Die gesetzliche Krankenversicherung hat auch bei der mit der Vorkasse aus, wenn man schon jetzt glaubt, Vor- deutschen Wiedervereinigung dafür gesorgt, dass die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22125

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) Menschen über Nacht versichert waren. Was glauben als demokratischen und sozialen Bundesstaat ausge- (C) Sie, wie die privaten Krankenversicherungen dies ge- zeichnet hat und was in Art. 20 des Grundgesetzes steht. schafft hätten, wenn sie für 15 Millionen Menschen pri- Das ist für uns eine Verpflichtung. Daran werden wir vate Versicherungsverträge hätten abschließen müssen? nicht rütteln. Was wäre dann mit der Kapitaldeckung gewesen? Was hätten Sie gemacht, um dies zu finanzieren? In Ihrer Re- Die gesetzliche Krankenversicherung muss sicher- gierungsverantwortung sind auch die Gelder der Sozial- lich ständig weiterentwickelt werden. Wir brauchen Re- kassen dazu herangezogen worden, die deutsche Einheit formen und eine Antwort auf die Herausforderungen. zu finanzieren. Man kann vieles glauben. Aber dass Sie Unser Gesundheitswesen ist in all den Jahren unserer damals die Rücklagen der privaten Krankenversicherung Republik von sozialdemokratischen, konservativen und für die Finanzierung eingesetzt hätten, wie man es bei manchmal auch von liberalen Politikern mitgetragen den sozialen Sicherungssystemen gemacht hat, glaube worden. Meine Damen und Herren von der FDP, Sie hat- ich Ihnen nicht. ten Parlamentarier wie Dieter-Julius Cronenberg in Ihren Reihen, die auch als Liberale wussten, dass der Sozial- (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie staat einen Wert an sich hat. Ich bin davon überzeugt: bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE Jeder, der glaubt, dass man an dieses bewährte System GRÜNEN) die Axt anlegen kann, wird sich in diesem Land warm anziehen müssen. Ich bin sehr froh über Ihren Antrag, weil damit noch einmal deutlich wird, worin wir uns unterscheiden. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Ernst Burgbacher [FDP]: Das ist gut!) der LINKEN – Ernst Burgbacher [FDP]: Sie legen doch die Axt an!) Unsere Politik setzt auf Solidarität statt auf Ausgren- zung. Wir wollen, dass Menschen füreinander einstehen, Die Menschen mögen über das eine oder das andere statt dass jeder für seine individuellen Lebensrisiken pri- schimpfen, protestieren oder verärgert sein. Aber eines vat einstehen soll. Wir wollen nicht, dass das Guthaben möchten sie nicht – darin bin ich mir ganz sicher –: auf der Bank entscheidend dafür ist, ob man eine gute (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Dass Sie wei- medizinische Versorgung erhält. Was Sie in Ihrem An- terhin Gesundheitsministerin sind! Das möch- trag fordern, führt – es wurde bereits angesprochen – ten die Menschen wirklich nicht!) weg von dem, was unseren Sozialstaat auszeichnet, und was ihn für die Menschen in der ganzen Welt – auch für das bewährte Umlageprinzip aufgeben; denn sie haben Gesundheitsökonomen und Mediziner – so attraktiv erfahren, dass das Prinzip „Menschen für Menschen“ so- (B) macht, die sich anschauen, wie es die Deutschen schaf- zialer, besser und gerechter ist, als sich den Risiken des (D) fen, dass wir eine gute medizinische Versorgung haben. Kapitalmarktes auszusetzen. Es handelt sich um eine einzigartige Infrastruktur, die es nur deshalb gibt, weil die gesetzliche Krankenversiche- (Beifall bei der SPD und der LINKEN) rung mit ihren Verträgen dafür sorgt. Die Absicherung des sozialen Risikos Krankheit ist (Beifall bei der SPD) für uns Sozialdemokraten eine wesentliche Vorausset- zung für Freiheit, und zwar nicht irgendwann, sondern Unser Weg ist anders als Ihrer. Wir wollen keine Um- jetzt. Dabei ist Freiheit zugleich Weg und Ziel. Wir wol- stellung auf sogenannte leistungsgerechte Prämien. Da- len Freiheit, die durch soziale Gerechtigkeit ermöglicht rüber haben wir bereits 2005 debattiert. Drei Viertel der wird und in Solidarität mündet. Deshalb werden wir das Versicherten würden dann zu Antragstellern auf Sozial- bestehende Gesundheitswesen verteidigen. Wir werden leistungen. es zu einer Bürgerversicherung weiterentwickeln, in der alle Menschen zu gleichen Bedingungen einzahlen und (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Bei Ihnen werden ihre Krankenkasse frei wählen können, jede Kranken- sie zu Bittstellern einer Einheitskasse!) kasse jeden ohne Berücksichtigung des jeweiligen Risi- Es hat für mich etwas mit der Würde des Menschen zu kos versichern muss und es keine risikoadjustierten Prä- tun, wenn künftig drei Viertel unserer Bürgerinnen und mien gibt. Bürger Zuschüsse beantragen müssten. Ich habe dazu noch andere Fragen an Sie, meine Damen und Herren (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ von der FDP. Wie passt das alles denn zu Ihrer Steuer- DIE GRÜNEN) senkungsideologie? Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Gesundheitsver- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sorgung ist gegen die Krise gut geschützt. Für Experi- mente à la FDP sollte uns die gesetzliche Kranken- Sie geben vor, die Partei der Steuersenkungen zu sein, versicherung zu schade sein. Ich bin mir jedenfalls mit und brauchen dann 35 Milliarden Euro oder noch mehr dem Vorstandsvorsitzenden der Barmer Ersatzkasse, Jo- für das Gesundheitswesen. hannes Vöcking – und mit ihm bin ich durchaus nicht (Frank Spieth [DIE LINKE]: Die nehmen das immer einer Meinung –, in einem Punkt einig. Er hat ge- aus dem Steuersäckel, ist doch klar!) sagt – andere Vorstandsvorsitzende von Krankenkassen haben das ähnlich ausgedrückt –, die FDP-Pläne seien Nein, wir beschreiten einen anderen Weg. Wir behalten „ein Programm gegen den sozialen Frieden in unserem das bei, was die Bundesrepublik Deutschland 60 Jahre Land“. 22126 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Bundesministerin Ulla Schmidt (A) (Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie Es ist ein Glück, gesund zu sein. Es sollte dazu (C) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE verpflichten, mit denen, die weniger Glück haben, GRÜNEN) solidarisch zu sein. Wir brauchen eine gemeinsame Ver- antwortung für soziale Risiken. Wir brauchen kein unso- Herr Vöcking, der in Ihrer Regierungszeit eine hohe lidarisches Privatversicherungssystem, sondern eine so- Funktion im Kanzleramt innehatte, hofft, dass „die Wäh- lidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. lerinnen und Wähler bei der nächsten Wahl solche Vor- stellungen gründlich abstrafen“. Dem ist nichts hinzuzu- (Beifall bei der LINKEN) fügen. Wir brauchen ein präventives Gesundheitssystem Vielen Dank. – das ist die Herausforderung der Zukunft, von der ich anfangs sprach –, und wir brauchen unbedingt eine ge- (Beifall bei der SPD und der LINKEN – Da- sundheitsfördernde Gesamtpolitik. Den Blick dafür hat niel Bahr [Münster] [FDP]: Ihre Angst, nicht meines Erachtens das ganze Haus noch nicht. wiedergewählt zu werden, muss sehr groß sein, Frau Schmidt!) (Beifall bei der LINKEN) Ein Gesundheitssystem darf die sozial Benachteiligten Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: nicht von einer umfassenden Gesundheitsversorgung Als nächster Rednerin erteile ich das Wort der Kolle- ausschließen. Dabei knüpfe ich an die Debatte über das, gin Dr. Martina Bunge von der Fraktion Die Linke. was wirklich medizinisch notwendig ist, an. Ich denke, hier haben wir den Ausschluss von umfassender Ge- (Beifall bei der LINKEN) sundheitsversorgung. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das steht im Dr. Martina Bunge (DIE LINKE): SGB V! Sie haben nie beantragt, das zu än- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der dern!) Antrag zeigt sehr deutlich, wes Geistes Kind die FDP ist. Im Gegenteil: Wir müssen gerade den Menschen, die so- Der Antrag trägt meines Erachtens nicht unbedingt zu ei- zial benachteiligt sind, die gesellschaftliche Teilhabe er- ner ernsthaften Debatte über ein zukunftsfähiges, ge- möglichen und einen Ausgleich für die Benachteiligung rechtes und bezahlbares Gesundheitssystem bei. Die De- schaffen. batte zeigt: Wir alle fechten hier Abwehrkämpfe aus, es ist aber dringend notwendig, sich über die Zukunft des Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, Gesundheitssystems den Kopf zu zerbrechen. erwähnen in Ihrem Antrag mit keiner Silbe Prävention (B) oder Gesundheitsförderung. Sie haben offensichtlich de- (D) (Beifall bei der LINKEN) ren Bedeutung noch nicht wirklich – jetzt benutze auch Im Grunde zeigt Ihr Antrag vor allem, worum es Ih- ich dieses Wort – erkannt. nen nicht geht: Ihnen geht es nicht um die Gesundheit (Beifall bei der LINKEN) der Bürgerinnen und Bürger. Ihnen geht es darum, die viel beschworene Eigenverantwortung hervorzuheben. Dabei besteht nach Ansicht aller Fachleute akuter Hand- Sie soll auch bei Krankheit greifen. Besonders hier zeigt lungsbedarf. Schlimm ist, dass auch die Koalition in die- sich, wie absurd diese Vorstellung – an falscher Stelle ser Frage versagt. Uns in der Bundesrepublik fehlt drin- gedacht – ist. Diese Vorstellung blendet völlig aus, dass gender denn je ein Präventionsgesetz. Wir alle wissen Menschen bereits unterschiedlich gesund und mit unter- auch – deshalb mein Blick zur SPD –, woran das in die- schiedlichen Möglichkeiten auf die Welt kommen. Diese sem Haus liegt. Vorstellung blendet aus, dass Menschen in diesem Land Ebenso scheinen die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht im luftleeren Raum leben; sie leben in ganz realen zur sozialen Ungleichheit und zu ungleich verteilter Ge- gesellschaftlichen Verhältnissen. Wir wissen: Menschen sundheit vollends an der FDP vorübergegangen zu sein. mit geringerer Bildung leben kürzer als Menschen mit Ansonsten hätten Sie bemerkt, dass Sie mit Ihrer un- höherer Bildung, Ärmere leben kürzer als Reichere, Ar- sozialen Politik sogar gegen die Interessen Ihrer eigenen beitnehmerinnen und Arbeitnehmer leben kürzer als Ar- Wählerschaft verstoßen; beitgeber. Krankheit hat in den seltensten Fällen etwas mit Schuld zu tun, für die man Verantwortung überneh- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Glauben Sie, men könnte. Sie hat aber viel mit der sozialen Lage der die kennen Sie besser als wir?) Menschen zu tun, und die haben sich die Menschen zu- denn in Ländern mit besonders großen sozialen Un- meist nicht ausgesucht. gleichheiten ist die Gesundheit aller schlechter, also (Beifall bei der LINKEN) auch derer, denen es finanziell besser geht. Sie verwen- den andauernd die sinnentleerte Phrase, Solidarität sei Nach Ihrer Ansicht sollen die Menschen die Verant- keine Einbahnstraße, und verweisen auf die Eigenver- wortung dafür übernehmen, dass sie arm, krank oder bei- antwortung. Übersetzt heißt das für mich nichts anderes, des sind. Menschen für etwas zur Verantwortung heran- als die Solidarität aufzulösen. zuziehen, worauf sie keinen oder kaum Einfluss haben, ist einfach zynisch. Aber: Solidarität hält die Gesellschaft zusammen. Deshalb gelten für die Linke in der Gesundheitspolitik (Beifall bei der LINKEN) weiterhin die Grundsätze: Gesundheit ist ein Menschen- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22127

Dr. Martina Bunge (A) recht. Jeder gibt nach seinen Möglichkeiten, und jeder Dabei kann ich der Kritik, die Sie Ihren Ausführun- (C) erhält nach seinem Bedarf. Das wäre gelebte Solidarität. gen voranstellen, zumindest teilweise durchaus zustim- men. Sie beschreiben die Schwächen und Probleme un- (Beifall bei der LINKEN) seres jetzigen Systems weitgehend richtig und geben eine nicht ganz unzutreffende Analyse. Die Konsequen- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: zen, die Sie daraus ziehen, sind aber leider nur plakativ Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Rolf Koschorrek und populistisch. von der CDU/CSU-Fraktion. Tatsächlich bestreitet doch kaum jemand, dass unser (Beifall bei der CDU/CSU) Gesundheitswesen weiterer Reformen bedarf. Unter- schiedliche und teilweise konträre Auffassungen beste- hen sicherlich nur darüber, in welche Richtung diese Dr. Rolf Koschorrek (CDU/CSU): Strukturen geändert werden sollen. Weil die Notwendig- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen keit struktureller Veränderungen allgemein bekannt und und Kollegen! In der vergangenen Woche wurde uns in akzeptiert ist, beinhaltet die von uns in der Großen der Presse ein großes gesundheitspolitisches Konzept Koalition in dieser Legislaturperiode beschlossene Ge- der FDP in Aussicht gestellt. Dieses Konzept sollen wir sundheitsreform auch Strukturveränderungen, während nun heute hier im Bundestag empfangen. es in den vorausgegangenen Reformjahren eigentlich immer nur um verschiedene Varianten der Kostenbe- (Elke Ferner [SPD]: Nicht angekommen!) grenzung ging. Um es kurzzufassen: Ich bin sehr erstaunt – um nicht Das GKV-WSG führte den Wettbewerb unter den zu sagen: enttäuscht – darüber, dass der FDP nichts Bes- Krankenkassen ein und stellte die gesamte Finanzierung seres, vor allen Dingen nichts Konkreteres zur Gesund- – die Einnahme- wie die Ausgabenseite unseres Gesund- heitspolitik einfällt. heitssystems – auf eine solidere, zukunftsfestere Basis. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ich bin ge- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Ich glaube nicht, spannt, mal was über das Konzept der Union dass Sie das glauben, Herr Koschorrek!) zu hören!) Die Union will diese Strukturen durch konkrete, sauber – Das steht hier heute nicht zur Debatte. kalkulierte und rechtlich einwandfreie Maßnahmen nach (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Es gibt über- der Bundestagswahl mit einer neuen Mehrheit der bür- haupt kein Konzept der Union, oder was?) gerlichen Mitte sicherlich weiterentwickeln. Neben aller Kritik an Ihren grundsätzlichen Ausführungen, die sich (B) (D) Was die FDP uns hier vorlegt, ist kein gesundheits- bisher allem Konkreten verweigern, finden sich doch ei- politisches Programm und schon gar kein Konzept; es ist nige Punkte, die wir seitens der Union durchaus teilen. vielmehr eine Zusammenstellung von Allgemeinplätzen Zwei Beispiele möchte ich dafür nennen: und banalen Feststellungen. Es ist ein Wunschkonzert, Da ist zum einen das Prinzip der Subsidiarität. Es das Forderungen nahezu aller am System Beteiligten zu stellt eine der fundamentalen Grundüberzeugungen auch erfüllen versucht. Es gibt vor, dass bei seiner Umsetzung der Union dar und lautet: Die individuelle Verantwor- alle Wünsche und Erwartungen von allen am System Be- tung hat Vorrang vor staatlichem Handeln. Für das Ge- teiligten – von Patienten, Ärzten, Heilberuflern – erfüllt sundheitswesen heißt dies, dass der Einzelne wieder werden können. mehr Eigenverantwortung übernehmen muss, (Elke Ferner [SPD]: Insbesondere die Wünsche der (Frank Spieth [DIE LINKE]: Art. 1 des privaten Versicherungswirtschaft!) Grundgesetzes!) Dieses vermeintliche Konzept ist allseits gefällig. Es sowohl hinsichtlich der Prävention als auch der finan- hat nur einen entscheidenden Fehler: Sie stellen es nicht ziellen Beteiligung und der Wahlmöglichkeiten hinsicht- auf den Boden der Realität. lich der medizinischen Leistungen. Allerdings finde ich (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist in Ihrem Antrag kein Wort zu den Bedingungen, die da- es!) für erforderlich sind: die nötige Förderung von Transpa- renz, von Übersichtlichkeit in diesem System. Wenn ich Wer gute Ideen verkündet, sollte sich auch Gedanken Eigenverantwortung in einem System einfordere, dann darüber machen, wie sie zu verwirklichen sind, sollte ei- muss ich dafür sorgen, dass diejenigen, die ich in diese nen Plan haben, welche Maßnahmen in welcher Reihen- Eigenverantwortung stellen will, auch in der Lage sind, folge zur Realisierung zu ergreifen sind. Vor allem schei- das System zu verstehen. Dazu schweigen Sie sich völlig nen Sie überhaupt keinen Ansatz zu haben, wie das aus. rundherum perfekte System, das Sie sich hier vorstellen, (Beifall bei der CDU/CSU) finanziert werden soll. Sie scheinen auch keinen Ansatz- punkt dafür zu haben, welche Kosten aufgeworfen wer- Eine weitere Gemeinsamkeit – zumindest nach der den, welche Finanzierungsverschiebungen entstehen. Ich Überschrift – betrifft die Wertschätzung für den freibe- finde kein Wort zur Überwindung der erheblichen recht- ruflichen Heilberufler. Auch nach unserer Überzeugung lichen Hürden, die Ihren Weg sicherlich noch behindern – so steht es auch im Grundsatzprogramm der Union – werden. gehören die freie Arztwahl und die freien Gesundheits- 22128 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Rolf Koschorrek (A) berufe zum Kern eines freiheitlichen Gesundheitswe- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (C) sens, wie wir es in Deutschland haben wollen. Da be- neten der SPD – Daniel Bahr [Münster] steht zwischen uns sicherlich Einigkeit. [FDP]: Da können wir gegenseitig Papiere vorlegen!) Was Sie allerdings zur Finanzierung des ganzen Sys- tems vorschlagen, ist Ausdruck von Realitätsverlust. Sie haben kein Wort dazu gesagt, wie Sie die Prämien kal- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: kulieren wollen. Mehrere Nachfragen zur Risikoadjus- Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat tierung haben Sie unbeantwortet gelassen. Für mich ist jetzt das Wort der Kollege Jens Spahn von der CDU/ eindeutig: Bei Ihrem System – das als Zusammenfas- CSU-Fraktion. sung – steht der Basistarif für die gesamte Bevölkerung (Beifall bei der CDU/CSU) im Raum. Das ist ein Weg, den wir als Union mitzuge- hen nicht bereit sind. Jens Spahn (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU – Frank Spieth Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei- [DIE LINKE]: Mittelstandsverarmungspro- nes finde ich schon bemerkenswert, Herr Kollege Bahr: gramm! Man braucht nur in die USA zu gu- Sie beantragen eineinhalb Stunden Debatte zu Ihrem An- cken!) trag und wundern sich fortwährend darüber, dass wir Ih- Zur Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven ren Antrag und alles, was an Unschärfe darin enthalten brauchen wir mehr Wettbewerb der Anbieter im Ge- ist, in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellen. sundheitswesen. Mit unserer Gesetzgebung der letzten (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Kein Jahre haben wir eindeutig diesen Weg eingeschlagen. Problem!) Gleichzeitig kann es nicht darum gehen, den Kräften Dann hätten Sie nicht beantragen dürfen, ihn heute zu des Marktes durch Angebot und Nachfrage freies Spiel behandeln, schon gar nicht in dieser Länge. zu gewähren. Es ist klar, dass wir seitens der Gesund- heitspolitik lenkend und regulierend eingreifen müssen, (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- um die Qualität der Gesundheitsversorgung in unserem neten der SPD) Land zu gewährleisten. Für den Patienten, den Versi- Die Debatte über einen solchen Antrag beinhaltet na- cherten und den Kunden muss die Wahlmöglichkeit zwi- türlich die Chance, Schnittmengen – der Kollege Ko- schen Ärzten und Anbietern auf dem Gesundheitsmarkt schorrek hatte schon auf einige hingewiesen –, aber auch gewährleistet bleiben. Wir verhindern, dass unser Ge- Trennendes aufzuzeigen, wenn es etwa darum geht, das (B) sundheitssystem in die Hand von Konzernen fällt, wo, Wettbewerbs- und Kartellrecht auch im Gesundheitsbe- (D) losgelöst von den Verpflichtungen und vom Ethos der reich konsequent anzuwenden oder eine Kapitalrücklage Heilberufler, rein kommerzielle Interessen zählen. einzuführen. Wenn Sie nach der Wahl tatsächlich Regierungsver- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!) antwortung übernehmen wollen Frau Ferner, „Kapitalrücklage“ heißt per definitionem: (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Letztes Mal sparen, um für die Kosten in der Zukunft vorzusorgen. lag es an Ihnen!) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Es geht und auch in der Gesundheitspolitik ein Wörtchen mitre- doch!) den möchten, müssen Sie mehr bieten und können nicht nach Art reiner Opportunisten nur Fundamentalkritik Herr Kollege Koschorrek hat gerade gesagt, dass es auch vorbringen. Es reicht nicht, dass die Abschaffung des darum geht, die Freiberuflichkeit in den Mittelpunkt zu Gesundheitsfonds die zentrale Forderung der FDP in den stellen. Koalitionsverhandlungen sein soll, so wie Sie als ge- (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Endlich hören sundheitspolitischer Sprecher es in der letzten Woche im wir das mal wieder von der CDU!) Handelsblatt verkünden ließen. Denn das wollen wir: freiberuflich tätige Ärzte – nicht (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: Das Ärzte, die als Angestellte Dienst nach Vorschrift ma- wissen die auch!) chen, von 8 bis 16 Uhr –, wie sie heute mit großem Da gehören schon konkretere Pläne und Vorstellungen Engagement im Land unterwegs sind. Es gibt also viele auf den Tisch. Es reicht nicht, eine Reihe guter Ideen zu Chancen, Gemeinsamkeiten zu finden. haben; Sie müssen auch sagen, wie diese Ideen in die (Beifall bei der CDU/CSU – Daniel Bahr Realität umgesetzt werden können. [Münster] [FDP]: Endlich hören wir so etwas (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist mal wieder von der Union! Das haben wir es!) lange vermisst!) Wir und die Wähler haben ein begründetes Interesse Wenn ich gerade beim Thema Ärzte bin – Sie haben daran, etwas genauer zu erfahren, was die FDP will, was das auch im Zusammenhang mit den Vergütungen ange- sie für realistisch hält und vor allem was es kostet. sprochen –: Es gibt in diesem Jahr mit 30 Milliarden Euro einen enormen Zuwachs bei der ärztlichen Ver- Vielen Dank. sorgung. Gleichzeitig ist überall das Gefühl vorhanden, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22129

Jens Spahn (A) dass für die Versorgung weniger zur Verfügung steht. (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha! Es gibt ja (C) Wir müssen in diesem Hause deutlich machen, dass wir kein Konzept der Union!) die Selbstverwaltung in der Verantwortung sehen, Aber das Problem ist, dass Sie das nicht klar sagen. Da- (Elke Ferner [SPD]: So ist das!) durch, dass Sie so diffus und unpräzise in Ihren Aussa- gen bleiben, liefern Sie denjenigen im Hause, die etwas wenn es darum geht, Verteilungsprobleme in den Griff ganz anderes wollen, eine ideale Vorlage. Das haben Sie zu bekommen, aber auch die Bundesregierung in der ja an den heutigen Reden gesehen. Das hat den Tenor der Verantwortung sehen, Frau Ministerin, wenn es darum Debatte heute bestimmt. Dass das in Ihrem Antrag nicht geht, das, was wir als Gesetzgeber zur Honorarordnung klarer dargestellt wird, finde ich schade. gewollt haben, gemeinsam mit den Selbstverwaltungs- gremien jetzt auch auf den Weg zu bringen. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Sie haben sich Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: andauernd eingemischt und Vorgaben ge- Herr Spahn, erlauben Sie eine Zwischenfrage des macht!) Kollegen Bahr? Es geht aber auch darum, Herr Kollege Bahr, zu schauen, wo es nicht ganz so passt im Antrag. Darin Jens Spahn (CDU/CSU): heißt es sinngemäß, man solle mit mehr Kreativität Effi- Ja, klar. Immer. zienzreserven heben. Das klingt gut. Gleichzeitig sagen Sie: Rabattverträge sind furchtbar. Ausschreibungen und Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Wettbewerb zwischen den Ärzten, das geht gar nicht. Da Bitte schön. muss man sich schon entscheiden. Wenn man ein biss- chen mehr Kreativität fordert, muss man das auch ir- Daniel Bahr (Münster) (FDP): gendwie ausfüllen. Gleichzeitig lehnen Sie aber alles ab, was wir in den letzten Jahren an neuen Strukturelemen- Herr Kollege Spahn, Sie haben der FDP vorgeworfen, ten in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeführt im Diffusen zu bleiben. In der Ärzte Zeitung werden al- haben. Diese hatten gerade das Ziel, Effizienzreserven lerdings Sie, Herr Kollege Spahn, mit der Aussage zi- zu heben, und zu erreichen, dass man im Arzneimittelbe- tiert, reich, etwa im Generikamarkt, im Sinne der Patienten dass der Union momentan eine „Leitidee“ in der und für die Versorgung der Patienten noch Geld heraus- Gesundheitspolitik fehle. holt. (B) (Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) Beim Wettbewerb muss man immer einen Spagat NEN]: Das ist keine Frage, sondern eine Ant- machen. Wettbewerb ist immer unübersichtlich, eben wort!) weil es verschiedene Angebote gibt, zwischen denen Sie haben in schönen Worten gesagt, was Sie sich man wählen muss. Die Krankenkassen haben nämlich vorstellen. Gleichzeitig lesen wir an vielen Stellen, dass nun die Möglichkeit, Verträge mit unterschiedlichen Ra- Sie sich von der Prämienfinanzierung der gesetzlichen batten abzuschließen und unterschiedliche Ausschrei- Krankenversicherung verabschieden wollen. Können Sie bungen zu machen. Ein Gesundheitssystem mit Wettbe- mir einmal erklären, wie jetzt der Stand der Dinge bei werb ist natürlich unübersichtlicher als eines mit einer der Union ist? Einheitskasse. Trotzdem wollen wir Wettbewerb. Es ist aber völlig diffus, wenn Sie einerseits Uneinheitlichkeit ablehnen, aber andererseits fordern, Effizienzreserven zu Jens Spahn (CDU/CSU): heben. Beides zusammen geht in diesem Bereich nicht. Ich kann Ihnen erstens erklären – das wissen Sie aus eigener Erfahrung –, dass das mit Zitaten in Zeitungen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- immer so eine Sache ist. neten der SPD) (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Aha!) Ich verstehe ehrlich gesagt auch nicht, warum Sie sich Zum Zweiten möchte ich festhalten: Sie stellen sich hier weigern, im Rahmen dieser Diskussion klar zu sagen, in hin und behaupten, Sie hätten das Konzept für die Zu- welcher Form und Höhe Prämien erhoben werden sol- kunft. Sie beantragen dazu eine Debatte über anderthalb len. Ich unterstelle Ihnen gar nicht, dass Sie eine risiko- Stunden im Deutschen Bundestag und füllen seit Tagen äquivalente Prämie wie in der privaten Krankenversiche- die Zeitungen mit dem „Gegenmodell der FDP“. Fragt rung fordern, dass also der Kranke mehr als der Gesunde man dann aber, nachdem man sich das genauer ange- zahlen muss. Aber wenn Sie das nicht wollen, bleibt als schaut hat, hier konkret nach, wie das genau aussehen Ihr Konzept nur noch die Bürgerprämie à la Rürup und soll, kommt nichts. Hier liegen Anspruch und Wirklich- anderer übrig. keit einfach nicht nahe genug beieinander. (Annette Widmann-Mauz [CDU/CSU]: So ist (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- es!) NIS 90/DIE GRÜNEN) Das kann man wollen. Das ist okay. Ich sehe darin sogar Außerdem habe ich bei der Veranstaltung zum eine gute Basis für eine Diskussion. Gesundheitsfonds im Übrigen auch gesagt, dass es 22130 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Jens Spahn (A) darum gehen muss, den Gesundheitsfonds weiterzuent- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 d, 24 (C) wickeln. Allerdings zu behaupten, der Gesundheitsfonds sowie Zusatzpunkte 3 a bis 3 d auf: an sich würde in den nächsten zwei bis drei Jahren wie- 33 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- der abgeschafft, ist unrealistisch; das wissen Sie selber, Michael Goldmann, Christian Ahrendt, Gisela auch wenn Sie in Ihren Reden etwas anderes fordern. Piltz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der (Daniel Bahr [Münster] [FDP]: Das wollen FDP Ihre eigenen Leute! Herr Söder will ihn ab- Nationale Küstenwache schaffen schaffen!) – Drucksache 16/8543 – Sicher ist nicht alles perfekt. Bei einer Weiter- und Fortentwicklung geht es deshalb zum Beispiel um die Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f) Fragen, ob die Begrenzung des Zusatzbeitrages auf Auswärtiger Ausschuss 1 Prozent sinnvoll ist, wie der Risikostrukturausgleich Innenausschuss weiterentwickelt werden kann und wie das Verhältnis Rechtsausschuss zwischen Steuergeldern und Gesundheitssystem grund- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Verteidigungsausschuss sätzlich aussehen soll. Insofern bin ich für eine Weiter- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit entwicklung des Fonds. Diese ist auf jeden Fall nötig. Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschuss Ich halte es auch für eine gute Diskussionsgrundlage, das alles unter dem Ziel der Einführung einer Bürgerprä- b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- mie zu diskutieren. Das eigentliche Problem ist aber, Michael Goldmann, Dr. Christel Happach-Kasan, dass Sie jetzt sofort den Totalumbau fordern, ohne genau Dr. Edmund Peter Geisen, weiterer Abgeordne- zu benennen, wie das vonstatten gehen soll. Mit solchen ter und der Fraktion der FDP Forderungen verunsichern Sie – das tun Sie ja mittler- Verbraucherfreundliche und praxistaugliche weile fast schon im Jahresrhythmus – 70 Millionen Ver- Lebensmittelkennzeichnung durchsetzen – sicherte und die Menschen, die im Gesundheitswesen tä- Verbots- und Bevormundungspolitik verhin- tig sind. Es ist also unrealistisch, in den nächsten zwei dern bis drei Jahren eine Totalreform zu machen. Man muss nämlich erst einmal die Dinge, die man beschlossen hat, – Drucksache 16/11671 – entsprechend wirken lassen. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Schließlich auch noch etwas zu Ihrer Aussage, Herr Verbraucherschutz (f) Lanfermann, dass Patienten Kunden seien. Man kann si- Ausschuss für Gesundheit (B) (D) cherlich Teilaspekte des Patientendaseins auch unter c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans- dem Kundenaspekt betrachten, aber zu sagen, Patienten Kurt Hill, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, seien Kunden weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE (Heinz Lanfermann [FDP]: Habe ich nicht LINKE gesagt!) Anreizregulierung im Strom- und Gassektor – haben Sie mehrfach gesagt, auch auf entsprechende nachbessern – Benachteiligung von städti- Nachfragen –, schen Versorgern verhindern (Heinz Lanfermann [FDP]: Nein! Ich habe – Drucksache 16/11878 – gesagt: „auch Kunden“!) Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) im Sinne eines Marktteilnehmers, der nachfragt, ist eine Ausschuss für Arbeit und Soziales zu radikale Formulierung, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Heinz Lanfermann [FDP]: Was lesen Sie denn d) Beratung des Berichts des Ausschusses für Bil- da wieder?) dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss) gemäß § 56 a der Geschäftsord- die auch leider nicht konsequent zu Ende gedacht ist. nung Das taugt vielleicht für einen momentanen Höhenflug, aber das taugt mit Sicherheit nicht dazu, zu einer Volks- Technikfolgenabschätzung (TA) partei zu werden. TA-Projekt: Gendoping (Beifall bei der CDU/CSU – Daniel Bahr [Müns- – Drucksache 16/9552 – ter] [FDP]: Haben wir auch nicht vor!) Überweisungsvorschlag: Sportausschuss (f) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Innenausschuss Ich schließe die Aussprache. Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Drucksache 16/11879 an die in der Tagesordnung aufge- Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung und führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Technikfolgenabschätzung verstanden? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22131

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) 24 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rainder Faires Nachversicherungsangebot zur Verein- (C) Steenblock, Omid Nouripour, Winfried Nacht- heitlichung des Rentenrechts in Ost und West wei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion – Drucksache 16/11236 – BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Überweisungsvorschlag: Die Westeuropäische Union als überholtes Ausschuss für Arbeit und Soziales Konstrukt auflösen Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach- – Drucksache 16/11765 – ten Verfahren ohne Debatte. Überweisungsvorschlag: Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisun- Auswärtiger Ausschuss (f) gen: Das sind die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 d sowie Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f) Zusatzpunkte 3 a bis 3 d. Interfraktionell wird vorgeschla- Verteidigungsausschuss gen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Federführung strittig Ausschüsse zu überweisen, wobei die Vorlage auf Druck- ZP 3 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan sache 16/11376 – das ist der Zusatzpunkt 3 a – federführend Korte, Wolfgang Nešković, Sevim Dağdelen, bei dem Ausschuss für Arbeit und Soziales beraten werden weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE soll. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann LINKE sind die Überweisungen so beschlossen. Wir kommen nun zu einer Überweisung, bei der die Datenschutz für Beschäftigte stärken Federführung strittig ist: Tagesordnungspunkt 24. Inter- – Drucksache 16/11376 – fraktionell wird Überweisung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen betreffend die Westeuropäische Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Arbeit und Soziales (f) Union auf Drucksache 16/11765 an die in der Tagesord- Innenausschuss nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Frak- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie tionen der CDU/CSU und SPD wünschen Federführung Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und beim Auswärtigen Ausschuss, die Fraktion Bündnis 90/ Verbraucherschutz Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss für Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union die Angelegenheiten der Europäischen Union. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marion Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der Seib, Alexander Dobrindt, Michael Kretschmer, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen, also Feder- weiterer Abgeordneter und der Fraktion der führung beim Ausschuss für die Angelegenheiten der CDU/CSU Europäischen Union. Wer ist für diesen Vorschlag von (B) sowie der Abgeordneten Jörg Tauss, Willi Brase, Bündnis 90/Die Grünen? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (D) Ulla Burchardt, weiterer Abgeordneter und der gen? – Der Überweisungsvorschlag ist bei Zustimmung Fraktion der SPD von Bündnis 90/Die Grünen und Ablehnung aller ande- ren Fraktionen abgelehnt. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuch- ses ausbauen Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD, Federführung beim – Drucksache 16/11883 – Auswärtigen Ausschuss, abstimmen. Wer stimmt für Überweisungsvorschlag: diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? – Ausschuss für Bildung, Forschung und Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist bei Ge- Technikfolgenabschätzung (f) genstimmen von Bündnis 90/Die Grünen mit den Stim- Innenausschuss men aller übrigen Fraktionen angenommen. Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 k sowie Ausschuss für Arbeit und Soziales Zusatzpunkt 4 auf. Es handelt sich um die Beschlussfas- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sung zu Vorlagen, zu denen keine Aussprache vorgese- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschuss hen ist. c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe Zunächst einmal Tagesordnungspunkt 34 a: Barth, Cornelia Pieper, Patrick Meinhardt, weite- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Gesetzes über den Bau und den Be- Entwicklungschancen für den wissenschaft- trieb von Versuchsanlagen zur Erprobung von lichen Nachwuchs schaffen Techniken für den spurgeführten Verkehr – Drucksache 16/11880 – – Drucksache 16/9899 – Überweisungsvorschlag: Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus- Ausschuss für Bildung, Forschung und ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Technikfolgenabschätzung (15. Ausschuss) d) Beratung des Antrags der Abgeordneten – Drucksache 16/11304 – Dr. Heinrich L. Kolb, Jan Mücke, Jens Acker- mann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Berichterstattung: der FDP Abgeordneter (Bayreuth) 22132 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- 16/8076 mit dem Titel „Innenstädte stärken – Koopera- (C) lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf tionen fördern – Städtebauförderung weiterentwickeln“. Drucksache 16/11304, den Gesetzentwurf des Bundesra- Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen- tes auf Drucksache 16/9899 abzulehnen. Ich bitte dieje- stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung nigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der FDP-Fraktion Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim- und Enthaltung von Bündnis 90/Die Grünen angenom- men der Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grü- men. nen gegen die Stimmen von FDP und den Linken abge- lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die Tagesordnungspunkt 34 c: weitere Beratung. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Tagesordnungspunkt 34 b: richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech- nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Bundesregierung richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (15. Ausschuss) Einhundertsiebenundfünfzigste Verordnung zur Änderung der Einfuhrliste – zu dem Antrag der Abgeordneten Peter Götz, Dirk Fischer (Hamburg), Dr. Klaus W. Lippold, – Anlage zum Außenwirtschaftsgesetz – weiterer Abgeordneter und der Fraktion der – Drucksachen 16/11614, 16/11718 Nr. 2.1, CDU/CSU 16/11779 – sowie der Abgeordneten Petra Weis, Klaas Hübner, Sören Bartol, weiterer Abgeordneter Berichterstattung: und der Fraktion der SPD Abgeordneter Ernst Burgbacher Die integrierte Stadtentwicklung weiter aus- Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- bauen lung auf Drucksache 16/11779, die Aufhebung der Ver- ordnung nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Be- – zu dem Antrag der Abgeordneten Patrick Dö- schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – ring, Gisela Piltz, Horst Friedrich (Bayreuth), Die Beschlussempfehlung ist bei Gegenstimmen der weiterer Abgeordneter und der Fraktion der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Frak- FDP tionen angenommen. (B) (D) Innenstädte stärken – Kooperationen för- Tagesordnungspunkt 34 d: dern – Städtebauförderung weiterentwi- ckeln Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz – Drucksachen 16/11414, 16/8076, 16/11875 – und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der Berichterstattung: Verordnung der Bundesregierung Abgeordnete Petra Weis Verordnung zur Änderung der Verordnung Peter Hettlich zur Begrenzung der Emissionen flüchtiger or- Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 1 seiner Be- ganischer Verbindungen beim Umfüllen und schlussempfehlung auf Drucksache 16/11875, den An- Lagern von Ottokraftstoffen – 20. BImSchV trag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD auf Druck- – Drucksachen 16/11719, 16/11818 Nr. 2, sache 16/11414 anzunehmen. Wer stimmt für diese 16/11897 – Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen Berichterstattung: der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Abgeordnete Andreas Jung (Konstanz) Enthaltung von FDP und Bündnis 90/Die Grünen ange- Detlef Müller (Chemnitz) nommen. Michael Kauch Lutz Heilmann Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick- Sylvia Kotting-Uhl lung hat in seine Beschlussempfehlung auf Druck- sache 16/11875 den Antrag der Fraktion der FDP auf Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- Drucksache 16/8076 zur Städtebauförderung miteinbe- lung auf Drucksache 16/11897, der Verordnung zuzu- zogen. Über die hierzu ergangene Beschlussempfehlung stimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – soll jetzt ebenfalls abgestimmt werden. Sind Sie mit die- Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp- sem Verfahren einverstanden? – Das ist der Fall. Dann fehlung ist bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die machen wir das so. Grünen mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen ange- nommen. Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be- schlussempfehlung auf Drucksache 16/11875 die Ableh- Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe- nung des Antrags der Fraktion der FDP auf Drucksache titionsausschusses. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22133

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Tagesordnungspunkt 34 e: Tagesordnungspunkt 34 j: (C) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 523 zu Petitionen Sammelübersicht 528 zu Petitionen – Drucksache 16/11771 – – Drucksache 16/11766 – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht 528 ist mit den Stimmen gen? – Die Sammelübersicht 523 ist einstimmig ange- der Koalitionsfraktionen und von Bündnis 90/Die Grü- nommen. nen bei Gegenstimmen von FDP und der Linken ange- nommen. Tagesordnungspunkt 34 f: Tagesordnungspunkt 34 k: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Sammelübersicht 524 zu Petitionen Sammelübersicht 529 zu Petitionen – Drucksache 16/11767 – – Drucksache 16/11772 – Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- gen? – Die Sammelübersicht 524 ist ebenfalls einstim- gen? – Die Sammelübersicht 529 ist mit den Stimmen mig angenommen. der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi- tionsfraktionen angenommen. Tagesordnungspunkt 34 g: Nun kommen wir zum Zusatzpunkt 4: Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales Sammelübersicht 525 zu Petitionen (11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Jürgen Trittin, Rainder Steen- – Drucksache 16/11768 – block, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (B) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- (D) gen? – Die Sammelübersicht 525 ist bei Enthaltung der Europäische Arbeitszeitrichtlinie – Hohen Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Frak- Arbeitnehmerschutz EU-weit sicherstellen tionen angenommen. – Drucksachen 16/11758, 16/11894 – Tagesordnungspunkt 34 h: Berichterstattung: Abgeordneter Michael Hennrich Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh- lung auf Drucksache 16/11894, den Antrag der Fraktion Sammelübersicht 526 zu Petitionen Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/11758 abzu- – Drucksache 16/11769 – lehnen. Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthal- tungen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP- gen? – Die Sammelübersicht 526 ist bei Gegenstimmen Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit den Stimmen Die Grünen und Enthaltung der Fraktion Die Linke. aller übrigen Fraktionen angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf: Tagesordnungspunkt 34 i: Beratung der Unterrichtung durch die Bundes- regierung Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions- ausschusses (2. Ausschuss) Fortschrittsbericht 2008 zur nationalen Nach- haltigkeitsstrategie Sammelübersicht 527 zu Petitionen – Drucksache 16/10700 – – Drucksache 16/11770 – Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun- Sportausschuss gen? – Die Sammelübersicht 527 ist mit den Stimmen Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und der Koalitionsfraktionen und der FDP-Fraktion bei Ge- Verbraucherschutz Verteidigungsausschuss genstimmen der Fraktionen Die Linke und Bündnis 90/ Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Die Grünen angenommen. Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 22134 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms (A) Ausschuss für Bildung, Forschung und (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (C) Technikfolgenabschätzung Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Nachhaltige Politik bedeutet, finanzielle Mittel mög- Entwicklung lichst effizient einzusetzen. Mit ökonomischen Stüt- Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union zungsmaßnahmen versuchen wir, die negativen Folgen der Krise für die Bürger und damit für die Gesellschaft Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für möglichst gering zu halten. Wir müssen die anstehenden die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. Gibt Probleme heute und möglichst schnell lösen. Nur nach- es Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so haltiges Handeln im nationalen und internationalen Rah- beschlossen. men, wozu wir beitragen möchten, kann künftige Krisen verhindern oder zumindest ihre Auswirkungen von An- Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- fang an abschwächen. Zu Recht fordert der Vorsitzende ner das Wort dem Kollegen Ernst Kranz von der SPD- des Rates für Nachhaltige Entwicklung, Volker Hauff, Fraktion. eine klare Weichenstellung für eine nachhaltige Wirt- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schaftsordnung, um deutliche Fortschritte bei der zu- der CDU/CSU) kunftsfähigen Umgestaltung unserer Wirtschaft zu errei- chen.

Ernst Kranz (SPD): Werte Kolleginnen und Kollegen, Sie sehen, hinter dem Begriff „Nachhaltigkeit“ verbirgt sich ein großes Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol- Aufgabenspektrum. legen! Vor vier Jahren haben wir uns genau an dieser Stelle mit dem ersten Fortschrittsbericht beschäftigt. Die Im Jahr 2002 hat sich die rot-grüne Bundesregierung Bundesregierung hat in diesem Fortschrittsbericht ihre auf bestimmte Kriterien und innerhalb dieser Kriterien Strategie der Nachhaltigkeit dargestellt. Wir haben da- auf Ziele festgelegt, um eine nachhaltige Entwicklung in mals nach kurzer Zeit – es war nach nur zwei Jahren; Deutschland messen zu können. Diese insgesamt 21 In- denn erst im Jahre 2002 ist diese Strategie in die Politik dikatoren sind sozusagen eine Messlatte für uns, an der der Bundesregierung implementiert worden – über die- wir ablesen können, ob und inwieweit wir uns auf den sen Bericht beraten. jeweiligen Politikfeldern auf den Weg der Nachhaltig- keit begeben haben. Wenn wir heute das Wort „Nachhaltigkeit“ hören, hat es einen ganz anderen Klang. Es wird meiner Meinung (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Sehr gut!) nach sogar inflationär gebraucht. Viele Begriffe wie zum Es ist wichtig, dass die heutige Generation gut leben Beispiel „Ökologie“, „dauerhaft“ und „transparent“ wer- (B) kann – das ist klar –, es muss aber auch ganz deutlich ge- (D) den unter dem Begriff „Nachhaltigkeit“ verstanden. Ich sagt werden, dass wir dadurch nicht die Möglichkeiten bin der Meinung, es geht hier um viel mehr, und das ist nachfolgender Generationen schon heute einschränken immer zu beachten. Es geht uns vor allem um eine vo- dürfen. rausschauende und über den Tellerrand der Ressorts hinausreichende Entscheidungspolitik. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Nachhaltigkeit umfasst drei Dimensionen: die ökolo- Das ist der Kern nachhaltiger Politik. gische, die soziale und die ökonomische Dimension. Auf die soziale Dimension will ich etwas ausführlicher ein- In dem nun vorliegenden „Fortschrittsbericht 2008 gehen. Wir müssen uns bei jedem Gesetzentwurf, den zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie“ zieht die Bun- wir verabschieden, und bei jeder Maßnahme, die wir da- desregierung Bilanz. In einigen Bereichen gibt es posi- durch auslösen, fragen, ob wir damit sicherstellen, dass tive Entwicklungen; das ist sehr zu begrüßen. Wir haben die Teilhabe aller Teile der Gesellschaft gewährleistet uns ehrgeizige Ziele gesetzt. Ich glaube, ohne diese ehr- und verbessert wird oder ob wir dadurch nicht sogar ein- geizigen Ziele wären wir in vielen Bereichen nicht so zelne Bürger und Gruppen ausgrenzen. Es ist wichtig, erfolgreich. Positives gibt es zum Beispiel aus den Be- dass wir mit all unseren Entscheidungen gleiche Chan- reichen Klimaschutz, regenerative Energien, Beschäfti- cen im persönlichen, sozialen und beruflichen Bereich gung, Ganztagsbetreuung von Kindern und aus dem Be- einräumen und dass die Kompetenzen all unserer Bürger reich Staatsverschuldung – zumindest bis zum Zeitpunkt in allen Bereichen zur Verfügung stehen und eingesetzt der Finanzkrise – zu berichten. Es gibt jedoch leider werden können. auch zahlreiche Indikatoren, die darauf hinweisen, dass wir uns auf vielen Gebieten zu langsam in die richtige Die soziale Dimension wird auch sichtbar, wenn wir Richtung bewegen. Das ist zum Beispiel im Bereich Mo- an die Auswirkungen der aktuellen Finanz- und Kon- bilität der Fall. Genauso gilt das für den täglichen Flä- junkturkrise denken. Hier müssen wir jetzt alle Kräfte chenverbrauch. Auf diesen Gebieten müssen wir noch bündeln, um einen Arbeitsplatzabbau in größerem Um- einiges erreichen. fang zu verhindern. Schon die Konjunkturprogramme (Iris Gleicke [SPD]: Das ist wohl wahr!) zeigen die Notwendigkeit einer ressortübergreifenden Zusammenarbeit. Meiner Meinung nach sollte genau Wir haben es aber auch mit Entwicklungen zu tun, die diese Zusammenarbeit, also das Denken über Ressort- das angestrebte Nachhaltigkeitsziel in weite Ferne rü- grenzen hinaus und vorausschauendes Denken, viel stär- cken lassen. Das gilt vor allem für die Bereiche Bildung, keres Gewicht in unserer Politik erhalten. Mobilität und Artenvielfalt. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22135

Ernst Kranz (A) Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregie- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (C) rung hat zum Thema nachhaltige Entwicklung Stellung bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE bezogen. An dieser Stelle möchte ich meine Meinung zu GRÜNEN) einem wesentlichen Thema äußern. Mir geht es um das Politikfeld „Erhaltung und Bewirtschaftung der natürli- Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: chen Ressourcen“ und dabei insbesondere um die Ele- Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Kauch von mentarressource Wasser. Ich finde, es ist bedauernswert der FDP-Fraktion. und nicht zu verstehen, dass Wasser als essenzielle Res- source nicht als Indikator im System verankert ist, wie (Beifall bei der FDP) das zum Beispiel bei der Luftqualität der Fall ist. Wasser spielt zwar für die Politik in Deutschland eine große Michael Kauch (FDP): Rolle, auf internationaler Ebene können wir aber viele Missstände feststellen. Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachhal- tigkeit ist kein Luxusthema für Schönwetterzeiten. Ge- Wasser ist mehr als nur Trinkwasser. Die Ressource rade in der Krise brauchen wir eine klare Orientierung, Wasser ist Grundlage für das Leben. Wasser dient als Le- an welchem Leitbild sich Politik ausrichten soll. Wir bensraum, Lebensmittel und Rohstoff. Die Deutsche brauchen eine soziale Marktwirtschaft, die langfristig Forschungsgemeinschaft bezeichnet Wasser als die tragfähig ist. Dazu gehören ökologische Verantwortung, wichtigste natürliche Ressource des 21. Jahrhunderts. wirtschaftliche Freiheit, Innovationskraft und soziale Zwar sind 71 Prozent der Erdoberfläche von Wasser be- Stabilität. Es geht um politische Rahmenbedingungen, deckt, aber nur 2,5 bis 3 Prozent des Gesamtwasservolu- aber auch um die Haltung von Akteuren in der Wirt- mens sind Süßwasser. Die meisten Süßwasservorkom- schaft und in der Gesellschaft. men wiederum sind in den Polkappen gebunden. Wenn wir uns das verdeutlichen, ist uns klar, wie effektiv bzw. Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie soll einen Leit- schonend wir mit dieser Ressource umgehen müssen. faden für eine möglichst parteiübergreifende Perspektive für die Zukunft unseres Landes bieten. Die Nachhaltig- Wasser bestimmt viele Bereiche unseres Lebens. keitsstrategie soll dem Denken in Wahlperioden eine Klima: Für das Klima ist Wasser ein bestimmender Fak- Absage erteilen und über den Wechsel der Regierungen tor. Ökosysteme: Wasser kennzeichnet sowohl die ter- hinaus Orientierung geben. Deshalb ist es erfreulich, restrischen als auch die aquatischen Ökosysteme. Land- dass wir im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige wirtschaft: Wasser ist Rohstoff, letztendlich sogar Entwicklung den Parteienstreit auf ein Mindestmaß be- Lebensspender für alle Produkte der Landwirtschaft. grenzen und versuchen, wo immer möglich einen Kon- (B) Anzumerken ist, dass 70 Prozent des Süßwasserver- sens zu finden. (D) brauchs durch die Landwirtschaft erfolgen. Für die In- dustrie ist Wasser ein wichtiger Rohstoff. Gesundheit: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Da können wir bei uns selbst anfangen; denn der Mensch der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- besteht zu circa 70 Prozent aus Wasser. Ohne genügend SES 90/DIE GRÜNEN) Wasser und Nahrung kann die Körpertemperatur nicht Die nationale Nachhaltigkeitsstrategie hat durch die gehalten werden, und wir bekommen Probleme. Deshalb Verknüpfung strategischer Ziele mit nachprüfbaren Indi- an dieser Stelle noch einmal der Hinweis – letztendlich katoren eine wichtige Wirkung für die Tagespolitik. Da- ist das meine Forderung –: Wasser sollte als Indikator in durch wird deutlich, ob man sich auf Schönwetterreden, das System aufgenommen werden. auf Sonntagsreden beschränkt, sich aber ansonsten leider Ich möchte zum Abschluss erklären, wie unsere Ar- nichts ändert. Wir Liberale unterstützen eine solche Stra- beit im Beirat strukturiert ist. Es kommt uns darauf an, tegie. Wir sagen aber zugleich: Der Kern der Debatte um unsere Themen im Beirat konsensorientiert zu behan- Nachhaltigkeit müssen die Chancen kommender Gene- deln. Sie sind uns zu wichtig, als dass wir bereit wären, rationen sein. Nachhaltigkeit darf nicht für alles und je- am Ende Papiere herauszugeben, die nur Anmerkungen des missbraucht werden, was man tagesaktuell als gut, einzelner Fraktionen enthalten und ansonsten strittig ge- effizient oder gerecht empfindet. Die Themen müssen stellt sind. einen Zukunftsbezug haben; denn es geht hier vor allem um eines: um Generationengerechtigkeit. Der Beirat muss im Hinblick auf das Thema Nachhal- tigkeit als Vorbild wirken. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Ernst Kranz [SPD]) Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: Herr Kollege Kranz, kommen Sie bitte zum Schluss. Meine Damen und Herren, Folgendes ist schon be- merkenswert – ich habe gerade das Thema Sonntagsre- Ernst Kranz (SPD): den angesprochen –: Es geht hier um einen Bericht, den Mein letzter Satz: Damit versuchen wir, auch für die Bundesregierung einmal in dieser Wahlperiode vor- künftige Koalitionen und künftige Legislaturperioden legt. Es ist die Strategie der Bundesregierung; federfüh- grundlegende Voraussetzungen zu schaffen, auf denen rend ist das Kanzleramt. Ich hätte erwartet, dass eine Re- einheitlich aufgebaut werden kann. gierung dann, wenn sie eine solche Strategie ernst nimmt, in der ersten Lesung eines Berichtes in die De- Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit. batte einführt, dass also der Kanzleramtsminister von 22136 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Michael Kauch (A) dieser Stelle aus erklärt, was die Politik der Bundes- cherung und die Beamtenbesoldung. All diese Lasten (C) regierung ist. werden auf künftige Generationen verschoben. Das wird heute in den Büchern nicht ausgewiesen. Aus meiner (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Sicht ist das ein reformbedürftiges Feld. der SPD, der LINKEN und des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Gerade war noch ein Staatsminister des Kanzleramtes Meine Damen und Herren, schließlich braucht eine kurz anwesend. Ich dachte: Wenigstens ein Staatsminis- bessere Nachhaltigkeitsprüfung eine bessere Veranke- ter. Aber pünktlich zu Beginn dieser Debatte nahm er rung des Parlamentarischen Beirats in der Geschäftsord- seine Akten und verschwand. So kann man mit der nung des Bundestages; denn es muss eine parlamentari- nationalen Nachhaltigkeitsstrategie wirklich nicht umge- sche Begleitung der Gesetzesfolgenabschätzung geben. hen. Generationengerechtigkeit ist mehr als die Frage, wie (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Lutz Heil- viel Schulden wir kommenden Generationen hinterlas- mann [DIE LINKE] und Winfried Hermann sen. Es geht auch um die Fragen, was wir investieren [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) statt konsumieren, ob wir langfristig tragfähige Sozial- Im Bereich der finanziellen Nachhaltigkeit gibt es versicherungssysteme bauen, und nicht zuletzt darum, derzeit viel Bewegung. Einerseits werden angesichts der ob wir kommenden Generationen eine lebenswerte Um- Wirtschaftskrise die größten Verschuldungsprogramme welt hinterlassen. Biologische Vielfalt und Klimaschutz beschlossen, die die Republik je gesehen hat, und ande- müssen zentrale Bestandteile einer Strategie für Genera- rerseits hat die Föderalismuskommission II zumindest tionengerechtigkeit sein. eine Skizze für die Aufnahme einer Schuldenbremse ins Abschließend möchte ich meiner Hoffnung Ausdruck Grundgesetz aufgelegt. Letzteres ist aus Nachhaltig- verleihen, dass wir nicht wieder vier Jahre warten müs- keitssicht zu begrüßen. Ob diese Schuldenbremse dazu sen, bis wir über den nächsten Fortschrittsbericht disku- ausreichen wird, Generationengerechtigkeit zu schaffen, tieren. Die frühere Bundesregierung hatte sich zum Ziel wird sich erst entscheiden, wenn der Text vorliegt und gesetzt, alle zwei Jahre einen solchen Bericht vorzule- wir sehen, welche Hintertüren es möglicherweise wieder gen. Schwarz-Rot hat sich – wie bei vielen anderen The- für die Verschuldung gibt. men auch – viel zu viel Zeit gelassen. Das muss sich in Sinnvoll wäre es aus unserer Sicht, darüber hinaus der nächsten Wahlperiode ändern. Wir Liberale werden Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit in die das ändern. Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes aufzuneh- (Beifall bei der FDP – Lachen bei Abgeordne- (B) men; denn anders als geborene Kinder werden kom- (D) ten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mende Generationen bisher vom Grundgesetz nicht ge- schützt. Es freut mich, dass der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung auf seiner gestrigen Sitzung Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms: – mit Ausnahme der Vertreter der Linken – dieses Ziel Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Scheuer von unterstützt hat. Es freut mich auch, dass der Bundesprä- der CDU/CSU-Fraktion. sident nach der heutigen Debatte die Initiatoren des Be- richts empfängt und sich mit dieser wichtigen Frage aus- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- einandersetzt. neten der SPD) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNIS- Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU): SES 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Kauch, ich werde mich bemühen, keine Wir brauchen endlich mehr Transparenz in der Poli- Schönwetterrede zu halten, sondern auf die Inhalte des tik. Es ist bemerkenswert, dass wir in der Gesetzesfol- Fortschrittsberichtes einzugehen. Ich möchte mich vor- genabschätzung alles Mögliche abprüfen: die Auswir- neweg bei allen Kolleginnen und Kollegen des Parla- kungen eines geplanten Gesetzes auf das Preisniveau, mentarischen Beirats für nachhaltige Entwicklung be- auf den Mittelstand und die Geschlechtergerechtigkeit. danken. Ich glaube, wir haben eine Arbeitsweise Aber die möglichen Auswirkungen unserer geplanten gefunden, die sehr kollegial ist. Über viele Themen be- Gesetze auf künftige Generationen überprüfen wir nicht. steht Konsens, obgleich es, Herr Kollege Heilmann, bei Das sollte sich in der nächsten Wahlperiode ändern. verschiedenen Themen manchmal Ausreißer und Aus- Um eine solche Nachhaltigkeitsprüfung durchzufüh- nahmen gibt. ren, brauchen wir allerdings klare und transparente (Lutz Heilmann [DIE LINKE]: Wer ist jetzt Instrumente. Dazu gehören Generationenbilanzen, die der Ausreißer?) die finanziellen Ströme zwischen den Generationen ab- bilden, die zeigen, welche Leistungen wir für künftige Ich glaube, das Klima in diesem Parlamentarischen Bei- Generationen erbringen, zum Beispiel bei Infrastruktur rat ist sehr gut. Die deutsche Öffentlichkeit soll wissen, und Bildung. Sie müssen aber auch die Lasten auswei- dass Politik nicht nur aus Streit und beinhartem Ringen sen, die es neben der Staatsverschuldung gibt, zum Bei- besteht, sondern vor allem auch an Kollegialität ge- spiel durch die Rentenversicherung, die Krankenversi- knüpft ist. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22137

Dr. Andreas Scheuer (A) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die es ermöglichen, Krisensituationen im Rahmen der (C) neten der SPD, der FDP, der LINKEN und des Analyse zu berücksichtigen. Unser Managementkon- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zept besteht aus Managementregeln, Indikatoren, Zielen und Monitoring. Die Bundesregierung sollte sich sehr Der Fortschrittsbericht zur nationalen Nachhaltig- intensiv mit dem Fortschrittsbericht 2008 befassen und keitsstrategie bietet eine breit gefächerte Grundlage, eine ihn bei der Erarbeitung eines krisenfesten Nachhaltig- zukunftsfähige Politik für Deutschland über verschie- keitsmanagements als Orientierungsrahmen verwenden. dene Themenfelder zu machen. Dies wurde in einer an- deren Regierungskonstellation begonnen und wird jetzt Meine Damen und Herren, lassen Sie mich als Bei- weitergeführt. Ich glaube, es ist ein Fortschritt, dass wir spiel auf den Indikator der Gütertransportintensität zu politisches Handeln viel transparenter und vor allem für sprechen kommen. Das im Fortschrittsbericht formu- die Bürgerinnen und Bürger nachprüfbar machen. lierte Ziel zur Gütertransportintensität wurde verfehlt. Das liegt allerdings auch daran, dass wir in den letzten Es gibt 21 Schlüsselindikatoren, die in verschiedene Jahren einen Aufschwung und demzufolge eine große Unterkategorien unterteilt sind. Dies ist ein Beitrag für Intensität in Bezug auf Mobilität und Güter erlebt haben. eine bessere politische Kultur in Deutschland, vor allem um die Politik langfristig fit für die Zukunft zu machen. Die Bundesregierung hat die Nachhaltigkeitsstrategie Ich glaube, mit einem Image von Politik muss man gene- zum Anlass genommen, bestimmte Leitplanken in politi- rell aufräumen – das richte ich auch an die Medienver- sches Handeln umzusetzen. Was die Gütertransport- treter –: Politik denkt nicht nur bis zum nächsten Wahl- intensität angeht, hat die Bundesregierung die Mittel für termin. Wir befassen uns im Parlamentarischen Beirat den Lärmschutz erhöht und verschiedene Masterpläne mit Themen, die weit über die nächsten Jahre hinausge- im Hinblick auf Logistik und Güterverkehr erstellen las- hen. Die Ziele, die im Fortschrittsbericht formuliert sind, sen. Außerdem ging es um die Entwicklung alternativer reichen bis ins Jahr 2015 oder sogar bis ins Jahr 2020. Möglichkeiten, Güter zu transportieren, und um einen Mix verschiedener Verkehrsträger, um auf diesem Wege Nachhaltigkeitspolitik ist eine Querschnittsaufgabe. die Klimabilanz Deutschlands zu verbessern. Später werden noch Mitglieder des Umweltausschusses zu diesem Thema sprechen. Als Verkehrspolitiker Die Forschungsintensität im Bereich alternativer An- möchte ich an dieser Stelle nur sagen: Über Nachhaltig- triebstechniken macht deutlich, dass die Bundesregie- keitspolitik sollte in jedem einzelnen Fachbereich um- rung auf diese Indikatoren reagiert hat. Das möchte ich fassend diskutiert werden. Sie sollte zum Leitprinzip der als Beispiel dafür anführen, dass all diese Indikatoren in Politik insgesamt gemacht werden. einem globalen Kontext zu sehen sind. Insbesondere in Anbetracht der Finanzmarktkrise brauchen wir solche (B) Der Kollege Kranz hat bereits darauf hingewiesen, (D) globalen Indikatoren, um nachzusteuern. dass der Begriff „Nachhaltigkeit“ sehr oft strapaziert wird, von der Finanzpolitik über die Umweltpolitik bis Der Parlamentarische Beirat hat sich Gedanken ge- hin zur Verkehrspolitik. Es ist richtig, dass wir diesen macht, wie die soziale Teilhabe zu verbessern ist. Es Begriff nicht inflationär verwenden sollten. Allerdings wurden Anhörungen durchgeführt und Konzepte entwi- müssen wir es in die Köpfe der Bürgerinnen und Bürger ckelt. Dabei ging es unter anderem um die Themen De- bekommen, dass die deutsche Politik ein Interesse daran mografie und Infrastruktur. Unser Hauptaugenmerk lag hat, über den nächsten Wahltag hinauszudenken. auf der sozialen Komponente, gerade im ländlichen Meine Damen und Herren, natürlich gibt es auch Raum. Trotz des Bevölkerungsrückgangs und des zum Rückschläge. Wenn man die drei großen Bereiche Wirt- Teil stattfindenden Aussterbens der ländlichen Räume schaft, Umwelt und Soziales – sie bilden die Grundlage müssen wir die Probleme unserer Bürgerinnen und Bür- der Nachhaltigkeitsstrategie – betrachtet, so lässt sich im ger im Hinblick auf die sozialen Infrastrukturen, die Hinblick auf die Schlüsselindikatoren bzw. die Messgrö- Teilhabe und die Mobilität lösen. Unser Ziel darf nicht ßen für politisches Handeln feststellen, dass im vorlie- sein, nur die Situation in den Ballungszentren zu verbes- genden Fortschrittsbericht natürlich auch Indikatoren zu sern, sondern wir müssen auch die Lage in den ländli- finden sind, die uns nicht zufrieden stimmen. chen Räumen im Blick haben, sowohl im Interesse der dort lebenden älteren Menschen als auch im Interesse Der Fortschrittsbericht ist noch vor Beginn der der jungen Generation. Finanzkrise fertiggestellt worden. Ich möchte diese Krise nicht noch krisenhafter beschreiben, als sie in Meine Damen und Herren, der Parlamentarische Bei- Wirklichkeit ist. Aber sie hat uns vor Augen geführt, rat ist auch ein Kontrollorgan. Wir haben aktiv daran dass wir uns im Parlamentarischen Beirat bei der Erar- mitgearbeitet, diesen Fortschrittsbericht zu verbessern. beitung des nächsten Fortschrittsberichts bzw. eines In- Wir haben der Bundesregierung geholfen, die Indikato- dikatorenberichts mehr Gedanken als bisher über die ren anzupassen, sie modern auszugestalten. Denn natür- Prinzipien der Finanzpolitik, der Haushaltsführung und lich ist dieser Fortschrittsbericht ein dynamischer Pro- der Staatsverschuldung machen müssen. zess. Die Indikatoren sollen nicht in Stein gemeißelt sein. Beispielsweise wollen wir bei der Gesundheitspoli- Ich bin der gleichen Meinung wie meine Vorredner, tik einen zusätzlichen Schwerpunkt auf Prävention set- dass wir ein krisenfestes Nachhaltigkeitsmanagement zen. Da müssen wir auch einmal den Mut haben, den entwickeln müssen, das bei globalen Krisen weniger an- Fortschrittsbericht zu überarbeiten und die Indikatoren fällig ist. Außerdem müssen wir Indikatoren kreieren, anzupassen. 22138 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Andreas Scheuer (A) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der Hat die Politik der Bundesregierung irgendetwas mit (C) SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Nachhaltigkeit zu tun? Wie steht es mit sozialer Gerech- NEN) tigkeit für alle? In Deutschland leben ungefähr 2,5 Mil- lionen Kinder in Armut. 7,5 Millionen Menschen in Ich denke, dass der Parlamentarische Beirat für nach- Deutschland leben von Hartz IV. Millionen müssen, ob- haltige Entwicklung immer imstande ist, der Bundes- wohl sie vierzig Stunden in der Woche arbeiten, am Mo- regierung unterstützend zur Seite zu stehen. Ich bedanke natsende zum Amt gehen, damit das Geld zum Leben mich beim Bundeskanzleramt und beim Parlamentari- reicht. Altersarmut von Rentnerinnen und Rentnern ist schen Beirat für nachhaltige Entwicklung explizit für die an der Tagesordnung. Ein besonderer Skandal: Frauen gute Kommunikation zwischen den verschiedenen Gre- bekommen für die gleiche Arbeit sage und schreibe mien. Ich möchte gern, dass es dabei bleibt, dass an den 23 Prozent weniger Lohn, und das 60 Jahre nach Einfüh- Sitzungen im Parlamentarischen Beirat Beamte aus dem rung des Grundgesetzes. Sinkenden Realeinkommen für Bundeskanzleramt zugegen sind; diese Verzahnung Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer steht ein Ret- sollte weitergeführt werden. In diesem Sinne arbeiten tungsschirm für sogenannte notleidende Banken gegen- wir konstruktiv weiter. Die Bürgerinnen und Bürger kön- über, mit dem Sie den Zockern von der Hypo Real Estate nen sich sicher sein, dass sich alle Politiker, die ganze und anderen Banken das Leben versüßen. Mannschaft in diesem Hohen Haus – die Frauschaft na- türlich auch – Gedanken macht, wie es in Zukunft mit (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Da arbeiten Deutschland weitergeht. Dieser Fortschrittsbericht ist auch Frauen!) eine gute Grundlage dafür. Soziale Gerechtigkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, Herzlichen Dank. werte Bundesregierung, sieht anders aus. Was Sie tun, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie hat damit nichts, aber auch gar nichts zu tun. bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- Ich komme zum zweiten Punkt, dem Erhalt der Um- NISSES 90/DIE GRÜNEN) welt für alle. Tun Sie genug, um für uns und für unsere Kinder eine lebenswerte Umwelt zu erhalten? Die Ant- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wort ist klipp und klar Nein. Das Wort hat jetzt Lutz Heilmann für die Fraktion Die Die Bundesregierung ist 2005 mit dem Ziel gestartet, Linke. ein Umweltgesetzbuch zu schaffen. Vor knapp zwei Wo- (Beifall bei der LINKEN) chen teilte uns Umweltminister Gabriel mit: Puste- kuchen. – Der bayerische Löwe hat hier der Bundes- (B) Lutz Heilmann (DIE LINKE): regierung einen kräftigen Strich durch die Rechnung (D) gemacht. Damit haben Sie die Chance verspielt, ein gu- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tes, ambitioniertes Umweltrecht zu schaffen. Werte Gäste! „Für ein nachhaltiges Deutschland“, heißt es im Titel des Fortschrittsberichts 2008 zur nationalen Die Kfz-Steuerreform. Es ist richtig: So schlimm, wie Nachhaltigkeitsstrategie. Was heißt „ein nachhaltiges sie am Anfang angedacht war, wird sie doch nicht, aber Deutschland“? Für die Linke bedeutet ein nachhaltiges wirksame Anreize für den Ausstoß von weniger Schad- Deutschland, dass erstens soziale Gerechtigkeit, zwei- stoffen setzen Sie wirklich nicht. Spritfresser werden tens der Erhalt der Umwelt und drittens eine wirtschaftli- weitestgehend verschont. Da wir von Generationenge- che Entwicklung verwirklicht wird. Wenn diese drei rechtigkeit und Schulden sprechen: Durch diese Kfz- Punkte erfüllt sind, bei allen Entscheidungen der Politik Steuerreform lassen Sie sich glattweg 1,8 Milliarden beachtet werden, dann werden die Interessen heutiger Euro entgehen. Sonst schauen Sie auf jeden Euro, wenn und künftiger Generationen gewahrt. es aber um die Schonung der Eigentümer großer Autos Gerade soziale Gerechtigkeit ist ein wichtiger Punkt, geht, dann sind Sie relativ großzügig. für heutige und künftige Generationen. Meine Frage an (Patrick Döring [FDP]: Das ist doch Quatsch!) die Bundesregierung lautet deshalb: Ist Ihre Politik in diesem Sinne nachhaltig? – Ich würde mich freuen, Ein weiterer Punkt ist die Abwrackprämie. Diese als wenn die anwesenden Staatssekretäre das den Ministern Umweltprämie zu bezeichnen, ist schon fast dreist. Zum und der Kanzlerin mit auf den Weg geben. Teil werden völlig funktionsfähige Pkw in der Presse verschrottet. Dazu besteht noch die Möglichkeit zum (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: staatlich subventionierten Betrug. Ja, Sie haben richtig Das kommt darauf an, was jetzt kommt! – gehört: Da alles so schnell wie möglich und unbürokra- Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Wir sind tisch ablaufen soll, kann Mann oder Frau mit etwas gu- doch nicht in einer Fragestunde, Herr Kol- tem Willen nicht nur 2 500 Euro vom Staat abkassieren, lege!) sondern das alte Auto auch noch gut nach Polen oder Schon der Titel „Für ein nachhaltiges Deutschland“ Übersee verkaufen. zeigt, dass es um einen Wunsch geht, dass Nachhaltig- (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Das ist keit noch nicht Realität ist. Schon mit der Überschrift doch Quatsch, Herr Kollege!) dieses Berichts stellt sich die Bundesregierung ein Ar- mutszeugnis aus. Aber schauen wir uns die Politik der Ich sage: Gut so. Dann stinkt der deutsche Schrott we- Bundesregierung einmal konkret an! nigstens in der übrigen Welt weiter! Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22139

Lutz Heilmann (A) Zum Thema unbürokratische Handhabung habe ich Zum Erhalt der Umwelt. Wir brauchen ein Umwelt- (C) einmal eine Frage an die Bundesregierung: Wissen Sie, recht, mit dem wir den Anforderungen der Zukunft ge- wie viele Formulare jemand ausfüllen muss, um recht werden. Es reicht nicht aus, da stehen zu bleiben, Hartz IV zu beantragen und zu bekommen? wo wir jetzt sind. Wir brauchen eine Kfz-Steuerreform, die diesen Titel verdient. Die Abwrackprämie gehört (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: abgeschafft. Wir brauchen mehr Verkehr auf der Schiene Das ist doch völlig am Thema vorbei!) und andere umweltverträgliche Verkehrsträger. Wir Ich empfehle Ihnen, sich einmal zu einer Arbeitsgemein- brauchen eine Energiewende. Wir brauchen ein Schutz- schaft zu bewegen. Dort können Sie etwas zum Thema gebietsnetz anstelle von Schutzgebietsinseln für den unbürokratische Verwaltung lernen. Stopp des Artensterbens. Wir brauchen hohe Umwelt- standards für alle und nicht nur für eine Handvoll. Als Letztes hierzu möchte ich auf das Engagement der Bundesregierung hinsichtlich der CO2-Werte bei Wirtschaftliches Wachstum für alle. Ja, das ist richtig, Pkw verweisen. bedeutet aber, dass wir eine Demokratisierung der Wirt- schaft durch mehr Mitbestimmung der Belegschaften (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Wann kommen brauchen. Sie endlich zum Mindestlohn?) Was wir zuallerletzt brauchen, ist eine Schulden- Von Klimaschutz ist dort weit und breit nichts zu sehen. bremse. Ich komme zum dritten Punkt, nämlich zur wirt- (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Und schaftlichen Entwicklung für alle. Verstaatlichung!) (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Jetzt kommt Eine Schuldenbremse ist eine Investitionsbremse. Eine es!) Schuldenbremse verschärft die Auswirkungen der jetzi- Auch hier: Fehlanzeige! Sie legen Konjunkturpro- gen Wirtschaftskrise. Eine Schuldenbremse wird zur gramme auf, die den Namen nicht verdienen. Nehmen weiteren Privatisierung der Daseinsvorsorge führen. wir ganz einfach einmal das Konjunkturpaket II: 50 Mil- Stattdessen fordern wir die Einführung einer Bundes- liarden Euro für zwei Jahre. Demgegenüber stehen schuldenverwaltung, die einen Teil der Altschulden von 480 Milliarden Euro für einen Bankenrettungsschirm. Bund, Ländern und Gemeinden übernimmt, sowie die (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Garantien!) Umsetzung der vorhandenen Pläne zur Einführung einer zentralen Bundessteuerverwaltung. Wir brauchen zudem Ich glaube, die Zahlen sprechen für sich. eine zentrale Börsenaufsicht. Wir brauchen vor allen (B) (D) Mit der beabsichtigten Schuldenbremse wird noch ei- Dingen die Reform der Bildungsfinanzierung durch die nes draufgesetzt und der öffentlichen Hand der Gestal- Einführung einer neuen Gemeinschaftsaufgabe und die tungsspielraum für soziale und ökologische Aufgaben Aufhebung des Kooperationsverbotes. genommen. Dabei von Generationengerechtigkeit zu Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich fasse zusam- sprechen, ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten. Es hilft men: Die Bundesregierung muss in ihrer Politik radikal unseren Kindern und Enkeln nichts, wenn sie sich viel- umlenken, um ihrer Politik das Attribut „nachhaltig“ leicht schuldenfrei wähnen können, aber vor Schulen, verleihen zu können. Davon sind Sie leider meilenweit Krankenhäusern und Straßen stehen, die sprichwörtlich entfernt. Deshalb kann ich Sie nur auffordern, endlich einem Trümmerhaufen gleichen. umzudenken und Ihren Worten Taten folgen zu lassen. Was ist nach Auffassung der Linken erforderlich? Wir Danke schön. brauchen erstens eine konsequente Abkehr vom Neo- liberalismus, zweitens eine Abkehr vom Sozialraub, (Beifall bei der LINKEN – Ulrich Kelber drittens eine Abkehr von der Umweltzerstörung und [SPD]: Am Thema vorbei! Diese Rede hätten viertens eine Abkehr von der wirtschaftlichen Deregulie- Sie auch zu jedem anderen Thema halten kön- rung. nen!) Zur sozialen Gerechtigkeit. Wir, die Linken, fordern einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,71 Euro. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Nun hat der Kollege Winfried Hermann von der Frak- (Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Endlich!) tion Bündnis 90/Die Grünen das Wort. Wir brauchen die sofortige Anhebung der Regelsätze bei Hartz IV auf 435 Euro. Das Bundessozialgericht hat Ih- Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): nen das vor zwei Wochen um die Ohren gehauen: Für Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- Kinder brauchen wir bei Hartz IV eigene Regelsätze legen! Als wir vor rund zehn Jahren aus dem Parlament nach Altersstufen. Wir brauchen die sofortige Anhebung heraus die Nachhaltigkeitsstrategie angestoßen haben, der Renten um 4 Prozent, und es muss endlich Schluss war uns wichtig, dass die drei Dimensionen der Nach- mit der Diskriminierung von Frauen sein. Gleicher Lohn haltigkeit – soziale Gerechtigkeit, ökologische Verträg- für gleiche Arbeit! Demgemäß muss sich die Bundes- lichkeit und Wirtschaftlichkeit – dynamisch und eng regierung ihrer Verantwortung stellen und endlich han- miteinander verbunden, aber nicht als drei Säulen neben- deln. einander gestellt werden. Ein dynamisches Denk- und 22140 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Winfried Hermann (A) Entwicklungskonzept war eine wesentliche Vorausset- tigen Weg sind und sagen können, dass wir etwas (C) zung für diesen Ansatz. erreicht haben. Die Förderung erneuerbarer Energien beispielsweise ist wirklich gelungen. Dabei haben wir Herr Kollege Heilmann hat uns gerade deutlich ge- das Ziel sogar übererfüllt. macht, was die Linke unter Nachhaltigkeit versteht, nämlich erstens soziale Gerechtigkeit, zweitens Aufsto- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ckung von Hartz IV und drittens Mindestlohn für alle. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Das ist eine unverhältnismäßige und einseitige Interpre- der SPD) tation dieses Begriffs und führt meines Erachtens völlig in die Irre. In anderen Bereichen haben wir die Ziele nur teil- weise erreicht, oder die Kluft ist ziemlich groß. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Ein wirkliches Grundproblem nicht nur dieser Regie- rung, sondern auch der Vorgängerregierung ist, dass die Damals hatten wir den Anspruch, mit diesem neuen Regierung von der eigenen Administration im Austausch politischen Ansatz zu versuchen, eine neue Diskurskul- mit dem Parlament zwar eine ambitionierte nationale tur im Parlament zu entwickeln. Das heißt unter ande- Nachhaltigkeitsstrategie erarbeiten lässt, dass aber die rem, dass man die anderen differenziert kritisiert – auch praktische Politik manchmal meilenweit davon entfernt scharf –, aber nicht pauschal alle anderen nur schlecht ist. Das ist der einzige Punkt, in dem ich der Kritik der macht und platt kritisiert. Das habe ich vorhin jedoch Linken recht gebe. verärgert zur Kenntnis genommen. Die Linke hat an die- sem Diskurs nicht differenziert teilgenommen. Es stellt sich immer wieder die Frage, ob die kurzfris- tig verfolgte Politik ins langfristige Konzept passt. Wir (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei sehen an dieser Stelle eine große Lücke. Es ist aber die der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Aufgabe des Parlaments und des Parlamentarischen Bei- Wir haben damals zu Recht versucht, aus einem wol- rats, darauf hinzuweisen und immer wieder darauf zu kigen Begriff einen strategischen politischen Ansatz zu pochen. Ich meine, es hat sich gelohnt, dass wir den Par- machen, und zwar mit Zielen, mit Konzepten für be- lamentarischen Beirat eingerichtet haben. Wir Grünen stimmte Bereiche, mit Zeitangaben, Maßnahmen, Me- sind sehr dafür, dass dieses Gremium verstetigt und auch thoden und Gesetzen, mit denen wir vorankommen kön- in der Geschäftsordnung gut verankert wird, damit auch nen. das nächste Parlament als Anwalt nachhaltiger Entwick- lung dieses Projekt aus der Gesellschaft heraus weiter Diesen Anspruch haben wir damals erhoben. Nach verfolgt. rund zehn Jahren und mehreren Fortschrittsberichten (B) (D) kann man sagen, dass es sich gelohnt hat, in diesem Be- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei reich Politik strategisch zu formulieren und wegzukom- der CDU/CSU, der SPD und der FDP) men von der allgemeinen Wolkigkeit, hinter der sich Es hat sich übrigens bewährt, dass innerhalb der Re- jeder verstecken kann, wobei aber nichts herauskommt. gierung das Green Cabinet gestärkt wurde, dass es Mit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN arbeiternetzwerke zwischen den verschiedenen Ressorts sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und gibt und dass es gelingt, die Ressorts zu vernetzen und der SPD) einen ganzheitlichen Politikansatz zustande zu bringen. Aber wir haben, wie gesagt, auch einen großen Nachhol- Daraus ist eine Strategie der Bundesregierung entwi- bedarf. Ich will einige Beispiele aufzählen, von denen ckelt worden. Ich finde es wirklich positiv, dass diese ich glaube, dass man sie endlich angehen muss. Strategie den Regierungswechsel überlebt hat und dass die Strategie, mit der man das Land langfristig im Sinne Beim Flächenverbrauch haben wir ein ambitioniertes der Nachhaltigkeit voranbringen will, im Kern gleichge- Ziel, mit dem wir seit Jahren nicht vorankommen. Der blieben ist. Das ist ein Erfolg all derer, die im Parlament Flächenverbrauch ist unerhört hoch, obwohl die Bevöl- für nachhaltige Entwicklung gestritten haben. kerungszahl nicht mehr steigt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Das stimmt!) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Wir haben kein Konzept gefunden, um den Flächenver- brauch von 120 Hektar pro Tag auf die angestrebten Der Fortschrittsbericht ist an den sogenannten Am- 30 Hektar pro Tag zu senken. pelbericht des Rats für nachhaltige Entwicklung gekop- pelt. Wir messen also, ob wir in Richtung Zielerreichung Der ökologische Landbau war uns immer ein wichti- gekommen sind oder uns gar davon entfernen. Dieser ges Anliegen. Dabei sind wir weit von dem Ziel entfernt, Bericht zeigt klar auf, in welchen Bereichen wir auf dem das wir erreichen wollten. Wir bedauern, dass dabei der falschen Dampfer sind, in welchen Bereichen wir viel zu Eindruck entsteht, dass wir, wenn wir das Ziel nicht er- langsam in Richtung Nachhaltigkeit unterwegs sind und reichen können, es lieber ganz sein lassen. Wir hielten in welchen Bereichen wir wirklich gut sind. das für einen kapitalen Fehler. Wir müssen in der Ziel- setzung nachsteuern, aber auch in der Politik, um Ver- Wenn Sie diesen Ampelbericht durchblättern und ein besserungen zu erreichen. bisschen aktualisieren, dann stellen Sie fest, dass es ei- nige Felder gibt, bei denen wir tatsächlich auf dem rich- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22141

Winfried Hermann (A) Die Verkehrspolitik ist insofern interessant, als alle Handeln geprägt. Wir meinen, dass die beschlossenen (C) Dimensionen der Nachhaltigkeit – sozial, wirtschaftlich Vorschläge den langfristigen Perspektiven nachhaltiger und ökologisch – in diesem Bereich gebündelt auftreten. Entwicklung glatt widersprechen. Man kann feststellen, dass wir in Teilbereichen etwas er- reicht haben. So hat sich zum Beispiel die Energiepro- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN duktivität – also das Ausnutzen der Energie – im Trans- sowie bei Abgeordneten der SPD) portsektor deutlich verbessert. Eine gute nachhaltige Politik würde die Krise als Chance begreifen. Eine gute nachhaltige Politik würde In der Summe stellt sich der Energieverbrauch aber in einer Krise die Nachhaltigkeitsstrategie nicht beiseite- nicht so gut dar. Wenn man das mit dem wirtschaftlichen legen, gewissermaßen als Buch für schöne Zeiten, in das Wohlstand nach dem Bruttoinlandsprodukt ins Verhält- man später wieder hineinschaut. Vielmehr müsste man nis setzt, dann müssen wir feststellen, dass das ange- jetzt schauen, welche Ansätze wir in den letzten Jahren strebte Ziel mitnichten erreicht wurde – weder im Perso- zusammen mit unseren Experten in den Bereichen Ver- nenverkehr noch im Güterverkehr –, obwohl wir das kehr, Landwirtschaft, Soziales und Bildung entwickelt klare Ziel haben, mehr Wohlstand ohne eine ständige haben und welche geeignet sind, uns aus der Krise he- Zunahme des Verkehrs zu erreichen. rauszuführen. Eine Krise bietet eine Chance für eine (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nachhaltige Entwicklung. Wir, die wir hier im Parlament für eine nachhaltige Entwicklung kämpfen und streiten, Warum wurde das Ziel nicht erreicht? Die größten sollten nicht aufgeben, sondern unsere Stimme erheben Probleme bestehen im Güterverkehr. Ich glaube, dass und für nachhaltige strategische Konzepte plädieren. sich die Politik zu sehr darauf verlässt, dass man gegen manche Trends nichts machen kann, statt ambitioniert Vielen Dank. genug das Konzept des Umsteuerns und Verlagerns zu (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, verfolgen. Das angestrebte Ziel, 25 Prozent des Güter- bei der CDU/CSU und der SPD) verkehrs auf die Schiene zu verlagern, ist über die Jahre beibehalten worden. Der Anteil schwankt zwischen 16 und 18 Prozent; wir kommen nicht weiter voran. Wir Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: können Fortschritte erzielen, wenn wir konsequent in Der Kollege Dr. Matthias Miersch spricht jetzt für die den kombinierten Schienengüterverkehr investieren. SPD-Fraktion. Wenn wir dabei am Ball bleiben und uns stärker anstren- (Beifall bei der SPD) gen als bisher, dann können wir dieses Ziel erreichen. Aber es muss auch der Wille vorhanden sein, zu han- (B) deln. Dr. Matthias Miersch (SPD): (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Personenverkehr haben wir zwar die richtige Es ist genau richtig, sich an diesem Tag und zu dieser Richtung eingeschlagen, sind aber weit von dem eigenen Stunde, an so exponierter Stelle, mit dem Thema nach- Anspruch entfernt. Das hat meines Erachtens damit zu haltige Entwicklung zu befassen; denn die Zeit, in der tun – damit komme ich noch einmal zu dem Grundge- wir leben, schreit förmlich nach einem neuen Denken, danken meiner Rede –, dass Politik in Krisensituationen nach einem neuen Bewusstsein. Herr Kauch, Sie haben dazu neigt, kurzfristige Lösungen anzubieten. Die Auto- die mangelnde Präsenz der Regierung moniert. Ich bin mobilindustrie kommt in die Krise, und kurzfristig wird froh und stolz, dass auf der Regierungsbank mit dem eine Abwrackprämie für nötig gehalten, und wir müssen Parlamentarischen Staatssekretär Michael Müller je- schnell etwas tun, um den Verlust von Arbeitsplätzen zu mand sitzt, der schon vor 30 Jahren den Begriff der verhindern. Ich glaube, an dieser Stelle wird derzeit ein nachhaltigen Entwicklung als möglichen Schlüssel zur großer Fehler gemacht. Wir sollten dafür sorgen, dass er Bewältigung vieler Krisen etabliert hat. Man sieht heute, korrigiert wird. Denn die Krise der Automobilindustrie dass er recht hatte, das zu problematisieren. ist nicht durch die Finanzkrise zustande gekommen, son- dern sie hat sich schon lange angebahnt. Gerade das Bei- (Beifall bei der SPD) spiel der amerikanischen Automobilindustrie macht das Die Debatte zeigt sehr deutlich, dass es genau richtig deutlich. Die Politik hat über Jahre hinweg die Automo- war, dass die rot-grüne Regierung 2002 dem Begriff der bilindustrie nicht gefordert. Sie hat sie ineffiziente Fahr- nachhaltigen Entwicklung Substanz verliehen hat, und zeuge produzieren und in die Krise rutschen lassen. zwar dadurch, dass man Indikatoren aufgestellt hat, die (Iris Gleicke [SPD]: Das ist leider wahr!) überprüfbar sind, an denen man eine Regierung messen kann, Indikatoren, die es ermöglichen, Fehler einzuge- Aus unserer Sicht ist es absolut zwingend, dass man stehen, und anhand derer man erklären kann, warum et- aus der Krise heraus eine Chance entwickelt, indem in- was nicht funktioniert. Das Problem, dass der Begriff der novative Ansätze gefördert und andere Antriebstechno- nachhaltigen Entwicklung häufig missbraucht wird, ha- logien, Kraftstoffe und andere Formen von Energienut- ben wir auch in dieser Debatte feststellen können. Was zung und Verkehrssystemen entwickelt werden. Das der Kollege Heilmann – leider ist er nicht mehr da – zu wäre der richtige, der nachhaltige Ausweg aus der Krise. diesem Begriff gesagt hat, ist aus meiner Sicht genauso Darin liegt eine gute Chance. Das ist zwar Bestandteil fehlerhaft gewesen wie der Gebrauch des Begriffs der der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung und nachhaltigen Entwicklung von einigen Managern in den anderer Konzepte, aber die Praxis ist durch kurzfristiges letzten Wochen. Sie machen keinen Unterschied und 22142 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Matthias Miersch (A) missbrauchen den Begriff der nachhaltigen Entwicklung. rischen Verfahren und im Kontext mit der Regierung (C) Die Menschen sind es leid, wenn Politik etwas sugge- umgehen wollen. Ich bin dankbar, dass wir Vertreter des riert, das sie letztlich nicht halten kann. Auch hier Gren- Rats für Nachhaltige Entwicklung unter uns haben, die zen aufzuzeigen, heißt für mich, nachhaltig zu handeln. in den vergangenen drei Jahren bei diesem Thema sehr eng mit uns zusammengearbeitet haben. Ich finde es (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem richtig, dass wir an allen Stellen die Frage aufgeworfen BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- haben, wie wir es schaffen, bereits während der Geset- geordneten der FDP) zesberatung den Begriff der nachhaltigen Entwicklung Die Zeit macht deutlich, dass wir einen neuen Wachs- zu etablieren. Wenn wir Technikfolgenabschätzung be- tumsbegriff brauchen. Bislang haben wir ihn nur im treiben, dann muss es auch möglich sein, Ministerien zu Kontext von „immer höher, immer weiter, immer schnel- zwingen, Farbe in Bezug auf die Frage zu bekennen, wie ler“ verwendet. Wir brauchen aber einen Begriff, der nachhaltig Gesetze sind. Wachstum als „immer besser“ definiert. Wir konnten er- leben, dass die Kurssprünge bestimmter Unternehmen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten nicht dazu führten, dass es den Mitarbeiterinnen und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Mitarbeitern der betreffenden Unternehmen besser ging. Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU]) Wir konnten sehen, dass kurzfristige Kurssprünge nicht Dass alles unterschiedlich interpretierbar ist, ist uns dazu führten, dass die Substanz der Unternehmen ver- allen klar. Das hat auch die Diskussion heute gezeigt. bessert wurde. Wir konnten erleben, dass es höchst fatal Aber wenn wir im Gesetzesberatungsverfahren zu klaren ist, wenn sich die Gehälter der Manager an Kurssprün- Nachhaltigkeitschecks kommen, dann sorgen wir für die gen orientieren. notwendige Transparenz. Dann sieht man, warum ein (Beifall bei der SPD) Gesetz auf den Weg gebracht wird und welche Schwä- chen und welche Stärken es hat. Wir sind aufgerufen, die Konsequenzen aus diesen Beobachtungen zu ziehen und zu fragen, wie wir dieses Damit bin ich bei den großen Themen, die uns sicher- Denken verändern können. Auch dazu sind wir in einer lich auch in diesem Parlament noch in sehr unterschied- solchen Stunde aufgerufen, und zwar in allen Ressorts licher Weise beschäftigen werden. Es geht um die gro- und interdisziplinär, wie es der Begriff der nachhaltigen ßen Zukunftsfragen, die wir hier, aber auch an anderer Entwicklung nahelegt. Stelle diskutieren. Wie halten wir es mit der Energiever- sorgung? Wir werden die Debatte „Atomkraft – ja oder Wir müssen überlegen, was es heißt, wenn die natürli- nein?“ erleben. Ich glaube, das ist ein gutes Beispiel, an chen Ressourcen immer geringer werden und parallel zu dem man zeigen kann, dass es falsch wäre, in diese (B) dieser Entwicklung immer mehr Menschen auf diese Technologie zu investieren. Sie ist eben nicht nachhaltig, (D) Ressourcen zugreifen wollen. Nachhaltige Entwicklung jedenfalls nicht aus der Sicht der SPD-Fraktion, weil den heißt, dort anzusetzen. nachfolgenden Generationen Müll unerträglichen Aus- Ich bin dem Kollegen Hermann dankbar, dass er das maßes hinterlassen wird, von dem wir nicht wissen, wel- Thema der erneuerbaren Energien hier angesprochen che Gefahren für nachfolgende Generationen von ihm hat. Gerade an diesem Thema zeigt sich doch, dass Ener- ausgehen. gie nicht nur ökologische Aspekte beinhaltet, sondern dass Energie in Zukunft ein ursoziales und ein ökonomi- (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ sches Thema sein wird. Es stellt sich die Frage, wer DIE GRÜNEN) künftig noch mobil sein wird, wer künftig noch ein Auto Das zweite große Thema betrifft die Frage, wie je- fahren kann, sich einen Kühlschrank leisten bzw. am so- mand gestellt werden soll, der Vollzeit in Deutschland zialen Leben teilhaben kann. Es stellt sich außerdem die arbeitet. In der Diskussion über den Mindestlohn geht es Frage, wie Deutschland in der globalen Welt seinen nicht nur um die Würde von Arbeit. Man muss vielmehr Stammplatz als Exportweltmeister verteidigen kann. Die gleichzeitig bedenken, dass ausreichender Lohn auch zu- Entwicklung der erneuerbaren Energien zeigt doch, dass künftig dazu führen wird, dass Menschen ausreichend in wir mit diesem Thema genau auf das richtige Pferd ge- die Sozialversicherungssysteme einzahlen werden. Ge- setzt haben, als wir das Erneuerbare-Energien-Gesetz lebte nachhaltige Politik ist auch, dass man an die Zu- unter Rot-Grün auf den Weg gebracht haben. kunft und an spätere Rentenansprüche etc. denkt. Das (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ können aber diejenigen nicht, die nicht einzahlen kön- DIE GRÜNEN) nen, weil sie zu wenig verdienen. Wir sind dabei, auf Energien zu setzen, die endlose (Beifall bei der SPD) Ressourcen haben. Wir sind dabei, auf eine Technologie Der dritte Punkt, der augenblicklich intensiv disku- zu setzen – gemäß dem Motto: Die Sonne schickt keine tiert wird, betrifft die Schuldenbremse. Kollegen von der Rechnung –, die es erlaubt, eine immer größer werdende Linken, ich glaube, es ist wichtig, dass man im Interesse Anzahl von Menschen mit dem Luxusgut Energie ver- der nachfolgenden Generationen die Schuldenaufnahme sorgen zu können. Das ist ein Beispiel gelebter nachhal- eindämmt. Denn was könnte man alles mit dem Geld, tiger Politik. das man für die Zinszahlungen aufwendet, tun, was Allerdings müssen wir uns die Frage stellen, wie wir könnten wir beispielsweise für die Bildung tun, wenn mit dem Begriff der Nachhaltigkeit auch im parlamenta- wir diese Lasten nicht tragen müssten? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22143

Dr. Matthias Miersch (A) Insofern ist es aus meiner Sicht richtig, dies zumin- den Schienenverkehrsunternehmen am Potsdamer Platz (C) dest im Blick zu haben. Man sollte aber auch im Blick und der DB Netz diskutieren, wie wir das vorhandene haben – das ist an die Adresse der FDP gerichtet –, wie Schienennetz so nutzen können, dass mehr Züge auf die- die Einnahmen des Staates garantiert werden können. sen Gleisen fahren können. Anders als beim Lkw-Ver- Beides ist wichtig, und für beides werden wir uns einset- kehr brauchen Züge relativ große Mindestabstände. Da- zen. her stellt sich die Frage: Wie kann man die Sicherheitsabstände durch intelligente technische Inves- Ich habe drei Beispiele für nachhaltige Politik ge- titionen verkürzen, damit es zu mehr Intensität auf dem nannt. Wir freuen uns auf die Beratung des Fortschritts- vorhandenen Netz kommt. Dadurch würde auch die Pro- berichts in den Ausschüssen. Wir freuen uns, an dem blematik des Bodenverbrauchs weiter in den Blickpunkt Thema „nachhaltige Politik“ zusammen mit allen in die- rücken. sem Hause arbeiten zu können. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Winfried Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Zweitens. Ich warne davor, die Bundesregierung jetzt der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE zu sehr aufzufordern, kleine und kleinste Programme GRÜNEN) aufzulegen. Ein Beispiel sind die Aktivitäten im Bereich des nachhaltigen Bauens. Ich bin sehr dafür, dass wir mit Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: der deutschen Bauwirtschaft, mit dem deutschen Hand- Für die Fraktion der FDP spricht jetzt der Kollege Pa- werk auf dem Gebiet „Energieverbrauch, Ökobilanz und trick Döring. Lebenszeit eines Gebäudes“ allergrößte Anstrengungen unternehmen. Die Bauforschung in unserem Land ist da (Beifall bei der FDP) wirklich schon weit fortgeschritten. Allerdings sind mitt- lerweile 60 Kategorien mit zahlreichen Unterkategorien Patrick Döring (FDP): für nachhaltiges Bauen gefunden worden. Das Ganze Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ging bis hin zu den Fragen, welche Wandfarbe verwen- Die Debatte über die Nachhaltigkeitsstrategie zeigt sehr det wurde, welche Art von Kacheln in den Bädern ver- deutlich, dass sich jeder gern diejenigen Indikatoren he- legt wurde und ob ein oder zwei Waschbecken in dem raussucht, die ihm gefallen. Besonders bei der Rede des Hauptbad untergebracht sind. Das alles wird unter dem Kollegen Heilmann ist aufgefallen, wie weit man sich Begriff „nachhaltiges Bauen“ subsumiert. Dazu kann ich vom eigentlichen Thema entfernen kann, nur um in sei- nur sagen: Damit werden wir die Menschen in unserem (B) ner Redezeit die üblichen Stichworte des Wahlpro- Land für dieses Thema nicht begeistern können. (D) gramms unterzubringen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Deshalb sollten wir im Parlament diese Verästelungen in Einzelprogramme und die damit verbundenen Verwir- Ich will versuchen, mich auf drei Teile dieses Berichts rungen am besten stoppen. zu konzentrieren. Ich will noch auf einen Punkt eingehen, der mir in ei- Erstens. Wir stellen fest – auch der Kollege Hermann nigen Reden aufgefallen ist, zu meiner Überraschung hat es angedeutet –, dass wir beim Thema „Güterver- auch in der, die eben mein geschätzter Kollege Miersch kehrsintensität und Verkehrsentwicklung insgesamt“ gehalten hat. Es geht um das Thema Wirtschaftsordnung nicht in allen Punkten diejenigen Ziele erreicht haben, und Wirtschaftskrise. Die Mehrheit der Menschen in die wir angestrebt haben. Wir sollten auch darüber dis- Deutschland ist nicht in börsennotierten Unternehmen kutieren, dass man das relative Wachstum der Gesamt- beschäftigt. Die Mehrheit der Arbeitnehmerinnen und menge und die Intensität weiterhin auseinanderhalten Arbeitnehmer ist nicht in Unternehmen mit wie auch im- muss. Ich persönlich bin der festen Überzeugung, Kol- mer bezahlten Vorständen beschäftigt. Die Mittelständ- lege Hermann: Wenn wir unsere Position als Export- ler, die Handwerker, die Gewerbetreibenden und die nation – unser Außenhandel hat ein Volumen von Freiberufler in unserem Land sind erfreulicherweise viel 1 250 Milliarden Euro – nicht verschlechtern wollen, soll- weniger kurzfristig orientiert, als Sie es gelegentlich in ten wir nachhaltige Politik nicht über eine Beschränkung den ökonomistischen Zerrbildern, die Sie in manchen Ih- der Gesamtmenge von Verkehrsbewegungen betreiben. rer Reden zeichnen, darstellen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Marie- der CDU/CSU) Luise Dött [CDU/CSU]) Das ist einfach die lautere Wahrheit. Wir werden unsere In der deutschen Wirtschaft wird überwiegend nachhal- Ökonomie nicht innerhalb von wenigen Jahren zu einer tig gehandelt. Das sollten wir an dieser Stelle anerken- binnenmarktorientierten Ökonomie umbauen können. nen. Ich glaube auch nicht, dass das vernünftig wäre. Vielen Dank. Vernünftig ist es, eine Politik zu machen, die dazu führt, dass wir die vorhandenen Verkehrswege und die (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten vorhandenen Kapazitäten besser nutzen. Wir sollten mit der CDU/CSU) 22144 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der (C) Andreas Jung hat jetzt das Wort für die CDU/CSU- FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- Fraktion. NEN) Wir sind in einer Krise. Da ist es richtig, zu investie- (Beifall bei der CDU/CSU) ren und mehr Geld auszugeben, als ursprünglich vorge- sehen war. Die andere Seite der Medaille ist: Wenn es Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU): wieder besser geht, dann müssen die Schulden, die jetzt Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! aufgenommen werden, wieder abgezahlt werden. Dafür Zunächst möchte ich mich jenen Vorrednern anschlie- brauchen wir die Schuldenbremse im Grundgesetz. ßen, die in den Mittelpunkt gestellt haben, dass es gut ist, Ich komme zum dritten Bereich, zur ökologischen ein Gremium wie den Parlamentarischen Beirat für Nachhaltigkeit und zum Umweltschutz, sozusagen zur nachhaltige Entwicklung zu haben, und die hervorgeho- Geburtsstätte des nachhaltigen Denkens überhaupt. Im ben haben, dass es, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Hinblick auf das, was kritisch diskutiert wurde und was eine Freude ist, in diesem Gremium zu arbeiten, weil anhand der einen oder anderen Entscheidung auch pro- dort in der Regel das gemeinsame Ringen um die Sache blematisiert wurde, ist mir schon wichtig, zu fragen: Wie und nicht die parteipolitische Polemik oder der parteipo- steht es um unseren Fortschritt? Da will ich den Bereich litische Streit im Mittelpunkt steht. Klimaschutz herausgreifen. Ich gebe zu, dass es richtig ist, zu fordern, dass die Berichte zur Strategie in kürze- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- ren Zeitabständen vorgelegt werden. Andererseits finde neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ich es aber auch spannend, über einen Zeitraum von eini- Durch die konstruktive Arbeit haben wir gemeinsam gen Jahren zu betrachten: Wie haben wir uns entwickelt? Erfolge erzielt, auf die wir ein Stück weit stolz sein kön- Wie werden wir unserem Anspruch, Vorreiter im Klima- nen. Das betrifft inhaltliche Fragen, aber auch eine for- schutz zu sein, gerecht? male Frage. Wir haben erreicht, dass die Bundesregie- Die Zahlen, die im Bericht zur Nachhaltigkeitsstrate- rung unsere Anregung aufgenommen hat, die gie enthalten sind, zeigen uns, dass wir in der langfristi- Nachhaltigkeitsprüfung in die Gesetzesfolgenabschät- gen Perspektive unserem Anspruch gerecht werden. Das zung einzubeziehen. Das ist ein wichtiger Punkt. So wird gilt für die Formulierung der zukünftigen Ziele. Wir ver- in den ganz normalen Lauf eines jeden Gesetzes der Ta- treten jetzt nämlich ehrgeizigere Ziele als noch vor weni- gespolitik der Gedanke der Nachhaltigkeit hineinge- gen Jahren. So bekennt sich die Bundesregierung zu dem bracht. Das ist sicher ein Erfolg unserer Arbeit. Ziel, dass bis zum Jahre 2020 40 Prozent der Treibhaus- (B) gase eingespart werden sollen. (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das gilt aber auch für das Erreichen der Ziele, die wir Es ist unser gemeinsames Bemühen – das wurde zu uns in der Vergangenheit gesetzt haben. Wir können dem Recht schon gesagt –, den Beirat weiter zu stärken, auch Bericht entnehmen – es handelt sich um den Stand von formal weiter zu stärken. Wir treten dafür ein, dass in der 2007; wir sind jetzt sogar einen Schritt weiter und haben nächsten Legislaturperiode dieser Beirat – parallel zu an- die Zahlen von 2008 –, dass wir die Ziele, die wir laut deren Ausschüssen – mit stärkeren Rechten und stärke- unserer Selbstverpflichtung im Kioto-Abkommen erst ren Befugnissen ausgestattet wird, weil das die formale im Jahre 2012 hätten erreichen sollen, bereits jetzt er- Fundierung unseres inhaltlichen Bemühens um mehr reicht haben. Wenn wir uns weiter anstrengen – das soll- Nachhaltigkeit wäre. ten wir machen –, dürften wir diese Ziele sogar überer- füllen. Nun zu den Inhalten, zu dem materiellen Gehalt der Nachhaltigkeit. Letztlich geht es uns darum, Nachhaltig- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und keit in allen Bereichen zu verankern, Deutschland insge- der SPD) samt nachhaltiger zu machen und dafür zu sorgen, dass wir in Zukunft weniger auf Kosten kommender Genera- Was für die Ziele im Allgemeinen gilt, gilt auch für tionen leben, dass wir heute nicht auf Kosten von mor- einzelne Bereiche. Diese sind schon von den Kollegen gen leben, so wie das in der Vergangenheit in unter- Hermann und Miersch angesprochen worden. schiedlichsten Bereichen leider zu oft der Fall war. Im Bereich der erneuerbaren Energien haben wir schon jetzt die Ziele, die wir für uns 2012 gesetzt haben, Die wichtigen Bereiche, um die es hier geht, sind an- nicht nur erreicht, sondern übererfüllt. Ich denke, das gesprochen worden: erstens wirtschaftliche und soziale sollte uns ermutigen, diesen Weg weiterzugehen. Das Nachhaltigkeit – dies ist durch die Wirtschafts- und Fi- zeigt uns auch, dass man, wenn man gemeinsam für nanzkrise noch mehr in den Mittelpunkt gerückt – und Nachhaltigkeit streitet, Ziele nicht nur erreichen, son- zweitens – das zu betonen ist mir wichtig – finanzielle dern manchmal sogar mehr erreichen kann, als man vor- Nachhaltigkeit. Dabei geht es um das Bemühen, den her glaubte. künftigen Generationen nicht immer mehr Schulden zu hinterlassen, von denen sie irgendwann erdrückt werden Auch im Bereich der Energieproduktivität und im Be- würden. Deshalb ist es jetzt umso richtiger und wichti- reich der Energieeffizienz gilt das Gleiche. Wir alle wis- ger, gemeinsam für eine wirksame, für eine harte Schul- sen, dass wir hier noch Spielräume haben. Es ist aber denbremse einzutreten. doch eine wichtige Wegmarke, dass, wie wir dem Be- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22145

Andreas Jung (Konstanz) (A) richt entnehmen können, die Energieproduktivität in kommt zu einem überhäufig verwendeten Füllwort. Es (C) Deutschland seit 1990 um 40 Prozent gestiegen ist. Wir gibt zwei Ursachen für diesen Zustand, der auch schon wollen daran weiterarbeiten und wollen gerade auch die von einigen Kolleginnen und Kollegen angesprochen Krise nutzen, auf diesem Weg fortzuschreiten. wurde. Ich möchte betonen – das halte ich für ganz wichtig –, Erstens. Es gibt einen Missbrauch des Begriffs. Den dass die Krise in der Wirtschaft nicht dazu führen darf, findet man natürlich vor allem im Bereich von Lobby- dass die ökologischen Ziele hintangestellt werden. Eine verbänden, von Unternehmen und Interessengruppen, Lehre aus dieser Krise ist ja gerade, dass es richtig ist, die bestimmte Dinge durchsetzen bzw. für ihr Handeln für nachhaltige Investitionen in allen Bereichen zu sor- werben wollen. Diesen Missbrauch, auch „green gen. Das tun wir etwa mit den zusätzlich bereitgestellten washing“ genannt, kann man relativ leicht auf einen Milliarden für das Gebäudesanierungsprogramm. Mit Punkt bringen: Man macht so weiter, wie man bisher ge- diesem Geld leisten wir einen Beitrag zur nachhaltigen arbeitet hat; man bezeichnet das aber ab sofort als nach- Entwicklung im Umweltschutz sowie zur Nachhaltigkeit haltig. Man verändert also die Begründung für das, was bei den Finanzen der öffentlichen und privaten Haus- man tut. Früher, als es noch keinen interessierte, ob et- halte; denn beide werden zukünftig von Verbrauchskos- was nachhaltig ist oder nicht, hat man die Leute, die für ten entlastet. Auch im Bereich Arbeit und Soziales trägt nachhaltige Politik eingetreten sind, veräppelt. Heute, da das zur Nachhaltigkeit bei; denn durch diese Maßnah- sich die Mehrheit der Leute dafür interessiert, behauptet men werden Aufträge ausgelöst, die ganz konkret Ar- man einfach, dass das, was getan wird, nachhaltig ist. – beitsplätze im Handwerk erhalten bzw. schaffen. Diesem Missbrauch muss man natürlich entgegentreten. Damit können wir feststellen, dass wir in diesem Be- Es wäre gut, wenn wir das als Politiker relativ geschlos- reich auf einem guten Weg sind. Sicherlich bleibt auch sen täten. hier noch einiges zu tun. Es wurde kritisch angemerkt, (Beifall bei Abgeordneten der SPD) dass noch nicht ganz konkret und verbindlich festgezurrt wurde, wie es langfristig weitergehen soll. Ich denke, es Zweitens. Darüber hinaus beinhaltet dieser Begriff ist unsere gemeinsame Aufgabe, im Parlament und im eine gewisse Sperrigkeit. Wir müssen einen neuen Be- Parlamentarischen Beirat für Nachhaltigkeit daran zu ar- griff mit Leben füllen und klarstellen, wie wir ihn ver- beiten. Dieser Bereich ist aber ein gutes Beispiel dafür wenden wollen. Ein wichtiger Schritt, um das zu errei- – deshalb habe ich ihn herausgegriffen –, um zu zeigen, chen, wäre, die Vorteile nachhaltiger Politik deutlicher dass wir auf einem guten Weg sind. All das stellt auch zu machen: der Erhalt von Chancen; der Wunsch, in ei- eine Ermunterung für unser Eintreten für mehr Nachhal- nigen Jahren den kommenden Generationen die gleichen tigkeit in Deutschland dar. (B) Chancen, die gleichen Handlungsspielräume und die (D) Herzlichen Dank. gleiche Qualität von öffentlichen Gütern einzuräumen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Ein anderes Beispiel ist die Möglichkeit zur Koopera- bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- tion. Wir merken das zum Beispiel in Klimaschutzver- NISSES 90/DIE GRÜNEN) handlungen. Wir können andere Länder nur dann über- zeugen, mitzuziehen, wenn diese das Gefühl haben: Die Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: westliche Welt und die industrialisierten Staaten sind be- reit, eine nachhaltige Politik zu machen, mit der uns die Ulrich Kelber hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion. gleichen Chancen, die gleichen Partizipationsmöglich- (Beifall bei der SPD) keiten und die gleichen Anteile am weltweiten Wohl- stand eingeräumt werden. Ulrich Kelber (SPD): Nachhaltigkeit gibt die Chance für dauerhafte Lösun- Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und gen. Es geht nicht nur um Lösungen, mit denen ich für Herren! Etwas Negatives zu Beginn: Wir müssen, wie drei, vier oder fünf Jahre ein Problem behoben habe. ich denke, bilanzieren, dass unsere Debatten darüber, Vielmehr muss der Ansatz sein, dass das Problem dauer- wie Nachhaltigkeit und nachhaltige Politik zu bewerk- haft gelöst wird. Das muss man den Menschen deutlich stelligen sind, noch nicht an die breite Öffentlichkeit machen. Dafür gibt es eine gute Methode: Wir sollten durchgedrungen sind. Würde man fragen, welche The- nicht nur darüber sprechen, was wir an Instrumenten ein- men die deutsche Innen- und Außenpolitik sowie andere setzen wollen, sondern wir müssen die Menschen über- Politikfelder beherrschen, würde der Begriff der Nach- zeugen, welchen Vorteil eine Welt beispielsweise im haltigkeit in einer Aufzählung nicht an vorderer Stelle Jahr 2020 hätte, wenn wir die Ziele mit Blick auf die In- stehen. Würde man in der Öffentlichkeit, in den Medien dikatoren erreicht hätten. Das muss einmal dargestellt oder auch in einer Runde von Abgeordneten fragen: werden, auch in der Öffentlichkeitsarbeit. „Wie definieren Sie für sich Nachhaltigkeit?“, würde man vielfach auf Ratlosigkeit treffen. Stellen Sie sich einmal vor, wie die Tagesthemen im (Andreas Jung [Konstanz] [CDU/CSU]: In Jahr 2020 in einer Gesellschaft aussehen, die die Ziele meiner Fraktion nicht!) erreicht hat, die wir im Fortschrittsbericht für eine nach- haltige Politik beschreiben. Das wäre eine andere, eine Parallel zu dieser Debatte erleben wir fast schon eine bessere Gesellschaft mit mehr Lebensqualität als die Trivialisierung des Begriffs Nachhaltigkeit. Er ver- heutige. Für solche Ziele kann man vor allem bei jungen 22146 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Ulrich Kelber (A) Menschen werben. Wir müssen die Zielvorstellungen Teil von Niedrig- und Mittelverdienern, die in das Soli- (C) und nicht die Instrumentendebatte nach vorne stellen. darsystem einzahlen müssen, und in einen Teil von Bes- serverdienenden, denen es freigestellt wird, ob sie in das Dabei bietet die Breite der Nachhaltigkeitspolitik eine Solidarsystem einsteigen oder nur unter sich für Solida- große Chance. Als jemand, der in der Umweltpolitik zu rität sorgen. Diese Frage muss man erneut stellen, weil Hause ist, nenne ich diesen Punkt bewusst an erster man ansonsten viele Menschen ihrer Zukunftschancen Stelle. Ich mache das auch deswegen, weil man dann, beraubt. wenn man von den drei Säulen der Nachhaltigkeit spricht, eines nicht vergessen darf: Die verletzlichste Deswegen müssen wir uns wirklich überlegen: Wel- dieser Säulen ist die uns umgebende Umwelt, die Ökolo- che Methoden haben wir eigentlich, nachhaltig zu arbei- gie. Sie kann am leichtesten unwiederbringlich verloren ten? Im Rahmen einer Nachhaltigkeitsprüfung jedes Ge- gehen. Daher darf sie bei der Verfolgung unserer Ziele setzes wäre es nötig, eine Debatte über die Frage zu nicht relativiert werden, sondern sie muss immer mitge- führen: Machen wir ein Gesetz, mit dem wir notdürftig dacht werden. Sie bildet klare Grenzen für all das, was etwas flicken? Machen wir ein Gesetz, mit dem wir ei- man in der Politik machen kann. nen ersten Baustein für eine Lösung schaffen, was ja auch in Ordnung ist? Oder machen wir ein Gesetz, mit Wir debattieren natürlich auch über die Bildungsziele. dem wir nachhaltig etwas verändern? Letzteres führt Ein Land wie Deutschland muss sich fragen: Sind wir möglicherweise dazu, dass die heutige Generation mehr richtig aufgestellt, um die Empfehlungen der internatio- tragen muss, zumindest so viel, wie sie selber davon pro- nalen Organisationen wie der OECD umzusetzen, näm- fitiert; aber das wäre im Sinne der nächsten Generation, lich die Anzahl der Menschen mit einem Hochschulab- und die Probleme wären in zehn Jahren umso geringer. schluss, den sie zum Beispiel für die Jobs der Zukunft Diese Debatte sollten wir jedes Mal auf der Grundlage benötigen, zu erhöhen? Ist unser System, mit dem wir von Expertisen ausführlich führen; das ist die Anstren- Bildung vermitteln, und sind die Investitionen in die ver- gung wert. schiedenen Stufen der Bildung richtig ausgerichtet, um dieses Ziel zu erreichen? Wenn wir diese Debatte im Zusammenhang mit einer Wir sehen, dass führende Länder wie Finnland bei Nachhaltigkeitsprüfung für jedes neue Gesetz führen, soll- Bildungsvergleichen besser abschneiden, weil dort ten wir eines noch ergänzen – das wäre meine Bitte –: Wir 90 Prozent eines Jahrgangs einen Schulabschluss ma- sollten auch darüber nachdenken, ob wir nicht für die chen, der den Zugang zur Hochschule erlaubt. Um es auf Gesetze, die keine nachhaltigen Subventionen betreffen, unsere Verhältnisse zu übertragen: 90 Prozent eines die Selbstverpflichtung einführen, sämtliche Subventio- Jahrgangs machen dort Abitur. Wenn in Debatten Bil- nen – wir haben ja den Subventionsbericht – noch ein- (B) dungspolitiker erklären, es könne nicht das Ziel sein, mal auf ihre Nachhaltigkeit hin zu überprüfen, und wir (D) dass die Mehrheit eines Jahrgangs Abitur macht, dann sollten überlegen, ob wir nicht zumindest die Subven- muss man sagen: Diese Politiker sind in ihrem Lösungs- tionen, die nicht nachhaltig wirken, in der Gesamt- ansatz nicht nachhaltig. Sie müssen entweder dazulernen summe – nicht jede einzelne; sonst kommt immer eine oder abgelöst werden. neue dazu – um 10 Prozent jedes Jahr reduzieren. Auch das wäre ein wichtiger Schritt hin zu einer nachhaltigen (Beifall bei der SPD) Politik. Angesichts der Tatsache, dass in der Bundesrepublik Vielen Dank. Deutschland die Hälfte aller Kinder in den Ballungsge- bieten aus Familien mit Migrationshintergrund kommt, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten muss die sprachliche Integration weit über das Maß der der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE Verbesserung in den letzten Jahren – die Situation hat GRÜNEN) sich hinsichtlich der Bemühungen um Integration schon verbessert – fortgesetzt werden. Das sind so einfach ab- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: lesbare Größenordnungen, dass die Debatten der Vergan- Der letzte Redner in der Debatte ist der Kollege genheit über die Instrumente leicht überwunden werden Dr. Günter Krings für die CDU/CSU-Fraktion. können. (Beifall bei der CDU/CSU) Wie auch andere Staaten in Europa – wir haben diese Debatte etwas früher begonnen – stellt uns natürlich die Dr. Günter Krings (CDU/CSU): demografische Veränderung, also die Tatsache, dass das Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Durchschnittsalter der Menschen steigt und es immer Herren Kollegen! Ich möchte, auch meiner Rolle als mehr ältere Menschen gibt, vor entsprechende Heraus- Vorsitzender des Parlamentarischen Beirats gemäß, die forderungen. Wir müssen uns fragen: Wie muss eine In- letzte Rede in dieser Debatte zunächst dazu nutzen, mich frastruktur ausgerichtet werden, die eventuell später von zu bedanken: bei allen Kolleginnen und Kollegen im weniger Menschen genutzt wird? Wie werden die Beirat für die Arbeit, die wir im Zusammenhang mit der Sozialsysteme gestützt? Erarbeitung unserer Stellungnahme zu diesem Fort- Wenn wir wissen, dass in Zukunft mehr Menschen schrittsbericht, die kurz vor der Vollendung steht, bereits durch ihr Alter auf Solidarität in den Sozialsystem ange- geleistet haben, sowie bei der Bundesregierung für die wiesen sind, dann stellt sich die Frage, ob wir es uns er- Erstellung des Berichts. Ich darf auch meiner Freude lauben können, die Sozialsysteme aufzuteilen in einen Ausdruck verleihen, dass nicht nur der Staatsminister Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22147

Dr. Günter Krings (A) aus dem Kanzleramt, , in dieser Debatte ner guten Stunde das Vergnügen, den Beratungen in der (C) anwesend ist, sondern – jedenfalls auf dem Höhepunkt Endphase der Föderalismuskommission II beizuwohnen. der Debatte und ich nehme es nicht persönlich, dass der Hier versuchen wir, mit den Folgen eines nicht nachhal- Höhepunkt in der Wahrnehmung einiger schon vorbei zu tigen politischen Denkens, mit dem Marsch in den sein scheint – auch über ein halbes Dutzend Ministerien Schuldenstaat seit über vier Jahrzehnten aufzuräumen. vertreten waren. Daran zeigt sich, dass die Bundesregie- Die Instrumente wurden genannt: Schuldenbremse, Sta- rung begriffen hat, dass es sich um eine Querschnittsauf- bilitätsrat. Es soll ferner ein Frühwarnsystem gegen neue gabe handelt. Allerdings muss die Ausdauer mancher Schulden eingeführt werden. Es ist allerdings ein biss- Ressorts noch gesteigert werden. chen gewöhnungsbedürftig, wenn man nach vier Jahr- zehnten des Schuldenmachens jetzt von einem Früh- ( [FDP]: Nachhaltigkeit beim warnsystem spricht. In der Sache kommen wir dadurch Zuhören!) aber weiter. Die Nachhaltigkeitsstrategie und der Grund- Aber der Grad der Anwesenheit war auf jeden Fall ein satz der Nachhaltigkeit müssen stärker in der Tagespoli- gutes Zeichen. tik ankommen. Daran werden wir gemeinsam arbeiten. Der Bericht selber weist Licht und Schatten auf. Das (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wird mit den schönen Symbolen für Sonne über Wolken neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ bis hin zu Gewitter dargestellt. Zwölfmal scheint die DIE GRÜNEN) Sonne über Indikatoren; deutlich weniger – nur sieben- Um das zu erreichen, ist das Management von Nach- mal – sind Gewitterwolken zu sehen. Das zeigt, dass wir haltigkeit ein ganz entscheidender Punkt. Wir begrüßen in vielen Punkten – wenn auch nicht in allen – auf einem es daher sehr, dass die Bundesregierung sich bereit er- guten Wege sind. Stichworte wurden genannt: Reduzie- klärt hat, diesen Punkt in die Gemeinsame Geschäftsord- rung der Treibhausgase, die Übererfüllung der Ziele bei nung der Bundesministerien – das klingt sehr langweilig, den erneuerbaren Energien, eine stärkere Berücksichti- ist aber ganz wichtig – aufzunehmen und zu sagen: Teil gung älterer Erwerbstätiger im Erwerbsleben, Ausbau der Gesetzesfolgenabschätzung, die sich in der Praxis der Ganztagsbetreuung – insbesondere aufgrund der letz- leider seit Jahren in einem Dornröschenschlaf befindet, ten Initiativen aus dem von-der-Leyen-Ministerium – für soll jetzt die Nachhaltigkeitsprüfung werden. – Dies ist die Drei- bis Fünfjährigen. Insofern sind zu Recht einige die große Chance, die Gesetzesfolgenabschätzung end- Sonnen zu sehen. lich zu reaktivieren. Ich war vor einigen Monaten sehr Aber das Wetter kann sich manchmal schnell ändern. erfreut, als wir sehr kurzfristig und sehr rasch von Bun- Das sehen wir etwa beim Indikator Staatsverschuldung. desinnenminister Schäuble in dieser Frage grünes Licht Vor der Finanzmarktkrise sah das noch alles sehr gut bekommen haben und er sich sehr klar hinter diese For- (B) (D) aus. Es war wichtig, dass wir die Anstrengungen zur derungen des Nachhaltigkeitsbeirates gestellt hat. Konsolidierung unternommen haben; denn sonst hätten Wir brauchen also ein stärkeres Langfristdenken – das wir es noch schwerer, in dieser Krise zu reagieren. bedeutet auch mehr Generationengerechtigkeit – in der Dass Nachhaltigkeit ein Thema ist, das – Herr Kol- Politik. Es ist gut, dass die Regierung jetzt ihren Teil lege Kelber, da stimme ich Ihnen zu – von den Medien dazu beitragen will. Es ist genauso wichtig, dass das Par- und in der Öffentlichkeit noch nicht ausreichend wahr- lament in dieser Frage aktiv und führend bleibt. Dies ist genommen worden ist, ist sicherlich richtig. Aber das eine Querschnittsaufgabe. Deswegen ist es unverzicht- liegt auch daran, dass unsere mediale Öffentlichkeit in bar, dass wir vom Nachhaltigkeitsbeirat diese Frage wei- erster Linie Probleme wahrnimmt und beschreibt. So ter behandeln und daran mitwirken, bei der Fortschrei- sind die Nachrichten im Fernsehen und in den Zeitungen bung der Nachhaltigkeitsstrategie die richtigen Weichen aufgebaut. Nachhaltigkeit ist aber keine Problembe- zu stellen, aber auch die Regierung da kontrollieren, wo schreibung, sondern ein Lösungsansatz. Deshalb ist es sie ihre Ziele nicht erreicht hat, oder ihr Hilfestellung ge- gerade jetzt, in der Zeit der Finanzmarktkrise, wichtig, ben, sie besser zu erreichen. Aus diesem Grunde wird si- dass wir dieses Thema gemeinsam nach vorne bringen. cherlich, ohne große hellseherische Fähigkeiten zu ha- ben, am Ende der Wahlperiode ein Vorschlag unseres In Teilen der Wirtschaft – nicht in allen Bereichen der Gremiums sein, diesen Beirat dauerhaft zu verankern Wirtschaft –, die übrigens auch von Ihrer Partei, Herr und für uns eine aktive Rolle vor allem bei der Durch- Kollege Döring, als besonders modern, wegweisend und führung von Nachhaltigkeitsprüfungen vorzusehen. Wir dynamisch dargestellt worden sind, war und ist vielleicht wollen einfordern, dass Gesetze im Hinblick auf ihre noch heute oft zu kurzfristiges, zu kurzatmiges Denken Nachhaltigkeit geprüft werden. und Handeln an der Tagesordnung. Es wurde mehr auf Quartalsberichte und weniger auf langfristige Erfolge, In der Regierung macht das federführend das Kanz- mehr auf Tageskurse als auf bleibende Werte geachtet. leramt. Das ist eine gute Sache. Wir würden uns wün- schen – mehr können wir nicht tun –, dass dies im Kanz- (Patrick Döring [FDP]: Vom Gesetzgeber vor- leramt weiter aufgewertet wird, zum Beispiel in Form geschrieben!) eines eigenen Referates. Es sollte darüber hinaus in je- – Da gab es zugegebenermaßen falsche Wegweisungen, dem Ministerium ein eigenes Referat für diese Aufgabe teilweise auch durch den Gesetzgeber. geben. Das wäre sicher ein richtiges Signal. Es gibt einen zweiten aktuellen Anlass, warum dies (Beifall des Abg. Winfried Hermann [BÜND- heute eine besonders wichtige Debatte ist. Ich habe in ei- NIS 90/DIE GRÜNEN] – Ulrich Kelber [SPD]: 22148 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Günter Krings (A) Im Kanzleramt muss es eine ganze Abteilung Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) werden!) Damit ist die Aussprache beendet. – Es kann auch über ein Referat hinausgehen. Wir fan- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf gen mal klein an, Herr Kollege Kelber. Drucksache 16/10700 an die Ausschüsse vorgeschla- gen, die in der Tagesordnung aufgeführt sind. – Damit Das Herzstück der Nachhaltigkeitsstrategie sind die sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Indikatoren. Das ist ein fast revolutionärer Politikansatz, der in anderen Bereichen Schule machen sollte. Wir ge- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf: hen nicht von Instrumenten aus und sagen nicht, wie viel Geld wir für ein bestimmtes Thema ausgeben wollen, Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre- sondern sagen, was wir erreichen wollen. Wir haben in gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes der Nachhaltigkeitsstrategie definierte, klare Ziele ver- zur Fortentwicklung des Pfandbriefrechts bunden mit messbaren Zahlen. Jeder, der sich in Wirt- – Drucksachen 16/11130, 16/11195 – schaftsfragen etwas auskennt, weiß: Nur das, was ich messen kann, kann ich letztlich auch managen. Es ist ei- Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus- gentlich ein bisschen traurig, dass man in der Politik die- schusses (7. Ausschuss) sem Grundsatz außerhalb des Bereichs der Nachhaltig- – Drucksachen 16/11886, 16/11929 – keitsstrategie noch zu wenig Beachtung schenkt. Berichterstattung: Wenn Indikatoren aber so wichtig sind, dann ist es na- Abgeordnete Leo Dautzenberg türlich logisch, dass Kontinuität gewahrt bleiben muss. Ingrid Arndt-Brauer Wir können nicht in dem einen Jahr Äpfel und im ande- Carl-Ludwig Thiele ren Jahr Birnen zählen; es muss bei den Indikatoren Kontinuität geben. Trotz allem sind behutsame Anpas- Es ist vorgesehen, hierüber eine Dreiviertelstunde zu sungen und Lehren aus der Entwicklung richtig und not- debattieren. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. wendig. Als Mitglied des Rechtsausschusses in diesem Dann ist so beschlossen. Hause möchte ich einen Punkt herausgreifen: Der Indi- Als Erster hat das Wort der Kollege Bernd Scheelen kator „Zahl der Wohnungseinbrüche“ hat eine gegen null für die SPD-Fraktion. tendierende Aussagekraft für das Thema Nachhaltigkeit. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie CDU/CSU) bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN) (B) Bernd Scheelen (SPD): (D) Wir sollten den Mut haben, solche Indikatoren auch zu Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und streichen. Wenn alles nachhaltig ist, ist eben leider bald Herren! Sind Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken nichts mehr nachhaltig. Der Begriff benötigt Konturen. eigentlich langweilige Institute? Dabei sollte man sich auf die wesentlichen Punkte kon- zentrieren. (Ute Kumpf [SPD]: Nein!) Ein wesentlicher Punkt etwa ist all das, was mit dem Sind Bausparverträge langweilige Verträge? demografischen Wandel zu tun hat. Ich finde es gut, dass (Ute Kumpf [SPD]: Das habe ich früher ge- ein Indikator der Ausbau der Ganztagsbetreuung ist. Wa- dacht!) rum gibt es keinen Indikator zur Entwicklung der Gebur- tenrate insgesamt? Das wäre sicherlich ein sinnvoller Sind Pfandbriefe eigentlich langweilige Wertpapiere? Punkt für künftige Fortschreibungen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Nein! Wert- Mein letzter Punkt – ich komme zum Schluss –: Ich haltige!) glaube, dass wir in diesem Land gemeinsam dafür sor- Es mag sein, dass manch einer in dieser Republik das gen müssen – dieses Ziel ist noch nicht erreicht –, dass glaubt oder in der Vergangenheit geglaubt hat und diese Nachhaltigkeit zu einem echten Leitprinzip der Politik Fragen alle mit Ja beantwortet hätte; wird, dass sich auch die Tagespolitik aus der Nachhaltig- keitsstrategie heraus entwickelt. Die Beiratsmitglieder (Ute Kumpf [SPD]: Viele wollen jetzt Spießer sind der Überzeugung – ich hoffe, das gilt auch über un- werden!) seren Beirat hinaus –, dass der Nachhaltigkeitsgrundsatz möglicherweise, weil wir Menschen dazu neigen, all insbesondere in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten das, was wir lange kennen, was sich bewährt hat und uns sowohl eine Stabilitätsgarantie als auch ein Innovations- vertraut ist, als nicht besonders aufregend zu empfinden, motor für unser Land sein kann. In diesem Sinne erhoffe sondern als langweilig, jedenfalls nicht als in irgendeiner ich mir für den nächsten Fortschrittsbericht: noch mehr Weise sexy. Die Menschen wissen aber auch, dass ein Sonne und noch weniger Wolken. vielleicht nicht besonders aufregendes Image für Zuver- Herzlichen Dank. lässigkeit, für Vertrauen und für Sicherheit steht. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP Hätten wir in der derzeitigen Krise die Stabilitäts- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie anker Sparkassen, Volks- und Raiffeisenbanken nicht, der Abg. Eva Bulling-Schröter [DIE LINKE]) hätten wir diese Institutionen nicht jahrelang gegen An- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22149

Bernd Scheelen (A) griffe von allen möglichen Seiten verteidigt, hätten wir dass sich das Gesamtvolumen solcher gedeckter Schuld- (C) sie nicht gestärkt, dann sähe es, so glaube ich, auf dem verschreibungen auf der Welt auf rund 2,1 Billionen Finanzsektor in Deutschland schlimmer aus, als es jetzt Euro beläuft, dann stellt man fest, dass der deutsche der Fall ist. Pfandbrief eine starke Stellung hat. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der ist der si- des Abg. Carl-Ludwig Thiele [FDP]) cherste von allen!) Es zeigt sich, dass es richtig war, das Dreisäulenmodell – Er ist der sicherste von allen. – Deswegen hat er so zu verteidigen und zu erhalten. eine starke Stellung. Er deckt 42 Prozent des Weltmark- Die Älteren unter Ihnen, zu denen auch ich mich tes ab. Das unterstreicht auf der einen Seite seine Bedeu- zähle, werden sich vielleicht noch daran erinnern, dass tung und seine Qualität. Auf der anderen Seite unter- die Pfandbriefbanken in den 70er-Jahren im Fernsehen streicht es aber auch die Notwendigkeit – deswegen – Sie erinnern sich: mit der Schwurhand – für Pfand- sitzen wir heute zusammen –, das Pfandbriefrecht wei- briefe und Kommunalobligationen mit dem Spruch „si- terzuentwickeln. cher ist sicher“ geworben haben. Die Bausparkassen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der haben in jüngster Zeit mit ihrem vermeintlichen Spießer- FDP) image geworben. Sie erinnern sich an den Spot – Ingo Naujoks gab den Hippie –, in dem der Vater gegenüber Diejenigen, die zu diesem Gesetzentwurf die Bericht- seiner Tochter diejenigen, die in eigenen Immobilien erstatter für ihre Fraktionen sind, sind zum großen Teil wohnen, als Spießer bezeichnet. Die Tochter hat dann auch im Februar 2005 dabei gewesen, als wir das Gesetz gesagt: Du Papa, wenn ich groß bin, möchte ich auch zur Neuordnung des Pfandbriefrechts aus Anlass des mal Spießer werden! Wegfalls der Gewährträgerhaftung verabschiedet haben. Wir haben damals einstimmig ein gutes Gesetz gemacht. (Zuruf von der CDU/CSU: Auch Schwäbisch Aber Märkte und Notwendigkeiten entwickeln sich wei- Hall hat diese Werbung! – Leo Dautzenberg ter. [CDU/CSU]: Wüstenrot nicht zu vergessen! – Ute Kumpf [SPD]: Alle in Baden-Württem- (Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!) berg!) Man muss auch als Gesetzgeber darauf achten, dass man – Ich sage ja: Die Bausparkassen und die Pfandbriefban- bei solchen Gesetzesvorhaben auf der Höhe der Zeit ken haben so geworben. bleibt. Wir müssen also den Pfandbrief weiterentwi- ckeln. (B) Als meine drei Kinder 18 Jahre alt wurden, bekamen (D) sie die Gelegenheit, über sieben Jahre einen festen, klei- Die ersten Überlegungen zur Weiterentwicklung des nen Betrag monatlich anzulegen. Zwei von den dreien Pfandbriefes sind schon etwas älter als die akute Krise. haben sich für einen Bausparvertrag entschieden. Ein Teilnehmer der Anhörung hat das so formuliert: Die ersten Überlegungen fanden zu Schönwetterzeiten statt. – (Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/ Jetzt haben wir Hagel und Sturm. Es war klar, dass sich DIE GRÜNEN]: Wie spießig!) der Regierungsentwurf dieser Situation anpassen musste Ein Kind hat sich damals für den sogenannten Neuen und wir darauf reagieren mussten. Deshalb hat sich das Markt entschieden. Nach den sieben Jahren waren alle Gesetz, das jetzt verabschiedet wird, gegenüber dem Ka- drei reicher: zwei an Geld, einer an Erfahrung. binettsentwurf deutlich verändert. Anleger müssen Entscheidungen treffen. Sie müssen Der Schwerpunkt des Kabinettsentwurfs lag auf der sich fragen: Was will ich? Will ich Sicherheit oder eine Ausdehnung des Geschäftsfeldes für Pfandbriefe, zum hohe Rendite? Da stellt man fest, dass es sich dabei wie Beispiel durch die Einführung des Flugzeugpfandbrie- bei kommunizierenden Röhren verhält: Wenn ich ein hö- fes, die wir 2005 bewusst noch nicht in die Wege geleitet heres Risiko habe, dann habe ich auch die Chance, mehr haben. Sie ist aber jetzt vorgesehen. Wir bilden ihn dem Rendite zu erwirtschaften. Aber es kann eben auch sein, seit über 75 Jahren bewährten Schiffspfandbrief nach. Er dass die Rendite am Ende, weil das Risiko zu groß ist, stellt eine Bezugsgröße dar, von der wir wissen, dass sie negativ ist. sehr verlässlich ist. Viele Anleger haben sich in der Vergangenheit für Si- Nun haben wir den Fokus auf weitere Qualitätsverbes- cherheit und Qualität entschieden. Sie haben sich für den serungen des Pfandbriefes gelenkt. Qualitätsverbesse- deutschen Pfandbrief entschieden. Hauptsächlich han- rung heißt im Wesentlichen Verbesserung von Transpa- delt es sich dabei um institutionelle Anleger wie Banken, renz für den Anleger. Insofern war die Anhörung sehr Fonds und Versicherungen. Das wissen die meisten wichtig. Wir haben Anregungen des Zentralen Kreditaus- nicht. Allen, denen ich gesagt habe, dass ich zum Thema schusses und auch der Bundesanstalt für Finanzdienst- Pfandbrief rede, meinten: spannendes Thema. – Auch sie leistungsaufsicht aufgegriffen, zum Beispiel indem wir hielten das für langweilig. Aber wenn ich dann erkläre, erstens den Zeithorizont für die Darstellung des kurzzei- dass sich das Umlaufvolumen deutscher Pfandbriefe auf tigen Liquiditätsbedarfs im Falle einer möglichen Insol- 900 Milliarden Euro beläuft und wir sie zur Staatsfinan- venz von 90 auf 180 Tage verdoppelt haben. Das heißt, zierung aller Ebenen brauchen, dann schlucken sie, weil ein im Falle einer solchen Insolvenz einzusetzender sie das nicht wussten. Wenn man dann noch nachschiebt, Sachwalter – einen solchen Fall hat es noch nie gegeben, 22150 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Bernd Scheelen (A) und es wird ihn sehr wahrscheinlich auch nicht geben – eigenen Wunsch unter die Aufsicht der Bundesanstalt (C) hat ein halbes Jahr Zeit, seine Tätigkeit vorzubereiten. für Finanzdienstleistungsaufsicht, der BaFin, zu kom- men. In der Anhörung wurde deutlich, dass es Sinn hat, Zweitens haben wir Veränderungen bei den soge- der BaFin die Möglichkeit zu geben, selber den Antrag nannten Laufzeitenbändern vorgenommen. Sie werden zu stellen, einen Finanzdienstleister unter Aufsicht zu enger gefasst. Bei der Darstellung der Laufzeitenstruktur stellen. Das war ein Punkt, den der Kollege Carl-Ludwig und der Zinsbindungsfristen für die Deckungswerte, die Thiele besonders unterstrichen hat. veröffentlicht werden, gibt es in Zukunft nicht mehr vier Stufen wie bisher. Das schien einigen Anlegern zu wenig (Otto Fricke [FDP]: Ein guter Mann, der Herr zu sein. Wir haben das nachvollziehen können. Es wird Thiele!) demnächst sieben Stufen geben. Das wird zu deutlich – Ja, ich bestreite das ja gar nicht. Zum Lob komme ich mehr Transparenz, insbesondere bei den kurz- und mit- gleich noch; das mache ich am Schluss. Dann werdet ihr telfristigen Fälligkeiten, führen. Das ist im Interesse der alle pauschal gelobt; das ist keine Frage. Anleger, schafft mehr Durchsichtigkeit und damit auch mehr Vertrauen. Wir brauchen Vertrauen auf den Finanz- Wir sind diesem Wunsch gefolgt. Es ist jetzt Bestand- märkten. Der Markt der Pfandbriefe ist ein besonders teil des vorgelegten Gesetzentwurfes. wichtiger Bereich des Finanzmarktes. Bezüglich der Erlaubnispflicht im Bereich der Anla- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie gen gab es den Wunsch des Kollegen Dr. Schick, sich in bei Abgeordneten der FDP und des BÜND- diesem Zusammenhang mit dem grauen Kapitalmarkt zu NISSES 90/DIE GRÜNEN) beschäftigen. Dieses Anliegen hat er schon länger vorge- tragen. Dem sind wir gefolgt. Wir werden – so ist es, Drittens erleichtern wir mit dem vorgelegten Gesetz- glaube ich, gestern vereinbart worden – eine Anhörung entwurf die Konsortialfinanzierung. Das heißt, wir er- dazu durchführen. Das BMF wird für einen Bericht sor- möglichen es auch kleineren Banken, sich durch Zusam- gen. menschlüsse auf dem Pfandbriefmarkt zu betätigen. Das wiederum stärkt die Sicherheit; denn eine Konsortialfi- Weil der Kollege Dr. – er ist gerade nicht nanzierung ist ein Beitrag zur Risikostreuung. Das bringt anwesend – sich sehr konstruktiv an den Beratungen be- auch dem Anleger Vorteile, weil die Risiken breiter ge- teiligt hat, möchte ich auch ihn hier namentlich erwäh- streut werden. nen, genauso wie den Kollegen Leo Dautzenberg. Der Pfandbrief – das wissen alle, die hier sind und (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das hat die sich mit dem Thema beschäftigen – hat in den letzten Kollegin Höll dann übernommen!) vier Monaten nach dem Zusammenbruch von Lehman (B) – Ja, aber an den Beratungen, die wir als Berichterstatter (D) Brothers gelitten – wie wir wissen, zu Unrecht, weil er durchgeführt haben, war im Wesentlichen Kollege Tro- mit den inkriminierten Papieren, den Subprime-Papieren ost beteiligt. oder vergifteten Papieren – oder welchen Namen man sich mittlerweile noch hat einfallen lassen –, überhaupt Ich nenne alle fünf namentlich, weil wir heute einen nichts zu tun hat. Pfandbriefe sind absolut sichere Pro- seltenen Fall erleben werden: Wir werden diesen Ent- dukte, weil hinter ihnen reale Werte stecken, die sehr, wurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung des Pfandbrief- sehr konservativ geschätzt sind. Der Pfandbrief ist sozu- rechts einstimmig in diesem Hohen Haus beschließen. sagen in Sippenhaft genommen worden, obwohl er ja Das kommt nicht allzu oft vor. kein Subprime-Papier, sondern ein Premiumpapier ist. Für Pfandbriefe brauchen wir keine Bad Bank; Pfand- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie briefe sind sozusagen eine Best Bank. bei Abgeordneten der FDP) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Das ist allerdings eine Tradition. Auch 2005 haben wir der CDU/CSU und der FDP – Otto Fricke das Gesetz einstimmig beschlossen. Es ist ja so: Wenn [FDP]: Bei Bad Government weiß man das man zweimal dasselbe macht, ist es Tradition; wenn wir nicht!) es das nächste Mal machen, ist es schon Brauchtum. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir dieses Gesetz einstimmig – Ich finde, das kann man beklatschen. beschließen, weil das ein Signal nach draußen ist, In ihrer über 200-jährigen Geschichte hat es keinen (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Ja!) einzigen Ausfall bei Pfandbriefen gegeben. Es wird auch dass der Deutsche Bundestag die Qualität des Pfandbrie- in dieser Finanzkrise zu keinem Ausfall kommen, weil fes unterstreicht und dass er sagt: Habt Vertrauen in die- reale Werte dahinterstecken. ses Instrument. Es ist ein Instrument, das das absolute Allerdings müssen wir feststellen, dass die Sensibili- Vertrauen der Anleger verdient. tät der Anleger gestiegen ist. Dem haben wir mit dem Herzlichen Dank an alle Beteiligten in den Fraktio- vorliegenden Gesetzentwurf Rechnung getragen. Es nen! handelt sich dabei um ein Artikelgesetz, durch das wir eben nicht nur das Pfandbriefrecht weiterentwickeln, Mein Dank gilt auch dem Ministerium, das unsere sondern auch Änderungen im Kreditwesengesetz verein- Beratungen sehr konstruktiv begleitet hat. Ich glaube, baren. Zum Beispiel war ursprünglich vorgesehen, es das heutige einstimmige Votum zeigt einmal mehr, dass den Finanzholding-Gesellschaften zu ermöglichen, auf die Demokratie auch in Zeiten der Krise handlungsfähig Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22151

Bernd Scheelen (A) ist. Heute machen wir, wenn auch im Kleinen, ein Stück Finanzinstitute geregelt. Nun wurde im Hinblick auf die (C) weit die gleiche Erfahrung, die wir im Zusammenhang Aufsicht von Finanzholding-Gesellschaften eine neue mit dem Rettungsschirm für die Banken gemacht haben: Regelung getroffen. Der konkrete Anlass für diese Rege- In diesem Fall hat die Demokratie ebenfalls gezeigt, dass lung besteht darin, dass wir, was die Aufsicht betrifft, sie auch in schwierigen Zeiten in der Lage ist, zusam- vor kurzem ein komplettes Versagen erleben mussten, menzustehen. Das stärkt nicht nur das Vertrauen in den nämlich bei der Hypo Real Estate. deutschen Pfandbrief, sondern auch das Vertrauen in die deutsche Politik. – Wie ich sehe, habe ich es tatsächlich (Beifall bei der FDP) in exakt 14 Minuten geschafft. Die Hypo Real Estate hat eine irische Bank übernom- Ich danke herzlich für Ihre Aufmerksamkeit. men. Die Mitglieder des Finanzausschusses haben zu ih- rer Überraschung erst im Herbst letzten Jahres erfahren, (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP dass die Hypo Real Estate, eine Finanzholding, die im- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) merhin ein DAX-Wert war, nicht der Bankenaufsicht un- terliegt. Das kann nicht richtig sein, und das konnte nicht Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: richtig sein. Hier ist die Frage zu stellen: Wann war das Der Kollege Carl-Ludwig Thiele spricht jetzt für die den Verantwortlichen bekannt? FDP-Fraktion. (Otto Fricke [FDP]: Staatsversagen!) In einem aktuellen Bericht des Spiegel heißt es, dass Carl-Ludwig Thiele (FDP): die Finanzaufsicht das Bundesfinanzministerium schon Sehr geehrte Frau Vizepräsidentin! Meine sehr ver- Anfang 2007 auf diese Regelungslücke bezüglich der ehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schee- Aufsicht hingewiesen hat. Diesem Vorgang muss weiter- len, ich kann Ihrem Lob für den deutschen Pfandbrief hin nachgegangen werden. zustimmen. Die FDP beurteilt das genauso. Es ist gut, dass wir heute eine Fortentwicklung des im Jahre 2005 (Beifall bei der FDP sowie des Abg. in Kraft getretenen Gesetzes zur Neuordnung des Pfand- Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- briefrechts beschließen. Damals ging es darum, öffentli- NEN]) che und private Pfandbriefe zusammenzuführen. Mit Der Gesetzentwurf sieht für die Zukunft die Prü- dem heutigen Gesetz erweitern wir den Pfandbrief um fungsmöglichkeit vor. Diese Regelung wurde im Finanz- eine wesentliche Komponente. ausschuss auf Initiative der FDP im Vergleich zum Re- Bislang gab es Schiffspfandbriefe zur Schiffsfinanzie- gierungsentwurf verschärft. Dort hieß es nur, dass „auf (B) rung. Dieses bewährte Institut übernehmen wir jetzt Antrag“ des jeweiligen Instituts geprüft werden darf. (D) auch für den Bereich der Flugzeuge, weil dort ähnliche Was ist bei der Hypo Real Estate eigentlich gesche- Regeln gelten. Dieses Vorhaben haben wir schon im hen? Ein deutsches Finanzinstitut, ein DAX-Wert, hat Jahre 2005 erörtert. Ich bin froh darüber, dass das Ergeb- eine ausländische Beteiligung erworben. Die Banken- nis unserer Beratungen jetzt spruchreif ist und wir end- aufsicht hatte überhaupt keine rechtliche Möglichkeit, lich beginnen können. dieses Institut zu überprüfen. Die Probleme dieses Insti- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten tuts gingen auf die Mutter und von der Mutter auch auf der CDU/CSU und der SPD) die Töchter über. Im Ergebnis hat das dazu geführt, dass der deutsche Steuerzahler bis heute mit 102 Milliar- Herr Kollege Scheelen, auch Ihren Ausführungen den Euro dafür haftet, dass unsauber operiert und der zum Dreisäulensystem stimme ich ausdrücklich zu. Aufsichtspflicht nicht nachgekommen wurde. Wenn ich Trotz aller Probleme, die es auf dem Finanzmarkt derzeit mir das vor Augen halte, muss ich feststellen: Das sind gibt, muss man festhalten, dass es nicht in allen Berei- Vorkommnisse, mit denen sich das Parlament, auch über chen solche Probleme gibt. Man sollte einmal deutlich diesen konkreten Gesetzentwurf hinaus, noch sehr inten- machen, dass es gerade bei den Pfandbriefen keine der- siv beschäftigen muss. artigen Probleme gibt. (Beifall bei der FDP) Sie haben erwähnt, dass wir mit diesem Gesetzge- bungsvorhaben, was die Situation im Finanzsektor an- An dieser Stelle ist zu sagen: Das KWG ist nicht ir- geht, angefangen haben, als schönes Wetter herrschte. gendein Gesetz. Wir haben keinen Bereich unserer Wirt- Inzwischen stehen die Zeichen aber auf Sturm. Insofern schaft so stark reglementiert und mit Aufsichtsvorschrif- muss man sich fragen: Was ist verbessert worden? Wo ten versehen wie den Finanzsektor. Wir haben in § 11 sind Fehlentwicklungen festzustellen? Wo ist in der Ver- KWG sichergestellt, dass ein Finanzinstitut über Liqui- gangenheit etwas falsch gelaufen? Bei den Pfandbriefen dität verfügen muss. Das wird bei jedem deutschen Fi- sind wir Weltmarktführer, und das wollen wir bleiben. nanzinstitut von der Aufsicht, der BaFin, überprüft, und Insofern begrüßt die FDP die Änderungen, die mit die- auch von der Deutschen Bundesbank. sem Gesetzentwurf verbunden sind. Insofern ist es erstaunlich, dass der Chef der Aufsicht, Sie haben auch angesprochen, dass es sich bei diesem Herr Sanio, erklärt hat, das System sei zwar geprüft wor- Gesetz um ein Artikelgesetz handelt. In diesem Artikel- den, aber die Liquidität habe man nicht prüfen können. gesetz ist das KWG, das Gesetz für die Kreditwirtschaft, Wenn man sich klarmacht, welche Probleme in Finanz- enthalten. Im KWG sind die Sicherungsmaßnahmen für instituten entstehen können, weiß man diese Stellen im 22152 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Carl-Ludwig Thiele (A) KWG zu schätzen. Auch das KWG als Rechtsrahmen Leo Dautzenberg (CDU/CSU): (C) für die Finanzaufsicht ist nämlich im Grundsatz einver- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe nehmlich beschlossen worden. Keiner von uns wusste Kolleginnen und Kollegen! Die Geschichte des deut- allerdings, dass, wenn die Konstruktion einer Finanzhol- schen Pfandbriefs ist – darauf ist schon hingewiesen ding, die selbst keine Bankgeschäfte betreibt, gewählt worden – eine Erfolgsgeschichte. Der Pfandbrief hat wird, die Holding von der Aufsicht nicht überprüft wird. mehrere Finanzkrisen überstanden. Er ist zum Vorbild für zahlreiche Schuldverschreibungen im Ausland ge- (Otto Fricke [FDP]: Vielleicht war das Ab- worden und hat sich damit zum größten Segment des sicht?) globalen Marktes gedeckter Schuldverschreibungen ent- – Das ist nicht ausgeschlossen. Denn bei der HRE han- wickelt. delt es sich um eine Neugründung; diese Bank ist noch nicht allzu alt. Ich vermute, dass bei der Neugründung Es gibt dabei Qualitätsunterschiede. Wenn man sich bestimmte Kriterien gewählt wurden, um eine solche die Covered Bonds im Ausland anschaut, muss man fest- Konstruktion zu ermöglichen. stellen, dass es sich zwar auch um gedeckte Schuldver- schreibungen handelt; aber vom Deckungsstock her Als die HRE die Bank im Ausland erworben hat, hat steckt nicht die Qualität dahinter, die wir beim deutschen die Aufsicht von vornherein gesehen, dass Probleme Pfandbrief kennen. Der deutsche Pfandbrief ist nach wie kommen können. Sie hat an das BMF geschrieben; doch vor ein Unikat. Wir sollten dafür werben, dass sich diese das BMF ist untätig geblieben. Dass das BMF an dieser Standards international durchsetzen. Stelle untätig geblieben ist, ist aus meiner Sicht unent- schuldbar. Bisher hatten wir diese Qualitätsmerkmale vor allem in zwei Segmenten, nämlich mit Hypotheken oder mit (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Grundschulden als Deckungsmasse, wobei die Pfand- der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE briefe, anders als es bei den Subprimes in den Vereinig- GRÜNEN) ten Staaten der Fall war, nur nach bestimmten Belei- hungswerten vergeben werden konnten. Darüber hinaus In wie vielen Bereichen, bei wie vielen Gesetzen wendet gab es schon einen Schiffspfandbrief. Deutsche Bank- sich die Regierung in den Ausschüssen an uns und weist institute haben bereits eine hohe Expertise in der Finan- auf Regelungslücken hin! Wenn es vernünftig war, ha- zierung der Pfandbriefe, die auf Hypotheken, Grund- ben wir als FDP immer zugestimmt, andere auch. Doch schulden oder Schiffen basieren. Jetzt wird es auch einen dieser Punkt ist nicht auf den Tisch gelegt worden. Da Flugzeugpfandbrief geben. Damit wird eine Lücke ge- kann ich nur sagen: Eine Regierung haftet auch dafür, schlossen. Über den Pfandbrief und die Verbriefung sol- (B) (D) wenn sie etwas unterlässt. Auch für Unterlassen bei len sich diese Institute am Markt refinanzieren können. Kenntnis muss sie die Verantwortung übernehmen. Das Von daher ist das an hohe Standards gebunden. Unterlassen bestand darin, dass sie die Aufsicht nicht durchgesetzt hat. Denn dass die Probleme der einen aus- Kollege Scheelen hat schon darauf hingewiesen, dass ländischen Tochter über die Mutter auch bei den anderen es 2005 eine grundsätzliche Novelle gab, die wir einver- Töchtern und damit im Gesamtinstitut landen, ist inzwi- nehmlich auf den Weg gebracht haben. Jetzt ging es da- schen offensichtlich. rum, noch Verfeinerungen vorzunehmen. Dies wurde be- reits vor Beginn der Finanzkrise angedacht und wird Das ist nicht mehr nur ein Problem der Hypo Real Es- jetzt hier im Deutschen Bundestag zum Abschluss ge- tate. Das ist zwischenzeitlich ein Problem des deutschen bracht, sodass die Fortentwicklung der Pfandbriefrechts Steuerzahlers geworden. Von den 480 Milliarden Euro, Platz greift. Es ist gut, dass wir diesen Gesetzentwurf im die das Paket umfasst, ist ein Großteil, nämlich Konsens, also über alle Fraktionsgrenzen hinweg, verab- 102 Milliarden Euro, für die der Steuerzahler haftet, nur schieden werden. Es ist darauf hingewiesen worden, zur Sicherung dieses einen Institutes aufgewandt wor- dass dies für den Finanzmarkt ein wichtiges Zeichen ist. den. Eine der Ursachen dafür liegt in Irland. Es zeigt, dass wir uns als Gesetzgeber bemühen, hier einvernehmliche Regelungen zu finden. Insofern sage ich: Die Gesetzesänderung begrüßen wir; aber den Finanzminister entlassen wir noch lange Ein zentrales Element ist die Einführung des Flug- nicht aus seiner Verantwortung für das Fehlverhalten zeugpfandbriefs. Daneben wird die Konsortialfinanzie- durch Unterlassen an dieser Stelle. rung erleichtert. Zudem werden Qualitätsstandards hinsichtlich der Deckungsfähigkeit von Forderungen ge- Herzlichen Dank. genüber Drittstaaten aufgestellt, was ein zusätzliches (Beifall bei der FDP) Qualitätsmerkmal darstellt. Das sind die Punkte, die im Gesetzentwurf schon vorhanden waren. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Was wir nach der guten Anhörung auf dem Weg der Als Nächster spricht der Kollege Leo Dautzenberg für parlamentarischen Beratung eingefügt haben, ist die An- die CDU/CSU-Fraktion. lageverwaltung, Herr Kollege Schick, und zwar mit der Maßgabe, dass wir dies auch in Bezug auf den grauen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und Kapitalmarkt weiter im Fokus behalten und dazu ge- der SPD) meinsam eine Anhörung durchführen wollen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22153

Leo Dautzenberg (A) Kollege Thiele und Kollege Scheelen haben darauf Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) hingewiesen, dass wir auch hinsichtlich der Finanzhol- Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll. ding-Gesellschaften eine Ergänzung im Vergleich zum Regierungsentwurf vorgenommen haben. Ursprünglich (Beifall bei der LINKEN) hieß es, dass sich diese Finanzholdings auf Antrag der Aufsicht unterstellen können. Es war schwer nachvoll- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): ziehbar, warum dies auf Antrag geschehen sollte. Wer Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! beantragt denn so etwas? Das Gegenteil wäre gewesen, Finanzprodukte aller Art überschwemmen seit einigen wir hätten es zur Pflicht gemacht. Das ging auch nicht, Jahren den Markt. Traumhafte Gewinne werden verspro- weil dann zu viele Finanzdienstleister in die Aufsicht chen; in Banken, Sparkassen und Kreditinstituten wer- einbezogen worden wären, für die sie im Grunde nicht den und wurden den Kunden suspekte Produkte ange- gedacht ist. dreht, die selbst die meisten Beraterinnen und Berater kaum verstehen. Unkalkulierbare Risiken, wohin das (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Es sind auch Auge reicht – genau das ist eine der Hauptursachen der nicht alle relevant!) gegenwärtigen Finanzkrise. Deshalb war es unser gemeinsames Ziel, dass die Auf- Den größten Teil dieser hoch gelobten Finanzinnova- sicht das Recht erhält, von sich aus Finanzholdings unter tionen stellen die Kreditverbriefungen dar, also die Um- Aufsicht zu stellen und von daher eine hoheitliche Funk- wandlung von Krediten in handelbare Wertpapiere. Zu- tion ausüben zu können. – Darüber hinaus haben wir gegeben, auch der Pfandbrief ist eine Kreditverbriefung, noch Änderungen im Finanzdienstleistungsaufsichtsge- aber – wie bereits betont – eine bereits lange erprobte setz vorgenommen. und bewährte Form. So zeigt sich auch in der aktuellen Daran sehen Sie, welche Verbesserungen im parla- Finanzkrise, dass die mit Pfandbriefen verbundenen Ri- mentarischen Bereich erreicht wurden. Es sind weitere siken nicht nur gering, sondern auch für alle Beteiligten Stichworte zu nennen: Der Zeithorizont für die Abde- gut überschaubar sind; denn im Unterschied zu den ckung des Liquiditätsbedarfs ist von 90 auf 180 Tage neuen Kreditverbriefungen bieten Pfandbriefe hohe Si- ausgedehnt worden. Zur Transparenz der Laufzeitstruk- cherheiten für die Anlegerinnen und Anleger. tur ist schon einiges gesagt worden ist. Daneben gibt es Klar ist: Pfandbriefe dürfen nur von extra zugelasse- weiterhin geografische Beschränkungen für die Staats- nen und beaufsichtigten Banken ausgegeben werden. finanzierung. Man kann nicht alle Staaten in die Staatsfi- Hinzu kommt, dass Pfandbriefe erstens zusätzlich abge- nanzierung einbeziehen, wenn die Finanzierung in Form sichert sind, entweder durch einen realen Vermögensge- von Anleihen und Kredite an diese Staaten pfandbrieffä- (B) genstand – wie Immobilien bei Hypothekenpfandbriefen (D) hig werden soll. Diese Beschränkung ist nochmals eine und Schiffen bei Schiffspfandbriefen – oder aber durch Verstärkung des Qualitätsmerkmals. Es ist auch klarge- die öffentliche Hand bei öffentlichen Pfandbriefen. stellt worden, dass beispielsweise Hybridkapitalforde- Zweitens ist festgelegt, dass die Wertermittlung von rungen und Forderungen mit Nachrangvereinbarungen Schiffen und Immobilien strengen Vorschriften unter- nicht zur Deckung geeignet sind und damit auch nicht in liegt. Zudem dürfen sie nur bis zu 60 Prozent beliehen die Pfandbriefregelung einbezogen werden. werden. Drittens ist im Fall der Insolvenz der Pfand- Der gemeinsame Dank geht an alle Berichterstatter briefbank gesichert, dass die Ansprüche der Pfandbrief- und Berichterstatterinnen und auch an das Finanzminis- inhaber bevorzugt behandelt werden. terium, die uns hier gut zugearbeitet haben. Erlauben Sie Veränderungen des Pfandbriefrechts müssen diesen mir, abschließend noch einen Punkt zu nennen, den wir hohen Sicherheitsstandard bewahren, auch und gerade auch beachten sollten, wenn wir heute eine weitere No- wegen der massiven Verunsicherung der Anlegerinnen vellierung des Pfandbriefrechts verabschieden, was wir und Anleger durch die Finanzkrise. Diesem Anspruch einvernehmlich tun werden und womit wir ein gutes Zei- wird der vorliegende Gesetzentwurf gerecht. Deshalb chen setzen: Es gibt Bestrebungen, die Garantiezeiten im werden wir ihm zustimmen. Finanzmarktstabilisierungsgesetz zu ändern. Bisher gilt eine Garantiezeit von drei Jahren. Forderungen, diese (Beifall bei der LINKEN) Garantiezeit von drei auf fünf, sechs oder mehr Jahre So wird die Sicherheit der Pfandbriefe erhöht, indem auszudehnen, sollten wir nicht vorschnell nachkommen, die Banken jetzt für die in den nächsten 180 Tagen fällig weil wir dem Pfandbrief damit einen Bärendienst erwie- werdenden Pfandbriefe ausreichend Geldmittel vorhal- sen und Verwerfungen am Finanzmarkt für gut einge- ten müssen. Außerdem können Pfandbriefe jetzt gemein- führte Produkte herbeiführten. Wir dürfen diese kontra- sam durch mehrere Banken herausgegeben werden. Da- produktiven Ansätze nicht übernehmen. mit bekommen auch kleinere Banken die Möglichkeit, Ich danke für die Beratungen. Wir können hier ge- am Pfandbriefgeschäft teilzunehmen. Darüber hinaus meinsam etwas zum Wohle des Finanzmarktes Deutsch- werden dadurch Kreditrisiken verringert. Dies alles ist land auf den Weg bringen. durchaus im Interesse der Anlegerinnen und Anleger. Vielen Dank. Wir unterstützen ausdrücklich die Verbesserung der Finanzaufsicht über Finanzholding-Gesellschaften à la (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Hypo Real Estate; darauf ist Herr Thiele ausführlich ein- bei Abgeordneten der FDP) gegangen. Nunmehr können auf Verlangen der Bundes- 22154 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Barbara Höll (A) anstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht die Risiken der marktgesetz mag angesichts der Rhetorik, die wir sonst (C) einzelnen Institute auf der Ebene der Holding zusam- bei Finanzmarktthemen in den letzten Wochen häufig mengefasst und dadurch verringert werden. betrieben haben, überraschen. Ich glaube, das hat einen einfachen Grund. Es geht heute um einen Gesetzentwurf, Ich kann Ihnen jedoch ein großes Aber nicht ersparen; mit dem wir die Stabilität eines Finanzprodukts sicher- denn sowohl die rot-grüne Regierung als auch die Große stellen und auf eine hohe Qualität dieses Produkts setzen Koalition haben in den vergangenen Jahren massiv dazu statt auf eine schnelle Finanzmarktentwicklung, die beigetragen, dass der deutsche Pfandbrief erhebliche kurzfristig Vorteile verschafft, mit der man aber langfris- Konkurrenz bekommen hat. tig auf die Nase fällt. Diese Form der Finanzmarktpolitik (Beifall bei der LINKEN) fordern wir als Grüne auch an anderer Stelle ein. Mit dem Gesetzentwurf haben wir gemeinsam die richtige Seine Bedeutung schwand nach und nach unter anderem Richtung eingeschlagen. Deswegen unterstützt Bünd- deshalb, weil die neuen spekulativen Formen der Kredit- nis 90/Die Grünen den Gesetzentwurf zur Fortentwick- verbriefung durch Sie massiv gefördert wurden, zum lung des Pfandbriefrechts. Beispiel durch steuerliche Begünstigungen: Anpassun- gen im Gewerbesteuerrecht, aber auch durch die letzte (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Unternehmensteuerreform, nach der Verbriefungszweck- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der gesellschaften unter bestimmten Bedingungen nicht der SPD und der FDP) Zinsschrankenregelung unterstellt sind. In der Folge wurde den Anlegern und Anlegerinnen vorgegaukelt, Der Markt hat eine große Bedeutung; die Zahlen wur- dass im Prinzip alle Arten der Verbriefungen sicher sind, den bereits genannt. Das Volumen, das am deutschen aber die neuen Kreditverbriefungen gegenüber den Pfandbriefmarkt in Umlauf ist, beträgt 900 Milliarden Pfandbriefen angeblich einen großen Vorteil haben: Sie Euro. In der derzeitigen Finanzmarktkrise ist aufgrund würden riesige Renditen zwischen 10 und 20 Prozent der Konkurrenz mit staatlich garantierten Anleihen aller- bringen. – Dadurch haben Sie den Pfandbrief entwertet. dings eine gewisse Reduzierung der Neuemissionen zu verzeichnen. (Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Wer in Pfand- briefen anlegt, kriegt 5 Prozent! Andere krie- Auch die wichtigen Schritte, die wir jetzt vornehmen, gen gar nichts!) sind schon genannt worden: zum einen die Einführung des Flugzeugpfandbriefs, zum anderen die Möglichkeit Derzeit ist die Aufregung allerorts sehr hoch. Die an- der Konsortialfinanzierung. Des Weiteren ist die Aus- geschlagene Bundesregierung schwadroniert viel, han- weitung des Liquiditätspuffers für den Sachverwalter delt aber leider kaum. Wir meinen, wir brauchen unbe- von 90 Tagen auf 180 Tage vorgesehen. Das alles sind (B) dingt eine wirkliche Reform der Finanzmärkte bzw. des Verbesserungen, die wir unterstützen und die wir mit Ih- (D) Finanzsektors hin zu mehr Sicherheit und Stabilität, we- nen gemeinsam vornehmen wollen, damit der Pfandbrief niger Spekulation und zum Abbau von überzogenen auch in Zukunft ein stabiles Produkt bleibt. Renditeansprüchen. Hierbei vermissen wir Maßnahmen. Zu Recht wurde festgestellt, dass wir die Novellierung Richtig ist auch, bei der Finanzholding auf die des Pfandbriefrechts schon vor der Finanzkrise in An- Schwächen der bisherigen Regulierung zu reagieren und griff genommen haben. Aber Antworten auf die Finanz- der BaFin die Möglichkeit zu geben, die Prüfung auch krise haben Sie nicht. Der Gesetzentwurf, den wir heute auf der Ebene der Holding vorzunehmen. Für die Unter- verabschieden, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Er nehmen kommt es zu Vereinfachungen, weil verschie- stellt aber noch keine Trendwende dar. Dafür müssen Sie dene Rechtsmaterien jetzt besser ineinandergreifen. noch viel tun. Ich will in dieser Debatte noch zwei Punkte anspre- Wir erwarten von Ihnen, dass Sie die Vorschläge zur chen. Erstens steuern wir mit dem Pfandbriefgesetz, das Abkehr von der Liberalisierung der Finanzmärkte auf- wir schon vor der Krise angegangen sind, jetzt in der greifen; denn das ist die Ursache für die Krise, in der wir Krise nach. Ich glaube, wir müssen auch bei anderen uns derzeit befinden. Wir als Linke lassen Ihnen nicht Produkten am Finanzmarkt prüfen, ob ein Nachsteuern durchgehen, dass die Bürgerinnen und Bürger die Zeche nötig ist. Ich denke, damit werden wir nicht bis zur für eine verfehlte Politik zahlen müssen, für die Sie die nächsten Legislaturperiode warten können. Zum Bei- Verantwortung tragen. spiel sollten wir uns noch einmal mit den offenen Immo- bilienfonds befassen. Wir haben bereits eine Novelle Ich danke Ihnen. durchgeführt, die aber nicht ausreicht. Ich glaube, wir (Beifall bei der LINKEN) sollten die Stabilität auch in anderen Produktwelten ernst nehmen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Zweitens war es uns ein besonderes Anliegen – da- Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für rauf ist bereits hingewiesen worden –, uns mit dem die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. grauen Kapitalmarkt, also dem Bereich, in dem Men- schen direkte Anlagen in Unternehmensbeteiligungen Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- und häufig in geschlossene Fonds vornehmen, zu befas- NEN): sen. Mit dem Erlaubnistatbestand bei der Anlageverwal- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! tung nach dem vorliegenden Gesetzentwurf wird nur ein Die Übereinstimmung bei einem wichtigen Finanz- kleiner Bereich korrigiert, bei dem es durch die Recht- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22155

Dr. Gerhard Schick (A) sprechung für die BaFin unmöglich geworden ist, tätig Zweifel gab es – insbesondere in der zweiten Hälfte (C) zu werden. Wenn man aber eine Gleichbehandlung über 2008 – Nachfrageeinbußen. Das hat aber nicht das Pro- verschiedene Produktwelten hinweg haben will, dann dukt Pfandbrief zu verantworten. Der Pfandbrief war kann es nicht sein, dass wir dieses Ansinnen nur für die vielmehr Opfer der Krise auf dem Gesamtmarkt. Finanzprodukte verfolgen, die auf dem grauen Kapital- markt angeboten werden. Vielmehr müssen wir das auf Auf zweierlei haben wir in den nächsten Wochen be- den ganzen Bereich ausweiten. sonders zu achten. Erstens. Mit jeder staatlichen Maß- nahme zur Stützung von Banken greifen wir in den Ich will Zahlen nennen. Schätzungen besagen, dass Markt ein. Das führt auch zu Wettbewerbsverzerrungen. jährlich 20 Milliarden bis 30 Milliarden Euro in schlech- SoFFin-garantierte Anleihen verdrängen andere Pro- ten Anlagemodellen versickern. Unsere Aufgabe ist es, dukte vom Markt, auch den Pfandbrief. Deswegen müs- für einen seriösen Finanzmarkt zu sorgen, nicht nur im sen wir höllisch aufpassen, dass der SoFFin nur dort ein- Bereich des Pfandbriefs, sondern auch in allen anderen greift, wo es zur Stabilisierung des Finanzmarktes Bereichen. Nur so können wir eine stabile Finanzmarkt- unerlässlich ist. Anderenfalls schaden wir gesunden Pro- entwicklung über die verschiedenen Produktwelten hin- dukten, gesunden Instituten und gesunden Märkten. Das weg hinbekommen. Wir müssen eine Struktur auf dem sage ich in aller Ernsthaftigkeit allen, die von „mehr Finanzmarkt herstellen, die Seriosität garantiert und es Staat“ – wie die Linken – oder von „intelligenter Ver- den Verbraucherinnen und Verbrauchern ermöglicht, die staatlichung“ – wie die Grünen – reden. Ich sage aber verschiedenen Finanzprodukte einzuschätzen. auch selbstkritisch der eigenen Regierung und dem Ich bin dankbar, dass unser Ansinnen, das Ganze SoFFin: Mich konnte bis heute noch niemand davon noch einmal in Gründlichkeit anzugehen, aufgegriffen überzeugen, dass die Unterstützung von Autobanken wurde. Ich hoffe, dass es gute Vorschläge geben wird notwendig ist, um den Finanzmarkt zu stabilisieren. und dass wir dieses große Problem zügig angehen wer- (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ den. CSU]) Danke schön. Eine SoFFin-Unterstützung von Autobanken führt aber (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, zu Wettbewerbsverzerrungen und Ausfällen bei Tausen- bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Ab- den Sparkassen und Genossenschaftsbanken. geordneten der FDP) (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Deswegen bin ich nach den Diskussionen in den letzten Wochen und den Informationen, die uns vorliegen, der (B) Albert Rupprecht hat jetzt das Wort für die CDU/ (D) CSU-Fraktion. Meinung, dass der SoFFin die Anträge der Autobanken ablehnen sollte. (Beifall bei der CDU/CSU) Zweitens. Man kann am 12. Februar 2009 nicht über Pfandbriefe reden, ohne auch über die Hypo Real Estate Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU): zu reden, immerhin der zweitgrößte deutsche Pfandbrief- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! emittent. Es handelt sich um ein tolles Produkt in einer Finanzprodukte der Zukunft brauchen Transparenz, Soli- vormals miserabel geführten Bank. Ohne Zweifel haben dität und Vertrauen. Der deutsche Pfandbrief hat diese wir es hier mit einer durch und durch systemrelevanten Eigenschaften. Deswegen ist er ein Finanzprodukt mit Bank zu tun. Die achtgrößte deutsche Bank würde, wenn Zukunft. sie stürzte, nicht nur Genossenschaften und Sparkassen Mit der Weiterentwicklung des Pfandbriefrechts stel- mit sich reißen, sondern auch Kommunen, Versorgungs- len wir heute die richtigen Weichen. Dabei war von An- werke und sogar europäische Staaten in Schwierigkeiten fang an klar, dass der Maßstab für die Novelle Qualität bringen. Deswegen besteht überhaupt kein Zweifel da- sein muss. Qualität heißt hier Transparenz, Sicherheit, ran, dass die Hypo Real Estate gestützt werden muss. Solidität und dennoch eine angemessene Weiterentwick- Eine Enteignung kann nur die Ultima Ratio sein. lung. Ich glaube, diese hohe Qualität ist gelungen. Quali- tät ist uns beim Flugzeugpfandbrief gelungen. Qualität Von daher verwundert es mich schon ein Stück, dass ist uns bei der Erleichterung der Konsortialfinanzierung im Finanzministerium ein Enteignungsgesetz formuliert gelungen. Wir erreichen damit, dass kleinen Kreditinsti- wird, aber bis gestern noch kein Gespräch mit dem be- tuten entgegengekommen wird, die wesentlich zur Fi- troffenen Großinvestor Flowers stattgefunden hat. nanzierung unserer Wirtschaft beitragen. Wir steigern (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Unglaublich!) zwar die Effizienz, lockern aber die Vorgaben beim Be- leihungswert nicht und schützen auf diese Art und Weise Ich bin der Meinung, das ist die falsche Reihenfolge. die Anleger. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ neten der SPD) DIE GRÜNEN) Diese und weitere Maßnahmen sichern Qualität und Nochmals: Wir wissen, dass wir die Hypo Real Estate Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Pfandbriefes, und nicht fallen lassen können, aber wir als Unionsfraktion das sichert zwingend notwendiges Vertrauen. Ohne erwarten, dass das zuständige Finanzministerium alle 22156 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Albert Rupprecht (Weiden) (A) Varianten sachlich prüft und vor allem auch ernsthaft Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) verhandelt. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- neten der FDP – Christine Scheel [BÜND- desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das erwarten auch Fortentwicklung des Pfandbriefrechts. Der Finanzaus- wir!) schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Drucksachen 16/11886 und 16/11929, den Gesetzentwurf Das ist eine sachliche und grundgesetzliche Notwendig- der Bundesregierung auf den Drucksachen 16/11130 und keit. Vom Übernahmeangebot über die Kapitalerhöhung 16/11195 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich und den Kapitalschnitt bis hin zum von Michael Glos bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wol- vorgeschlagenen Modell einer eingeschränkten Insol- len, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthal- venz – alles muss geprüft werden. tungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Bera- tung einstimmig angenommen. Ich kann in diesem Zusammenhang die immer stärker Dritte Beratung werdende Sehnsucht nach Verstaatlichung von Banken überhaupt nicht teilen. und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, aufzustehen. – Ge- (Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Sehr richtig!) genstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzent- wurf auch in dritter Beratung einstimmig angenommen. Hinter dieser Sehnsucht steckt der Gedanke, dass dann, wenn der Staat schon mit Steuergeldern stabilisiert, der Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b Steuerzahler doch möglichst viel Eigentum an den Ban- auf: ken bekommen soll. Ich glaube, dass dies aus drei Grün- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kers- den ein Irrweg ist. ten Naumann, Wolfgang Nešković, Karin Binder, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE Erstens. Je mehr Anteile der Staat an Banken hält, LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes desto größer wird das Risiko für den Steuerzahler. Auf- zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 45 gabe des SoFFin ist es, zu stabilisieren, aber mit mög- c) lichst wenig Risiko. Aktionär zu werden, ist aber ein hohes Risiko. Das Risiko sollte jedoch bei den Alteigen- – Drucksache 16/10397 – tümern bleiben. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und (B) Zweitens. Trotz aller Fehler von Bankenchefs in den Geschäftsordnung (f) (D) vergangenen Jahren: Politiker sind nicht die besseren Petitionsausschuss Banker. Ich zumindest kenne keinen Politiker, der die Innenausschuss Rechtsausschuss Fachexpertise eines Bankkaufmanns, der über Jahr- zehnte hinweg sein Handwerk gelernt hat, ersetzen kann. b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Kers- ten Naumann, Wolfgang Nešković, Karin Binder, Drittens. Je größer der Staatseinfluss ist, desto größer weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE ist die Gefahr, dass politische Interessen Fachentschei- LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes dungen ersetzen und der Wettbewerb um die beste Qua- über die Behandlung von Petitionen und über lität ausgehebelt wird. Die bittere Folge wäre ein Verlust die Aufgaben und Befugnisse des Peti- von Wohlstand, Wirtschaftskraft und Arbeitsplätzen. tionsausschusses des Deutschen Bundestages (Petitionsgesetz – PetG) Der Fehler der vergangenen Jahre war nicht eine zu geringe Staatsbeteiligung; der Fehler war, dass der Staat – Drucksache 16/10385 – seine originäre Aufgabe unzureichend wahrgenommen Überweisungsvorschlag: hat. Diese ist: Ordnung schaffen, Regeln setzen, die Ein- Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und haltung der Regeln kontrollieren und Verstöße sanktio- Geschäftsordnung (f) Petitionsausschuss nieren. Das ist die staatliche Aufgabe, und darauf sollten Innenausschuss wir uns konzentrieren. Rechtsausschuss (Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat- CSU] sowie des Abg. Carl-Ludwig Thiele tieren, wobei die Linke fünf Minuten sprechen will und [FDP]) auch soll. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir brauchen nicht Karl Marx, sondern vielmehr Lud- wig Erhard. Das ist die richtige Antwort auf die Als erster Rednerin gebe ich der Kollegin Kersten Finanzkrise. Naumann für die Fraktion Die Linke das Wort. (Beifall bei der LINKEN) Herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kersten Naumann (DIE LINKE): Carl-Ludwig Thiele [FDP]: Graf Lambsdorff Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und war auch nicht schlecht!) Herren! Petitionsrecht ist Bürgerrecht. Dieses Recht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22157

Kersten Naumann (A) muss so gestaltet werden, dass es von den Bürgerinnen Viertens. Massen- und Sammelpetitionen sind zu stär- (C) und Bürgern gut handhabbar ist. Das bestehende Peti- ken. Natürlich nehmen wir jede einzelne Petition ernst; tionsrecht ist aber in fünf verschiedene, für die Bürgerin- doch die Bürgerinnen und Bürger können gerade mit nen und Bürger nicht nachvollziehbare Vorschriften zer- Massen- und Sammelpetitionen verstärkt gegenüber dem splittert: Das ist das Grundgesetz, das ist das Gesetz über Gesetzgeber anregen, gesetzliche Veränderungen vorzu- die Befugnisse des Petitionsausschusses, das ist die Ge- nehmen. schäftsordnung des Bundestages, das sind die Grund- Fünftens. Wir schlagen vor, das für eine öffentliche sätze des Petitionsausschusses über die Behandlung von Anhörung erforderliche Quorum von 50 000 Unter- Bitten und Beschwerden, und das sind die Richtlinien schriften auf 20 000 Unterschriften herabzusetzen, um für die Behandlung von öffentlichen Petitionen. Mit dem auch kleineren Interessengruppen der Bevölkerung eine vorliegenden Petitionsgesetzentwurf will die Fraktion verbindliche Chance auf öffentliche Anhörung ihres An- Die Linke diese Vorschriften zusammenführen, aber liegens zu geben. auch das Petitionsrecht bürgernäher, transparenter, nach- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert vollziehbarer und einklagbar machen. Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der LINKEN) Ein zweiter Schwerpunkt unserer Vorlage ist die Stär- Fest steht: Die Einführung elektronischer und öffent- kung der parlamentarischen Einwirkung und der Kon- licher Petitionen im Jahre 2005 war ein großer Schritt in trolle; denn Petitionen müssen noch mehr Wirkung ha- Richtung mehr Demokratie. Bürgerinnen und Bürger ben. Unter Achtung des Grundsatzes der Gewaltenteilung können sich jetzt noch einfacher an den Petitionsaus- ist es dennoch rechtlich möglich, in begründeten Fällen schuss wenden; die Nutzerzahlen steigen stetig. Dafür behördliche Maßnahmen außer Vollzug zu setzen, so- wurde der Petitionsausschuss mit dem Politik-Award lange das Petitionsverfahren läuft. Es ist rechtlich mög- ausgezeichnet. lich, ein eingeschränktes Selbstbefassungsrecht festzu- schreiben. Außerdem ist es rechtlich möglich, die Trotzdem bleibt noch viel zu tun; denn die Erfahrun- Bundesregierung zur besseren Umsetzung der Aus- gen im Petitionsausschuss zeigen, dass das bisherige Pe- schussbeschlüsse anzuhalten. In fast jedem zweiten Fall titionsrecht an seine Grenzen stößt: Beschwerden über der Petitionen mit hohen Voten erklärt die Bundesregie- Verfahrensweisen, mangelnde Transparenz, mangeln- rung nach sechs Wochen oder nach einem Jahr, dem An- den öffentlichen Zugang, nicht nachvollziehbare Aus- liegen nicht positiv zu entsprechen. wahlkriterien und lange Bearbeitungszeiten häufen sich. Zur Stärkung der parlamentarischen Kontrolle gehört Auf diesen Erfahrungen basieren auch die Forderungen für die Fraktion Die Linke die Stärkung der Minderhei- nach mehr Transparenz und Verbindlichkeit, die seit den tenrechte der Opposition. Das wurde bereits 1975 von (B) 70er-Jahren von Rechtsexperten und der Vereinigung zur der damaligen Oppositionsfraktion, von der CDU/CSU, (D) Förderung des Petitionsrechts in der Demokratie erho- gefordert; deshalb denke ich, dass Sie uns da vielleicht ben wurden. unterstützen. Unser Petitionsgesetzentwurf fußt auf mehreren Aus- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert arbeitungen des Wissenschaftlichen Dienstes des Bun- Winkelmeier [fraktionslos]) destages zu teilweise strittigen rechtlichen Themen. Uns ist bewusst, dass dieser Gesetzentwurf auch Intensive und ausführliche Diskussionen mit Rechtsex- Punkte enthält, die zwischen den Fraktionen strittig sind. perten und Wissenschaftlern sowie eine Expertenanhö- Trotzdem bitte ich Sie, die von meiner Fraktion unter- rung der Fraktion Die Linke bestätigten unsere im Ge- breiteten Vorschläge nicht einfach zu verwerfen. Lassen setzentwurf verankerten Auffassungen in weiten Teilen, Sie uns in der weiteren parlamentarischen Debatte ge- gaben uns aber auch Anregungen zur weiteren Verbesse- meinsam um Verbesserungen im Interesse der Bürgerin- rung unseres Entwurfes. nen und Bürger ringen und streiten. Für die Fraktion Die So ist ein Schwerpunkt unseres Entwurfes die Stär- Linke ist ein starkes Petitionsrecht wichtig; denn Bür- kung der Rechte der Bürgerinnen und Bürger, das heißt geranliegen sind auch ein Spiegel der Politik der Bun- die Stärkung ihrer Informationsrechte und der demokra- desregierung und der Arbeit der Volksvertreter. tischen Teilhabe. Wichtig ist dabei: Wir wollen mit unserem Petitionsgesetzentwurf das Erstens. Sitzungen des Petitionsausschusses sind Signal geben: Wir nehmen Demokratie ernst. Die Bürge- rinnen und Bürger sehen ihr in Art. 17 des Grundgeset- grundsätzlich öffentlich, zes verankertes Grundrecht nicht nur als ein Recht, sich (Beifall bei der LINKEN) mit Bitten und Beschwerden an die Volksvertretung zu wenden; sie verstehen es auch als Chance und Möglich- sofern es sich – das betone ich hier – nicht um private, keit, Hilfe zur Lösung ihrer Probleme zu erhalten. individuelle Anliegen handelt. Halten wir uns also gemeinsam an Christoph Lichten- Zweitens. Es muss möglich sein, Petitionen öffentlich berg, der sagte: Wenn etwas besser werden soll, muss es an den Petitionsausschuss zu übergeben. anders werden. – In diesem Sinne freue ich mich auf die Drittens. Es ist wichtig, dass es keine petitionsfreien Diskussion mit Ihnen. Zonen gibt. Auch Betriebsräte und Beamte müssen ihr Danke schön. Anliegen als Petition einreichen können. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (Beifall bei der LINKEN) Winkelmeier [fraktionslos]) 22158 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Ein Mittel dazu ist, dass wir auf Messen auftreten und (C) Der Kollege Günter Baumann hat jetzt das Wort für für die Bürger direkt ansprechbar sind. Das funktioniert die CDU/CSU-Fraktion. sehr gut. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Eine grundgesetzliche Aufgabe wird also, denke ich, neten der SPD) gut wahrgenommen. Die Frage ist: Warum soll ein be- währtes Instrument verändert werden? Bei dem Entwurf Günter Baumann (CDU/CSU): der Linksfraktion kommen wir schnell dahinter: Das Pe- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und titionssystem soll komplett umgestaltet werden. Es soll Kollegen! Zum wiederholten Male beschäftigen wir uns instrumentalisiert werden. Sie wollen ein ganzes Stück heute mit einem Anliegen der Fraktion Die Linke – frü- Parteipolemik hineinbringen. Das werden wir nicht mit- her: Fraktion der PDS –, mit einem Petitionsgesetz. Sie machen. erwecken hier im Plenum und vor der Öffentlichkeit den (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie Eindruck, dass unser Petitionswesen mit seinen Regula- des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/ rien nicht ausreichend ist, DIE GRÜNEN]) (Zuruf von der LINKEN: Man kann es doch verbessern!) Sie haben Ihren Vorschlag in ähnlicher Form bereits in der 14. Wahlperiode eingebracht, haben aber eigent- dass es einige Fehler hat und dass da nachgebessert wer- lich wenig dazugelernt. Einige Beispiele dazu, wie Sie den muss. Dem möchte ich ganz klar widersprechen. Parteipolemik in unsere Arbeit hineinbringen wollen: Unsere Tätigkeit im Petitionsausschuss beruht auf Sie wollen, dass der Petitionsausschuss Sachverhalte einer ganzen Reihe von Regelungen. Es gibt den selbst aufgreifen kann. In Ihrem Entwurf eines Petitions- Art. 17 Grundgesetz sowie eine Reihe von Paragrafen in gesetzes steht sogar: Der Petitionsausschuss muss von unserer Geschäftsordnung. Wir haben Verfahrensgrund- diesem Recht Gebrauch machen, wenn 5 Prozent der sätze, die flexibel sind, die wir relativ einfach und stimmberechtigten Mitglieder dies wollen. – Bei 25 Aus- schnell verändern können. Das haben wir in der letzten schussmitgliedern sind es 1,25 Abgeordnete, die errei- Zeit mehrmals getan. Das sind also Regularien, die aus chen können, dass wir uns mit bestimmten Themen der meiner Sicht sehr gut funktionieren. Politik beschäftigen müssen. Das wollen wir nicht. Ich vertrete die Meinung – und die Statistik gibt mir recht –, dass die Bürger im Land das Petitionswesen an- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nehmen und damit zufrieden sind; da sind wir auf einem neten der SPD) (B) guten Weg. Ich nenne ganz wenige Zahlen: Wir haben in Wir alle können uns lebhaft vorstellen, was im Petitions- (D) den letzten Jahren im Schnitt etwa 17 000 Petitionen im ausschuss los wäre, wenn wir die politischen Diskussio- Jahr zu bearbeiten gehabt. Wenn wir Massenpetitionen, nen, die im Plenum nicht zu einem Erfolg geführt haben, Sammelpetitionen und alle anderen Petitionen zusam- im Petitionsausschuss fortsetzen. Das kann nicht sein. men betrachten, haben sich in den letzten zwei Jahren Das ist nicht Sinn unserer Demokratie. etwa 400 000 bis 500 000 Bürger mit Problemen an uns gewandt. Das ist ein Zeichen dafür: Unser System wird In § 13 Ihres Entwurfs fordern Sie die grundsätzliche angenommen; es funktioniert. Öffentlichkeit der Sitzungen. Das wollen wir nicht. Da- gegen sprechen nicht nur datenschutzrechtliche Gründe. Durch die flexiblen Verfahrensgrundsätze haben wir Wo nach einer entsprechenden Prüfung Öffentlichkeit in der letzten Zeit relativ einfach eine Reihe von Neue- möglich ist, gibt es bereits öffentliche Sitzungen, und rungen einführen können. Sie alle kennen das: E-Mail- das wissen Sie auch ganz genau. Generelle Öffentlich- Petitionen, öffentliche Petitionen und dergleichen mehr. keit lehnen wir ab. Wir haben als Ausschuss eine Reihe ganz besonderer Rechte, die andere Ausschüsse so nicht haben. Wir kön- Ein besonderes Verfahren für Petitionen ab 20 000 nen zum Beispiel Ortstermine durchführen, Aktenein- Unterschriften lehnen wir ganz entschieden ab. Sie versu- sicht nehmen und Regierungsvertreter laden. chen hier eine extensive Interpretation des Art. 17 Grund- gesetz. Das geht in Richtung plebiszitärer Elemente wie Also: Die Regularien funktionieren insgesamt. Die Volksbegehren, was wir in der Form nicht wollen. Bürger nehmen das System an. Meine Damen und Herren, die Formulierung „Jeder- Wir sind als Petitionsausschuss ein wichtiges Binde- mann hat das Recht“ in Art. 17 des Grundgesetzes weist glied zwischen den Bürgern im Land, dem Parlament eindeutig auf ein bürgerliches Grundrecht und nicht auf und der Regierung. Wir helfen mit, Politikverdrossen- ein staatsbürgerliches Grundrecht hin. Das ist ein ent- heit, von der oft gesprochen wird, ein Stück weit abzu- scheidender Unterschied, auf den wir Wert legen. bauen. Wir helfen auch mit, Vertrauen in unsere Verwal- tung, das manchmal verloren gegangen ist, Ich möchte auch betonen, dass die Vorstellungen in wiederherzustellen. § 10 „Beweiserhebung“ Ihres Gesetzentwurfes abenteuer- lich sind. Sie wollen, dass wir im Ausschuss Zeugen ver- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) nehmen, Zeugen und Sachverständige vereidigen lassen Unsere Hauptaufgabe sollte sein, unser funktionieren- und Ordnungsstrafen verhängen können. Meine Damen des Petitionswesen den Bürgern noch näher zu bringen. und Herren, wir sind kein Untersuchungsausschuss. Der Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22159

Günter Baumann (A) Petitionsausschuss behandelt Probleme der Bürger. Etwas Rechtsprechung kann nicht Gegenstand von Petitio- (C) anderes wollen wir nicht, erst recht nicht in dieser Form. nen sein. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Sehr richtig. Dann folgt aber ein weiterer Satz mit einem neten der SPD und der FDP) Aber, obwohl es hier kein Aber geben darf. Gerichte sind nämlich unabhängig, und niemand hat in die Recht- Ich könnte noch eine ganze Reihe weiterer Beispiele sprechung hineinzureden, auch nicht der Petitionsaus- anführen. Meine Redezeit ist aber bereits zu Ende. Ich schuss. komme deshalb zum Schluss: Uns liegen zum wieder- holten Mal untaugliche Gesetzentwürfe der Linksfrak- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD tion vor, durch die das Petitionswesen verändert werden und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zu- soll. Sie wollen es instrumentalisieren. Das wollen wir ruf von der CDU/CSU: Das war in der DDR nicht. Unser Petitionswesen funktioniert. Die Bürgerin- anders!) nen und Bürger im Land nehmen es an. Dafür sind wir In § 6 Ihres Vorschlages schreiben Sie: dankbar. Es besteht natürlich die Möglichkeit, über die Verfahrensgrundsätze Änderungen einzubringen, wenn Der Petitionsausschuss kann Sachverhalte selbst es von einer Mehrheit gewollt ist. aufgreifen und sich mit ihnen befassen, … wenn das 5 vom Hundert der stimmberechtigten Mitglie- Herzlichen Dank. der des Petitionsausschusses verlangen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Ich bin strikt dagegen. Wir sollten uns mit dem befassen, was die Bürgerinnen und Bürger uns in ihren Briefen Vizepräsidentin : schreiben. Wir sollten uns nicht mit Dingen befassen, Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Jens mit denen wir uns nach dem Willen eines einzelnen Ab- Ackermann das Wort. geordneten befassen sollten. Das geht in die falsche Richtung. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der Jens Ackermann (FDP): SPD) Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Sie sprechen in Ihrem Antrag auch davon, dass Herren! Die Fraktion Die Linke hat den Vorschlag unter- Ermittlungen durchgeführt werden sollen. Hier sollen breitet, unser Petitionswesen zu reformieren. Sie hat Beweise gesichert, Zeugen vorgeladen und Vernehmun- einen umfassenden Gesetzentwurf auf den Tisch gelegt. gen durchgeführt werden. Dieser Duktus, der hier vor- (B) Sehr detailliert wird in Paragrafen darauf eingegangen, herrscht, erinnert mich sehr an ein Tribunal und nicht an (D) wie sich die einzelnen Akteure, die an der Bearbeitung einen bürgerfreundlichen Ausschuss. Ich möchte das nicht. eines Bürgeranliegens beteiligt sind, zu verhalten haben: § 14 Ihres Gesetzentwurfs, „Einstweilige Regelun- die Berichterstatter, die Fraktionen, die Bundesregierung gen“, finde ich sehr bedenklich. Dort schreiben Sie: Die mit ihren Ministern, Staatssekretären usw. Nur an den Bundesregierung oder andere staatliche Behörden sollen Menschen, der sich mit einer Bitte oder einer Be- maximal drei Monate lang Maßnahmen aussetzen, bis schwerde an uns wendet, haben Sie nicht gedacht. der Petitionsausschuss entschieden hat. – Damit nehmen Es ist doch so, dass die Bürgerinnen und Bürger, Sie in das Petitionsrecht die Möglichkeit auf, bestimmte wenn sie einen Brief an den Petitionsausschuss schrei- Vorhaben der Bundesregierung oder einer Landesregie- ben, schon eine Ochsentour durch viele Institutionen und rung bis zu drei Monate zu blockieren. Das ist ein massi- viele Behörden hinter sich haben. Sie sehen vor lauter ver Eingriff in die Gewaltenteilung und überhaupt nicht Bürokratie einfach nicht mehr durch. Unser Ausschuss sachdienlich. Die FDP lehnt diesen Vorschlag ab. ist oft der letzte Hoffnungsschimmer, den die Menschen (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten haben. Nun kommen Sie mit weiteren Paragrafen. Ihr der CDU/CSU) Vorschlag bringt für die Menschen keine Verbesserung. Im Gegenteil! Durch Ihren Vorschlag wird das Petitions- Ich habe den Eindruck, Sie wollen den Ausschuss für recht in ein enges Korsett gezwängt, und uns als Bericht- politische Spielchen missbrauchen. erstattern wird die Möglichkeit genommen, flexible Lö- (Günter Baumann [CDU/CSU]: Jawohl!) sungen für die Bürger zu finden, die sich an uns wenden. Ich finde das schade; denn so bleibt der Hilfesuchende, Ein Beispiel möchte ich Ihnen nennen: Es wäre der einzelne Mensch auf der Strecke. Die FDP wird da- unmöglich gewesen, einen runden Tisch für die Heim- bei nicht mitmachen. Wir stellen uns an die Seite der kinder der 50er- und 60er-Jahre einzurichten, wenn wir Bürgerinnen und Bürger. uns nach Ihrem Vorschlag hätten richten müssen. Es hätte unter der Präsidentin dann nicht (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der mehr die Möglichkeit gegeben, für diese Heimkinder SPD) – die Verfahren waren ja abgeschlossen; die Dinge wa- ren verjährt – einen runden Tisch einzurichten und nach Vizepräsidentin Petra Pau: Lösungsmöglichkeiten zu suchen. Das Wort hat der Kollege Klaus Hagemann für die SPD-Fraktion. Ich komme auf die einzelnen Paragrafen zu sprechen. In § 3 „Petitionsgegenstände“ schreiben Sie: (Beifall bei der SPD) 22160 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Klaus Hagemann (SPD): ausschüsse eingeführt werden muss. Wir haben zusam- (C) Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und men darüber nachzudenken, wie wir das machen. Durch Herren! Alle Jahre wieder bringt die ARD zu Silvester das Petitionswesen ist uns ein Seismograf in die Hand „Dinner for one“. Und alle Jahr wieder bringt die PDS, gegeben. Da ist noch Handlungsbedarf vorhanden. Aber Entschuldigung, die Linke einen Antrag ein, ein Petitions- dafür brauchen wir kein Gesetz, sehr verehrte Frau Nau- gesetz einzuführen. Zumindest für „Dinner for one“ ist zu mann. sagen: Irgendwann ist das Bonbon abgelutscht. Auch Ich nehme immer wieder einmal Praktikanten mit in beim Gesetzentwurf wird das irgendwann so werden. den Petitionsausschuss. Diese stellen fest: In diesem (Zuruf von der CDU/CSU: „Dinner for one“ Ausschuss herrscht eine besondere Atmosphäre. – Wenn ist mir trotzdem lieber!) ich meine Kolleginnen und Kollegen so anschaue, dann stelle ich fest: Das ist so. Man geht aufeinander zu und Ich erinnere mich, Frau Naumann, sehr geehrte Frau man nimmt Rücksicht. Das Ziel ist, das Anliegen des Vorsitzende, dass Frau Lüth schon in der 14. Legislatur- Bürgers möglichst durchzusetzen. Das ist gut so. Dass es periode ähnliche Reden wie Sie gehalten hat. hier weniger um parteipolitische Spielchen geht, sei hier (Günter Baumann [CDU/CSU]: Sie haben noch einmal erwähnt. Wir loten bei fast jeder Petition nichts dazugelernt!) aus, ob eine einstimmige Beschlussfassung möglich ist. Dabei gibt jede Seite einmal nach; das sei gerade den – Es kann natürlich auch sein, dass die Linke nichts da- vielen Zuhörerinnen und Zuhörern hier gesagt. Gerade zugelernt hat. deswegen sind wir im Petitionsausschuss so erfolgreich: Die Fragen sind jetzt – das wurde schon so dargelegt Weil wir nicht so starke gesetzliche Einschränkungen und ich kann wenig Neues hinzufügen –: Brauchen wir haben und deshalb unsere Arbeit freier gestalten können. ein neues und erweitertes Petitionsgesetz, um unserer Nicht jede Petition – auch das möchte ich sagen, denn Arbeit als Petitionsausschussmitglieder nachzukommen? wir stehen kurz vor Wahlkampfzeiten – eignet sich für Reichen die bestehenden Regelungen aus oder nicht? parteipolitische Kampagnen in den Wahlkreisen. Diese Brauchen wir ein Gesetz um des Gesetzes willen, oder Bemerkung richtet sich sicherlich ein bisschen mehr an reichen, wie gesagt, die Verfahrensregeln und die ande- die eine oder andere Seite, aber sie gilt für uns alle. ren Bestimmungen aus? Meine Damen und Herren, auf die flexiblen Hand- Die Väter und Mütter des Grundgesetzes – wir feiern lungsmöglichkeiten habe ich bereits hingewiesen. Die dieses Jahr 60 Jahre Grundgesetz in der Bundesrepublik bestehenden rechtlichen Bestimmungen reichen unserer Deutschland – haben dem Petitionswesen gerade nach Ansicht nach aus. Das Gute ist, dass der Bundestag sie den Erfahrungen des Dritten Reiches eine starke Stel- (B) alleine ausgestalten kann. Wenn wir eine spezielle ge- (D) lung gegeben. Es ist schon auf einiges hingewiesen wor- setzliche Regelung einführen würden, müssten unter den: Art. 17 des Grundgesetzes sei erwähnt. Noch nicht Umständen andere Verfassungsorgane, beispielsweise genannt wurden die Art. 45 ff. des Grundgesetzes, in der Bundesrat oder der Bundespräsident, diese mit be- denen ausdrücklich hervorgehoben wird, dass der Peti- schließen oder unterzeichnen. Damit würde Einfluss auf tionsausschuss neben den Ausschüssen für Außen-, Ver- unser Petitionsrecht genommen. Ob das sinnvoll und teidigungs- und Europapolitik einer von vieren ist, die hilfreich ist, möchte ich mit einem ganz dicken Fragezei- gebildet werden müssen. Dies ist eine sehr starke Stel- chen versehen. Der Wissenschaftliche Dienst hat – einer lung. Entsprechend ist auch schon gesetzlich über die der Vorredner hat schon darauf hingewiesen – im Jahre Befugnisse entschieden worden. 2007 ein Gutachten dazu vorgelegt, aus dem ich einen Unsere Verfahrensgrundsätze – darauf haben meine Satz zitieren möchte: Vorredner hingewiesen – erlauben uns eine gewisse Fle- Ein Gesetz eröffnet Mitwirkungsmöglichkeiten an- xibilität in der Behandlung von Petitionen. Frau Nau- derer Verfassungsorgane und beeinträchtigt die Ge- mann, Sie haben auf Lichtenberg verwiesen. Ich möchte schäftsordnungsautonomie des Bundestages. hier nun herausstellen: Wir haben doch gerade in der letzten Zeit sehr viel verändert. Ich komme darauf noch Meine Damen und Herren, ich plädiere nicht für Still- einmal zu sprechen. stand. Vielmehr müssen wir unser Petitionswesen stän- dig weiterentwickeln. Wir bekommen genügend Hin- 20 000 bis 25 000 Anliegen im Durchschnitt im Jahr weise. Kollege Winkler, Kollegin Pfeiffer und ich haben – mal mehr, mal weniger – und 1,3 oder 1,4 Millionen beispielsweise vor vier Jahren bei einem Besuch des Unterschriften für Petitionen zeigen: Das Petitionsrecht schottischen Parlaments tiefschürfende Erkenntnisse ge- wird wahrgenommen und genutzt. Da wir die Petitionen wonnen, auf deren Grundlage wir unser Petitionswesen zu bearbeiten haben, wissen wir, dass wir nicht unter weiterentwickeln konnten. Wir haben unter anderem die Arbeitsmangel leiden. Das wollen wir hier hervorheben. Möglichkeit elektronischer Petitionen eingeführt. Auf- Ich betone darüber hinaus, dass wir mit dem Ausschuss- grund von Art. 17 des Grundgesetzes war es in verfas- dienst sehr gut zusammenarbeiten und dass wir auch die sungsrechtlicher Hinsicht gar nicht so leicht, das umzu- Hinweise und Fingerzeige, die uns hier gegeben werden, setzen. Wir haben es aber getan, und die Bürgerinnen aufnehmen. und Bürger nehmen dieses Instrument sehr stark an. Ich Wir müssen natürlich darüber nachdenken, ob nicht bin froh und dankbar, lieber Kollege Winkler, dass wir das eine oder andere, was uns mitgeteilt wird, noch bes- das damals in der SPD-Grünen-Koalition massiv voran- ser in die politische Arbeit der Fraktionen und der Fach- getrieben haben. Der eine oder andere musste zum Jagen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22161

Klaus Hagemann (A) getragen werden; aber heute sind alle froh, dass wir ent- schlagen haben, recht vernünftig ist, beispielsweise die (C) sprechende Regelungen getroffen haben. Die Evalua- Aspekte unter dem Stichwort „Sprache“. Da muss noch tionsberichte, die inzwischen vorliegen, machen deut- gehandelt werden. Wir müssen unsere Beschlussempfeh- lich, dass wir richtig gehandelt haben und den richtigen lungen in einer verständlicheren Sprache abfassen. Das Weg gegangen sind. sind aber Detailarbeiten; dafür brauchen wir keine ge- setzliche Regelung. Die Verfahrensregeln, liebe Kollegin Naumann, ma- chen auch deutlich, welche Werkzeuge uns an die Hand Vielen Dank, dass ich meine Rede zu Ende führen gegeben worden sind. Auf die Vor-Ort-Termine hat der durfte. Kollege Baumann bereits hingewiesen. Ich erinnere bei- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie spielsweise an die beeindruckenden Vor-Ort-Termine in bei Abgeordneten der FDP) Ramstein, wo es um den Fluglärm ging, wo wir uns mit Bürgerinitiativen unterhalten haben, und in Völklingen, wo es um Senkungen von Häusern durch den Bergbau Vizepräsidentin Petra Pau: ging. Bei diesen Terminen kümmern wir uns um die In- Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der teressen der Bürger und können dann auch etwas bewe- Kollege Josef Winkler das Wort. gen. Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ein anderes Werkzeug ist, Regierungsvertreter einzu- NEN): laden. Hier verweise ich beispielsweise auf die große Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Anhörung zum Thema „Generation Praktikum“, die wir „Das Petitionsrecht ist bürgerfern und zersplittert …“, so durchgeführt haben. Bei der letzten Beratung des The- steht es im Gesetzentwurf der Fraktion Die Linke. mas hat die Bundesregierung kein sehr gutes Bild abge- geben; ein Ministerium hat gute Vorschläge gemacht, ein (Dr. Carl-Christian Dressel [SPD]: Hört! anderes blockiert diese. Auch das muss aufgegriffen Hört!) werden. Da streuen wir ab und zu Salz in die Wunden. Die Fraktion Die Linke hält unser Petitionsrecht also für Dazu gehören auch die Berichterstattergespräche. Auf bürgerfern. Aber es kommt noch besser – ich zitiere aus der Tagesordnung des Obleutegesprächs standen diesmal einem anderen Teil des Gesetzentwurfs –: fünf, sechs Termine für Berichterstattergespräche mit Zuständig für die vom Petitionsausschuss zu bean- Regierungsvertretern. Aus den Ministerien wissen wir, tragenden gerichtlichen Maßnahmen ist das Amts- dass bei den Regierungsvertretern keine Freude auf- gericht Berlin-Tiergarten. kommt, wenn sie zu Berichterstattergesprächen kommen (B) müssen, weil wir immer wieder den Finger in die Wunde Die Linke hält unser Petitionsrecht also für bürgerfern (D) legen. und zersplittert und will daher die Gerichte bemühen, damit diese die Aufgaben des Parlaments erfüllen. Ei- Was die Akteneinsicht angeht, gibt es tolle Beispiele gentlich könnte man den Gesetzentwurf schon an dieser dafür, wodurch wir Menschen helfen konnten. Auch da Stelle wieder zuklappen und die Rede beenden. kommt in den Ministerien keine Freude auf. Aber der Petitionsausschuss ist ja nicht dazu da, für Freude zu sor- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gen, sondern er soll die Interessen der Bürgerinnen und bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Bürger wahrnehmen. Denn das Petitionsrecht, liebe Kol- Zurufe von der CDU/CSU: Vernünftige Idee! – legin Naumann, ist ja auch ein Individualrecht. Deswe- Es reicht auch!) gen ist es auch gar nicht möglich, grundsätzlich öffentli- Aber um 15.22 Uhr darf man noch ein bisschen weiter- che Petitionsausschusssitzungen durchzuführen. Dies sprechen. Mit der Realität unserer Arbeit im Petitions- soll etwas Besonderes sein. Im Jahre 2005 haben wir ausschuss hat das, was wir von Ihnen, Frau Naumann, eingeführt, dass öffentliche Petitionsausschusssitzungen vorgetragen bekommen haben, meiner Meinung nach re- stattfinden können. Dies wird auch angenommen; sie lativ wenig zu tun. Sie müssten es als Vorsitzende des finden Interesse. Ausschusses eigentlich besser wissen. Im Hinblick auf das Beispiel der Heimkinder der Der Petitionsausschuss ist eine der bürgerfreundlichs- 40er-, 50er- und 60er-Jahre ist zu sagen – da schließe ich ten staatlichen Institutionen in diesem Land, und das Pe- mich Ihnen, Herr Ackermann, voll und ganz an –: Wir titionsrecht aus Art. 17 des Grundgesetzes ist eines unse- haben durch ein kluges und rücksichtsvolles Vorgehen rer stärksten Bürgerrechte. Die Bürgerinnen und Bürger viel erreicht. Es wäre schön, wenn Frau von der Leyen es wenden sich auch an das Parlament. Frau Naumann, Sie so umsetzen würde, wie es der Petitionsausschuss vorge- argumentieren anlässlich der Jahresberichtsdebatte im- schlagen hat. Ich hoffe, dass wir zu entsprechenden Re- mer wieder: Wenn es mehr Petitionen gibt, dann hat die gelungen und Ausführungen kommen. Regierung schlechter gearbeitet. – So kann man nicht ar- gumentieren. Ich freue mich, wenn es mehr Petitionen Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassen: gibt, auf die Mehrarbeit im Ausschuss; denn dann kön- Wir haben genügend Handwerkszeug, um unsere Arbeit nen wir uns um die Anliegen der Bürgerinnen und Bür- als Petitionsausschuss im Interesse des einzelnen Bür- ger auch mehr kümmern. gers und der einzelnen Bürgerin zu machen. Wir werden deshalb Ihrem Gesetzentwurf, Frau Naumann, nicht zu- Während Sie drei Jahre lang an Ihrem Gesetzentwurf stimmen, obwohl das eine oder andere, was Sie vorge- gearbeitet haben, haben wir – zwar mit Ihrer Mithilfe; 22162 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Josef Philip Winkler (A) heute habe ich aber den Eindruck, dass das eher unter Ih- Sie haben diese Zusage bis heute nicht gegeben. Damit (C) rer Duldung geschehen ist – die Möglichkeit öffentlicher haben Sie dem Petitionsrecht einen Schaden zugefügt. Petitionen und öffentlicher Ausschusssitzungen einge- Deswegen habe ich leider keine andere Möglichkeit, als führt. Wir haben im Ausschuss sogar einmal in öffentli- meiner Fraktion für die weitere Beratung die Ablehnung cher Sitzung eine Petition beschlossen. Wir haben Mas- Ihres Gesetzentwurfs zu empfehlen. senpetitionen beraten, die von Zehntausenden Menschen unterschrieben wurden. Das Einreichen von Petitionen Herzlichen Dank. ist jetzt auch elektronisch möglich. Wir sind also schon (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, viele Schritte gegangen. bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP – Günter Baumann [CDU/CSU]: Josef, das war Im Hinblick auf das Selbstaufgriffsrecht bin ich nicht eine gute Rede!) gar so kritisch. Unsere Fraktion kann sich vorstellen – wir hatten das schon einmal in der 11. und in der 13. Wahl- periode vorgeschlagen –: Wenn es ein Petitionsaus- Vizepräsidentin Petra Pau: schussmitglied im Zusammenhang mit der Sachaufklä- Der Kollege Siegfried Kauder hat nun für die Unions- rung im Rahmen einer Petition für richtig hält, einen fraktion das Wort. Randaspekt oder einen anderen Aspekt, der mit dem Ge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) genstand der Petition zu tun hat, näher zu beleuchten, dann wäre es sinnvoll, dies zu ermöglichen. Das aber, was Sie dazu vorschlagen, geht weit darüber hinaus. Wir Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ können uns das nur in begrenzten Ausnahmefällen vor- CSU): stellen. Man sollte das Petitionsrecht nicht überfrachten. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- gen! Petitionsrecht ist Bürgerrecht. Es bringt mehr Sie haben gefordert – Kollege Baumann hat darauf Transparenz und mehr Rechte für die Bürgerinnen und hingewiesen –, dass 1,25 Mitglieder des Ausschusses Bürger. Das hören die Damen und Herren auf der Besu- Minderheitenrechte in Anspruch nehmen können sollten. chertribüne, denen wir dafür danken, dass sie uns zuhö- Dazu würde ich jedoch sagen: Das übliche Verfahren ge- ren, gern. Das hören auch die Zuschauerinnen und Zu- mäß der Geschäftsordnung des Bundestages ist, dass je schauer an den Fernsehschirmen gern. nach parlamentarischem Vorgang eine Fraktion, fünf vom Hundert oder ein Drittel bzw. ein Viertel der Mit- Doch das Ganze hat etwas Rattenfängerisches. Dass glieder des ganzen Hauses mit über 600 Abgeordneten das, was die Linken vorschlagen, nicht im Interesse des bestimmte Rechte beanspruchen können. Bürgers ist, sieht man sehr schnell daran, dass sie eine öffentliche Beratung im Petitionsausschuss vorsehen. (B) Es wäre interessant, herauszufinden, wie Sie auf 5 Pro- Werden persönliche Belange eines Petenten berührt, soll (D) zent des Ausschusses gekommen sind. Doch das würde die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden – nicht: muss. heute zu weit führen. Wenn es um die Interessen des Bürgers geht, muss der In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass öffentliche Über- betroffene Bürger einen Anspruch darauf haben, dass die gaben von Petitionen durchgeführt werden können. Sie Öffentlichkeit ausgeschlossen wird, und er muss ange- wollen das normieren. hört werden. Das sind elementare Rechte, die zu berück- sichtigen sind. Sie haben diese Rechte nicht vergessen, (Günter Baumann [CDU/CSU]: Wir haben ein auf diese Rechte kommt es Ihnen nicht an, liebe Kolle- gutes Beispiel gehabt!) ginnen und Kollegen von den Linken. Ich nutze diese Gelegenheit, um die Öffentlichkeit da- Sie wollen nicht nur eine öffentliche Erörterung von rauf hinzuweisen – ich habe das an anderer Stelle schon Themen, die die Privatsphäre berühren. Sie wollen auch, einmal getan –, dass die Linksfraktion schuld daran ist, dass 5 Prozent der Mitglieder des Petitionsausschusses dass der Ausschuss zurzeit keine öffentlichen Petitionen den Ausschuss dominieren können. Zwei Mitglieder des entgegennimmt. Petitionsausschusses können beantragen, dass eine Be- weisaufnahme durchgeführt wird, so, als wären wir vor (Günter Baumann [CDU/CSU]: Jawohl!) Gericht. Derjenige, der als Zeuge gehört wird, soll auch Sie hat dieses Instrument nämlich mehrfach noch vereidigt werden können. Das gibt es nicht einmal mehr im Strafprozess. Wer sich § 59 der Strafprozess- (Günter Baumann [CDU/CSU]: Missbraucht!) ordnung anschaut, der weiß, dass die Vereidigung die ab- für Kinkerlitzchen und kleinliche parteipolitische Spiel- solute Ausnahme ist. chen genutzt. Man könnte das alles ein bisschen abkürzen. Wenn (Widerspruch bei der LINKEN) man die Rechte der Linken stärken wollte – das bezwe- cken Sie –, dann würde es genügen, wenn man in Sie sind bis heute nicht bereit, uns zuzusichern, damit Art. 45 c des Grundgesetzes aufnehmen würde: Der Pe- aufzuhören. Wenn Sie uns das zusicherten, könnten die titionsausschuss hat die Rechte eines Untersuchungsaus- Obleute aller Fraktionen schon morgen wieder gemein- schusses. Genau diese Rechte wollen Sie haben. sam öffentliche Petitionen entgegennehmen. Wenn Sie in das Gesetz zur Regelung des Rechts der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Untersuchungsausschüsse des Deutschen Bundestages bei der CDU/CSU und der SPD) schauen, stellen Sie sehr schnell fest, dass dort zwar Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22163

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) Minderheitenrechte vorgesehen sind, entsprechende An- b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- (C) träge aber nicht von lediglich 5 Prozent der Mitglieder richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- des Ausschusses, sondern von 25 Prozent, also von ei- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Bernd nem Viertel der Mitglieder des Ausschusses gestellt wer- Siebert, Ulrich Adam, Ernst-Reinhard Beck den müssen, damit sie umgesetzt werden können. Ich (Reutlingen), weiterer Abgeordneter und der finde es nicht fair, was Sie hier der Öffentlichkeit darzu- Fraktion der CDU/CSU stellen versuchen. sowie der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Bartels, Petra Heß, weiterer Ab- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP geordneter und der Fraktion der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Betreuung bei posttraumatischen Belastungs- Sie wollen mehr Rechte für die Linke und haben eiskalt störungen stärken und weiterentwickeln kalkulierend einen Gesetzentwurf vorgelegt, der nur Ihre Rechte stärken soll. – Drucksachen 16/11410, 16/11842- Sie fordern ein Selbstbefassungsrecht. Zwei Mitglie- Berichterstattung: der des Petitionsausschusses sollen entscheiden können, Abgeordnete Monika Brüning womit sich der Petitionsausschuss befasst. Es sollen Jörn Thießen nicht nur Beschwerden der Bürger, sondern ganz be- Elke Hoff wusst auch Bitten berücksichtigt werden. Beschwerden Dr. Hakki Keskin reichen in die Vergangenheit hinein, Bitten zielen auf die Winfried Nachtwei Zukunft ab. Sie wollen damit gesetzgeberische Initiati- c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- ven über den Petitionsausschuss in das Parlament brin- richts des Verteidigungsausschusses (12. Aus- gen und so deren Behandlung erzwingen. schuss) Meine Damen und Herren, es ist schade, dass wir auf – zu dem Antrag der Abgeordneten Elke Hoff, diesem Niveau über Rechte der Bürgerinnen und Bürger Birgit Homburger, Dr. Rainer Stinner, weiterer sprechen müssen. Auf einen groben Klotz gehört ein Abgeordneter und der Fraktion der FDP grober Keil. Deswegen bin ich deutlich geworden. Die Menschen, die uns zuhören und zuschauen, müssen wis- Medizinische Versorgung der Bundeswehr sen, dass man Rattenfängern nicht folgen soll. Diese bei- an die Einsatzrealitäten anpassen – Kompe- den Gesetzentwürfe kann man nur ablehnen. tenzzentrum für posttraumatische Belas- tungsstörungen einrichten (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP (B) (D) und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – zu dem Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Inge Höger, Monika Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Vizepräsidentin Petra Pau: Ich schließe die Aussprache. Adäquate Behandlungs- und Betreuungs- kapazitäten für an posttraumatischen Belas- Interfraktionell wird die Überweisung der Gesetzent- tungsstörungen erkrankte Angehörige der würfe auf den Drucksachen 16/10397 und 16/10385 an Bundeswehr die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das – Drucksachen 16/7176, 16/8383, 16/10024 – ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be- Berichterstattung: schlossen. Abgeordnete Bernd Siebert Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a bis 8 c auf: Jörn Thießen Elke Hoff a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Bernd Paul Schäfer (Köln) Siebert, Ulrich Adam, Ernst-Reinhard Beck Winfried Nachtwei (Reutlingen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die der Abgeordneten Rainer Arnold, Dr. Hans-Peter Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre Bartels, Petra Heß, weiterer Abgeordneter und keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. der Fraktion der SPD, Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundes- der Abgeordneten Elke Hoff, Birgit Homburger, minister Dr. Franz Josef Jung. Dr. Rainer Stinner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP sowie der Abgeordneten (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Winfried Nachtwei, Omid Nouripour, Renate Künast, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Dr. Franz Josef Jung, Bundesminister der Verteidi- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gung: Betreuung bei posttraumatischen Belastungs- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und störungen stärken und weiterentwickeln Herren! Die Bundeswehr ist zwischenzeitlich eine Ar- mee im Einsatz für den Frieden. Sie ist gut ausgebildet, – Drucksache 16/11882 – ordentlich ausgerüstet und gut motiviert. Aber in diesen 22164 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung (A) Einsätzen sind die Soldatinnen und Soldaten besonderen Drittens. Für die heimkehrenden Soldaten haben wir (C) Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt. ein psychosoziales Netzwerk aufgebaut: über den Sani- tätsdienst, den psychologischen Dienst, den Sozial- Deshalb denke ich, dass es richtig ist, dass sich der dienst, die Militärseelsorge und die Truppe. Dieses Netz- Deutsche Bundestag mit dieser Gefahrensituation, was werk bietet standortnah allen Soldatinnen und Soldaten die psychische Belastung anbetrifft, konkret beschäftigt. rund um die Uhr an 365 Tagen im Jahr kompetente Hilfe Denn ich finde, dass unsere Soldatinnen und Soldaten und Unterstützung an. Wir haben eine anonyme Online- gerade im Hinblick auf diese Herausforderung, die Ge- beratung unter www.angriff-auf-die-seele.de eingerich- fahr für Leib und Leben, unsere allgemeine Unterstüt- tet. Wir werden ebenfalls eine anonyme Telefonhotline zung verdient haben. einrichten. Ich will auch darauf hinweisen, dass die Un- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP terstützung der Familien besonders wichtig ist. In dem und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zusammenhang spielen die Familienbetreuungszentren eine wichtige Rolle. Die seelischen Verwundungen sind aus meiner Sicht Im Krankheitsfall erfolgt eine effektive Behandlung genauso ernst zu nehmen wie körperliche Verwundun- in unseren fünf Bundeswehrkrankenhäusern und den gen. Deshalb ist es, wie ich finde, gut gewesen, dass bei- 14 fachärztlichen Untersuchungsstellen für Psychiatrie. spielsweise die ARD mit dem Film Willkommen zu Wir kooperieren auch mit zivilen Kliniken; denn – da- Hause dieses Thema ins Bewusstsein der breiten Öffent- rauf will ich hinweisen – dies ist kein Problem, das nur lichkeit gerückt hat. Soldatinnen und Soldaten betrifft. Unter solchen psychi- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE schen Belastungen leiden auch Mitarbeiter der Polizei GRÜNEN]: Sehr angemessen!) und der Feuerwehr sowie Menschen, die aus Bürger- kriegsgebieten zu uns kommen. Ich bin dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen dankbar, dass dadurch die Problematik, die sich für unsere Solda- Wir richten einen Arbeitsbereich „Psychische Ge- tinnen und Soldaten ergibt, verstärkt ins Bewusstsein der sundheit“ beim Institut für Medizinischen Arbeits- und Öffentlichkeit gelangt. Umweltschutz der Bundeswehr hier in Berlin ein. Er soll ab Mitte des Jahres die Forschung auf diesem Gebiet (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP stärken. Hierbei werden die Fachabteilungen für Psychi- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie atrie an den Bundeswehrkrankenhäusern, der Psycholo- des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]) gische Dienst der Bundeswehr und die zivilen Einrich- tungen eingebunden. So entsteht ein Forschungs- und Die Bundeswehr hat die Bedeutung der posttraumati- Kompetenzzentrum der Bundeswehr. (B) schen Belastungsstörung – allgemein wird auch vom (D) Rückkehrertrauma gesprochen – erkannt und handelt im Es trifft zu: Die Anzahl der Soldatinnen und Soldaten Interesse unserer Soldatinnen und Soldaten. Seit Beginn mit einer posttraumatischen Belastungsstörung ist ange- der Auslandseinsätze hat die Bundeswehr die Behand- stiegen. Im Jahre 2005 gab es 121 Fälle, im Jahre 2008 lungs- und Betreuungsmaßnahmen ständig ausgebaut. gab es 245 Fälle; diese sind im Wesentlichen auf Ein- Unser derzeitiges Konzept lautet: Vorbereitung, Durch- sätze in Afghanistan zurückzuführen. Der Durchschnitt führung und Nachbereitung von Einsätzen. Das Ziel ist liegt in etwa bei 1 Prozent. Damit liegen wir im interna- die frühzeitige Diagnostik und schnelle und gezielte tionalen Vergleich recht gut. Den Anstieg, den wir ver- Hilfe – je früher, desto besser. Das gilt besonders mit zeichnen, nehmen wir sehr ernst. Natürlich liegt die stei- Blick auf unsere Soldatinnen und Soldaten, weil teil- gende Zahl der Fälle an der Einsatzintensität, aber auch weise in der Öffentlichkeit, aber auch von den Betroffe- – das ist unsere Erkenntnis – an der Zunahme der Bereit- nen selbst eine solche Verwundung – wie ich sie be- schaft unserer Soldatinnen und Soldaten, sich in ärztli- zeichne – immer noch als Schwäche empfunden wird. che Behandlung zu begeben. Deshalb glaube ich, dass wir dagegen angehen und deut- Ich kann unterstreichen, dass aus meiner Sicht – dazu lich machen müssen: Je schneller sich unsere Soldatin- trägt auch diese Debatte bei – die Sensibilität für diese nen und Soldaten in ärztliche Behandlung begeben, Erkrankung spürbar zugenommen hat. Deshalb, denke umso größer ist die Chance auf Gesundung. Deshalb ist ich, ist es richtig und gut, unseren Soldatinnen und Sol- das ein richtiger und wichtiger Schritt, um die Behand- daten diese Behandlungsmethoden anzubieten und zur lung effektiver zu gestalten. Verfügung zu stellen, aber auch alles zu tun, damit schon erste erkannte Symptome sofort behandelt werden, weil (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP dies zur schnellstmöglichen Heilung beiträgt. und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wir haben unsere Vorsorge in drei Abschnitte geglie- neten der SPD und der FDP) dert: Unser Ziel ist es, ein Auftreten dieser seelischen Krank- Erstens. Das Thema Psychotraumatologie ist fester heit möglichst zu verhindern, aber im Krankheitsfall die Bestandteil der vorbereitenden Ausbildung. bestmögliche Behandlung und Versorgung unserer Sol- datinnen und Soldaten sicherzustellen. Zweitens. Im Einsatz bemühen wir uns ebenfalls um die psychische Stabilisierung der Soldatinnen und Solda- Insofern bin ich dem Deutschen Bundestag sehr dank- ten. bar, dass er sich mit diesem Thema beschäftigt. Es ist Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22165

Bundesminister Dr. Franz Josef Jung (A) wichtig, deutlich zu machen, dass wir alle Anstrengun- sem Zusammenhang gemacht werden können und ge- (C) gen unternehmen, um unseren Soldatinnen und Soldaten macht wurden, lernen. Hilfe zuteil werden zu lassen. Es ist ebenso wichtig, Ich bin der Meinung, wir sollten uns besser schon diese Problematik in die Öffentlichkeit zu tragen. Denn jetzt mit diesen Themen befassen, präventiv tätig sein das, was unsere Soldatinnen und Soldaten leisten, ist und die Erfahrungen, die bereits gemacht wurden, sam- letztlich im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen meln, als uns irgendwann den Vorwurf machen lassen zu und Bürger. Sie setzen sich Gefahren aus und riskieren müssen, wir hätten zu spät gehandelt und das, was un- Leib und Leben. Deshalb haben sie unser aller Unterstüt- sere Soldatinnen und Soldaten für uns leisten, nicht ge- zung verdient. würdigt. Haben Sie recht schönen Dank. (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) neten der SPD und der FDP) Ich finde es auch richtig, dass Sie, Herr Minister, be- sonders auf die Betroffenheiten der Familien hingewie- Vizepräsidentin Petra Pau: sen haben. In den Zuschriften von Familienangehörigen, Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDP- die mich erreichen – viele meiner Kollegen sicherlich Fraktion. auch –, lese ich sinngemäß immer wieder: Unsere Söhne und Töchter gehen mit sehr viel Engagement und Moti- (Beifall bei der FDP) vation in den Einsatz. Wir allerdings sind zu Hause. Wir werden tagtäglich mit den Bildern in der Presse konfron- Elke Hoff (FDP): tiert, sind bedrückt und belastet. Wie es uns geht und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und welche Ängste wir haben, das können nur die wenigsten Kollegen! Ich kann nicht verhehlen, dass ich mich sehr verstehen. darüber freue, dass es uns im Deutschen Bundestag ge- Insofern ist es wichtig, einen umfassenden Ansatz zu lungen ist, einen fraktionsübergreifenden Antrag zu die- verfolgen. Familienbetreuungszentren können dabei eine sem wichtigen Thema auf den Weg zu bringen und heute herausgehobene Rolle spielen, das ist gut und richtig. zu verabschieden. Ich glaube, damit senden wir ein star- Wenn die Entscheidungen anstehen, Kompetenzzentren kes Signal an die Bundeswehr, dass wir am Schicksal, aufzubauen und geeignete Angebote zu entwickeln, soll- das unsere Soldatinnen und Soldaten zu tragen haben, ten wir die dafür erforderlichen finanziellen Mittel zur Anteil nehmen. An dieser Stelle sollten wir auch ein Verfügung stellen. Dankeschön an die Soldaten richten, die den Mut hatten, (B) an die Öffentlichkeit zu gehen und sich dazu zu beken- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (D) nen, dass es hier ein Problem gibt, mit dem sie sich NEN]: Und zusätzliches Personal!) selbst, mit dem sich aber auch ihre Familien auseinan- Jetzt erwarten die Soldaten von uns, dass unseren dersetzen müssen, und das im Grunde auch ein Ergebnis Worten und Beschlüssen auch Taten folgen. Herr Minis- dessen ist, was wir hier beschließen. ter, Sie können sich der breiten Unterstützung des Deut- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD schen Bundestages sicher sein. Alle Maßnahmen, die Sie und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie auf diesem Gebiet ergreifen, werden von uns unterstützt, des Abg. Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]) auch im Hinblick auf die Bereitstellung der finanziellen Mittel. Ich halte es für eine moralische Verpflichtung, dass wir uns an dieser Stelle auch mit der Kehrseite der Me- An dieser Stelle möchte ich mich sehr herzlich bei daille befassen. Wir müssen unseren Soldaten das Ge- den Kolleginnen und Kollegen des Fachausschusses da- fühl geben, dass wir sie ernst nehmen. Wir wissen, dass für bedanken, dass es uns gelungen ist, bei diesem sie in ihren Einsätzen die extremsten Erlebnisse machen, Thema Einigkeit zu erzielen, sodass wir heute gemein- die ein Mensch machen kann: dass ein Kamerad stirbt, sam ein starkes Signal an unsere Soldatinnen und Solda- dass Kameraden verwundet werden, dass man selbst zu ten senden können. Ich hoffe sehr, dass das Angebot der Schaden kommt und dass daher auch die eigene Familie anonymen Hotline in Anspruch genommen wird. So- unter Druck steht. Damit müssen wir uns im Deutschen wohl die Kameraden, die sich bisher in der Öffentlich- Bundestag gemeinsam befassen. keit geäußert haben, als auch die Entschlossenheit des Deutschen Bundestages sollen die Soldatinnen und Sol- Herr Minister, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie heute daten motivieren, über Probleme, die sie haben, zu re- sehr deutliche Worte gefunden und die Bereitschaft Ihres den. Sie sollen wissen, dass sie professionell aufgefan- Hauses dokumentiert haben, sich dieses Themas anzu- gen und aufgenommen werden. Mein herzlicher Dank nehmen. Sie können davon ausgehen, dass das Parla- gilt allen, die daran mitgewirkt haben. Herr Minister, ment diese Schritte begleiten wird. Die Einmütigkeit, die viel Glück, alles Gute und „Toi, toi, toi!“ für die Umset- im Deutschen Bundestag in dieser Angelegenheit zung! herrscht, finde ich beispielhaft. Wenn Sie sich intensiver Danke schön. mit diesem Thema beschäftigen, sollten Sie auch die Probleme berücksichtigen, die viele verbündete Natio- (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD nen mit Rückkehrern, die unter Traumata leiden, haben, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie und aus den teilweise gravierenden Fehlern, die in die- bei Abgeordneten der LINKEN) 22166 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Vizepräsidentin Petra Pau: Fraktionsgrenzen hinweg, viele Erkenntnisse ermög- (C) Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Jörn licht. Thießen. Ich bedanke mich bei denjenigen in den Fraktionen, die diesen Antrag mit vorbereitet haben, namentlich bei Jörn Thießen (SPD): meiner Kollegin Monika Brüning, aber auch bei allen Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! anderen, deren Forderungen wir in diesen Antrag haben Als ich mich zum ersten Mal mit dem Thema „Posttrau- aufnehmen können. matische Belastungsstörungen“ beschäftigt habe, habe ich mich an ein Erlebnis erinnert, das ich als Kind hatte. Wir wissen, dass auch der Wehrbeauftragte eine wich- Damals hatte ich einen Onkel Hans. Auf dem Fernseher tige Rolle gespielt hat, nämlich indem er immer wieder in seinem Wohnzimmer stand das Foto eines jungen auf dieses Thema hingewiesen hat. Ich ermutige Sie, Mannes mit Trauerflor. Ich habe Onkel Hans gefragt: Herr Wehrbeauftragter, auch in Zukunft ihre Aufmerk- „Wer ist das?“ Er hat einsilbig geantwortet, das sei sein samkeit genau darauf zu richten und zu verfolgen, wel- Sohn gewesen; er wolle darüber nicht sprechen. Als che Fortschritte wir gemeinsam machen. meine Mutter und ich das Haus verlassen hatten, hat sie mich gebeten, Onkel Hans nicht noch einmal darauf an- Wir bekommen E-Mails, und wir bekommen Briefe; zusprechen. Er selbst sei im Krieg gewesen, sein Sohn Frau Kollegin Hoff, da geht es mir wie Ihnen und ande- sei im Krieg gefallen, und er könne über keines dieser ren. Schauen Sie sich auch den Chat an, den das Bundes- Erlebnisse sprechen; ich möge ihn nicht mehr fragen. ministerium für Verteidigung im Internet veröffentlicht hat! Was die Betroffenen schildern, das sind Schicksale, Wir wissen, dass die Grauen, die Menschen aushalten da sind Menschen in großer Not. mussten, eine lange Geschichte haben. Die Menschen, die darüber krank geworden sind, sind immer anders be- Es ist für Soldatinnen und Soldaten angesichts des nannt worden. Das waren „Kriegszitterer“, die hatten Selbstbildes eines „starken Menschen“, das sie haben, „Granatenfieber“, die sind mit einer „Schützengraben- nicht leicht, sich im Vertrauen an Familienangehörige, neurose“ aus dem Krieg wiedergekommen. Diese Men- an Seelsorger, an Vorgesetzte zu wenden. Doch das ist schen sind zeitlebens verstummt, haben zeitlebens unter wichtig. Die Dunkelziffer, von der wir ausgehen müssen, diesem Schicksal gelitten. Aus „Kriegsneurose“ wurde ist nämlich hoch. Deswegen ist die Studie, die wir anre- „Kriegsmüdigkeit“, dann „operative Erschöpfung“. gen, richtig, und sie wird uns wichtige Erkenntnisse ge- Heute sprechen wir von einer „posttraumatischen Belas- ben. tungsstörung“. Das ist ein Weg der Erkenntnis, aber auch ein Weg der Aufmerksamkeit. Der Einsatz der Streitkräfte ist in keiner Weise ein (B) Spiel, übrigens weder im Inland noch im Ausland. Keine (D) Ich finde es gut, dass wir hier im Deutschen Bundes- noch so gute Übung kann vorbereiten auf Gewaltsitua- tag in seltener Einigkeit das wichtige Signal eines ge- tionen, wie Menschen sie erleben und bei denen sie meinsamen Antrages aussenden. Das sendet ein Signal Schaden nehmen müssen. PTBS ist an sich, im Beginn, an die Betroffenen, an die bisher Schweigenden, an die, eine gesunde Reaktion auf einen Schock, auf ein Erleb- die sich noch nicht gezeigt haben, es sendet aber auch nis, das jemand noch nie gehabt hat. Doch dieser Schock ein Signal an ihre Familien, an die Soldatinnen und Sol- kann sich in einer Krankheit manifestieren, die so daten im Einsatz, an die Öffentlichkeit – dass es uns um schnell wie möglich bekämpft werden muss. Manchmal diese Menschen geht – und nicht zuletzt an die Verant- tritt PTBS erst Jahre nach dem entsprechenden Erlebnis wortlichen in der Bundeswehr selbst. Dem gesamten auf. Deutschen Bundestag liegt viel an einer intensiven Aus- einandersetzung mit diesem Thema. Sogenannten harten Männern und Frauen fällt es Herr Minister, wir begrüßen, dass sich das Bundesmi- nicht leicht, zuzugeben, wenn sie Probleme haben. Des- nisterium der Verteidigung sichtbar bewegt hat. Was wegen ist es richtig, dass Auslandseinsätze sorgfältig man in den letzten Tagen auf der Internetseite der Bun- vorbereitet werden. Wir brauchen genügend Psycholo- deswehr erfreulicherweise hat lesen können, wäre noch gen und Seelsorger. Aber auch auf die Nachbereitung vor wenigen Monaten nicht recht denkbar gewesen. Da- müssen wir großen Wert legen. Die Familienbetreuungs- für bedanke ich mich, und ich wünsche Ihnen auf dem einrichtungen müssen für dieses wichtige Thema sensi- weiteren Wege viel Glück! bilisiert werden. Das gilt auch für die Vorgesetzten auf allen Ebenen. Die Soldaten, die am Ende dauerhaft da- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten runter leiden, müssen sich sicher sein, dass ihre Versor- der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN) gung auf dem richtigen Niveau erfolgt. Wir danken auch denjenigen, die sich dieser Proble- In der Bundeswehr gibt es heute nach der Aktenlage, matik intensiv angenommen haben, zum Beispiel die ich kenne, 42 Dienstposten für Psychiater. Davon Oberstarzt Dr. Biesold aus Hamburg, der viel geforscht sind nur 21 besetzt. 5 von diesen 21 sind speziell in hat und viele Anregungen gegeben hat. Traumatherapie ausgebildet. Es gibt 14 Dienstposten für Wir danken aber auch dem Bundeswehrverband, der Psychologen, wovon 12 besetzt sind. Von diesen ist die die Betroffenen aus der Anonymität herausgeholt hat, Hälfte speziell ausgebildet. Herr Minister – ich spreche uns Abgeordneten die Chance gegeben hat, mit ihnen zu gleichzeitig auch diejenigen an, die dafür eine Mitver- reden, sie kennenzulernen. Das hat uns allen, über die antwortung tragen –, hier liegt noch ein Weg vor uns. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22167

Jörn Thießen (A) Wir wollen ein ernsthaftes und echtes Kompetenz- Mit den Erkrankungen, um die es hier geht – das ist (C) und Forschungszentrum für die Behandlung von PTBS auch schon gesagt worden –, wird in verschiedener Hin- in der Bundeswehr. Ich habe nichts dagegen, dass wir sicht an Tabus gerührt: dies zunächst beim Institut für den Medizinischen Ar- beits- und Umweltschutz der Bundeswehr ansiedeln, Am Selbstverständnis der Soldaten. Den harten Jungs aber es darf dort nicht zum inhaltlichen Nebengelass darf es doch nicht passieren, dass sie aus dem seelischen werden, sondern es muss dort im Zentrum der Arbeit Gleichgewicht geraten. Das hat leider dazu geführt, dass und der Aufmerksamkeit stehen. Ich hoffe sehr, dass das man gesagt hat, die psychischen Probleme seien Privat- unser gemeinsames Ziel ist. sache, dass das Phänomen verdrängt und nicht rechtzei- tig erkannt wurde, dass die Dunkelziffer hoch ist und (Beifall im ganzen Hause) dass Betroffene isoliert sind oder sich selber isolieren. Herr Minister, wir werden diese Entwicklung, für die Die Führung sieht durch dieses Phänomen die Moral viele hier im Hause – ich denke, ich kann für alle oder der Truppe allzu schnell gefährdet. Auch deshalb gibt es zumindest für fast alle sprechen – dankbar sind und für den Hang, lieber den Mantel des Schweigens darüber die wir eine Menge gearbeitet haben, und die Umsetzung auszubreiten. der Forderungen sehr genau betrachten. Wir erwarten von der Bundesregierung noch in dieser Legislatur- Schließlich fürchtet die staatliche Bürokratie nichts periode einen konkreten Zeit- und Handlungsplan, aus mehr als Präzedenzfälle und Ansprüche auf Entschädi- dem hervorgeht, wie und wann sie diese Forderungen in gungszahlungen, die von denjenigen geltend gemacht unserem Antrag umzusetzen gedenkt. werden könnten, deren Wehrdienstfähigkeit nicht mehr gegeben ist. Daher mussten sich die Betroffenen über ei- Wir wissen, dass es Schwierigkeiten damit geben nen längeren Zeitraum leider nicht nur um ihre medizini- kann. Wir wissen auch, dass es Bedenken gibt, wir sind sche Behandlung kümmern, sondern auch um ihre Aner- uns aber gewiss, Herr Minister, dass Sie für einen Fort- kennung als Kranke ringen. Ich finde, das ist gänzlich schritt offen sind, und wir werden Sie bei dieser Gele- inakzeptabel. Ich hoffe, dass das jetzt wirklich Ge- genheit freundlich, hilfreich und sehr aufmerksam be- schichte ist. gleiten. (Beifall der Abg. Jörn Thießen [SPD], Win- Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. fried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN] und Gert Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es geht darum, die Sensibilität in diesem Bereich um- (B) fassend zu stärken und den Tabus entgegenzuarbeiten. (D) Die Betroffenen müssen schnell und jederzeit Ansprech- Vizepräsidentin Petra Pau: stellen finden. Der Vorschlag der Einrichtung einer Das Wort hat der Kollege Paul Schäfer für die Frak- anonymen Hotline wird hoffentlich aufgegriffen. Vor al- tion Die Linke. lem die Forschung muss vorangebracht werden, um da- mit die Möglichkeiten der Heilung zu verbessern. Das (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Kompetenz- und Forschungszentrum der Bundeswehr ist Winkelmeier [fraktionslos]) erwähnt worden. Wir brauchen einen großherzigen und verständnisvollen Umgang mit den erkrankten Men- Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): schen. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe um ein umfassendes Betreuungs- und Rehabilitations- Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass der Bundes- konzept. tag in Sachen posttraumatisches Belastungssyndrom ei- Meine Kolleginnen Pau und Lötzsch haben diese Pro- nen Handlungsbedarf erkennt. Wir werden sehr darauf blematik schon in der vergangenen Legislaturperiode achten müssen, dass das, was heute hier beschlossen aufgegriffen. Meine Kollegin Katrin Kunert hat dies zu wird, auch tatsächlich umgesetzt wird. Beginn dieser Legislaturperiode getan. Im März 2008 Es ist leider immer wieder dieselbe Geschichte: Die haben die Linken einen Antrag eingebracht, in dem we- Betroffenen müssen sich zu Wort melden, sie müssen sentliche Forderungen des Bundeswehr-Verbandes auf- sich zusammentun – wie im Verein Skarabäus in der gegriffen worden sind. Die Regierungsfraktionen haben Bundeswehr –, sie müssen Interessensverbände gewin- Ende vergangenen Jahres nachgezogen. nen, Journalisten überzeugen, die Öffentlichkeit sensibi- Ich sage das nicht, um historische Meriten für die Lin- lisieren, und aus dem Parlament heraus müssen Initiati- ken einzuheimsen. Das ist zu billig. FDP und Grüne wa- ven entwickelt werden. Erst dann wacht die Regierung ren präsent. Der Wehrbeauftragte hat sich dauernd enga- auf. Selbst dann noch haben wir es leider – auch in ande- giert. Dies gilt genauso für den Bundeswehr-Verband ren Fällen – erlebt, dass der Regierungsapparat versucht, und Abgeordnete der Koalitionsfraktionen. zu mauern. Ein abschreckendes Beispiel sind nach wie vor die durch Radarstrahlen Geschädigten aus der Bun- An dieser Stelle möchte ich aber deutlich sagen, wa- deswehr und der NVA, die immer noch Klage über eine rum ich das erwähne. Mir geht es darum, der Verleum- hartherzige Bürokratie führen. Wir hoffen, dass das in dung entgegenzutreten, die der Vorsitzende einer kon- diesem Falle anders läuft. kurrierenden Partei kürzlich in die Welt gesetzt hat, 22168 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Paul Schäfer (Köln) (A) indem er gesagt hat, die Linke würde die Soldaten der unteroffizieres, der im Jahr 2003 im Rahmen des ABC- (C) Bundeswehr als aggressive Krieger beschimpfen. Bataillons in Kuwait eingesetzt worden ist. Dieser Ein- satz ist inzwischen so ziemlich in Vergessenheit geraten. Wir haben politische Gründe für die Ablehnung der Zu Beginn des Irakkrieges gab es ständig irakischen Ra- Out-of-Area-Einsätze. Wir wollen generell vermeiden, ketenbeschuss. Dieser Stabsunteroffizier schied kurz da- dass junge Menschen in eine Situation kommen, auf- nach aus der Bundeswehr aus. grund derer sie an posttraumatischen Belastungsstörun- gen erkranken. Das ist richtig. Mehr als ein Jahr später zeigten sich dann diese Stö- rungen. Es begann ein Kampf, ein Kampf nicht nur um (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert die Gesundung – das ist schon schwer genug –, sondern Winkelmeier [fraktionslos]) auch ein Kampf mit dem Dienstherrn um die Anerken- Das hat aber mit einer Beschimpfung von Soldatinnen nung als Wehrdienstbeschädigung. Heute vor genau ei- und Soldaten, die im Auftrag dieses Hauses ihren Dienst nem Jahr hat dieser Mann einen Bescheid von der Wehr- tun, nichts zu tun. Im Gegenteil, wir haben den An- bereichsverwaltung West bekommen. Darin heißt es: spruch, dass wir uns um diejenigen kümmern müssen, Allgemeine Belastungen, unter Beschuss zu stehen die Opfer von Krieg und Gewalt werden können. (häufig Alarm), kann für einen Soldaten im Aus- Wir fordern daher, dass das Parlament, das diese jun- landseinsatz nicht als außergewöhnlich belastend gen Leute in Einsätze entsendet, dafür Sorge trägt, dass angesehen werden. ihnen eine angemessene medizinische Betreuung und Ich glaube, das ist der Gipfel der Ignoranz. Versorgung zuteil wird. Wir unterstützen deshalb den vorliegenden Antrag. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben auch im Ausschuss deutlich gemacht, dass sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der es möglich gewesen wäre, einen gemeinsamen Antrag SPD, der FDP und der LINKEN) einzubringen. Die Union konnte aber leider nicht über Posttraumatische Belastungsstörungen können – das die Schatten des Kalten Krieges springen. Wir hoffen, ist die Erfahrung – jeden erwischen. Dies ist unbere- dass man in der nächsten Legislaturperiode diese ideolo- chenbar. Verschiedenste Stressfaktoren können dazu füh- gische Engführung und diesen Kleingeist überwindet. ren. Solche psychischen Verwundungen sind ausdrück- (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Win- lich kein Ausdruck menschlicher oder gar soldatischer fried Nachtwei [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Schwäche, sondern das ist eher fast sogar eine mensch- NEN] und Gert Winkelmeier [fraktionslos]) lich normale Reaktion auf Situationen, die verrückt ma- chen. (B) Es würde dem Parlamentarismus gut tun und das Ver- (D) trauen der Bürgerinnen und Bürger in das Parlament (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN stärken, wenn sie erkennen, dass es nicht nur um Partei- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der taktik, sondern auch um Sachfragen geht. SPD, der FDP und der LINKEN) Danke. Wir müssen feststellen, dass die Dunkelziffer wahr- scheinlich um einiges größer ist als die offizielle Zahl. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Wir müssen auch klarstellen, dass im Hinblick auf die Winkelmeier [fraktionslos]) Dimension psychische Erkrankungen heutzutage der häufigste gesundheitliche Folgeschaden von Einsätzen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: sind. Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der Mit diesem Antrag, den wir glücklicherweise inter- Kollege Winfried Nachtwei das Wort. fraktionell gemeinsam hinbekommen haben, formulie- ren wir die zentralen Notwendigkeiten. Ich will sie nicht Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): im Einzelnen wiederholen. Es geht um ein niedrig- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! schwelliges Beratungsangebot und die Einrichtung einer Die Vorbereitung von Bundeswehrsoldaten auf Auslands- zentralen Ansprechstelle und eines Kompetenz- und For- einsätze ist nach meiner Erfahrung sehr fundiert und schungszentrums, und zwar eines echten. Herr Minister, hilfreich. Was es an Konzepten, an Begleitung und an passen Sie auf, was in dem Konzept zur psychischen Ge- Strukturen gibt, das ist auch im Verhältnis zu manchen sundheit vom Juni letzten Jahres vorgesehen ist! Das ist anderen Armeen recht gut. allenfalls eine Arbeitsgruppe in diesem Institut, aus- drücklich ohne Mehrausstattung usw. Wir wollen im Noch im vorigen Jahr – so erinnere ich mich – hörte Bundestag insgesamt ein echtes Kompetenz- und For- ich von der Bundeswehrspitze die Beschreibung, der schungszentrum. Anteil der eingesetzten Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen liege unter 1 Prozent, er steige (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, nicht, und man habe die Lage im Griff. bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP so- wie bei Abgeordneten der LINKEN) Einige von uns Verteidigungspolitikerinnen und -poli- tikern haben inzwischen Begegnungen mit Betroffenen Des Weiteren sind in diesem Bereich die persönliche gehabt. Dabei hat man fürchterliche Schicksale mitbe- Begleitung der Betroffenen und – das wurde bisher zu kommen. Ich erinnere mich an das Beispiel eines Stabs- wenig angesprochen – eine völlig andere Berücksichti- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22169

Winfried Nachtwei (A) gung der Veteranen von sehr großer Bedeutung. Ich dings am Kern vorbei, und zwar aus zwei Gründen. (C) kenne Leute, die 1999 etwa im Kosovo oder in Bosnien Erstens besteht eine Verpflichtung des Parlaments insge- Fürchterliches erlebt haben. Diese Gruppe meldet sich samt, die erkannten negativen Auswirkungen seiner Ent- jetzt auch etwas stärker zu Wort. scheidungen zu begrenzen, besonders wenn Menschen davon betroffen sind. Dies gilt unabhängig vom Abstim- Ich komme zum Schluss. Dieses Thema ist nicht nur mungsverhalten. Insofern haben wir alle eine gemein- eine Herausforderung für die Bundeswehr und die Bun- same Fürsorgepflicht für Soldaten in der Parlamentsar- desverwaltung. Inzwischen gibt es eine enorme Kluft mee. zwischen der Einsatzerfahrung und dem zivilen Alltags- leben hierzulande. Sprachlosigkeit auf der einen Seite Zweitens muss an dieser Stelle auch gesagt werden, und Gleichgültigkeit auf der anderen Seite wirken regel- warum die Bundesregierung das Thema immer wieder recht als Stress- und Verwundungsverstärker. heruntergespielt hat, warum sie auch der Frage nach der Dunkelziffer nicht offensiv nachgegangen ist. Sie wird Der Afghanistaneinsatz wird heute von großen Teilen bekanntlich von Fachleuten als weit höher geschätzt als der Bevölkerung sehr kritisch gesehen. Unabhängig da- die Zahl der als erkrankt Erfassten; denn diese individu- von verdienen die vom Bundestag nach Afghanistan ent- elle Verdrängung hängt ja unmittelbar mit den Bedin- sandten Frauen und Männer Interesse, Anteilnahme und gungen und Gruppenzwängen zusammen, denen junge persönliche Unterstützung. Ich meine, auch das ist eine Soldaten in einer militärisch, überwiegend von Männern Form von bürgerschaftlichem Engagement. geprägten Gemeinschaft ausgesetzt sind, nämlich: Keine Danke schön. Schwächen zeigen! Sonst gilt man als Weichei und wird verachtet. Unter kriegerischen Bedingungen wie in Af- (Beifall im ganzen Hause) ghanistan gilt dies ganz besonders. Aber die Bundesre- gierung hat den dortigen Einsatz aus durchsichtigen Vizepräsidentin Petra Pau: Gründen jahrelang nicht als das bezeichnet, was er ist, Das Wort hat der Kollege Gert Winkelmeier. nämlich als einen Krieg. Ergo konnte sie das Problem der Traumatisierten auch nicht angemessen behandeln, Gert Winkelmeier (fraktionslos): ohne die eigene Argumentation infrage zu stellen, und dies zulasten der Betroffenen. Studien aus anderen Ar- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren. meen, in den USA und in Skandinavien, zeigen deutlich: Der vorliegende Antrag zur Verbesserung der Situation Mit Zahl, Dauer und Intensität der Kriegseinsätze steigt der von posttraumatischen Belastungsstörungen betrof- der Prozentsatz der Traumatisierten in den zweistelligen fenen aktiven und ausgeschiedenen Soldaten ist im Ver- Bereich an. Auch dies ist für uns ein Grund, Nein zu teidigungsausschuss einstimmig angenommen worden. weiteren Kriegseinsätzen zu sagen. (B) Das begrüße ich ausdrücklich. (D) Vielen Dank. Gleichwohl komme ich nicht umhin, einige kritische Anmerkungen grundsätzlicher Art zu machen. Denn die- (Beifall bei der LINKEN) ses Thema beschäftigt den Bundestag, den Wehrbeauf- tragten und den Ausschuss bereits seit Jahren. Ich erin- Vizepräsidentin Petra Pau: nere an die Kleinen Anfragen der Linksfraktion und der Ich schließe die Aussprache. FDP aus den Jahren 2006 und 2007. Gleichwohl war bis- her nicht erkennbar, dass dem Verteidigungsministerium Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der die Gesundheit seiner Soldaten ebenso am Herzen liegt Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/ wie die Ausrüstung der Bundeswehr mit immer moder- Die Grünen auf Drucksache 16/11882 mit dem Titel neren Waffensystemen. Ich hoffe, dass sich dies nun- „Betreuung bei posttraumatischen Belastungsstörungen mehr ändern wird und dass das Ministerium die Maß- stärken und weiterentwickeln“. Wer stimmt für diesen nahmen ergreift, die der ansteigenden Zahl von Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Gibt es Enthaltun- Betroffenen gerecht wird. gen? – Der Antrag ist einstimmig angenommen. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr sind nach bis- Wir kommen nun zu den Beschlussempfehlungen des heriger Lesart der Bundesregierung bis heute reine Sa- Verteidigungsausschusses auf den Drucksachen 16/11842 mariterdienste. Ich würde sie hingegen als das konven- und 16/10024 zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ tionelle Gegenstück zur nuklearen Teilhabe bezeichnen, CSU und SPD auf Drucksache 16/11410 und dem An- als Mittel zur Machtteilhabe. Dafür gibt es auch einen trag der Fraktion der FDP auf Drucksache 16/7176. Es Kronzeugen: den früheren Bundeskanzler Schröder mit ist interfraktionell vereinbart, beide Anträge wegen des seinem inzwischen geflügelten Wort der „Enttabuisie- soeben unter Tagesordnungspunkt 8 a angenommenen rung des Militärischen“ als normalem Mittel der deut- gemeinsamen Antrags der Fraktionen von CDU/CSU, schen Politik. Diesen Ausspruch zitiere ich allein deswe- SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen für erledigt zu gen immer wieder gerne, weil er nicht die Position der erklären. Wer stimmt für diese Verfahrensweise? – Wer Linken ist. stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Anträge sind einstimmig für erledigt erklärt. Damit entfällt insoweit Nun könnte ich es mir leicht machen und sagen, ohne die Behandlung der Beschlussempfehlungen. kriegerische Einsätze gäbe es keine nennenswerten post- traumatischen Belastungsstörungen und auch keine De- Wir kommen nun zur Abstimmung über Nr. 2 der Be- batte über das Thema in diesem Hause. Dies ginge aller- schlussempfehlung des Verteidigungsausschusses auf 22170 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Drucksache 16/10024. Der Ausschuss empfiehlt die Ab- Unsere Rechtsordnung sieht eine Entschuldigung (C) lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck- staatlicherseits für diese Freiheitsberaubung nicht vor. sache 16/8383 mit dem Titel „Adäquate Behandlungs- Dafür ist aber eine Entschädigung für diese Freiheitsent- und Betreuungskapazitäten für an posttraumatischen Be- ziehung vorgesehen. Die grundlegende Frage ist: Was ist lastungsstörungen erkrankte Angehörige der Bundes- eigentlich die Freiheit einer Bürgerin oder eines Bürgers wehr“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – wert? Wie viel sollen denn diejenigen erhalten, die un- Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be- schuldig ihrer Freiheit beraubt worden sind? Dafür gibt schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Unionsfrak- es keine festen Sätze, aber es gibt die Rechtslage in tionen, der SPD-Fraktion, der FDP-Fraktion und der Deutschland. Seit 1987 zahlen wir pro Tag unschuldig Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der erlittener Haft 20 DM bzw. jetzt 11 Euro. Dieser Betrag Fraktion Die Linke angenommen. ist seit über 20 Jahren nicht erhöht worden. Wir meinen, dass dieser Betrag absolut unangemessen ist. Um eine Ich rufe die Tagesordnungspunkte 9 a und 9 b auf: Relation zu erhalten, halte ich es für vernünftig, einmal a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy einen Blick ins europäische Ausland zu wagen. Ich will Montag, Volker Beck (Köln), , wei- Ihnen einige Zahlen nennen. teren Abgeordneten und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs In Luxemburg werden für diese Fälle bis zu 200 Euro eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes pro Tag gezahlt, in Holland bei Polizeihaft 95 Euro, bei über die Entschädigung für Strafverfolgungs- Gerichtshaft 70 Euro pro Tag. In Österreich gibt es eine maßnahmen Regelung ähnlich unserem Vorschlag, eine angemessene Entschädigung zu zahlen. Die Gerichte gehen im Regel- – Drucksache 16/11434 – fall von 100 Euro pro Tag aus. Finnland zahlt 100 Euro Überweisungsvorschlag: pro Tag. Die Gerichte legen dort aber auch wesentlich Rechtsausschuss höhere Beträge fest. Spanien zahlt 50 Euro pro Tag, Dä- nemark pro fünf Stunden 255 Euro, 615 Euro für zwei b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van Tage, danach pro Tag bis zu 108 Euro mit Aufschlägen Essen, Mechthild Dyckmans, Jens Ackermann, für besonders schwere Vorwürfe. Schweden zahlt für die weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP ersten zwei Tage unrechtmäßiger Haft 315 Euro, das Angemessene Haftentschädigung für Justiz- heißt 162 Euro pro Tag, danach 70 Euro pro Tag. Dies ist opfer sicherstellen verglichen mit den 11 Euro, die wir seit 20 Jahren zah- len, eine völlig andere Dimension. – Drucksache 16/10614 – (B) Überweisungsvorschlag: Schauen wir nach Deutschland. Es gibt Fallgestaltun- (D) Rechtsausschuss (f) gen, in denen die Gerichte nicht gezwungen sind, als Innenausschuss Entschädigung den festen Betrag von 11 Euro festzule- Finanzausschuss Haushaltsausschuss gen, sondern nach eigenem Ermessen entscheiden dür- fen: Bei einer unrechtmäßigen Freiheitsentziehung durch Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die einen Kaufhausdetektiv bekam der Unschuldige 127 Euro Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die für einige Stunden. Ein Mensch ist durch Anwaltsver- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten schulden in Untersuchungshaft gekommen. Das Landge- soll. – Ich höre zu dieser Vereinbarung keinen Wider- richt Berlin hat entschieden, dass das 92 Euro pro Tag spruch. Dann ist so beschlossen. wert ist. Eine unrechtmäßige Freiheitsentziehung durch Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege einen Polizisten war dem Landgericht Karlsruhe pro Tag Jerzy Montag für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. 255 Euro wert. Für eine unrechtmäßige Freiheitsentzie- hung in psychiatrischen Kliniken hat das OLG Olden- burg pro Tag 320 Euro festgelegt, das Landgericht Ber- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): lin 512 Euro pro Tag und das Oberlandesgericht Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Stuttgart 219 Euro. Es gibt sogar Entscheidungen für In Deutschland gibt es Menschen, die in Untersuchungs- eine Entschädigung bei rechtmäßiger Haft. So hat das haft, manchmal sogar in Strafhaft kommen, obwohl sie Oberlandesgericht München bei einer rechtmäßigen Haft unschuldig sind, und die deswegen – man kann es so sa- in einer überbelegten Zelle 50 Euro pro Tag festgelegt. gen – durch staatliche Maßnahmen und gerichtliche Ur- Wenn wir uns diese Zahlen anschauen, dann merken wir, teile ihrer Freiheit beraubt worden sind. wie jämmerlich die 11 Euro sind, die wir seit 20 Jahren Ich will an drei Fälle erinnern: Ein Säugling stirbt, auszahlen. und der Vater kommt für neun Monate in Untersu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN chungshaft. Es stellt sich heraus, dass er völlig unschul- und bei der LINKEN) dig ist. Ein Mann wird wegen einer Falschbelastung, einer angeblichen Vergewaltigung, zu fünf Jahren Ge- Deswegen haben wir jetzt nicht mehr auf die Länder fängnis verurteilt. Er sitzt 1 523 Tage in Haft. Danach gewartet, die sich angeblich geeinigt haben, die aber kei- stellt sich seine Unschuld heraus. Hier in Berlin ist eine nen Gesetzentwurf vorlegen. Wir warten auch nicht auf Arzthelferin wegen angeblicher Brandstiftung in Haft die Koalition, die davon redet, dass man was machen genommen worden. Sie saß 888 Tage. Danach stellte sollte. Wir haben einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wir sich heraus, dass sie nicht schuldig war. fordern, dass endlich eine angemessene Entschädigung Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22171

Jerzy Montag (A) gezahlt wird, mindestens 50 Euro am Tag. Wir bitten dort nicht zum Erfolg, was die Höhe des materiellen (C) ganz herzlich darum, dass man über diesen Gesetzent- Schadens anbelangt, muss er vor das Landgericht ziehen. wurf schnell diskutiert, schnell entscheidet, damit dieser In einem langwierigen Verfahren muss er dort seinen Skandal – 11 Euro pro Tag – ein Ende hat. Anspruch geltend machen. Da gibt es auch noch Aus- schlussgründe, über die wir auch einmal reden müssten. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Also ist die Pauschale doch wohl der bessere Weg.

Vizepräsidentin Petra Pau: Doch welche Höhe ist da gerecht? Versuchen Sie ein- mal, in einem österreichischen Urteil etwas dazu zu fin- Das Wort hat der Kollege Siegfried Kauder für die den, warum man dort in aller Regel 100 Euro zuspricht! Unionsfraktion. Die Höhe dieses Betrages ist willkürlich. Liebe Kolle- (Beifall bei der CDU/CSU) ginnen, liebe Kollegen, für den, der zu Unrecht verfolgt worden und in Haft gekommen ist, ist es mit dem Aus- Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ gleich des materiellen Schadens und mit dem Ausgleich CSU): des immateriellen Schadens doch gar nicht getan. Wer zahlt beispielsweise die Kosten für den Anwalt, wenn Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- ein Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO einge- gen! Wir sind uns ja einig: 11 Euro pro Tag sind als Ent- stellt wird, weil sich ein Tatverdacht nicht erhärtet hat? schädigung für eine unrechtmäßige Haft zu wenig. Wenn Der Bürger bleibt auf seinen Kosten für den Rechtsan- man über das Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädi- walt sitzen. gungsgesetz spricht, sollte man sich nicht nur auf die pauschalierte Haftentschädigung für immateriellen (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schaden beschränken. Wenn man zu Unrecht in Haft ge- Das sollten wir auch ändern!) nommen ist, gibt es den Ersatz des materiellen Scha- dens: Verdienstausfall, Umzugskosten, Sachschäden und Ist das gerecht? Auch darüber könnte man durchaus ein- Ähnliches. Erst seit dem Jahr 1970 gibt es für den imma- mal diskutieren. teriellen Schaden eine finanzielle Entschädigung: 1970 Auch andere Aspekte im Haftrecht könnten sehr wohl waren es 10 DM, später waren es 20 DM, und jetzt sind einmal durchleuchtet werden. es 11 Euro. Wir sollten insgesamt überlegen, ob und in- wieweit wir das Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschä- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: digungsgesetz reformieren müssen. Das machen wir heute Abend!) Es gibt möglicherweise einen kleinen Webfehler. Ich habe Folgendes immer wieder angesprochen: Ein Strafhäftling ist verpflichtet, zu arbeiten. Er ist aber nicht (B) Wird ein Beschuldigter nach verbüßter Untersuchungs- (D) haft freigesprochen, spricht das erkennende Gericht dem sozialversichert. Er sitzt 17 Jahre in Haft, arbeitet jeden Grunde nach einen Schadensersatz zu. Über die Höhe Tag, kommt aus der Haft heraus und hat keinen Renten- des Schadens befinden genau die Behörden, die dafür anspruch. Die Allgemeinheit muss es ohnehin bezahlen. gesorgt haben, dass der Beschuldigte in Untersuchungs- Da wäre es doch viel besser, man würde für die Häft- haft gekommen ist, nämlich die Landesjustizbehörde lingsarbeit Sozialversicherungsbeiträge leisten, sodass und die Staatsanwaltschaft. Das ist vielleicht nicht die er, wenn er aus der Haft herauskommt, ab einem be- günstigste Konstellation für einen Schadensersatzan- stimmten Alter einen Rentenanspruch hat. spruch. Also sollten wir uns auch darüber Gedanken ma- (Beifall bei der LINKEN) chen. Sie sehen also: In der Strafprozessordnung und im Es ist richtig, dass es im europäischen Ausland teil- Haftrecht gibt es die eine oder andere Ungerechtigkeit, weise andere Regelungen gibt. Eine hat der Kollege über die zu diskutieren sich lohnen würde. Montag zu Recht angesprochen, nämlich die österreichi- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sche. Man muss vor seinem geistigen Auge noch einmal NEN]: Erst einmal diskutieren wir über das das vorbeiziehen lassen, was Sie, Kollege Montag, ge- eine!) sagt haben: Die Gerichte in Österreich sprechen in aller Regel einen immateriellen Schaden von 100 Euro pro Machen wir uns nichts vor! Herr Kollege Montag, wir Hafttag zu. Eigentlich wollen wir nicht, dass ein zu Un- können über die Höhe des immateriellen Schadens bei recht in Haft Befindlicher vor ein Gericht ziehen muss, Haft und damit der Entschädigung befinden, können ein um seinen Schadensersatzanspruch geltend machen zu Gesetz verabschieden, können dabei Ihre Lösung auf- können. Deswegen bin ich ein vehementer Verfechter nehmen: mindestens 50 Euro, in aller Regel 100 Euro von Pauschalen. pro Tag. Aber wer zahlt das? Die Länder. Die Länder werden, weil eine solche Änderung ihrer Zustimmung Mir ist es lieber, ein zu Unrecht Inhaftierter weiß, er bedarf, gerade nicht zustimmen. Deswegen ist der an- bekommt in der Zukunft 25 Euro je Hafttag, und kann dere Weg doch der viel geschicktere. sich damit ausrechnen, was er insgesamt und relativ schnell bekommt. Überlegen Sie sich einmal, wie nach Ich habe damals die Bundesjustizministerin ange- dem Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädigungsge- schrieben und gebeten, genau dieses Thema „Entschädi- setz der Rechtsweg ist: Das Gericht erkennt den Grund gung des immateriellen Schadens“ zu regeln. Sie hat mir zu. Dann macht der Verurteilte oder Freigesprochene bei zu Recht geantwortet, es sei vielleicht besser, wenn man den Justizbehörden seinen Schaden geltend. Kommt er erst einmal die Länder anschreibe, sich mit denen 22172 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) zusammensetze und versuche, gemeinsam eine Lösung Vizepräsidentin Petra Pau: (C) zu finden. Sie gestatten die Zwischenfrage. Damit hat der Kol- (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag lege Kauder das Wort. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Es kommt ja nichts!) Jörg van Essen (FDP): Eine solche Lösung zeichnet sich auch ab. In der Frau Präsidentin, Sie haben es formgerecht gemacht. Herbstkonferenz haben sich die Landesjustizminister Vielen Dank. darauf geeinigt, 25 Euro pro Hafttag für immateriellen Schaden zuzusprechen. Jetzt kann man natürlich lange Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ darüber diskutieren, ob das gerecht ist oder ob das nicht CSU): gerecht ist. Lassen Sie uns doch darangehen, für die Herr Kollege van Essen, können wir uns darauf ver- Haftentschädigung insgesamt eine gute Lösung zu fin- ständigen, dass ich schon vor vielen Monaten die Bun- den und das Strafverfolgungsmaßnahmen-Entschädi- desjustizministerin angeschrieben und gebeten habe, gungsgesetz auch auf andere Probleme hin durchzuar- sich dieses Problems anzunehmen? Das war die erste beiten! Nehmen wir in Angriff, dass wir auch für Stufe des Drucks. Die zweite Stufe des Drucks ist ent- Häftlingsvergütungen Sozialversicherungsbeiträge leis- standen, indem wir mit den Ländern verhandeln. Wenn ten, und machen uns Gedanken darüber, ob derjenige, wir uns noch darauf einigen können, dass nicht der Bund der zu Unrecht mit einem Strafverfahren überzogen wor- zahlt, sondern die Länder, und dass deswegen eine kon- den ist, einen Anspruch darauf haben soll, dass er für seine Verteidigerkosten von der Staatskasse entschädigt sensuale Lösung mit den Ländern die bessere ist, dann wird! sind wir uns schon ein Stückchen näher. Auf diesem Wege mache ich gern mit. Darüber kön- Jörg van Essen (FDP): nen wir im Rechtsausschuss in allen Verästelungen dis- kutieren. Aber auf die Schnelle, Kollege Montag, geht es Ja, wir sind da nicht auseinander. Sie haben vollkom- halt nicht. men recht: Die Länder müssen zahlen. Es gibt auch Jus- tizminister aus meiner Partei, die das Problem haben. (Beifall bei der CDU/CSU) Das darf uns aber nicht daran hindern, hier im Bundestag die richtige Politik voranzutreiben. Vizepräsidentin Petra Pau: Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege Jörg (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ van Essen. DIE GRÜNEN – Dr. Jürgen Gehb [CDU/ CSU]: Das tun wir auch!) (B) (Beifall bei der FDP) (D) Dass Sie dazu beigetragen haben – Sie haben es ange- sprochen –, will ich gar nicht verschweigen. Ich bin ganz Jörg van Essen (FDP): froh darüber, dass wir in dieser Frage hier eine relativ Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! breite Mehrheit haben. Es ist auch gut, dass es so ist. Ich habe Ihnen, Herr Kollege Kauder, gerade aufmerk- sam zugehört. Sie haben zu Recht auf viele Baustellen Ich will sagen, warum ich das gut finde. Mich be- hingewiesen. Ich habe nach Ihren Schlussworten das Ge- schäftigt aus meiner früheren Tätigkeit als Oberstaatsan- fühl, dass Sie das deshalb getan haben, um deutlich zu walt immer noch ein Vorgang, mit dem ich nur am machen, dass Sie eine schnelle Änderung nicht wollen. Rande befasst war. Es handelt sich um einen britischen (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ Soldaten, der wegen Mordes nach der Vergewaltigung DIE GRÜNEN]: So haben wir das auch gese- einer jungen Frau verurteilt worden ist, mit seinen hen!) Rechtsmitteln bis hin zum Bundesgerichtshof keinen Er- folg hatte und lange gesessen hat, bis durch die Fort- Wir als Liberale, als FDP-Bundestagsfraktion, wollen schritte bei den DNA-Untersuchungen festgestellt wer- genau diese Frage, nämlich: Wie entschädigen wir die den konnte, dass er mit Sicherheit nicht der Täter war. Menschen, die unberechtigt in Haft genommen worden Ich habe sehr persönlich Verantwortung dafür gespürt, sind?, zu einer schnellen Lösung führen. dass wir einem jungen Menschen über zehn Jahre seines (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Lebens von Staats wegen geraubt haben. Natürlich war DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der es für ihn als Engländer, der in Deutschland eine Haft LINKEN) verbüßt hat, unglaublich schwierig, wieder sozial Fuß zu Deshalb machen wir Druck. Deshalb bin ich dankbar da- fassen. Wenn man ein solches Einzelschicksal miterlebt für, dass Druck nicht nur von meiner Fraktion, sondern hat, wenn auch nur am Rande, fühlt man sich ganz be- auch – der Beitrag des Kollegen Montag hat es gezeigt – sonders unwohl angesichts der Höhe der Entschädigung, von den Grünen gemacht wird. die zurzeit gezahlt wird. (Abg. Siegfried Kauder [Villingen-Schwen- In einem Punkt bin ich allerdings anderer Meinung ningen] [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwi- als Sie, Herr Kauder. Sie haben sich hier sehr intensiv schenfrage) für eine Entschädigung in Form einer Pauschale einge- setzt und auch Argumente vorgetragen, die man ernst – Herr Kollege Kauder. nehmen muss. Sie sagten zum Beispiel, dass das zu Be- (Heiterkeit) rechenbarkeit führt, dass keine lange Verfahren nötig Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22173

Jörg van Essen (A) sind, dass möglicherweise schneller entschieden werden setzt hat, im weiteren Verlauf die Fraktionen der FDP (C) kann. All das sind Argumente, die aus meiner Sicht für und der Grünen entsprechende Anträge eingebracht ha- Ihre Position sprechen. ben und die Bundesjustizministerin – auf Initiative des Kollegen Kauder, wie er heute gesagt hat – die Länder Trotzdem will ich hier nicht verhehlen, dass ich per- angeschrieben hat. Insofern befinden wir uns alle in ei- sönlich wie offensichtlich auch der Kollege Montag dem nem Boot. Wir sollten jetzt den Schwerpunkt darauf le- österreichischen Modell sehr viel abgewinnen kann. gen, hier sehr schnell tatsächlich zu einer Lösung zu Hier entscheidet nämlich ein Gericht, also nicht eine kommen. Strafverfolgungsbehörde wie die Staatsanwaltschaft – für die ich früher tätig war –, in einem objektiven Ver- Bei der Beratung dieses Themas lohnt es sich, wie ich fahren. Ich glaube, dass man damit auch den Besonder- glaube, auf drei weitere Gesichtspunkte hinzuweisen: heiten der Einzelfälle besser gerecht werden kann. Wenn man sich einmal die Fälle anschaut, stellt man fest, dass Als Erstes muss es darum gehen, unberechtigte Haft sie sehr unterschiedlich sind und auch der Grad der Be- zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund sind die Perso- troffenheit sehr unterschiedlich sein kann. Von daher naleinsparungen in den Ländern, die wir in den Justizap- denke ich, dass es gerechter wäre, wenn jeder Einzelfall paraten, aber auch im Polizeidienst an vielen Stellen betrachtet würde und erst dann entschieden würde, wie feststellen können – darauf muss man an dieser Stelle viel Geld pro unberechtigt verbüßtem Hafttag bezahlt immer wieder aufmerksam machen –, ein Schritt in die wird. Ich glaube, dass wir uns auch mit diesem Modell falsche Richtung. Dies im Blick müssen wir an die Län- näher beschäftigen sollten. Wir sollten uns erkundigen, der appellieren, deutliche Personalaufstockungen vorzu- welche Erfahrungen man in Österreich gesammelt hat. nehmen. Ich bekomme aus Österreich nur positive Rückmeldun- gen. (Beifall bei der SPD, der FDP und der LINKEN) Auch die Höhe der durchschnittlich gezahlten Sum- men ist interessant. Die Justizminister wollen die Ent- Zweitens geht es um die Frage – wir werden uns in die- schädigungssumme auf 25 Euro anheben; das gilt aber sem Haus heute noch mit diesem Thema beschäftigen –, noch nicht einmal. Dagegen liegt diese in Österreich bei wie es mit den Rechten von Menschen bestellt ist, die in durchschnittlich 100 Euro. Es ist also ganz offensicht- Untersuchungshaft kommen. Ich bin froh, dass der von lich, dass dort die Menschen besser wegkommen, als es den Koalitionsfraktionen vorgelegte Entwurf vieles Gute im Augenblick bei uns in der Bundesrepublik Deutsch- beinhaltet und sicherlich dazu führen wird, dass die land der Fall ist, und selbst dann noch besser wegkom- Rechte von Beschuldigten besser wahrgenommen wer- men würden, wenn sich die Justizminister mit ihrem den können. Ich will an dieser Stelle nur sagen, dass es (B) Vorschlag von 25 Euro durchsetzen würden. wichtig ist, zum Beispiel frühzeitig einen Verteidiger zur (D) Verfügung zu stellen und Akteneinsichtsrechte zu ge- Lieber Herr Kauder, Sie haben gesagt, es sind noch währen, um eine effektive und schnelle Verteidigung zu viele Fragen zu klären. Ich würde mir wünschen, dass gewährleisten. wir dieses Thema noch vor der Bundestagswahl voran- bringen und vielleicht sogar eine Lösung präsentieren (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: könnten. Sie haben schon darauf hingewiesen, dass es Das kommt doch erst heute Abend!) nicht leicht sein wird, mit den Ländern eine Lösung zu finden. Ich würde mir aber wünschen, dass wir wenigs- Auch das gehört dazu, Herr Montag, wenn es darum ge- tens den Versuch unternehmen. Deshalb sollten wir hen soll, ungerechtfertigte Haft möglichst zu vermeiden, schnell mit den Beratungen beginnen. Wir als FDP sind Mein dritter Punkt bezieht sich auf die Themen, die jedenfalls dazu bereit. Ich persönlich mache auch Druck, der Kollege Kauder angesprochen hat. Ich meine, dass wie viele andere hier auch, weil Verbesserungen drin- wir sie nicht einfach zur Seite schieben sollten, auch gend nötig sind. nicht vor dem Hintergrund, dass wir eine schnelle Rege- Vielen Dank. lung brauchen. Im Strafentschädigungsgesetz sind durchaus Regeln enthalten, die wir uns einmal genauer (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Wolfgang anschauen sollten: Warum beispielsweise kann eine Ent- Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) schädigung versagt werden, wenn es sich um ein Verfah- renshindernis handelt? Dies ist eine Sache, die ein Be- Vizepräsidentin Petra Pau: schuldigter nicht zu vertreten hat. Warum kann eine Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Entschädigung in diesem Fall versagt werden? Auch Dr. Matthias Miersch das Wort. diese Punkte sollten wir in den Berichterstattergesprä- (Beifall bei der SPD) chen aufgreifen. Ich jedenfalls hielte das für sinnvoll. Schließlich sollten wir uns daran orientieren – der Dr. Matthias Miersch (SPD): Kollege Montag hat bereits darauf hingewiesen –, wie es Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! andere Länder handhaben. Ich finde es interessant, dass Ich glaube, es bringt wenig, darüber zu philosophieren, die skandinavischen Staaten teilweise sogar von Stun- wem nun das Erstgeborenenrecht zukommt. Es bringt densätzen ausgehen. Dies zeigt nämlich, dass die Haft aber viel, sich vor Augen zu führen, dass der 67. Deut- das einschneidendste Erlebnis im Leben sein kann. Ich sche Juristentag dieses Thema auf die Tagesordnung ge- finde es auch interessant, dass in Dänemark sogar der 22174 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Matthias Miersch (A) Tatvorwurf eine Rolle bei der Entschädigung spielt. dann sprechen wir meist nicht über das Dilemma, das ich (C) Auch dieser Punkt gehört in unsere Beratungen. eben beschrieben habe, sondern über ein anderes. Es geht darum, den immateriellen Wert der verlorenen Frei- Es ist natürlich schwierig, eine Angemessenheitsklau- heit materiell – also in Form von Geld – zu bestimmen. sel zu finden. Allerdings könnte man bestimmte Dinge Das ist ein Griff ins Dunkle. Weil die Menschen emotio- an Vorwürfen festmachen. Es liegt ein Unterschied da- nal verschieden sind, fällt auch der in der Haft erlittene rin, ob ich einer schweren Sexualstraftat oder eines rela- immaterielle Schaden ganz verschieden aus. tiv einfachen Delikts beschuldigt werde. Ich halte es für richtig, an dieser Stelle den Blick aufs Ausland zu rich- Dazu kommt die Verschiedenheit der einzelnen Haft- ten. Auf diese Weise finden wir vielleicht – ich sage: situationen. Der Wert der Freiheit lässt sich in Geld nicht vielleicht – noch vor der Bundestagswahl eine Regelung nachvollziehbar ermitteln. Das ist unser Problem, und mit den Justizministern der Ländern. das ist auch unsere gesetzgeberische Hilflosigkeit. Wer Ich bin der Überzeugung – ich erkläre dies hier im soll die Folgen dieser Hilflosigkeit tragen? Derzeit tra- Namen der SPD-Fraktion –, dass wir uns an vielen Stel- gen diese Folgen ausgerechnet diejenigen, die bereits die len durchaus an Vorbildern, auch im europäischen Aus- Bürde des nicht zu vermeidenden Justizirrtums tragen: land, orientieren könnten, sodass bei gutem Willen auch die unschuldig Inhaftierten. Nun sagt man ihnen: Weil in relativ kurzer Zeit etwas erreicht werden kann. Des- wir den Wert der Freiheit nicht gut ermitteln können, ge- wegen möchte ich meine Redezeit heute nicht ausschöp- ben wir euch pro Hafttag einen pauschalierten, noch fen. Ich appelliere an Sie, schnell an die Arbeit zu gehen. dazu einen beschämend geringen Betrag in Höhe von Vielleicht wird dann in dieser Wahlperiode noch etwas 11 Euro. – Das ist ungerecht und kleinlich, daraus. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Ich freue mich auf die Beratungen und danke Ihnen Winkelmeier [fraktionslos]) für die Aufmerksamkeit. und zwar nicht nur wegen der geringen Höhe des Pau- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten schalbetrages, sondern auch weil schon die Pauschalie- der CDU/CSU) rung als solche ungerecht ist. Wenn der Wert der Freiheit nur individuell zu bestimmen ist, dann muss auch seine Vizepräsidentin Petra Pau: Bestimmung in Geld individuell erfolgen. Für die Fraktion Die Linke spricht nun der Kollege (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wolfgang Nešković. NEN]: Wonach?) (B) (Beifall bei der LINKEN) – Herr Kollege Wieland, ich verrate Ihnen gerne, wo- (D) nach. Wir haben eine Rechtsprechung zu § 847 BGB. Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Hierzu gibt es sogar Tabellen. All das lässt sich hier in Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten gleicher Weise etablieren. Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin Zyp- ries! Haftentschädigung sollte keine Frage des politi- (Dirk Manzewski [SPD]: Das geht doch gar schen Standpunktes sein. Es geht hierbei nicht um nicht! Quatsch!) Grundsatzfragen zu Wirtschaft, Ökologie oder Sicher- Pauschal darf danach nur die Untergrenze der Bemes- heit. Es geht auch nicht um Sozialpolitik. Es sind auch sung sein. Genau so sieht es der Antrag vor. Der Antrag keine spezifischen Wählergruppen betroffen. Es geht der Grünen sieht eine Untergrenze von 50 Euro vor. Das noch nicht einmal um bedeutende finanzielle Belastun- erscheint mir – das hat die Diskussion deutlich gemacht – gen in den Haushalten. Man könnte daher meinen, dass im europäischen Ländervergleich auch akzeptabel. Wer wir relativ schnell zu einem Konsens gelangen könnten. meint, das sei zu viel, sollte sich probeweise einmal Ich darf einmal daran erinnern, worum es eigentlich selbst in den Strafvollzug begeben. Im Rahmen des Ab- geht: Es soll eine angemessene Entschädigung für zu geordnetenmandats sollte ein solches Praktikum zur Er- Unrecht erlittene Haft festgesetzt werden. Schäden füh- fahrungserweiterung durchaus möglich sein. ren zu Schulden, und Schulden müssen ausgeglichen (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert werden. Das gilt insbesondere für das Verhältnis von Winkelmeier [fraktionslos] – Christine Lamb- Staat und Bürger. Es gibt strafrechtliche Fehlentschei- recht [SPD]: Waren Sie da drin?) dungen, und es wird sie so lange geben, wie Menschen über Menschen richten. Wir benötigen zweifellos ein Der Antrag der Grünen hat demnach grundsätzlich die Strafrecht, und wir benötigen ebenfalls einen Strafvoll- Zustimmung aller Fraktionen verdient. Wir, die Linke, zug. Wir sind auf beide angewiesen, obwohl wir Fehler jedenfalls stimmen diesem Antrag zu. nicht sicher vermeiden können. Weil die Gesellschaft das Strafrecht braucht, ist es unvermeidbar, dass einzelne (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Gert Menschen zu Unrecht eingesperrt werden. Das ist ein Winkelmeier [fraktionslos] und Wolfgang gesellschaftliches und auch ein moralisches Dilemma. Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Unschuldig Inhaftierte zahlen dafür ganz persönlich den Preis. Sie schultern eine schwere Last für die Gesell- Vizepräsidentin Petra Pau: schaft. Wenn wir aber über Haftentschädigung reden, Ich schließe die Aussprache. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22175

Vizepräsidentin Petra Pau (A) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Der am stärksten auf der Hand liegende Grund war, (C) den Drucksachen 16/11434 und 16/10614 an die in der dass die sogenannte Barwert-Verordnung in einer Weise Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. undurchsichtig war, dass nur noch wenige Experten in Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann Deutschland überhaupt gewusst haben, wie die entspre- sind die Überweisungen so beschlossen. chenden Berechnungen vorzunehmen sind. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Der zweite Grund war, dass die komplizierte Umrech- nungssystematik, die in dieser Barwert-Verordnung zu- Zweite und dritte Beratung des von der Bundes- grunde lag, die gerechte Aufteilung der Rentenanwart- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes schaften oft sehr schwer machte und dadurch zu falschen zur Strukturreform des Versorgungsaus- Ergebnissen führte. gleichs (VAStrRefG) Der dritte Punkt ist, dass die Versorgungen zum Zeit- – Drucksache 16/10144 – punkt der Scheidung nicht immer vollständig aufgeteilt Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus- werden können. Weil die nachträglichen Korrekturmög- schusses (6. Ausschuss) lichkeiten selten genutzt werden, ist es so, dass vor allem Frauen durch das geltende Recht benachteiligt werden. – Drucksache 16/11903 – Sie bekommen weniger, als ihnen eigentlich zusteht. Berichterstattung: Deswegen haben wir gesagt: Wir müssen das ganze Abgeordnete Ute Granold System reformieren und uns etwas vollständig anderes Christine Lambrecht ausdenken. Wir haben deshalb die Realteilung innerhalb Joachim Stünker der Versorgungssysteme vorgesehen. Das heißt bei- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger spielsweise, die Ansprüche aus der gesetzlichen Rente Jörn Wunderlich werden innerhalb dieses Systems und die Ansprüche aus Irmingard Schewe-Gerigk Betriebsrenten werden innerhalb des Betriebsrentensys- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die tems geteilt. Dies gilt auch für Versicherungen usw. In- Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich nerhalb des jeweiligen Systems werden also neue Kon- höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. ten eingerichtet. Das bedeutet, dass direkt mit der Scheidung eine vollständige Trennung erfolgt. Mann Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes- und Frau können dann jeweils überblicken, wie hoch ministerin der Justiz, Brigitte Zypries. ihre Rentenkonten bei den jeweiligen Versorgungsträ- gern sind. Der einzige Nachteil, wenn Sie so wollen (B) Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: – wenn man das überhaupt als Nachteil begreifen will –, (D) Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten ist die Tatsache, dass sie dann von mehreren Versor- Kolleginnen und Kollegen! Die heute zu beschließende gungsträgern Gelder erhalten. Aber das summiert sich Strukturreform des Versorgungsausgleichs ist ein weite- auf ihrem Girokonto wieder zur vollen Summe. Diese rer Baustein für ein modernes Familienrecht. Das Unter- interne Teilung jeweils zur Hälfte führt – davon bin ich haltsrecht und das Verfahren bei den Familiengerichten überzeugt – zu gerechteren Ergebnissen und verhindert haben wir schon reformiert; das eheliche Güterrecht die sogenannte schuldrechtliche Ausgleichsrente. wird noch folgen. Heute schaffen wir eine neue Grund- Wir haben nicht nur das Verfahren sehr vereinfacht, lage für das wirtschaftlich bedeutendste Ausgleichssys- sondern auch den Gesetzestext selber. Wir haben hierbei tem nach einer Scheidung, nämlich die Verteilung der von vornherein mit der Gesellschaft für deutsche Spra- Rentenansprüche, die in der Ehezeit von den Partnern che zusammengearbeitet. Der Gesetzentwurf, der heute gemeinsam erworben wurden. beschlossen wird, ist deshalb ein Musterprojekt der Eines war für mich in der Debatte wichtig, und es war Reihe „Verständliche Gesetze“. Das neue Recht fasst auch die Voraussetzung für den Gesetzentwurf, den wir den Text für die Praktiker gut zusammen. Wir hoffen, vorgelegt haben: Grundsätzlich hat sich der Versor- dass künftig auch Bürgerinnen und Bürger, die sich da- gungsausgleich bewährt. Es ist völlig richtig, dass die rüber informieren wollen, wie das Versorgungsaus- Familiengerichte von Amts wegen bei einer Eheschei- gleichsverfahren abläuft, beim Lesen des Gesetzestextes dung die Versorgungsansprüche der Ehegatten ausglei- verstehen, was passiert. Das ist ja nun keineswegs immer chen. Das ist noch immer vor allem für Frauen wichtig. so. Denn sie verzichten nach wie vor häufiger als Männer Ich bin davon überzeugt, dass diese Reform nicht nur auf eine berufliche Karriere während der Ehezeit und sprachlich, sondern auch inhaltlich geglückt ist. Schon kümmern sich um die Kinder. Dementsprechend bauen für den Entwurf haben wir breite Zustimmung erfahren. sie keine eigenen Rentenansprüche auf. Es ist daher ein Alle Sachverständigen haben das Konzept einhellig be- Gebot der Gerechtigkeit, dass die Versorgungsansprü- grüßt. Aber selbstverständlich gilt auch hier: Kein Ge- che, die während der Ehezeit entstanden sind, gleichmä- setzentwurf der Bundesregierung ist so gut, dass er nicht ßig zwischen Mann und Frau geteilt werden. durch das segensreiche Zutun des Parlaments noch bes- Der Grundsatz stimmt also, und daran ändern wir des- ser werden könnte. halb auch nichts. Was wir mit diesem Gesetzentwurf än- (Beifall im ganzen Hause) dern, ist das Verfahren. Eine Reform war insbesondere aus drei Gründen notwendig: So ist es auch hier. 22176 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) Auf Empfehlung des Rechtsausschusses haben wir nen gerichtlichen Vergleich geregelt wurden, nimmt der (C) Änderungen vorgenommen: Erstens. Auch bei einer kur- Versorgungsausgleich mit circa 27 000 Fällen den ersten zen Ehezeit kann jetzt auf Antrag ein Versorgungsaus- Rang ein. Alles in allem sehen sich jährlich rund gleich durchgeführt werden. Zweitens. Die Übergangs- 300 000 Bürgerinnen und Bürger mit Fragen des Versor- zeit für Altfälle haben wir auf ein Jahr verkürzt. Das gungsausgleichs konfrontiert; sie sind unmittelbar be- heißt, die Praxis muss nicht lange mit zwei unterschied- troffen. Deshalb halten wir das Instrument des Versor- lichen Systemen arbeiten. Drittens haben wir den elek- gungsausgleichs – Frau Ministerin, auch Sie haben das tronischen Datenaustausch zwischen den Versorgungs- gesagt – für gut, richtig und unverzichtbar. trägern und den Familiengerichten ermöglicht. Wir haben auch – das hat mich gefreut; dafür danke ich dem Wir haben im Gesetzgebungsverfahren die Bemühun- Parlament besonders – die vollständige Gleichstellung gen unterstützt, beim Versorgungsausgleich zu den not- von Lebenspartnerschaften und Ehegatten im Versor- wendigen Strukturreformen zu kommen, über die die gungsausgleich erlangt. Fachwelt schon seit vielen Jahren nachdenkt und wozu sie auch Vorschläge unterbreitet hat. Wir stimmen die- (Beifall bei der SPD, der FDP, der LINKEN sem Gesetzentwurf zu, weil wir seine Zielrichtung für und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) richtig halten. Meine Damen und Herren, ich möchte all denen sehr (Beifall der Abg. Christine Lambrecht [SPD]) herzlich danken, die mit ihrem Engagement und ihrer Arbeit dazu beigetragen haben, dass dieser Entwurf Die wichtigste Änderung ist die Einführung des heute verabschiedet werden kann. Ich möchte den Kolle- Grundsatzes der sogenannten internen Teilung. Dieser ginnen und Kollegen im Parlament für ihre engagierte Grundsatz führt dazu, dass es nun möglich ist, beim Ver- Mitarbeit danken. Ich möchte den Mitarbeiterinnen und sorgungsträger zu bleiben. Viele Unübersichtlichkeiten Mitarbeitern im Ministerium danken, die einen wirklich werden mit diesem Gesetzentwurf beseitigt. Ich glaube, harten Job gemacht haben. soweit wir anwaltlich tätig sind, möchten wir alle die Barwert-Verordnung nicht unbedingt weiterhin anwen- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP den. Dieser Aufgabe werden wir mit diesem Gesetzent- und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) wurf enthoben. Ich danke all jenen, die uns mit ihrem Sachverstand bei Ganz wichtig ist die Vereinbarung, die auf der Zielge- diesem Projekt begleitet haben. raden ermöglicht wurde: Mit der Einrichtung einer pri- Wir haben immerhin mehr als zwei Jahrzehnte über vaten Versorgungsausgleichskasse, die mit Inkrafttreten eine Reform des Versorgungsausgleichs diskutiert. Ich des Gesetzes erfolgen soll, muss sich nicht zwingend die (B) persönlich betreibe dieses Projekt schon seit fünf Jahren gesetzliche Rentenversicherung befassen; kein Versor- (D) mit großem Nachdruck. Ich bin deshalb sehr froh, dass gungsträger übernimmt die damit verbundene zusätzli- es heute gelingt, diesen Gesetzentwurf in zweiter und che Arbeit gerne. Wir haben in der Beschlussempfeh- dritter Lesung zu verabschieden. Ich glaube, dies ist ein lung hervorgehoben, dass die Einrichtung einer privaten Ergebnis, auf das dieses Haus, wir alle zu Recht stolz Versorgungsausgleichskasse mit der Änderung des sein können. Sozialgesetzbuches zum 1. September dieses Jahres möglich wird. Mit der Schaffung eines eigenen Instituts (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem haben wir eine sachlich und fachlich gute Lösung gefun- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den, die allen am Versorgungsausgleich Beteiligten nützt. Vizepräsidentin Petra Pau: Neben denen, die Ansprüche geltend machen und Für die FDP-Fraktion spricht nun die Kollegin Sabine diese durchsetzen wollen – sie erfahren jetzt schon bei Leutheusser-Schnarrenberger. der Scheidung, was sie zu erwarten haben –, dürfen wir nicht die Situation der Versorgungsträger vergessen. Da- Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP): rum haben wir uns schon während der Beratungen da- Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- rüber verständigt, wie wir mit Ehen von kurzer Dauer legen! Der Versorgungsausgleich hat im Rahmen der umgehen. Wir haben ausdrücklich nicht die kurze Dauer Scheidung eine extrem wichtige Aufgabe: Er trägt ent- genannt, sondern drei Jahre Ehezeit. Wir haben nach der scheidend zur eigenständigen Alterssicherung der ge- Anhörung der Sachverständigen im Konsens eine gute schiedenen Ehepartner bei. Er soll natürlich auch helfen, Lösung gefunden: Der Versorgungsausgleich findet auf Altersarmut zu verhindern, und eine gerechte Teilhabe Antrag statt – dadurch werden wir der Situation der ein- an den während der Ehe erworbenen Rentenrechten er- zelnen Betroffenen am ehesten gerecht –; ansonsten fin- möglichen. det kein Versorgungsausgleich statt. Dadurch verhindern wir eine unnötige Arbeitsbelastung der Versorgungsträ- Ich möchte einige Zahlen nennen, um die Bedeutung ger, wenn am Ende nur ein geringfügiger Ertrag für den des Versorgungsausgleichs hervorzuheben. Die Zahl der Versorgungsausgleichsberechtigten steht. Scheidungen lag in Deutschland im Jahr 2007 bei 180 000. Bei den Folgesachen, die mit den Scheidungs- In der Tat ist es gut – Frau Ministerin, Sie haben es urteilen entschieden wurden, liegt der Versorgungs- begrüßt –, dass das Parlament Änderungen vornimmt ausgleich mit circa 125 000 Verfahren klar an der Spitze. und dass es uns kurz vor Abschluss der Beratungen und Auch bei den Verfahren, die vor der Scheidung durch ei- Gespräche im Kreis der Berichterstatter gelungen ist, im Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22177

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (A) Versorgungsausgleichsgesetz eine Gleichstellung mit Eine Reihe von Verfahren wurde in den schuldrechtli- (C) den Lebenspartnern – nicht durch eine generelle Rege- chen Versorgungsausgleich verwiesen. Das ist in der Tat lung für Lebenspartnerschaften über dieses Gesetz hi- ein schwieriges Kapitel. Viele Verfahren stauen sich, und naus – zu erreichen. viele Jahre nach der Scheidung wird dann erst der schuldrechtliche Versorgungsausgleich wiederum auf Ich danke allen, die sich noch in letzter Sekunde dafür Antrag einer Partei durchgeführt. Dann kann es, wenn eingesetzt haben, dass die Koalition zugestimmt hat. Wir eine Scheidung nicht einvernehmlich erfolgt ist, erneut hatten Änderungsanträge vorgelegt, die Bestimmung zu Spannungen kommen, weil nicht geklärt ist, ob da- entsprechend anzupassen. Wir waren uns im Kreis der mals im Zuge der güterrechtlichen Auseinandersetzung Berichterstatter alle sehr schnell einig, dass es keine gu- richtig gearbeitet wurde und man nicht doch noch einen ten Gründe gibt, diese Anpassung nicht vorzunehmen. Anspruch hat. Es ist also ganz schwierig. Deshalb sollte Deshalb glaube ich, dass nach den Beratungen alles in man dafür sorgen, dass mit der Scheidung alles geregelt allem ein guter Gesetzentwurf gelungen ist. Deshalb wird, was zu regeln ist. stimmen wir als FDP-Fraktion aus Überzeugung dieser Wir haben in den letzten Jahren einen Ausbau der Al- Strukturreform zu. tersversorgung herbeigeführt. Das ist der Wille der Poli- Vielen Dank. tik gewesen. Wir haben die betriebliche Altersversor- gung, aber auch die private Altersversorgung ausgebaut. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten Bei uns besteht Einigkeit, dass der Grundsatz der Halb- der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des teilung beim Ausgleich der Anwartschaften während der BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Ehezeit nur aufrechterhalten werden kann, wenn wir ei- nen Wechsel in der Berechnung und im System vorneh- Vizepräsidentin Petra Pau: men. Das ist uns, denke ich, mit dem jetzigen Gesetzent- Für die Unionsfraktion spricht nun die Kollegin Ute wurf gelungen. Granold. Der BGH hat – die Frau Ministerin hat darauf hinge- wiesen – bereits 2001 angemahnt, dass das Gesetz für Ute Granold (CDU/CSU): die Praxis nicht mehr verständlich ist, sondern nur noch Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Insider mit der Materie umgehen können. Anwälte und Die Große Koalition hat im Bereich des Familienrechts Richter haben ihre Probleme, und die Menschen, für die in dieser Legislaturperiode vieles erreicht, auf das wir es eigentlich gemacht wurde, haben mehr denn je ein stolz sein können: die Unterhaltsreform, die FGG-Re- Problem, das, was für ihr weiteres Leben entscheidend form mit dem Familienverfahrensgesetz. Die Reform ist, zu verstehen. (B) des Güterrechts steht an. Wir hatten hierzu heute Morgen (D) ein erweitertes Berichterstattergespräch, sodass wir auf Es gab eine Expertenkommission, der dann ein Refe- einem guten Weg sind. Heute beraten wir die Struktur- rentenentwurf folgte. Es hat lange Zeit gedauert, bis die- reform im Versorgungsausgleich. Das ist in der Tat eine ser Gesetzentwurf endlich beraten und verabschiedet nicht einfache Materie, und die Praxis wird sich freuen, werden konnte. Der Grundsatz dieses Gesetzentwurfes wenn sie ab September mit einem neuen Recht – sowohl ist, eine gerechte Teilung und vor allen Dingen Anwen- im prozessualen als auch im materiellen Recht – arbeiten derfreundlichkeit zu gewährleisten. kann. In der Sachverständigenanhörung – es war eine sehr Bei einer Scheidung – die Zahl der Scheidungen und gute Sachverständigenanhörung, auf hohem Niveau – die Fälle, die zu regeln sind, hat die Kollegin Leutheus- wurde ein breites Spektrum von Sachverständigen aus ser-Schnarrenberger gerade eben angeführt – werden die den verschiedensten Sparten gehört. Wir haben gute An- wirtschaftlichen Verhältnisse der Parteien durch das Un- regungen vom Bundesrat und eine Vielzahl von Anre- terhaltsrecht, das Güterrecht, aber auch durch den Ver- gungen aus der Fachwelt erhalten, sodass wir heute fest- sorgungsausgleich – und das möglichst in einem Ver- stellen können, dass wir ein fachlich fundiertes Gesetz bundsystem – geregelt. Das ist gut so. auf den Weg bringen. Wir haben 1977 eine große Familienrechtsreform Es wurde eine Reihe von Neuerungen angesprochen. durchgeführt und das Institut des Versorgungsausgleichs Wesentlich ist die interne Teilung, das heißt, jede An- eingeführt und damit – das ist insbesondere für die wartschaft, die in der Ehezeit erwirtschaftet wurde, wird Frauen sehr gut – eine eigenständige Alterssicherung im im jeweiligen Versorgungssystem geteilt. Jeder be- Falle einer Scheidung auf den Weg gebracht. Nach dem kommt einen direkten Anspruch gegenüber dem jeweili- jetzigen Gesetz ist es noch so, dass alle Anwartschaften gen Versorgungsträger. Das gilt übrigens auch für die während der Ehezeit bilanziert werden, dynamische und Versorgung der Bundesbeamten; für Landesbeamte liegt statische Anwartschaften vergleichbar gemacht und um- die Gesetzgebungskompetenz aufgrund der Föderalis- gerechnet werden – die Barwert-Verordnung wurde an- musreform bei den Ländern. gesprochen – und dann ein Ausgleich herbeigeführt wird. Die Vorteile: Eine gerechte Teilhabe wird garantiert, es muss keine Verrechnung mehr stattfinden, Prognose- In der Vergangenheit und auch heute noch gibt es rechnungen, die nicht ganz zuverlässig sind, werden ent- viele Ungerechtigkeiten oder angestaute Verfahren, weil behrlich. Zum Zeitpunkt der Scheidung erfolgt einfach eine Möglichkeit der Berechnung nicht gegeben war. eine Teilung. Dann weiß jeder zum Zeitpunkt der Schei- 22178 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Ute Granold (A) dung, woran er ist und welche Anwartschaften für ihn gleichzeitig mit der Änderung des SGB IV, wobei noch (C) begründet werden. Es gibt auch die Möglichkeit der einige technische Fragen zu klären sind. Es wird eine externen Teilung, und zwar dann, wenn der ausgleichs- Pensionskasse in der Rechtsform eines Versicherungs- berechtigte Ehegatte dies wünscht oder wenn kleinere vereins auf Gegenseitigkeit sein. Das war im Übrigen Anwartschaften auszugleichen sind und der Versor- auch ein Anliegen der Sozialpartner, das heißt der Ar- gungsträger dies beantragt. Das ist in Ordnung. Zur Aus- beitgeber und der Gewerkschaften. gleichskasse komme ich gleich. Die Übergangsvorschriften wurden angesprochen. Es gibt einen Ausschluss des Versorgungsausgleichs Wie auch beim FamFG haben wir darüber in der Anhö- bei einer Ehe von kurzer Dauer. Wir haben in den Bera- rung sehr intensiv diskutiert. Uns war wichtig, dass eine tungen einen Zeitraum von drei Jahren festgelegt; das ist Harmonisierung zwischen FamFG und Versorgungsaus- angemessen. Nach einer Ehe, die nicht länger als drei gleich stattfindet. Ich denke, das haben wir mit den Jahre bestanden hat, kann auf Antrag der Versorgungs- Sachverständigen gut auf den Weg gebracht. ausgleich durchgeführt werden. Es ist mir ganz wichtig, Es laufen viele Scheidungsverfahren, bei denen der an dieser Stelle zu sagen, dass dafür kein Anwaltszwang Versorgungsausgleich bereits abgetrennt oder ausgesetzt besteht, sodass für den Antragsteller keine Kosten ent- wurde oder ruht. Es gibt aber auch Verfahren, bei denen stehen; er ist nicht verpflichtet, hierfür einen Anwalt zu jetzt die Scheidung durchgeführt wird und aufgrund des beauftragen. Ruhens etc. erst nach dem 1. September 2009 über den Das Instrumentarium Ausschluss bei Geringfügigkeit Versorgungsausgleich entschieden wird. Wir haben ge- bzw. bei grober Unbilligkeit ist nach wie vor im Gesetz sagt: Alle diese Verfahren sollen eingebunden werden. verankert. Das ist auch gut so. Wir wollen damit erreichen, dass es keine Verfahren gibt, bei denen altes und neues Recht jahrelang parallel Über den Wegfall des Rentnerprivilegs haben wir angewandt werden. lange diskutiert. Es gibt derzeit die Möglichkeit, wenn jemand schon in Rente ist und dann das Scheidungsver- Wichtig ist auch, dass mehr denn je für die Ehepartner fahren durchgeführt wird, dass die Kürzung erst erfolgt, die Möglichkeit besteht, Vereinbarungen im Rahmen der wenn auch der Ausgleichsberechtigte in Rente geht. Das Scheidung zu treffen. Das heißt, es gibt die Möglichkeit, soll abgeschafft werden, weil es eine Regelung zulasten Regelungen zum Unterhalt, zum Güterrecht, aber auch der Versichertengemeinschaft und zulasten derer, bei de- zum Versorgungsausgleich über notarielle Vereinbarun- nen kurz vor dem Renteneintritt über den Versorgungs- gen zu finden und damit viele individuelle Freiheiten zu ausgleich entschieden wird, ist. In der Anhörung war lassen. Allerdings muss geprüft werden, ob diese Verein- einhellige Meinung, dies abzuschaffen. barungen interessengerecht sind. Im Verfahren muss also (B) eine Prüfung erfolgen. Allerdings bedarf dies nicht wie (D) Nun ist es so, dass es Berufsgruppen mit besonderen bislang einer Genehmigung des Familiengerichts, wenn Dienstzeiten und Altersgrenzen gibt, zum Beispiel – ich innerhalb eines Jahres nach Beurkundung die Scheidung möchte es an dieser Stelle ansprechen – die Soldaten, die eingereicht wird. für uns eine ganz wichtige Personengruppe sind. Hie- rüber gab es viele Gespräche mit den Verteidigungs- Lassen Sie mich noch etwas zum Unterhaltsprivileg politikern, mit dem Bundeswehr-Verband und mit dem sagen. Auf Antrag unterbleibt eine Rentenkürzung, Reservistenverband. Es wurden sogar Anregungen vor- wenn der ausgleichspflichtige Rentenbezieher Unter- getragen, wie der Gesetzentwurf formuliert werden haltsleistungen erbringt. könnte. Wir haben es uns nicht einfach gemacht; wir ha- Im geltenden Recht ist es so, dass die Versorgung der ben lange darüber diskutiert. Aber es gibt keine Mög- ausgleichspflichtigen Person in voller Höhe gekürzt lichkeit, die Berufsgruppe der Soldaten herauszustellen wird, nach neuem Recht nur noch in Höhe des Unter- und ihnen ein Privileg einzuräumen. Das wäre eine Un- haltsanspruchs, der bei ungekürzter Versorgung bestehen gleichbehandlung gegenüber all denen, die einer Berufs- würde. Wir haben entschieden – das wurde bereits ange- gruppe mit einer besonderen Altersgrenze angehören. sprochen –, das Unterhaltsprivileg auch auf die Lebens- Wir haben letztendlich im Hinblick auf den Gleichbe- partner auszudehnen. Diese Regelung war in der bisheri- handlungsgrundsatz nach Art. 3 Grundgesetz, Gleichbe- gen Fassung des Gesetzentwurfes nicht enthalten. Auch handlung, gesagt: Wir müssen dabei bleiben. Allerdings im derzeitigen Lebenspartnerschaftsgesetz galt das Un- gibt es eine Abmilderung durch § 35 Versorgungs- terhaltsprivileg nicht. Für die Union kann ich Ihnen an ausgleichgesetz. Dort steht, dass eine Kürzung bis zur dieser Stelle sagen: Jetzt ändern wir das. Höhe des mit der besonderen Altersgrenze verbundenen Nachteils ausgesetzt wird. Das ist eine sehr komplizierte Mit Blick auf Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes, der Materie. Dies ist eine Möglichkeit der Abmilderung. auch Versichertenrenten und Rentenanwartschaften, die ein Eigentumsrecht darstellen, umfasst, gibt es nach un- Die Kollegin von der FDP hat die Ausgleichskasse serem Dafürhalten keinen Grund, diese Personengruppe angesprochen. Es war uns ein sehr großes Anliegen, dass weiterhin vom Unterhaltsprivileg auszuschließen. man, wenn es eine externe Teilung gibt und die Deutsche Rentenversicherung nicht eingeschaltet werden soll, ei- Lassen Sie mich zum Schluss dem Justizministerium nen Auffangversorgungsträger als Zielversorgung findet. für die sehr konstruktiven Beratungen und die Zuarbeit Hier haben wir durch den Druck aus dem Parlament er- Dank sagen. An dieser Stelle möchte ich ausnahmsweise reicht, dass es eine Ausgleichskasse gibt, die zum eine Person herausgreifen, und zwar den Referatsleiter 1. September 2009 installiert wird. Dies geschieht Herrn Schmid, der, wie ich sehe, auch hier ist. Er ist der- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22179

Ute Granold (A) jenige, der dafür federführend verantwortlich war. Ohne formuliert und gut strukturiert umgesetzt. Es handelt (C) die Arbeit des Staatssekretärs schmälern zu wollen, sich also um einen guten Gesetzentwurf. muss ich sagen: Herr Schmid ist der leibhaftige Versor- gungsausgleich, und er hat seine Arbeit hervorragend (Beifall des Abg. Volker Schneider [Saar- gemacht. brücken] [DIE LINKE]) (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und Dem ursprünglichen Gesetzentwurf hätten wir nicht der SPD – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Der zustimmen können. Es gab zu viele kritikwürdige fleischgewordene Versorgungsausgleich!) Punkte, die unter anderem auch von den Sachverständi- gen in der öffentlichen Anhörung aufgegriffen wurden. – Genau, der fleischgewordene Versorgungsausgleich. Im Laufe der sich daran anschließenden Debatten – an Ich freue mich sehr, dass alle Fraktionen nach den ab- dieser Stelle möchte auch ich mich bei den Berichterstat- schließenden Beratungen im Rechtsausschuss signali- tern für die sachliche Arbeit in den Gesprächsrunden be- siert haben, dem Gesetzentwurf heute zustimmen zu danken – wurden nahezu alle diese Kritikpunkte ausge- wollen, sodass zum 1. September 2009 ein neuer Versor- räumt, sodass der Gesetzentwurf nun stimmig ist und gungsausgleich in Kraft treten kann. Wir haben im Inte- auch besonderen Fallkonstellationen angemessen Rech- resse der Menschen ein gutes Gesetz auf den Weg ge- nung trägt. bracht. Der Gesetzentwurf stellt eine erhebliche Verbesse- Herzlichen Dank. rung und Vereinfachung der Rechtslage dar, nicht nur für Anwälte und Gerichte, sondern auch für den Rechtsun- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie kundigen; er ist nämlich besser zu durchschauen. Ein bei Abgeordneten der FDP) wesentlicher Vorteil ist, dass keine Vergleichbarma- chung an sich nicht vergleichbarer Ansprüche stattfindet. Vizepräsidentin : Die Barwertverordnung – auch dieses Stichwort ist Nächster Redner ist der Kollege Jörn Wunderlich für schon gefallen – gehört der Geschichte an. Bestehende die Fraktion Die Linke. Ansprüche werden dort ausgeglichen, wo sie tatsächlich bestehen, also innerhalb der gesetzlichen Rentenversi- (Beifall bei der LINKEN) cherung, innerhalb der betrieblichen Altersversorgung. Auch wenn dies insbesondere den privaten Versorgungs- Jörn Wunderlich (DIE LINKE): trägern ein gewisses Mehr an bürokratischem Aufwand Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! abverlangt – später wird er ein wenig ausgeglichen –, ist dies im Ergebnis für alle Beteiligten, insbesondere für (B) Szenen aus dem Gerichtssaal, die das Fernsehen nicht (D) zeigt – ich habe das auch schon im Ausschuss vorgetra- die rechtsunkundigen scheidungswilligen Bürgerinnen gen –: Beim Scheidungstermin übergibt der Richter den und Bürger, nachvollziehbar und verständlich. noch verheirateten Ehepartnern ein dreiseitiges Rechen- Soweit eine externe Teilung mit Zustimmung des Be- werk, an dessen Ende steht, wie viele Rentenanwart- rechtigten erfolgt – auch das ist bereits angesprochen schaften von dem einen Ehegatten auf den anderen über- worden –, haben wir uns selbst die Aufgabe gestellt – so tragen werden. Dann sagt der Richter: Fragen Sie mich steht es auch in der Beschlussempfehlung –, bis zum In- nicht, wie sich diese Berechnung zusammensetzt. Das krafttreten am 1. September 2009 eine entsprechende werden Ihnen Ihre Anwälte erklären. Daraufhin werden Ausgleichskasse gesetzlich zu verankern, damit auch in- die Anwälte bleich. – Das ist der Normalfall. Solche soweit Rechtssicherheit herrscht. Szenen dürften bald der Geschichte angehören. Geblieben ist die Ungleichbehandlung im Rahmen (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE der nachträglichen Anpassung von Anwartschaftsüber- LINKE]: Hoffentlich!) tragungen. Dort werden nur die Regelsicherungssysteme – Ja, hoffentlich. erfasst. Warum nicht auch betriebliche und private Al- tersversorgungen? Oder sollte die nachträgliche Anpas- Die bislang geltenden Regelungen zum Versorgungs- sung vielleicht nicht in Gänze entfallen? ausgleich – das ist schon angesprochen worden – wurden von Wissenschaft und Praxis einheitlich als kaum be- Unter dem Strich sind die Gründe, welche bei der Ab- herrschbar, undurchschaubar und im Ergebnis ungerecht stimmung zu einer Enthaltung geführt hätten, letztlich empfunden. Leidtragende waren in der Regel Frauen. doch noch, vorgestern Abend, entfallen, nachdem die Eine Rechtsmaterie, die selbst von Experten als kaum Opposition – das ist im Zusammenhang mit den entspre- beherrschbar bezeichnet wird, führt letztlich an die chenden Anträgen angesprochen worden – noch einmal Grenzen der Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips, näm- darauf gedrängt hatte, dass die eingetragenen Lebens- lich des Bestimmtheitsgebots. Somit war eine grundle- partnerschaften genauso behandelt werden wie Ehe- gende Änderung dieser Vorschrift überfällig und gebo- schließungen. Vorgestern hat sich die Große Koalition ten. auf Art. 14 Grundgesetz besonnen und dem Ansinnen der Opposition Folge geleistet. So kann das Gesetz doch In der endgültigen Fassung des Gesetzentwurfes noch mit den Stimmen des ganzen Hauses verabschiedet wurde eines der möglichen Reformkonzepte aufgegrif- werden. fen, und dieses wurde – so weit ist sich die überwie- gende Mehrheit der Fachwelt einig – schlüssig und klar (Beifall bei der LINKEN) 22180 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Jörn Wunderlich (A) Es bleibt die Frage der Renten der geschiedenen – Der könnte auch klatschen. – So ließ sich das Problem (C) Frauen aus der DDR; aber das ist an anderer Stelle zu der Vergleichbarmachung der verschiedenen Ansprüche klären. nicht befriedigend lösen. Frauen hatten häufig keinen gerechten Anteil, insbesondere nicht an den Betriebsren- Ich danke für die Aufmerksamkeit. ten des geschiedenen Ehegatten. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Das Thema hat darüber hinaus eine Ost-West-Rele- neten der SPD und der Abg. Mechthild Dyck- mans [FDP]) vanz. Der Versorgungsausgleich ist gerade für die Al- terssicherung geschiedener Frauen in Westdeutschland bedeutsam. Aufgrund des Fortbestehens des Allein- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ernährermodells stammten 2005 mehr als ein Drittel ih- Nun hat das Wort die Kollegin Irmingard Schewe-Ge- rer Rentenansprüche, immerhin 260 Euro im Monat, aus rigk für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. dem Versorgungsausgleich. Bei den Frauen in Ost- deutschland – die überwiegend durchgängig erwerbstä- Irmingard Schewe-Gerigk (BÜNDNIS 90/DIE tig waren – ist es nur etwas mehr als halb so viel. GRÜNEN): Liebe Kolleginnen und Kollegen, das alte System war Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! selbst für Spezialistinnen und Spezialisten nicht mehr Das Gesetz zur Strukturreform des Versorgungsaus- durchschaubar. Herr Gehb hat es, wie er mir vorhin ge- gleichs ist ein wichtiges familienrechtliches Reformpro- sagt hat, auch nicht verstanden. jekt. Wir haben damit schon unter Rot-Grün begonnen, und wäre uns nicht der Kanzler abhandengekommen, (Heiterkeit des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dr. Jürgen (Heiterkeit – Wolfgang Wieland [BÜND- Gehb [CDU/CSU]: Was? Sie verstehen auch NIS 90/DIE GRÜNEN]: Für den wäre das nicht die kleinste Ironie! – Christian Lange auch teuer geworden!) [Backnang] [SPD]: Selbst wenn es so wäre, hätten wir es unter Rot-Grün wahrscheinlich auch been- würde er es nicht zugeben!) det. Nun kommt dieses Projekt zum Abschluss, und das ist gut so. Das neue System ist gerechter, und der Gesetzentwurf ist verständlicher und transparenter. Statt eines Einmal- Der Versorgungsausgleich bei einer Scheidung ist vor ausgleichs über die gesetzliche Rentenversicherung wird allem für die Alterssicherung von Frauen von erhebli- die Teilung eines jeden einzelnen Anrechts, innerhalb (B) cher Bedeutung. So profitierten 2005 mehr als 2 Millio- des jeweiligen Systems, eingeführt. So werden auch (D) nen Versicherte davon. Ich begrüße sehr, dass wir beim Leistungen bzw. Ansprüche aus Betriebsrenten hälftig Familienrecht erneut einen fraktionsübergreifenden geteilt, wofür die ausgleichsberechtigte Person ein eige- Konsens gefunden haben. Die Reform des viel zu kom- nes Konto beim jeweiligen Träger erhält. Jede Einzelver- plizierten Versorgungsausgleichsrechts war ein Mam- sorgung wird also zwischen den Ehegatten entsprechend mutprojekt. Ein neues System war aber auch deswegen der Ehezeit geteilt und innerhalb des gleichen Systems erforderlich, weil die Bedeutung betrieblicher und priva- saldiert. Dadurch entfallen Transferverluste und Progno- ter Altersvorsorge zugenommen hat. sefehler. Durch diese Regelung schaffen wir echte Teil- habegerechtigkeit. Beim Versorgungsausgleich nach Scheidung der Ehe bzw. Aufhebung der Lebenspartnerschaft werden die Al- Nach der Sachverständigenanhörung im Rechtsaus- tersversorgung bzw. die entsprechenden Anwartschaften schuss wurden weitere Verbesserungen in den Gesetz- aufgeteilt. Im bisherigen System ist nur bei der gesetzli- entwurf übernommen, die auch unsere Anliegen waren. chen Rentenversicherung ein Ausgleich vorgesehen. Das Ich nenne nur die Antragslösung bei kurzer Ehedauer, ist kompliziert und führte zu Ungerechtigkeiten, gerade also bei weniger als drei Jahren, und die Erweiterung des im Hinblick auf die Frauen; denn meist sind ja die Ausgleichs in Bagatellfällen und bei nicht abgeschlosse- Frauen ausgleichsberechtigt. Die hohe Zahl der einge- nen Altfällen. reichten Petitionen hat deutlich gemacht, dass die Idee der gleichen Teilhabe an der Versorgung nicht durchge- Im Bericht des Rechtsausschusses ist im Übrigen auf hend umgesetzt wurde und viele Menschen unter den Wunsch der Grünen eine Klarstellung vorgenommen Unzulänglichkeiten des bisherigen Rechts zu leiden hat- worden. Darin kommt die Absicht des Gesetzgebers zum ten. Das werden wir jetzt ändern. Ausdruck, die Kosten für die Betroffenen in bestimmten Fällen zu begrenzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) – Danke schön, Herr Kollege. Abschließend möchte ich eine Änderung besonders hervorheben. Ich bin sehr froh darüber, dass wir uns (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- doch noch darauf verständigen konnten, die Lebenspart- NEN]: Deswegen bin ich da! – Heiterkeit – nerschaften nahezu vollständig gleichzustellen und die Weiterer Zuruf des Abg. Wolfgang Wieland Ausnahmen von den Härtefallregelungen zu streichen. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn du mir Die CDU/CSU war ja bis kurz vor Schluss der Meinung, noch erklärst, warum Herr Gehb zustimmt, bin ein bisschen Diskriminierung dürfe bei eingetragenen ich ganz zufrieden!) Partnerschaften schon sein. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22181

Irmingard Schewe-Gerigk (A) (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einzelnen Punkte auch angenommen und umgesetzt. (C) NEN]: So wollen sie das immer! – Ute Gra- Deswegen ist dieser runde Gesetzentwurf zustande ge- nold [CDU/CSU]: Ohne Polemik geht es kommen. nicht!) Warum mussten wir das aber überhaupt tun? Der Ver- Ich freue mich, dass sich hier die Kraft unserer Argu- sorgungsausgleich ist immerhin ein bisschen älter als mente durchgesetzt hat. Ich danke auch Ihnen, Frau Gra- 30 Jahre. Er hat sich bewährt und ist auch keineswegs nold, für Ihre Intervention. Es ist Ihnen vielleicht doch obsolet geworden. Das ist vereinzelt schon ausgeführt ein bisschen peinlich; denn in Ihrer Pressemitteilung worden, weswegen ich das alles jetzt auch nicht wieder- stand davon gar nichts. Ich glaube, die Kraft der Argu- holen will. mente hat sich durchgesetzt, und ich denke auch, dass Es hat sich in dieser Zeit sehr viel verändert. Mittler- die von Ihnen ursprünglich bevorzugte Regelung vor weile haben wir eben nicht mehr nur die gesetzliche dem Bundesverfassungsgericht möglicherweise keinen Rentenversicherung, wie das vor 30 Jahren vielleicht Bestand gehabt hätte. noch die Regel war, sondern es haben sich viele Alters- (Beifall des Abg. Wolfgang Wieland [BÜND- versorgungssysteme daneben entwickelt. Die betriebli- NIS 90/DIE GRÜNEN]) che Altersversorgung und die private Altersversorgung wurden gestärkt. In all diesen Systemen musste es eben Es gibt wirklich keine rechtlichen und sachlichen auch einen Ausgleich geben. Gründe für einen solchen Anachronismus. Darum danke ich Ihnen für die Beratungen. Wir sind froh, dass wir Dieser erfolgte bisher im Rahmen der gesetzlichen dieses Gesetz jetzt so einvernehmlich beschließen kön- Rentenversicherung durch sehr komplizierte Umrech- nen. nungsmethoden. Deswegen haben die Rechtsprechung und diejenigen, die dieses Recht anwenden müssen, ge- Recht herzlichen Dank. sagt, dass sich dort etwas verändern muss und dass wir auf die Veränderungen, die sich in der Altersversorgung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ergeben haben, Antworten geben müssen. und bei der FDP sowie des Abg. Jörn Wunder- lich [DIE LINKE]) Mit dieser Strukturreform geben wir die Antwort. Rein materiell wird sich nichts ändern. Man muss auch Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: ganz klar sagen, dass wir dort auch gar nichts ändern wollen. Es muss diesen Ausgleich, wie er im Moment Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin besteht, geben. Es ist richtig, dass es diesen Ausgleich Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion. gibt. Wie gesagt: Ich bin froh, dass wir uns in einigen (B) (Beifall bei der SPD) Punkten dann doch bewegt haben. (D) Das gilt insbesondere dafür – darin waren wir alle uns Christine Lambrecht (SPD): schon bei der ersten Lesung einig –, dass wir die starre Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Regelung, nach der bei Ehen von kurzer Dauer ein Ver- Kolleginnen und Kollegen! Frau Schewe-Gerigk, unser sorgungsausgleich ausgeschlossen ist, nicht wollen, so- Kanzler ist uns nicht aus Furcht vor dem Versorgungs- dass wir dort mehr auf den Einzelfall eingehen können. ausgleich abhandengekommen. Dafür hätten wir ihn un- Wir haben uns dabei jetzt auch an dem orientiert, was die ter Umständen sogar als Sachverständigen benennen Rechtsprechung als Ehe von kurzer Dauer ansieht, näm- können. lich eine Ehe von maximal drei Jahren. Von daher ist das alles auch in der Systematik geblieben. Das ist richtig (Beifall bei Abgeordneten der SPD) und gut. Meine Damen und Herren, das gesamte Haus wird Besonders richtig und gut ist, dass es ein Antragsrecht heute der Strukturreform des Versorgungsausgleichs zu- gibt, weil es natürlich auch bei Ehen von kurzer Dauer stimmen: die Koalitionsfraktionen, die FDP, die Grünen teilweise die Situation gibt, dass dennoch entsprechende und die Linke. Bei so viel Harmonie könnte man fast fra- Versorgungsansprüche erworben wurden und es sich gen, ob denn schon wieder Weihnachten ist. Ich glaube rentiert, diese aufzuteilen. Deswegen gibt es nicht diese aber, das hat damit etwas zu tun, dass wir in diesem starre Regelung bzw. diesen starren Ausschluss, sondern Fachbereich – wir haben in den letzten Wochen und Mo- ein Antragsrecht. naten ja nicht nur dieses komplexe Thema bearbeitet, sondern auch die FGG-Reform und das Unterhaltsrecht, Meine Damen und Herren, es ist alles gesagt worden, und wir widmen uns jetzt noch dem Zugewinnausgleich – nur nicht von mir. Deshalb möchte ich das jetzt nicht sehr sachorientiert und ohne Scheuklappen arbeiten und überstrapazieren. Vielmehr möchte ich mich bei allen für uns – die Ministerin hat das ja schon aufgeführt – eben das angenehme Klima bedanken, bei allen Berichterstat- auch von Sachargumenten von außen leiten lassen. Das tern, bei den Damen und Herren des BMJ und bei der merkt man ganz deutlich an diesem Gesetzentwurf. Justizministerin. Ich wünsche mir, dass wir beim nächs- ten großen Thema, beim Zugewinnausgleich, auch ent- (Volker Schneider [Saarbrücken] [DIE sprechend zusammenarbeiten werden. LINKE]: Das würde man sich in manch ande- ren Ausschüssen auch wünschen!) Vielen Dank. Wir haben uns Zeit gelassen und uns die Ausführun- (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der gen in den Anhörungen nicht nur angehört, sondern die FDP) 22182 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: chen, in denen die Politik verantwortlich ist. Die mitre- (C) Ich schließe die Aussprache. gierende CDU/CSU redet nur, zeigt sich aber handlungs- unfähig. Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun- desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Struktur- (Zuruf von der SPD: Das stimmt!) reform des Versorgungsausgleichs. Der Rechtsausschuss Sie kann mit der SPD keine vernünftige Agrarpolitik empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- machen. che 16/11903, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 16/10144 in der Ausschussfassung anzu- (Beifall bei der FDP) nehmen. Die FDP-Fraktion war die einzige Fraktion, die die Ent- Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der lastung bei Agrardiesel und Ökosteuer seit Anfang der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei- Legislaturperiode nicht nur gefordert, sondern auch im- chen. – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist mer wieder in die parlamentarische Debatte eingebracht der Gesetzentwurf in zweiter Beratung mit den Stimmen hat. Wir haben Wort gehalten. aller Fraktionen angenommen. Den Ankündigungen der Union hingegen ist noch Wir kommen zur nicht ein Antrag gefolgt. Im Gegenteil, die von uns ein- gebrachten Anträge sind bislang alle nicht nur von der dritten Beratung SPD, sondern von der gesamten Koalition abgelehnt und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem worden. Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ist Ich rufe kurz in Erinnerung: Anfang 2007 übernahm jemand dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Ge- Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft und hätte mit setzentwurf mit den Stimmen aller Fraktionen angenom- einem Vorstoß zur Harmonisierung bei der Agrardiesel- men. besteuerung punkten können. Deshalb hat die FDP-Bun- Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 11 auf: destagsfraktion ihren ersten Antrag zu diesem Thema gestellt. Dieser wurde von der CDU/CSU-Fraktion und Beratung des Antrags der Abgeordneten von allen anderen Fraktionen in Bausch und Bogen ab- Dr. Edmund Peter Geisen, Hans-Michael Gold- gelehnt. mann, Dr. Christel Happach-Kasan, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der FDP Trotzdem folgten von der Union in kurzen Zeitab- ständen immer wieder Forderungen nach einer Harmo- Agrardieselbesteuerung senken – Wettbe- nisierung, zunächst vom damaligen bayerischen Land- (B) werbsnachteile der deutschen Landwirtschaft wirtschaftsminister Josef Miller, dann vom Europa- (D) abbauen abgeordneten Albert Deß. Es ist natürlich nichts pas- – Drucksache 16/11670 – siert. Ein Jahr später, kurz vor der bayerischen Landtags- wahl, forderte Herr Deß erneut eine steuerliche Entlas- Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) tung. Viele Agrarpolitiker von CDU und CSU wie Peter Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Bleser und Herr Miller Verbraucherschutz (Zuruf von der CDU/CSU: Alles gute Leute!) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die forderten die Absenkung der Agrardieselbesteuerung Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die und eine Harmonisierung innerhalb Europas. Fraktion der FDP eine Redezeit von sechs Minuten er- halten soll. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Herr Brunner, der bayerische Agrarminister, wollte Dann können wir so verfahren. über den Bundesrat den Selbstbehalt bei der Agrardiesel- besteuerung kippen. Passiert ist allerdings nichts. Statt- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der dessen wurde fünf Tage später ein Antrag der FDP zur Kollege Dr. Edmund Geisen für die FDP-Fraktion das Streichung des Selbstbehalts im Agrarausschuss mit den Wort. Stimmen der CDU/CSU und der SPD abgelehnt. (Beifall bei der FDP) Nichtsdestotrotz hat CSU-Landesgruppenchef das Thema vor zwei Wochen noch einmal me- Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): dienwirksam in der Berliner Zeitung aufgegriffen, nach- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dem klar war, dass die FDP erneut einen Antrag in den Verehrte Damen und Herren! Verehrte Gäste! Landwirt- Bundestag einbringen wird. Passiert ist allerdings nichts. schaft dient allen. – Dieser Slogan gilt auch heute noch. Bei der jetzigen Regierungskoalition – auch in dieser Nun schwenkt sogar unsere Landwirtschaftsministe- Zeit der Krise – ist die Landwirtschaft jedoch das letzte rin auf die Unionsforderung nach einer Sen- Stiefkind der Nation. kung der Agrardieselsteuer ein, und heute hat Minister Brunner von der CSU in München ebenfalls die Senkung (Zuruf von der CDU/CSU: Ist doch gar nicht im Rahmen des Konjunkturpakets II gefordert. wahr!) Passiert jetzt endlich etwas? Ich frage Sie: Was soll Wir von der FDP-Fraktion fordern seit Jahren eine das? Seit zwei Jahren erleben wir immer nur leere Wort- Kostenentlastung für die Landwirtschaft in den Berei- hülsen. Wenn sich die Union und Ministerin Aigner ge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22183

Dr. Edmund Peter Geisen (A) genüber ihren SPD-Kollegen nicht durchsetzen können, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) dann sollten sie bitte schön auch nicht so tun als ob. Wo Nächster Redner ist der Kollege Norbert Schindler für bleibt da die Glaubwürdigkeit? die CDU/CSU-Fraktion. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU) Übrigens wird, Frau Wolff und meine Damen und Herren von der SPD, bei dem gesamten Thema wieder Norbert Schindler (CDU/CSU): einmal der Stellenwert deutlich, den die Land- und Forstwirtschaft in der Großen Koalition genießt. Frau Präsidentin! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ver- ehrte Damen und Herren im Plenum! Eigentlich ist Ihr (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Das er- Antrag nur die halbe Miete, lieber Herr Dr. Geisen. kläre ich Ihnen nachher noch einmal!) Wenn ihr von der FDP einen Antrag stellt, dann solltet Während die SPD bei der letzten Novelle des Mineralöl- ihr das richtig und gescheit machen. steuergesetzes durchsetzen konnte, dass der Dieselein- (Zuruf von der FDP: Das machen wir immer!) satz in Hafenbetrieben aus Wettbewerbsgründen von der Steuer befreit wird, verweigert sie den Landwirten beim Was soll eine Teillösung wie die in Ihrem Antrag vor- Agrardiesel jede noch so kleine Kostenerleichterung, geschlagenen Maßnahmen der Dieselölverbilligung zur und sei es nur die Aufhebung des Selbstbehalts von Wettbewerbsangleichung auf europäischer Ebene? Ich 350 Euro. Was ist das für eine Politik? könnte zynisch feststellen, dass ihr aus der Sicht der Die Landwirte sind von der Großen Koalition im Re- deutschen Landwirtschaft in eurem Antrag bescheiden gen stehen gelassen worden. seid. Wenn man den Selbstbehalt von 350 Euro streicht, wie es in eurem Antrag gefordert wird, stellt sich die (Julia Klöckner [CDU/CSU]: Nein! Nicht Frage, was den Betrieben bleibt, die bei einer Größe von überall!) 150 bis 160 Hektar im Durchschnitt 16 000 Liter Gasöl Das Konjunkturpaket II enthält so gut wie nichts für die verbrauchen. Bleiben diese Betriebe außen vor? Agrarbereiche. Die FDP will statt staatlicher Stützungs- Wir haben in diesen Tagen keine Regelung hinbe- programme die Rahmenbedingungen für die heimische kommen. Ich rede jetzt für die Union. Zwei Kollegen Landwirtschaft verbessern und so ihre Wettbewerbsfä- von der SPD werden sich noch zu diesem Thema äußern. higkeit erhalten und stärken. Dazu ist eine Kostenentlas- , Peter Bleser und andere haben versucht, tung notwendig. im Rahmen des Konjunkturpakets II seitens der Union noch eine entsprechende Regelung aufzunehmen. Das ist (B) (Beifall bei der FDP) (D) eine klare Feststellung. Die deutschen landwirtschaftlichen Betriebe zahlen nach wie vor die mit Abstand höchsten Agrardiesel- (Beifall bei der CDU/CSU) steuern in der EU. Während sie durchschnittlich 40 Cent Steuern pro Liter zahlen müssen, liegt der Steueranteil Mir tut es leid, dass wir dies innerhalb der Koalition bei unseren Nachbarn in Dänemark bei 3,2 Cent und in nicht zusammen mit der SPD geschafft haben. Die Frankreich bei 6,6 Cent pro Liter. Hinzu kommt in Gründe dafür werden mit Sicherheit nachher dargelegt. Deutschland noch die Ökosteuer, die den Treibstoff um Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die Wahlaus- weitere 200 Millionen Euro pro Jahr verteuert. Dieser sage der Union zum Agrarbereich – diese wurde von Pe- extreme Steuernachteil der deutschen Landwirte beim ter Bleser entscheidend mitformuliert –, wonach die Agrardiesel und bei der Ökosteuer ist Gift für die Wett- Streichung dieser Steuer im Hinblick auf den europäi- bewerbsfähigkeit dieser Branche. schen Wettbewerb in der kommenden Legislaturperiode Ist Ihnen, meine Damen und Herren von der Großen vorgesehen ist. Wenn es der liebe Herrgott so will und Koalition, eigentlich klar, dass einem durchschnittlichen wir dann mit der FDP koalieren – das wünschen sich bäuerlichen Familienbetrieb in Deutschland durch die manche – oder wenn es wieder zu einer Großen Koali- dreijährige Verzögerungstaktik beim Agrardiesel ein tion kommt – in diesem Staat ist alles möglich – Schaden von circa 20 000 Euro entstanden ist? Sie haben (Zuruf von der SPD) eindeutig eine im wahrsten Sinne lebensnotwendige Wirtschaftsbranche vernachlässigt. – ich vergesse nicht die Partner in der jetzigen Verant- (Beifall bei der FDP) wortung –, dann muss es ein erklärtes Ziel sein, diese Wettbewerbsverzerrung innerhalb des europäischen Wir von der FDP fordern dagegen: runter mit der Be- Wirtschaftsraums zu beseitigen, selbst wenn sich die lastung durch die Ökosteuer, weg mit dem unsozialen Balken biegen sollten. Selbstbehalt und hin zur EU-weiten Harmonisierung der Steuern auf Agrardiesel! (Beifall bei der CDU/CSU) Ich hoffe, wir finden im Interesse der Landwirtschaft Herr Dr. Geisen, damals ist unter Frau Künast und Ihre Unterstützung. Herrn Eichel mit der Ökosteuer eine weitere Belastung Herzlichen Dank. hinzugekommen. Das haben wir massiv bekämpft. Aber Sie sagen, diese Koalition habe für die Landwirtschaft (Beifall bei der FDP) nichts getan. 22184 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: tig. – Herr Goldmann, ich komme noch auf Sie zu (C) Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des sprechen. Sie können ruhig eine Zwischenfrage stellen. Kollege Dr. Geisen? (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein!) Norbert Schindler (CDU/CSU): Herr Dr. Geisen, wenn wir Ihrem Antrag folgten, Ja, gern. dann würden wir nicht nur die 125 Millionen Euro unten im Sockel streichen, sondern auch die 170 Millionen Euro für die Betriebe, die in Zukunft im Rahmen des Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Konjunkturprogramms investieren. Deswegen ist Ihr Bitte sehr, Herr Kollege. Antrag im Hinblick auf das Konjunkturprogramm abso- lut fehlgeleitet. Natürlich sollen die unteren Sockel besei- Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): tigt werden. Aber die Betriebe, die investieren – das sind Selbst wenn Sie mit uns nicht koalieren sollten, inte- sowohl Familienbetriebe als auch größere Betriebe –, sol- ressiert mich, ob Sie dann einen ähnlichen Antrag ein- len ein deutliches Entlastungssignal bekommen; denn bringen und im Rahmen einer anderen Koalition die das Geld, das hier investiert wird, kommt direkt der Harmonisierung der Agrardieselbesteuerung vornehmen Wirtschaft zugute. Ich persönlich würde Ihrem Antrag werden. gern zustimmen. Aber es geht hier noch nicht einmal um die Hälfte, sondern nur um ein Viertel des Vermögens. Norbert Schindler (CDU/CSU): Abschließend sage ich zu den Kollegen der SPD- Ich biete Ihnen eine Wette an. Sie spenden mir einen Fraktion: Mit uns könnte man reden. Es gibt viel Streit Mosel-Riesling, wenn wir es hinbekommen. Ich besorge über das Umweltgesetzbuch, aber eigentlich sind wir Ihnen einen Pfälzer Riesling, wenn wir es nicht hinbe- nahe beieinander. Trotzdem hatten wir starke Bedenken, kommen, Herr Dr. Geisen. Einverstanden? – Ich habe gerade was Vorkaufsrechte und Grenzabstände betrifft. übrigens vor vier Jahren schon eine Wette mit Frau Kün- ast abgeschlossen. Ich sagte damals, dass sie in drei Jah- (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Gerade ren keine Ministerin mehr sei. Ich habe meine Wette ge- fossiler Diesel!) wonnen. Sie hat sie aber noch nicht eingelöst. Ich – Frau Wolff, regen Sie sich doch nicht so auf; auch ich verspreche aber, dass ich meine Wette einlösen werde. rege mich nicht so gerne auf, wenn Sie reden. Ich weiß, dass Sie das auch tun werden. – Sie dürfen sich wieder setzen, Herr Kollege. (Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Ich habe das nur laut gesagt, damit Sie mich hö- Zurück zu dem Vorwurf, wir hätten in der Großen Ko- ren!) (B) alition nichts getan. Wenn man sich die Stabilisierung (D) der Berufsgenossenschaftsbeiträge anschaut und sich vor – Dann müssen Sie eine Zwischenfrage stellen. Wenn Augen führt, dass wir im Konjunkturpaket II die Verbil- ich rede, kann ich Ihnen schlecht zuhören. – Die Um- ligung der Krankenversicherungsbeiträge berücksichti- weltgesetzgebung auf Bundesebene hat den Charme, gen, muss man diesen Vorwurf mit allem Ernst zurück- dass wir in Zukunft nicht unterschiedliche Länderrege- weisen, Herr Dr. Geisen. Ich verweise zudem darauf, lungen haben. Wenn sich die SPD etwas bewegen würde dass es ein großer Kampf war – und das war kein großer und wir uns etwas beim Dieselöl bewegen würden, dann Streitpunkt mit der SPD in der Koalition –, die pauschale könnten wir eine Kompromisslösung erreichen. Umsatzsteuer in Höhe von 10,7 Prozent beizubehalten (Heiterkeit des Abg. Hans-Michael Goldmann und wirksam werden zu lassen. [FDP] – Zuruf von der SPD: Das ist wie auf ei- Zur Erbschaftsteuerreform. Natürlich kann man fra- nem persischen Basar!) gen, warum es überhaupt eine gibt. Schließlich wollten – Lieber Herr Goldmann, Sie lachen so schön. Wie kom- wir, jedenfalls viele in der Union, diese Steuer am liebs- men Sie dazu, das Karlsruher Urteil so zu loben? Ich ten abschaffen. Aber Sie kennen die Zwänge einer kann Sie zitieren. Sie wollen jetzt die freie Marktwirt- Koalition. Ich kann mir lebhaft die Neiddebatten vorstel- schaft. – len, die vor allem von der Linken, die für diesen Staat noch nichts gemacht haben, außer intelligente oder we- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Lies vor, niger intelligente Zwischenrufe hier im Parlament zu was da steht!) machen, geführt worden wären. Als es aber darum ging, – Ich will jetzt nicht eine halbe Seite vorlesen. – Sie ha- Verantwortung zu tragen, ist der Oskar fortgerannt, ge- ben das Karlsruher Urteil begrüßt, obwohl die Aktivitä- nauso wie der Gregor in Berlin. Das zeigt die staatpoliti- ten der CMA, sowohl was den Export als auch was die sche Verantwortung der Fraktion Die Linke im Deut- Werbung für die deutsche Landwirtschaft in der Bundes- schen Bundestag. Wenn es an das Arbeiten und um das republik betroffen hat, gut waren. konkrete Umsetzen geht, ist mit denen absolut nicht zu rechnen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!) Herr Dr. Geisen, die Leistungen, die diese Große Ko- alition im Hinblick auf das Image und das erfolgreiche Ich kann den Karlsruher Urteilsspruch nicht verstehen. Wirken unserer Betriebe vollbracht hat – der Getreide- Die Karlsruher Richter entlassen uns mit diesem Urteil preis spiegelt das nicht richtig wider; die Grundstim- in den freien Markt. Das Urteil bedeutet nichts anderes, mung ist sicherlich von Zweifeln geprägt –, sind unstrit- als dass denjenigen die Unterstützung genommen wird, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22185

Norbert Schindler (A) die erfolgreich waren. Das wird Auswirkungen auf den Ich habe aber Ihre Äußerung gefunden, die in AGRA- (C) Fremdenverkehr, auf den Rundfunk und auf die Wein- EUROPE zitiert wird: Für die FDP-Bundestagsfraktion werbung haben. Deshalb halte ich es für zu kurz gegrif- erklärten deren agrarpolitische Sprecher Goldmann und fen, wenn die FDP jubelt und glaubt, dass jetzt der Dr. Edmund Geisen, die Bundesverfassungsrichter hät- Markt alles regelt. ten die ungenügende demokratische Legitimation und die Zwangsabgabe jetzt völlig zu Recht zum Anlass ge- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Du sagst nommen, das Absatzfondsgesetz in weiten Teilen als nicht die Wahrheit! Lies einfach mal vor, was verfassungswidrig und nichtig zu erklären. – Sie begrü- ich gesagt habe!) ßen das, ich bedaure es. – Ich will diese halbe Seite jetzt wirklich nicht vorlesen. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nein, das Du weißt doch, was du geredet hast. Hier steht, dass von war eine Feststellung!) Herrn Goldmann begrüßt worden ist, dass der Karlsruher Urteilsspruch in die richtige Richtung geht. – Haben Sie nicht zugehört? Muss ich das jetzt noch kommentieren? – Wir sollten uns die Frage stellen, ob Jetzt müssen wir die Gesamtverantwortung den wir den Mut haben, eine gute Idee beizubehalten, die er- Egoisten überlassen. Das kann doch nicht der richtige folgreich war. Bisher wurden die Egoisten nicht berück- Ansatz sein. Jetzt stellt sich die Frage, wie wir eine gute sichtigt. Idee, von der sowohl der in- als auch der ausländische (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ach!) Markt profitiert hat, auf Dauer aufrechterhalten. Deswe- gen sollten wir in den nächsten Tagen und Wochen unsere – Wenn Sie das nicht wollen, dann bringen Sie einen An- Kraft darauf verwenden – das sage ich zum Schluss –, trag in den Bundestag ein und sagen Sie uns, wie wir den dieses neue Problem zum Nutzen aller in der Agrarwirt- Mangel schnell beheben. Uns brechen jetzt nämlich schaft Tätigen zu lösen. Strukturen weg, die absolut gut gearbeitet haben. Danke schön. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, Sie haben noch eine Minute Redezeit. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Heiterkeit) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nun hat das Wort die Kollegin Dr. Kirsten Tackmann Norbert Schindler (CDU/CSU): für die Fraktion Die Linke. Ich habe eigentlich alles dazu gesagt. (Beifall bei der LINKEN) (B) (D) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): Sie müssen die Redezeit nicht ausschöpfen. – Herr Frau Präsidentin! Liebe Gäste! Liebe Kolleginnen Goldmann hat eine Zwischenfrage, die der Redner, wie und Kollegen! Kommen wir doch zurück zum eigentli- ich sehe, zulässt. Herr Kollege Goldmann, bitte sehr. chen Thema dieser Debatte, zum Agrardiesel. CMA ist ein anderes Thema. Ich sollte auch darauf verweisen, Hans-Michael Goldmann (FDP): dass es da durchaus berechtigte Kritik gab und noch gibt. Herr Kollege Schindler, machen wir es einmal ganz Richtig ist, dass es bei der Agrardieselbesteuerung einfach. Gestern war Ausschusssitzung. Sie werden sich zwischen den EU-Mitgliedstaaten trotz gemeinschaftli- erinnern, dass es einen Ausschuss für Ernährung, Land- cher Agrarpolitik wirklich große Unterschiede gibt; das wirtschaft und Verbraucherschutz gibt. Sie gehen ist klar. Richtig ist auch, dass es dabei um viel Geld geht. manchmal dorthin. In diesem Ausschuss ist gestern ein Der Raiffeisenverband hat ausgerechnet, dass eine relativ umfangreicher Bericht vom Staatssekretär, der durchschnittliche deutsche Agrargenossenschaft mit jetzt hier anwesend ist und der gestern von Fachleuten 1 400 Hektar bewirtschafteter Fläche einen Kostennach- begleitet war, über die Auswirkung des Urteils von teil von 55 600 Euro pro Jahr gegenüber einem französi- Karlsruhe auf den Absatzfonds und die angegliederten schen Betrieb von derselben Größe hätte, der quasi keine Gesellschaften gegeben worden. Sagen Sie mir doch ein- Dieselsteuer zahlt. mal den Grund, warum Sie gestern nicht da waren. Aber Diesel ist eben nicht alles, was ein Bauer (Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- braucht. Pflanzenschutzmittelsteuer, Düngemittelsteuer NEN]: Er war doch da!) und Mehrwertsteuer belasten Landwirtschaftsbetriebe in anderen Mitgliedstaaten zusätzlich. Nur wenn alle ande- Norbert Schindler (CDU/CSU): ren Wettbewerbsbedingungen in der EU gleich wären, Herr Goldmann, ich war bei der Debatte dabei, aber wäre die Agrardieselbesteuerung ein klarer Wettbe- Sie wissen, dass ich auch Mitglied des Finanzausschus- werbsnachteil für die einheimischen Betriebe. Wenn wir ses bin. So weit ist die Gentechnik noch nicht, auch ehrlich sind, müssen wir feststellen: So simpel ist es wenn die FDP das gerne hätte, dass ich mich zweiteilen eben nicht, zumal wir uns in einer Übergangsphase be- und in beide Ausschüsse gleichzeitig gehen könnte. Das finden, in der die Harmonisierung im Agrarsektor Schritt geht beim besten Willen nicht. für Schritt vollzogen wird. Deshalb ist aus Sicht der Lin- ken die Debatte über die Ungerechtigkeit innerhalb des (Heiterkeit bei der SPD und dem BÜND- deutschen Agrardieselbesteuerungssystems viel wichti- NIS 90/DIE GRÜNEN) ger. 22186 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Kirsten Tackmann (A) Unser System diskriminiert zwei verschiedene Kate- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) gorien von Betrieben – es ist schon angeklungen –: Ers- Nächste Rednerin ist die Kollegin Ingrid Arndt- tens: Betriebe, die größere Flächen bewirtschaften; denn Brauer für die SPD-Fraktion. sie bekommen ab der Kappungsgrenze 10 000 Liter Die- sel keine Steuerrückerstattung mehr. Zweitens. Bis zu ei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nem Selbstbehalt von 350 Euro muss ebenfalls die volle Dieselsteuer bezahlt werden. Das diskriminiert wie- Ingrid Arndt-Brauer (SPD): derum Klein- und Nebenerwerbsbetriebe, die oft gleich Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und mehrfach durch das Netz der Agrarförderung fallen. Wer Herren! Schon der Titel des FDP-Antrags „Agrardiesel- eine flächendeckende Landbewirtschaftung möchte, besteuerung senken – Wettbewerbsnachteile der deut- muss auch diese Betriebe fördern. schen Landwirtschaft abbauen“ enthält die Unterstel- lung, dass es Wettbewerbsnachteile gibt. Der Redner der Daher ist unsere Forderung: erstens mehr Gerechtig- FDP, Herr Dr. Geisen, hat die zweite Unterstellung keit im System und zweitens eine Entlastung der Be- gleich hinterhergeschoben: Die SPD-Fraktion behan- triebe von Energiekosten durch eine bessere Förderung dele die Landwirtschaft wie ein Stiefkind der Nation. des Umstiegs auf alternative Energieversorgungsquellen. (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Eindeutig!) (Beifall des Abg. Volker Schneider [Saar- brücken] [DIE LINKE]) Ich möchte beide Unterstellungen aufs Schärfste zurück- weisen. Eine einfache Steuerrückzahlung in voller Höhe er- scheint auf den ersten Blick attraktiv. Es ist aber eine (Beifall bei der SPD) rückwärtsgewandte Lösung für das real existierende Pro- Ich persönlich komme aus einem dörflichen Bereich blem. Aus unserer Sicht ist ein konsequentes Umsteuern des Münsterlandes. Wir haben dort keine kolchosenarti- notwendig. Für eine nachhaltige Landwirtschaft in gen Betriebe wie im Osten, Deutschland und Europa ist es sinnvoll, Agrarbetriebe dabei zu unterstützen, die Landmaschinenflotte umzu- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD) stellen: auf dezentral erzeugte Agrotreibstoffe wie Bio- diesel, reines Pflanzenöl oder demnächst sogar Biogas. sondern eher mittelgroße Betriebe, die weder vom Das ist kein ganz einfacher und auch kein kurzer Weg; Selbstbehalt noch von der Kappungsgrenze betroffen aber er führt in die Zukunft. Dazu müssen die Rahmen- sind. Meine Großeltern kommen aus dem landwirt- bedingungen natürlich so gestaltet sein, dass die Kraft- schaftlichen Bereich; insofern habe ich keine Vorbehalte (B) stoffkosten der Betriebe real sinken und ihre technischen gegenüber der Landwirtschaft. (D) Umstellungsrisiken minimiert werden. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie hatten Das Kuratorium für Technik und Bauwesen in der doch eine Pferdekoppel!) Landwirtschaft hat bereits vor Jahren ausgerechnet, dass – Nein, ich habe keine Pferdekoppel. das erstens technisch geht und dass zweitens circa 2 Millionen Hektar landwirtschaftliche Fläche ausrei- (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Der chen, um eine vollständige Eigenenergieversorgung der Großvater!) Landwirtschaft zu sichern. Es ist also machbar. Es fehlen Wir führen allerdings in der Landwirtschaft bei mir zu offensichtlich nur die Anreize. Pflanzenöl und Biodiesel Hause große Diskussionen über die Haushaltsberatungen können bereits jetzt in Landmaschinen verwendet wer- und die Wirtschaftswege. Einerseits sagen mir die Land- den, und sie sind für die Landwirtschaft bereits steuerbe- wirte immer, die Agrardieselbesteuerung sei ein Pro- freit. blem; man benutze die Landmaschinen eigentlich nur Trotzdem ist für die Agrarbetriebe unter dem berühm- auf dem Acker, deshalb brauche man eine Sonderrege- ten Strich die Nutzung des fossilen Diesels unter den jet- lung. Bei den Diskussionen über die Haushaltsberatun- zigen Besteuerungsbedingungen immer noch günstiger. gen erlebe ich aber immer wieder, dass die Landwirte Die von der FDP vorgeschlagene umfassende Steuersen- vor Ort sagen, der Zustand der Wirtschaftswege sei ein kung würde die strukturelle Abhängigkeit der landwirt- großes Problem für die Landwirtschaft; man brauche schaftlichen Betriebe von fossilem Diesel noch zemen- diese Wirtschaftswege. Dazu sage ich immer, dass sich tieren. Und das schlägt ausgerechnet die FDP vor, die die Landwirte schon festlegen müssen: Entweder sie fah- sich doch sonst immer für Biokraftstoffe einsetzt! Damit ren auf den Äckern oder sie benutzen die Wirtschafts- würde man aus unserer Sicht sogar eine wichtige Chance wege. für eine sinnvolle Nutzung von Agrotreibstoffen verpas- (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ sen. Die Linke streitet deswegen weiter für politische CSU) Rahmenbedingungen, die die Agrarbetriebe bei der Be- wältigung der Herausforderungen der Zukunft unterstüt- Solange die Landwirte auf den Wirtschaftswegen fahren, zen und sie nicht davon abhalten. brauchen sie keine Sonderregelung, und wenn sie nur auf den Äckern fahren, brauchen sie keine Wirtschafts- Vielen Dank. wege. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22187

Ingrid Arndt-Brauer (A) Grundsätzlich möchte ich Ihnen zur Kenntnis geben, Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): (C) dass die Landwirtschaft in meinem Wahlkreis robust ist; Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Verehrte Frau Kolle- ihr geht es gut. Die Landwirte meinen, sie seien von der gin, ich möchte gerne von Ihnen konkret wissen: Sind Wirtschaftskrise nicht betroffen. Das macht Sinn; denn Sie für eine Harmonisierung der Agrardieselbesteuerung die Lebensmittelproduzenten erzielen weiterhin gute in Europa – ja oder nein? Absätze. Deshalb finden die Landwirte keine ausdrückli- Ich darf Ihnen sagen, dass ich von der belgischen che Erwähnung im Konjunkturpaket II. Die Landwirte Grenze komme; wir haben dort einen landwirtschaftli- werden wie alle anderen Bürger entlastet; aber der chen Betrieb. Ein Betrieb der gleichen Größe und der Agrarbereich bedarf keiner besonderen Entlastung im gleichen Produktionsrichtung zahlt in Belgien im Ver- Konjunkturpaket. Deswegen war es auch überhaupt gleich zu Deutschland jährlich 7 000 Euro weniger nicht einsichtig, Regelungen zum Agrardiesel in ir- Agrardieselsteuer. Halten Sie das für richtig? gendeiner Form in das Konjunkturpaket aufzunehmen. Ein anderes Beispiel: In Ihrer Heimat, an der hollän- Ich weise das Ansinnen des Kollegen Schindler aufs dischen Grenze, zahlen die Münsterländer Bauern Schärfste zurück, im Zusammenhang mit dem Umwelt- 10 000 Euro Agrardieselsteuer mehr als der niederländi- gesetzbuch über den Agrardiesel zu verhandeln. sche Bauer. Halten Sie das für korrekt? (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das hat er (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Was zahlt nun nicht gesagt!) denn der niederländische Bauer im Jahr?) Wenn wir uns auf eine solche Basartaktik einlassen, dann verfehlen wir unser Ziel, eine vernünftige und zu- Ingrid Arndt-Brauer (SPD): kunftsweisende Politik zu machen. Das halte ich nicht für korrekt. Das hätte ich Ihnen auch noch unter Punkt drei gesagt. Ich war ja erst bei den (Beifall bei der SPD) Punkten eins und zwei. Sie können sich also ruhig wie- der hinsetzen. Ich möchte auf den Antrag der FDP zurückkommen. Er gliedert sich in drei Bereiche: Der erste Bereich be- Ich komme jetzt zu Punkt drei. Ich möchte gerne, dass handelt den Selbstbehalt, der zweite die Ökosteuer und es zu einer europaweiten Regelung kommt. Es wäre mir der dritte die EU-Initiative. wirklich ein großes Anliegen, wenn eine Harmonisie- rung erreicht werden könnte. Sie wissen, dass es schon Der Selbstbehalt von 350 Euro macht Sinn, weil wir häufig Vorstöße gab. Wir können aber für eine Harmoni- durch eine Abschaffung den Verwaltungsaufwand im- sierung auf europäischer Ebene nicht alleine sorgen. Es mens aufblähen würden. Ich denke, eine gewisse Eigen- gibt aber immer wieder entsprechende Ansätze. Es gibt (B) beteiligung in diesem Bereich ist, weil es – auch für die auch eine Initiative unserer Bundesregierung; das hätten (D) Kleinbetriebe – immer die Alternative Biodiesel gibt, Sie auch nachlesen können. Sie steht auf der Tagesord- durchaus zu verantworten. nung für die Kommissionssitzung am 1. April 2009. Es Die Ökosteuer greift im landwirtschaftlichen Bereich ist nicht klar, wie die Verhandlungen ausgehen werden. Ich hoffe aber, dass man bei den Vorverhandlungen, die nicht stärker als in anderen Bereichen. Ich musste erst es jetzt schon gibt, bis zum 1. April 2009 ein Stück wei- vorgestern erfahren, dass zum Beispiel die Bahn im terkommt. Fernverkehr riesige Wettbewerbsnachteile hat, weil die Ökosteuer im Bahnbereich komplett draufgesattelt wird. Auch ich finde, dass es nicht in Ordnung ist, dass in Europa unterschiedliche Regelungen bestehen. (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Aber das habt doch ihr gemacht! Die Öko- (Zuruf von der CDU/CSU: Aha!) steuer habt doch ihr draufgesattelt!) Das habe ich nie in Abrede gestellt. Ich möchte hier aber Hingegen werden andere Bereiche völlig ausgenommen. ganz eindeutig Folgendes festhalten: Wir wollen die Landwirtschaft nicht als Stiefkind behandeln und sie erst (Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ recht nicht benachteiligen; wir wollen aber auch nicht, CSU) dass das Thema Agrardiesel immer wieder mit anderen wichtigen Themen sozusagen gedealt wird. Das Problem Wenn wir sagen, dass es keine Wettbewerbsverzerrung der Besteuerung des Agrardiesels können wir nämlich gibt – das haben wir hier einvernehmlich festgestellt –, hier prinzipiell nicht vor Ort lösen. dann gilt dies auch für die Bauern. (Widerspruch bei der CDU/CSU – Zuruf von Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: der CDU/CSU: Natürlich!) Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des – Nein. – Mit einer einheitlichen Agrardieselbesteuerung Kollegen Dr. Geisen? auf europäischer Ebene habe ich überhaupt keine Pro- bleme, aber eine Subventionierung aus Mitteln des Bun- Ingrid Arndt-Brauer (SPD): deshaushaltes lehne ich ausdrücklich ab. Ja. (Hans-Michael Goldmann [FDP]: Warum denn? Die Bauern gehen kaputt, und Sie sehen Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: keinen Regelungsbedarf!) Herr Kollege, bitte. – Die Bauern gehen nicht kaputt. Das ist Quatsch. 22188 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: zienten Umgang mit Energie auf europäischer Ebene (C) Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit. kümmern. (Abg. Dr. Edmund Peter Geisen [FDP] meldet (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) sich zu einer Zwischenfrage) Die Diskussion um die Agrardieselbesteuerung zeigt auch die Scheinheiligkeit der Union. Staatssekretär Mül- Ingrid Arndt-Brauer (SPD): ler hat noch beim II. Klimaforum des Deutschen Bauern- Ich kann Ihre Frage nicht mehr zulassen; ich bin am verbandes gesagt, eine Verringerung der Energieeinsätze Ende meiner Redezeit. Vielleicht können wir es noch bi- in der Landwirtschaft um 20 Prozent in den nächsten lateral regeln. 10 Jahren sei unbedingt nötig; daran müsse sich die Landwirtschaft auch beteiligen. Das ist ein wunderbares Ich danke Ihnen. Ziel. Das tragen wir mit. Da sind wir dabei. (Beifall bei der SPD) (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Aber auf den Acker muss man trotzdem mit Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: dem Schlepper!) Nächste Rednerin ist die Kollegin Cornelia Behm für Doch nur wenige Tage später forderte Ministerin Aigner die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. in Passau – es war am 2. Februar, wenn ich richtig infor- miert bin – eine niedrigere Agrardieselsteuer, um Wett- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): bewerbsnachteile zu vermeiden. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Die FDP fordert in ihrem Antrag zwei wesentliche Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Dinge, nämlich die Senkung der Agrardieselsteuer und Recht hat die Frau! – [CDU/ die Streichung des Selbstbehaltes. Damit zeigt die FDP CSU]: Gute Frau!) ganz deutlich, dass sie verschiedene Punkte nicht begrif- fen hat, Daran sieht man doch: Die Union hat noch weniger als die FDP begriffen, dass das Öl knapper wird und die (Widerspruch bei der FDP – Dr. Edmund Peter Landwirtschaft beim Klimaschutz nicht außen vor blei- Geisen [FDP]: Das eine ist national! Das kön- ben darf. nen Sie direkt machen!) (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: nämlich zum Beispiel den Zusammenhang zwischen Das hat mit Klimaschutz überhaupt nichts zu (B) Energieverbrauch und Klimawandel, dass sie das Pro- tun! Es geht um die Wettbewerbsfähigkeit der (D) blem der Ressourcenverknappung ignoriert und dass sie Landwirtschaft!) offensichtlich ihren stetigen Ruf nach Entbürokratisie- rung, den sie wie eine Monstranz vor sich her trägt, sel- Interessant ist auch – das kann ja nun alle Welt im ber nicht wirklich ernst nimmt. Denn der Selbstbehalt Spiegel nachlesen –, dass die CSU das ohnehin schon senkt die Zahl der Begünstigten. Auf diese Weise entste- von der Union ausgehöhlte UGB nur blockiert hat, um hen eindeutig weniger Bürokratiekosten aufseiten der für eine Zustimmung hierzu eine Senkung der Agrardie- Landwirte wie der Verwaltung. Hier geht es also um die selsteuer einzutauschen. Meine lieben Kolleginnen und Frage, ob es mehr Gerechtigkeit oder mehr Bürokratie Kollegen von der Union: Das ist kein verantwortliches geben soll. Ich denke, wie es derzeit läuft, ist es schon Regierungshandeln, sondern das ist eindeutig Klientel- ganz sinnvoll. politik. Sie ziehen lediglich ein einziges Argument für Ihren (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Antrag heran, nämlich die niedrigeren Steuersätze in an- Widerspruch bei der CDU/CSU) deren europäischen Ländern, und versuchen, daran ver- Die Argumentation mit der mangelnden Wettbe- meintliche Wettbewerbsnachteile festzumachen. Das ist werbsfähigkeit läuft dabei vollkommen ins Leere. Der – das werden Ihnen andere Kollegen auch noch sagen – Umfang der Agrarexporte steigt seit Jahren. Der Herr ziemlicher Unsinn. Staatssekretär Müller hat im Juni 2008 gesagt, dass bei (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den Agrarexporten Rekordzuwächse von 17 Prozent ver- sowie bei Abgeordneten der SPD) zeichnet wurden. Noch im Januar haben Sie ganz stolz und froh gesagt: Die Agrarexporte sind stabil. Wo ist Sie fordern eine Harmonisierung der Steuern – eine Har- denn da bitte schön der Bedarf? monisierung wäre okay; da bin ich ganz dicht bei Ihnen –, aber keine Beseitigung der Ausnahmetatbestände für Ich komme noch einmal auf den Agrardiesel zu spre- große Energieverbraucher. chen. Ich denke, es ist höchste Zeit, das Märchen vom „Zurück zur billigen Energie“ zu beerdigen. Es wird nie (Max Straubinger [CDU/CSU]: In Frankreich wieder billige fossile Energie geben. sind nur 4 Cent drauf!) Dabei sollte man sich doch um eine Harmonisierung der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Preise für Energie, die ja der Motor unserer Wirtschaft Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Der Herr ist, auf einem vernünftigen Niveau und um einen effi- Kollege Bleser würde gerne eine Zwischenfrage stellen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22189

(A) Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (C) Wunderbar, denn damit verlängert er meine Redezeit. Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin Waltraud Wolff für die SPD-Fraktion. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Beifall bei der SPD) Herr Kollege Bleser, bitte. Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Peter Bleser (CDU/CSU): Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen Danke, Frau Präsidentin! – Liebe Frau Kollegin und Kollegen! Meine Damen und Herren! 1973 gab es Behm, sind Sie wirklich der Meinung, dass die Land- neun Staaten in der Europäischen Gemeinschaft. Seit wirte mehr Diesel verbrauchen würden, wenn er etwas 2007 haben wir die EU-27. Und was passiert heute? Im billiger wäre? Er ist doch der große Kostenfaktor in der Jahre 2009 legt die FDP einen Antrag vor, in dem ein Produktion. Meinen Sie nicht auch, dass es sich wegen EU-Vergleich von acht europäischen Ländern zu einer der landwirtschaftlichen Produktion auf den Ackerflä- Aussage für die gesamte EU führt. Meine Damen und chen beim Agrardiesel um Prozessenergie handelt, die in Herren von der FDP, nehmen Sie es eigentlich immer so anderen Bereichen auch steuerbefreit ist? Hier wäre eine Gleichbehandlung angebracht; das ist sicher auch Ihre genau? Meinung. (Heiterkeit und Beifall bei der SPD) Sie berichten in Ihrem Antrag von erheblichen Belas- Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): tungen für die kleinen Betriebe. Ist Ihnen schon einmal Lieber Kollege, ich bezweifle überhaupt nicht, dass aufgefallen, dass es nicht nur den Selbstbehalt, sondern Diesel ein sehr wichtiges Betriebsmittel für die Land- auch eine Kappungsgrenze bei 10 000 Litern gibt? wirtschaft ist. Aber die Landwirte haben Alternativen. Es ist bereits erwähnt worden, dass Biodiesel bzw. -öle (Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: So weit steuerbefreit sind. Ich muss Ihnen einmal Folgendes sa- haben die nicht gelesen!) gen: Wenn die Bundesregierung die Landwirte unterstüt- zen will, dann sollte sie nicht den fossilen Diesel billiger – So weit sind sie nicht gekommen; das ist klar. machen. Sie sollte stattdessen die Umrüstung der alten In einem Punkt Ihres Antrages gebe ich Ihnen recht: Traktoren und die Anschaffung neuer Traktoren fördern, Die Belastung für Dieselkraftstoff ist in Deutschland im (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Abwrack- Vergleich zu anderen europäischen Ländern hoch. Aber prämie!) deshalb kann man doch nicht automatisch auf schlechte (B) Wettbewerbsbedingungen für deutsche Landwirte (D) damit Pflanzenöl und Biodiesel eingesetzt werden kön- schließen. Das ist ein falscher Schluss, und das wird der nen. Damit kann man kleine Kreisläufe schließen. Damit Situation der Landwirtschaft überhaupt nicht gerecht. bleibt die Wertschöpfung erhalten. (Beifall bei der SPD – Christian Freiherr von (Peter Bleser [CDU/CSU]: Sie wissen doch, Stetten [CDU/CSU]: Dann fragen Sie mal die dass das steuerbefreit ist!) Bauern danach! Die sehen das anders!) – Ja, eben. – Warum kaufen die Landwirte es nicht? Da muss man doch Anreize schaffen. An dieser Stelle ist das Sie stützen sich in Ihrem Antrag auf ein Gutachten Geld doch richtig angelegt. des Ifo-Instituts. Das Ifo-Institut kommt in seiner Ge- samtbetrachtung der Steuern auf alle Produktionsmittel Was macht aber die Bundesregierung stattdessen? Sie zu dem Ergebnis, dass Deutschland gemeinsam mit Ös- legt ein Programm für Energieeffizienz in der Landwirt- terreich und den Niederlanden im Mittelfeld liegt. Das schaft in Höhe von 7 Millionen Euro jährlich auf. Diese ist richtig; Sie haben selber darauf hingewiesen. Däne- Größenordnung ist lächerlich; denn gleichzeitig gibt sie mark – das haben Sie zufällig vergessen; vorhin haben 1,5 Milliarden Euro für die Abwrackprämie aus. Das ist Sie jedoch davon gesprochen, dass Dänemark eine ganz eine Investition in alte Technologie. Das ist die Politik niedrige Agrardieselbesteuerung habe – ist ein wichtiger des „Weiter so“. Konkurrent Deutschlands und weist nach dieser Gesamt- Hier zeigt sich ganz eindeutig, was Ihnen die Land- betrachtung die höchste Belastung auf. Da stimmt Ihre wirtschaft wert ist. Anstatt nach der Senkung von Ener- Argumentation also nicht. giesteuern zu rufen und alte Technologien zu unterstüt- In der Ifo-Studie, die Sie zugrunde legen, fehlen we- zen, sollten Sie in Innovation investieren, solange neue sentliche Faktoren, zum einen die soziale Absicherung Technologien nicht wettbewerbsfähig sind. Dort ist das der Bauern und zum anderen die Ertragsteuern. Ich gebe Geld richtig angelegt. Da müssen Sie finanziell unter- zu, dass ein Vergleich gerade dieser Positionen sehr stützen. Das hält die Wertschöpfung in der Region. Das schwierig ist. Aber Sie können nicht außer Acht lassen, hilft der Landwirtschaft, und das hilft dem Mittelstand dass der Bund sehr tief in die Tasche greift, wenn es um dieses Sektors, den Sie mit Ihrer Biotreibstoffpolitik oh- die soziale Absicherung der Bauern geht. Rund 3,7 Mil- nehin kaputtgemacht haben. liarden Euro geben wir dafür aus. Vielen Dank fürs Zuhören, liebe Kolleginnen und Kollegen. (Peter Bleser [CDU/CSU]: Wie viel geben wir denn für die Automobilbranche aus? 90 Mil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) liarden! – Christian Freiherr von Stetten 22190 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (A) [CDU/CSU]: Wollen Sie das auch noch an- Kollege Schindler kann das sicherlich bestätigen – in (C) greifen?) seinem Situationsbericht 2009 schreibt: Wenn wir, die Bundesrepublik Deutschland, in diesem Im Zehnjahresvergleich hat Deutschland seinen Segment nicht gut aufgestellt sind, dann weiß ich es Marktanteil bei den meisten Produkten halten oder auch nicht. sogar ausbauen können. Ehrlich gesagt, hört sich das für mich nicht nach einem Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: gravierenden Wettbewerbsnachteil an. Wettbewerbs- Frau Kollegin Wolff, darf ich Sie unterbrechen? Herr situationen zu verbessern, ist gut. Dass die Landwirt- Kollege Dr. Geisen hätte auch bei Ihnen eine Zwischen- schaft so gut dasteht, ist auch in Ordnung. Die gesetzli- frage. che Krankenversicherung der Landwirte wurde im Konjunkturprogramm nicht außen vor gelassen. Sie pro- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): fitieren zudem von den Steuersenkungen. Gerne, Herr Dr. Geisen. Uns geht es darum, in die Zukunft zu investieren. Uns geht es darum, die Notwendigkeit der Steigerung der Dr. Edmund Peter Geisen (FDP): Energieeffizienz in den Mittelpunkt zu stellen. Frau Kollegin, ist Ihnen bekannt, dass diese Zu- (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Effizienz ist schüsse zu den Sozialversicherungen die Folge eines ge- immer richtig!) samtgesellschaftlichen Problems und damit ein Altlas- tenproblem sind? Diese Altlasten betreffen, was den Da kann man Kosten sparen. Ich muss ganz ehrlich sa- Ursprung angeht, fast jede Familie. Das muss man deut- gen: Es tut mir zutiefst leid, dass unser Koalitionspartner lich machen. Dann kann man auch erkennen, weshalb in der vergangenen Woche nicht zugestimmt hat, als es dieser Zuschuss begründet und notwendig ist. um den Verzicht auf Besteuerung der Biokraftstoffe für den öffentlichen Personennahverkehr ging. Sind Sie angesichts der Begründung für diese sozia- len Zuschüsse des Bundes sicher, dass es richtig ist, dass (Dr. Edmund Peter Geisen [FDP]: Ist denn da die deutschen Landwirte pro Familienbetrieb 7 000 Euro alles effizient?) mehr Agrardieselsteuern zahlen als die Betriebe in den Nachbarländern? Landwirte aus zwei benachbarten Län- Sie haben dem eine Absage erteilt. Das wäre eine Inves- dern fahren mit ihren Maschinen nebeneinander; die Fel- tition in die Zukunft gewesen. Damit hätten wir den der sind zum Teil sogar grenzübergreifend. Können Sie Landwirten geholfen und etwas Gutes für die Zukunft (B) überhaupt begreifen, was es heißt, wenn die Bauern in getan. (D) Belgien und Frankreich einen Riesenvorteil durch eine Herzlichen Dank. niedrige Agrardieselbesteuerung haben? Sie plädieren, wenn ich Sie richtig verstanden habe, für eine eher noch (Beifall bei der SPD) höhere Agrardieselbesteuerung. Oder wie soll ich das se- hen? Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ich schließe die Aussprache. Das ist SPD-Ideologie!) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/11670 an die in der Tagesordnung aufge- Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- Herr Dr. Geisen, ich habe gerade versucht, Ihnen zu verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist das so erklären, dass man eine Gesamtbetrachtung der steuerli- beschlossen. chen Belastung vornehmen muss – auf die Gesamtbe- trachtung des Ifo-Instituts stützt sich ja auch Ihr Antrag –, Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 12 auf: in die alles einbezogen werden muss. Ich sage voller Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Stolz, dass wir als Bund diese Verantwortung wahrneh- Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der men und fast 4 Milliarden Euro in die Hand nehmen. Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereinsvor- Das ist auch richtig. Aber das ist eine Entlastung, lieber ständen Herr Geisen, die die Bauern in anderen Staaten nicht ha- ben. Auch das muss man in diesem Zusammenhang se- – Drucksache 16/10120 – hen. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Innenausschuss Sportausschuss Ich bin nicht für eine höhere Besteuerung, Herr Geisen, Finanzausschuss sondern ich bin dafür, dass wir zukunftsorientiert arbei- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ten. Ausschuss für Kultur und Medien Wenn wir die Wettbewerbssituation betrachten, müs- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist dafür sen wir auch die Marktanteile sehen. Da will ich nur ein- eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, Sie sind damit mal den Deutschen Bauernverband zitieren, der – Herr einverstanden. Dann werden wir so verfahren. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22191

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red- Personen erstrecken, die für ihre Tätigkeit als Vereins- (C) ner das Wort für die Bundesregierung Herrn Parlamenta- vorstand eine Vergütung von nicht mehr als 500 Euro rischen Staatssekretär Alfred Hartenbach. pro Jahr erhalten. Bei ehrenamtlich tätigen Vorständen von Stiftungen Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- – dieser Punkt ist im Bundesratsentwurf nicht enthalten – desministerin der Justiz: besteht eine mit den ehrenamtlichen Vereinsvorständen Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und vergleichbare Haftungssituation. Auch sie sollten gegen- Kollegen! Sehr verehrter Herr Ministerpräsident Müller! über der Stiftung nicht für Schäden haften, die durch ein- Bürgerschaftliches Engagement ist wichtig für unsere fache Fahrlässigkeit verursacht wurden. Die Stiftung Gesellschaft. Eine vitale Bürgergesellschaft lebt davon, sollte ihre ehrenamtlichen Vorstände außerdem in glei- dass ihre Mitglieder sich aktiv einbringen und vor allem cher Weise wie die Vereine von der Haftung für leichte dort für Ausgleich und Fürsorge sorgen, wo der Staat Fahrlässigkeit gegenüber Dritten freistellen. Wir können dies nicht leisten kann. eine Erstreckung des Haftungsprivilegs auf die Verlet- Bürgerschaftliches Engagement muss weiter geför- zung steuerlicher oder sozialrechtlicher Pflichten nicht dert werden. Dazu gehört es, die rechtlichen Rahmenbe- gutheißen, und zwar auch deshalb nicht, weil die bisher dingungen zu schaffen, damit Menschen sich gemeinsam geltenden Risikobegrenzungen insoweit ausreichend engagieren können. In Deutschland wird vor allem in sind. Vereinen, aber auch in Stiftungen beispielhafte gesell- Die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements schaftliche Arbeit geleistet. Das Ehrenamt spielt dabei war und ist auch für die Bundesregierung von herausra- eine besonders wichtige Rolle. Viele kleine Vereine kön- gender Bedeutung. Wir haben schon vieles zur Förde- nen nur deshalb effektiv wirken, weil die Vereinsämter rung des Ehrenamtes getan, und wir sind auch weiterhin ehrenamtlich wahrgenommen werden. Es wird aller- aktiv. Zurzeit wird im Bundesministerium der Justiz ein dings immer wieder berichtet, dass Vereinsmitglieder umfassender und gut verständlicher Leitfaden für Ver- zögern, Vereinsämter zu übernehmen – nicht etwa, weil eine erstellt, den wir demnächst über das Internet allge- sie die damit verbundene Arbeit scheuen, sondern aus mein zugänglich machen. Darin werden alle wesentli- Furcht vor eventuell unüberschaubaren Haftungsrisiken. chen Fragen zum Vereinsrecht beantwortet. (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Eine Den vorliegenden Gesetzesvorschlag unterstützen wir begründete Furcht!) mit den eben von mir vorgetragenen Ergänzungen. Die Zwar gibt es bereits nach geltendem Recht die Mög- ehrenamtlich Tätigen leisten einen unschätzbaren, wert- lichkeit, die Haftung der Vorstände gegenüber dem Ver- vollen Beitrag für unser gesellschaftliches Zusammenle- (D) (B) ein und seinen Mitgliedern durch Satzungsregelungen zu ben. Wir sollten diesen Beitrag auch für die Zukunft er- beschränken. Doch wissen viele dies nicht. Deshalb hat halten. der Bundesrat in seinem Entwurf eines Gesetzes zur Be- grenzung der Haftung von ehrenamtlich tätigen Vereins- Vielen Dank. vorständen eine gesetzliche Haftungsbeschränkung ge- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) genüber dem Verein und den Vereinsmitgliedern vorgesehen. Ich begrüße dies ausdrücklich als wichtigen Beitrag zur Förderung des bürgerschaftlichen ehrenamt- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: lichen Engagements. Nächste Rednerin ist für die FDP-Fraktion die Kolle- gin Mechthild Dyckmans. Dabei muss allerdings das Risiko des Vereinsvorstan- des sorgfältig mit den eventuellen Risiken Dritter abge- (Beifall bei der FDP) wogen werden. Deshalb ist es in diesem Spannungsfeld gegenläufiger Interessen sinnvoll, zwischen den Ansprü- Mechthild Dyckmans (FDP): chen Außenstehender und den Ansprüchen des Vereins Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- sowie einzelner Vereinsmitglieder zu unterscheiden. Es legen! Wir haben es gehört: Der Gesetzentwurf soll das ist durchaus angemessen, die Haftung des ehrenamtlich bürgerschaftliche Engagement in Vereinen fördern. Das tätigen Vereinsvorstandes gegenüber dem Verein sowie begrüßen wir von der FDP ausdrücklich. gegenüber einzelnen Vereinsmitgliedern auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit zu beschränken. Nach außen hin, Ich freue mich, dass dieser Gesetzentwurf, der auf also gegenüber Dritten, ist dagegen eine volle Haftung eine Initiative des Saarlandes und Baden-Württembergs nach wie vor unabdingbar. Der Verein kann hierfür zurückgeht, nunmehr auch im Bundestag beraten wird. durch Abschluss einer Risikoversicherung allerdings Der Gesetzentwurf sieht – der Herr Staatssekretär hat Vorsorge treffen. das schon ausgeführt – eine Begrenzung des Haftungsri- (Lachen des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE sikos von ehrenamtlich tätigen Vereinsvorstandsmitglie- LINKE]) dern vor. Auch das unterstützen wir ausdrücklich. Es ist ja beinahe schon ein Wunder, dass sich überhaupt noch Zur Unterscheidung, ob ein Vorstand tatsächlich ehren- Menschen finden lassen, die bereit sind, Vorstandsfunk- amtlich oder gegen Gehalt tätig wird, schlagen wir vor, tionen zu übernehmen. Man muss bedenken: Für Ver- die Regelung des § 3 Nr. 26 Einkommensteuergesetz einsvorstände gelten die gleichen Haftungsrisiken wie einzuführen. Das Haftungsprivileg wollen wir auf die zum Beispiel bei GmbH-Geschäftsführern. Ich meine, 22192 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Mechthild Dyckmans (A) hier ist eine Unterscheidung nicht nur erlaubt, sondern vorschlag schnell verabschieden könnten; denn das liegt (C) sogar geboten. im Interesse Tausender Frauen und Männer, die sich eh- renamtlich in Vereinen engagieren und jeden Tag aufs (Beifall bei der FDP) Neue einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung einer akti- Natürlich macht es einen Unterschied, ob jemand von ven und lebenswerten Bürgergesellschaft leisten. Berufs wegen – in der Regel gegen gutes Gehalt – solch Schönen Dank. eine Arbeit übernimmt, oder ob er solche Verpflichtun- gen ehrenamtlich in seiner Freizeit, neben seiner berufli- (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) chen Tätigkeit, in Sportvereinen, in sozialen Einrichtun- gen, in Einrichtungen der Kulturpflege, beim Roten Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Kreuz, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder sonst wo Für den Bundesrat hat nun das Wort der Ministerprä- übernimmt. sident des Saarlandes, Peter Müller. Ich freue mich, dass die Bundesregierung diesen Ge- (Beifall bei der CDU/CSU) setzentwurf jetzt offensichtlich unterstützt. Das hat bei der Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf noch ganz Peter Müller, Ministerpräsident (Saarland): anders ausgesehen. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Wir Herren! Dass bürgerschaftliches Engagement einen un- sind eben flexibel!) schätzbaren Wert für unsere Gesellschaft hat und es we- sentlicher Teil des Kitts ist, der diese Gesellschaft zu- Auch im Dezember des letzten Jahres war die Bundesre- sammenhält, ist eine Tatsache, die in diesem Hause gierung noch nicht so weit. Auf eine Anfrage meines bekannt ist und die deshalb nicht weiter vertieft werden Kollegen Burgbacher hat sie zu dem Zeitpunkt geant- muss. wortet, dass man noch nicht weiß, wie man damit umge- hen soll. Es ist schön, dass man jetzt offensichtlich auch Folglich ist es unsere Aufgabe, Rahmenbedingungen in der Bundesregierung zur Einsicht gekommen ist und, zu schaffen, die ehrenamtliches Engagement unterstüt- wie im Entwurf vorgesehen, einen § 31 a BGB einführen zen und Anreize schaffen, dieses Engagement zu erbrin- will. gen, und dort, wo ehrenamtliches Engagement behindert wird, gemeinsam dafür zu sorgen, dass die Hürden be- Gleichwohl glaube ich auch, dass es einige Punkte seitigt werden. Das war immer ein Ziel der Arbeit in die- gibt, über die wir noch einmal sprechen sollten. Zum ei- sem Haus. Das wurde auch beim Gesetz zur weiteren nen gibt es den angesprochenen Vorschlag, ob man auch Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements, das (B) das Haftungsrisiko für Vorstände von Stiftungen be- wichtige Verbesserungen für bürgerschaftliches Engage- (D) grenzen soll. In diesem Zusammenhang muss man prü- ment gebracht hat, deutlich. fen, ob die Haftungsrisiken tatsächlich vergleichbar sind. Falls das so ist, sehen ich und meine Fraktion keinen Die Frage der Haftung von ehrenamtlich und unent- Grund, dass man nicht auch den Vorstand einer Stiftung geltlich tätigen Mitgliedern in den Vereinsvorständen ist in den Genuss einer gesetzlichen Haftungsbegrenzung dort nicht geregelt worden. Diese Frage wurde bei den kommen lassen soll. Beratungen jenes Gesetzentwurfs im Bundesrat ange- sprochen. Der Diskussionsbedarf wurde bestätigt, und Beim zweiten Punkt geht es um das Kriterium der auf dieser Grundlage beruht der jetzt vorliegende Ge- Unentgeltlichkeit. Dazu wurde im Gesetzentwurf, aller- setzentwurf des Bundesrates, der auf saarländische Ini- dings nur in der Begründung, ausgeführt, dass die Tatsa- tiative hin zustande gekommen ist. che, dass man für eine Tätigkeit lediglich eine Aufwands- entschädigung oder ein geringes Entgelt bekommt, der (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Sehr gut!) Unentgeltlichkeit nicht entgegenstehen soll. Der Vor- Ich freue mich, dass dieser Gesetzentwurf des Bun- schlag aus dem Justizministerium, der eine Konkretisie- desrates dieses Stadium im Hohen Haus erreicht hat. rung des Unentgeltlichkeitskriteriums vorsieht, scheint Nicht allen Entwürfen des Bundesrates ist dieses Schick- mir zielführend zu sein, sodass man diesen Punkt noch sal beschieden. einmal besprechen sollte. (Dirk Manzewski [SPD]: Erreichen tun sie uns (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schon!) der CDU/CSU) Umso mehr freue ich mich, dass dies heute der Fall ist, Ich bin auch froh, dass man im Ministerium offen- sichtlich wieder davon abgekommen ist, eine Verpflich- (Beifall bei der CDU/CSU) tung der Vereine zum Abschluss einer entsprechenden und zwar auch deshalb, weil wir heute über eine rege- Versicherung vorzuschlagen. Gut, dass man sich davon lungsbedürftige Angelegenheit sprechen. Frau Dyck- gelöst hat. Es war gut, dass Sie bis zum Februar gewartet mans hat es eben gesagt: Durch die Rechtsprechung ist und heute Ihre Presseerklärung herausgegeben haben, in die Haftung der ehrenamtlich tätigen Vereinsvorstände der Sie mitteilen, dass Sie allem in der jetzigen Form zu- derjenigen eines GmbH-Geschäftsführers angenähert stimmen. worden. Das ist mit Sicherheit nicht sachgerecht. Ich würde mich also freuen, wenn wir ohne größere Ich will es ganz kurz an einem Beispiel erläutern parteipolitische Auseinandersetzungen diesen Gesetzes- – der Fall hat sich in dem von mir vertretenen Bundes- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22193

Ministerpräsident Peter Müller (Saarland) (A) land zugetragen –: Es geht um einen großen Sportverein, Wir müssen auch beachten, dass es hier um Tatbestände (C) in dem ein ehrenamtlicher Jugendleiter für die Jugend- geht, die dazu führen können, dass ehrenamtliches arbeit zuständig ist. Daneben gibt es eine Vertragsspie- Engagement, dass die Bereitschaft, sich in Vereinen ein- lerabteilung mit einem Geschäftsführer, der Steuern zubringen, breitflächig zurückgeht. Vor diesem Hinter- nicht zahlt und Sozialversicherungsbeiträge nicht ab- grund hat, glaube ich, das fiskalische Interesse zurückzu- führt. Irgendwann fällt dies auf. Die Ansprüche werden stehen. geltend gemacht. Der Geschäftsführer ist weg. Der Ver- Ich bitte herzlich darum, diesen Gesetzentwurf aus ein kann die Forderungen aus dem Vereinsvermögen dem Bundesrat zu unterstützen und zielführend zu bera- nicht befriedigen. Plötzlich sieht sich der ehrenamtlich ten. tätige Jugendleiter einem Haftungsbescheid in der Grö- ßenordnung von 35 000 Euro gegenüber. Das kann nicht (Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Das tun wir!) richtig sein. Ich verbinde dies mit der Bitte um Verständnis dafür, (Bernhard Brinkmann [Hildesheim] [SPD]: Da dass ich die Debatte gleich verlasse, weil parallel die Fö- hat der Ministerpräsident nicht aufgepasst!) deralismuskommission tagt und meine Anwesenheit dort erforderlich ist. – Wenn Sie dazwischenrufen, da habe der Ministerpräsi- dent nicht aufgepasst, sage ich an dieser Stelle: Im Saar- (Dr. Peter Danckert [SPD]: Zehn Minuten land ist das einfacher als in Nordrhein-Westfalen, aber noch!) um alles kann sich auch der saarländische Ministerpräsi- Es ist keine Missachtung des Hohen Hauses. Unterstüt- dent nicht kümmern. zen Sie bitte diesen Gesetzentwurf im Interesse des ehrenamtlichen Engagements in unserem Land! Wir (Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Riegert brauchen bürgerschaftliches Engagement. Es macht die [CDU/CSU]: Außerdem war das sein Vorvor- Menschlichkeit dieser Gesellschaft aus. gänger!) Ich bitte um Unterstützung. – Das ist richtig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Ich glaube, dass die Notwendigkeit besteht, in diesem neten der SPD und der FDP) Bereich eine faire Verteilung der Haftungsrisiken herbei- zuführen. Eine faire Verteilung heißt: Natürlich hat jeder Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: für das einzustehen, was er selber tut. Natürlich hat jeder Nächster Redner ist der Kollege Dr. Ilja Seifert für die für vorsätzliches Handeln und für grobe Fahrlässigkeit Fraktion Die Linke. (B) einzustehen. Aber in Fällen des bloßen Nichtwissens, in (D) Fällen einfacher Fahrlässigkeit muss nach meinem Da- (Beifall bei der LINKEN) fürhalten – und das ist auch die Sprache dieses Gesetz- entwurfes, der im Grundsatz breite Unterstützung fin- Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): det – eine Haftungsfreistellung gegeben sein. Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Ich halte die Bedenken in der ursprünglichen Stel- Gesetzentwurf ist durchaus vernünftig. Ich denke, wir lungnahme der Bundesregierung für nicht begründet. werden ihm zustimmen. Über seinen Inhalt gibt es ver- Auf den Hinweis, dass wir vergleichbare Situationen bei mutlich nur wenig Streit. Aber worüber reden wir ei- Stiftungen, bei Pflegepersonen und Betreuern haben, gentlich? Die wirklichen Probleme werden mit diesem kann mit dem Argument geantwortet werden, dass diese Gesetz nämlich nicht gelöst. Personengruppen in die Regelungen einbezogen werden. Im Übrigen besteht schon ein Unterschied: Bei Vereinen Auch ich möchte ein Beispiel anführen: Ein Verein handelt es sich in der Regel um immateriell orientierte mit 20 Mitgliedern sammelt seit über 20 Jahren Spenden Tätigkeiten, während die anderen Gruppen, die ange- für die Kinder und jetzt erwachsenen Opfer von Tscher- sprochen worden sind, typischerweise mit Fragen der nobyl. Das gesamte Geld, das dieser Verein jemals ge- Vermögenssorge befasst sind. sammelt hat, wurde gespendet und nach Weißrussland oder in die Ukraine geschickt. Man hat also geholfen Auch den Hinweis, dass bei einer Haftungsfreistel- und gute Arbeit getan. lung das Risiko besteht, dass die Haftung des Vereins verschärft wird, halte ich für falsch. Es geht meist um Einmal im Jahr führt der Verein, weil das Vorschrift diejenigen Fälle, in denen der Verein nicht haften kann, ist, seinen Vereinstag durch, bestätigt seinen Vorstand weil er nicht leistungsfähig ist, weil das Vereinsvermö- oder wählt ihn neu. An diesem Tag entsteht ein Brand gen nicht ausreicht. Ich glaube auch, dass der Hinweis – aus welchen Gründen, lässt sich hinterher nicht mehr darauf, damit sei das Risiko verbunden, dass Sozialversi- ermitteln –, und die Räumlichkeit, in der der Verein ge- cherungsbeiträge oder Steuern ausfallen, am Ende nicht rade tagt, brennt ab. Es entsteht ein Schaden in Höhe von tragen kann. Wir müssen beachten, dass wir über Be- 25 000 Euro. Das Vereinsvermögen beträgt 38,50 Euro; träge reden, die mit Blick auf das Gesamtsteueraufkom- das ist das Geld, das der Verein für Briefmarken ausgibt. men oder das Gesamtaufkommen im Bereich der Sozial- Das gesamte übrige Geld wird schließlich, wie gesagt, versicherung von absolut vernachlässigbarer Größe sind. gespendet und zum Beispiel nach Belarus geschickt. Nun fordert der Besitzer der Räumlichkeit, die abge- (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Wohl wahr!) brannt ist, Schadensersatz. Der Verein zahlt seine 22194 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Ilja Seifert (A) 38,50 Euro und ist damit bankrott. Wer muss jetzt zah- Dr. Peter Danckert (SPD): (C) len? Am Ende müssen die Vereinsvorstände zahlen. Das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! kann doch nicht sein. Das, liebe Kolleginnen und Kolle- Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ich muss sagen: Es gen, können wir nicht wollen. gefällt mir, dass Sie diesen Gesetzentwurf des Bundes- rates persönlich vertreten. Das zeigt Ihr großes Engage- (Klaus Riegert [CDU/CSU]: Das stimmt so ment. Ich bin Ihnen sehr dankbar – ich sage das ganz auch nicht!) freimütig über Parteigrenzen hinweg –, dass hier eine – Dann klären Sie mich nachher bitte auf. Ich kann Ihnen Minireform – das muss man so sagen, wenn man sich sagen: Das ist die Rechtslage. Das können wir aber nicht vor Augen hält, was wir zum Abbau von Bürokratie in wollen. diesem Bereich eigentlich alles regeln müssten – ange- stoßen wurde. Dass Sie heute Abend hier sind, ist wirk- Wir müssen dafür sorgen, dass diejenigen, die ehren- lich verdienstvoll. amtlich tätig sind, keine Angst haben müssen, dass auf ihr Privatvermögen zurückgegriffen wird. Dafür gibt es (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) verschiedene Möglichkeiten. Man könnte zum Beispiel eine Haftungsbegrenzung vornehmen. Man könnte für Ich hoffe, dass wir Ihre Anwesenheit nicht nur der Koin- Vereine auch eine staatliche Garantie abgeben und die zidenz mit einem anderen Termin verdanken, sondern Kosten für Vereinsschutzbriefe übernehmen, natürlich dass Sie auch gekommen wären, wenn Sie hier keine an- nur für die der untersten Kategorie; das ist klar. Das wäre deren Verpflichtungen gehabt hätten. Ich würde Sie eine Möglichkeit, Vereine, die nicht das nötige Geld ha- gerne einladen, noch ein bisschen zu bleiben; denn auch ben, um eine Versicherung abzuschließen, nicht einmal wenn wir nachher über die Reform des Untersuchungs- eine Versicherung für eine Vereinsveranstaltung, von haftrechts reden, könnten wir Ihre Unterstützung brau- diesen Belastungen zu befreien. Das wäre wichtig. chen. Ich weiß allerdings, dass Sie nicht so lange bleiben In eine solche Regelung könnten wir auch die anderen können. Zielgruppen, von denen immer die Rede ist, einbezie- hen. Wie sieht es denn mit amtlich bestellten Pflegerin- Im Prinzip ist zu der großen Rolle der ehrenamtlich nen und Pflegern oder Betreuerinnen und Betreuern aus? Tätigen alles gesagt worden. Im Sportbereich – diesem Auch sie haben ein Haftungsrisiko. Auch diesen Perso- Bereich, Herr Ministerpräsident, sind wir ja beide ver- nen müssen wir helfen. Insofern besteht durchaus Hand- bunden – sind mehr als 1 Million Menschen als Vereins- lungsbedarf. vorsitzende ehrenamtlich tätig. Die bisherigen Regelun- gen im Bürgerlichen Gesetzbuch sind defizitär, sie Dass der Staatssekretär diesen Gesetzentwurf jetzt un- müssen geändert werden. Insofern – ich habe es eben (B) terstützt, finde ich sehr erfreulich. Aber das Schauspiel, (D) das Sie uns geliefert haben, indem Sie den vorliegenden schon gesagt –: Danke für die Anregung und den Anstoß Gesetzentwurf des Bundesrates sechs Monate lang ver- zu dieser Gesetzesinitiative! schleppt haben, ist ziemlich beschämend. Ich finde, da- für hätten Sie zumindest ein Wort der Entschuldigung Was uns besorgt hat – das will ich freimütig sagen –, sagen können. ist der Umstand, dass dieser Gesetzentwurf zu scheitern drohte. Es ist der Initiative vieler Mitglieder des Sport- (Beifall bei der LINKEN) ausschusses und des Rechtsausschusses zu verdanken, Noch eines: Wenn wir Politikerinnen und Politiker ei- dass es zu einem Gespräch kam, in dem wir zusammen nen Fehler machen, sind unsere Diäten, also unsere Ge- mit dem Generaldirektor des Deutschen Olympischen hälter, und unsere Pensionen genauso sicher wie unsere Sportbundes unsere Bedenken geschildert und deutlich Vermögen, solange wir nicht ehrenamtliche Vorsitzen- gemacht haben, dass wir eine gesetzliche Regelung in den eines Vereins sind, von dem ich gerade sprach. Dass dieser Richtung wollen. auch Spitzenmanager von Banken und großen Unterneh- men solchen Haftungsrisiken nicht ausgesetzt sind, erle- Von einer Sternstunde zu sprechen, ist vielleicht über- ben wir in letzter Zeit Tag für Tag. Lassen Sie uns dafür trieben; aber ein Erfolg ist es, dass aus dieser parlamen- sorgen, dass diejenigen, die von allen und immer wieder tarischen Initiative – was ja nicht allzu häufig ist – mit für ihre unverzichtbare ehrenamtliche Arbeit gelobt wer- der Formulierungshilfe, die die Bundesregierung geleis- den – Sie haben sie sogar als „Kitt der Gesellschaft“ be- tet hat, ein Gesetz geworden ist, das wir hier beraten zeichnet –, nicht solchen Risiken ausgesetzt sind. können. Das eine oder andere wird im Rahmen eines Feintunings noch modifiziert werden müssen; aber die Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. Richtung stimmt, das Gesetz findet ja jetzt Zustimmung. (Beifall bei der LINKEN) Ehrenamtliche Tätigkeit muss in der Form, wie es jetzt vorgesehen ist, ein Stück weit geschützt werden. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Wir wissen von den Vorsitzenden vieler Vereine, dass Der Kollege Hans-Christian Ströbele hat seine Rede die Frage der Haftung sie sehr bedrückt. Das von Ihnen, 1) zu Protokoll gegeben, sodass nun als letzter Redner in Herr Ministerpräsident, genannte Beispiel mit den dieser Debatte der Kollege Dr. Peter Danckert für die 35 000 Euro war ja noch relativ harmlos. Als Anwalt SPD-Fraktion das Wort hat. habe ich vor zehn, zwölf Jahren selber erlebt, wie ein Vereinsvorsitzender einen Haftungsbescheid über 1 Mil- 1) Anlage 2 lion DM bekam – was nicht nur familiär katastrophale Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22195

Dr. Peter Danckert (A) Auswirkungen hatte. Die Forderung konnte aus dem die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Hans- (C) Vereinsvermögen – indem ein Teil des Geländes ver- Werner Kammer, Rüdiger Veit, Hartfrid Wolff, Ulla Jel- kauft wurde – bezahlt werden. pke und Josef Philip Winkler.1) Die Haftung ist ein kritischer Punkt, es ist kritisch, Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Innenaus- wenn sich der Vorsitzende darauf verlassen muss, dass schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf im größeren Umfeld alles seine Ordnung hat. Von daher Drucksache 16/11370, den Antrag der Fraktion Die ist die Haftungsbegrenzung, die wir mit diesem Gesetz Linke auf Drucksache 16/9143 abzulehnen. Wer stimmt vorsehen, notwendig. Auch die Form, in der wir das ma- für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – chen, ist richtig. Enthaltungen? – Dann ist die Beschlussempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der FDP- Nachdenken müssen wir vielleicht noch darüber, ob Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/ die unentgeltliche Tätigkeit mit 500 Euro richtig ange- Die Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen. setzt ist. Klaus Riegert, ich habe das so verstanden, dass wir darüber in den Gremien noch einmal diskutieren Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf: werden. Ich halte diesen Maßstab für durchaus angemes- Beratung des Antrags der Abgeordneten Antje sen; aber man kann darüber diskutieren, ob wir das noch Blumenthal, Hubert Hüppe, Thomas Bareiß, wei- etwas ausweiten sollten. terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ Herzlichen Dank noch einmal an Sie, Herr Minister- CSU präsident Müller. Dank auch an alle anderen, die dazu sowie der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tu- beigetragen haben, dass wir in dieser Legislaturperiode chenbach), Renate Gradistanac, Angelika Graf mit der Schaffung eines § 31 a BGB eine seit langem ins (Rosenheim), weiterer Abgeordneter und der Auge gefasste Änderung des § 31 BGB herbeiführen Fraktion der SPD können. Frauen und Mädchen mit Behinderungen Ich glaube, dass diese Änderung draußen akzeptiert wirksam vor Gewalt schützen und Hilfsange- wird und ankommt, weil die ehrenamtlichen Vorsitzen- bote verbessern den der Sportvereine unter der bisherigen Regelung in – Drucksache 16/11775 – der Tat gelitten haben. Sie mussten besorgt sein, weil sie Überweisungsvorschlag: nicht genau wissen konnten, was auf sie zukommt. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f) Durch die Beschränkung der Haftung setzen wir ein Rechtsausschuss deutliches Zeichen. Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Vielen Dank. Haushaltsausschuss (B) (D) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie Auch hier wurde vereinbart, dass die Reden zu Proto- bei Abgeordneten der FDP) koll gegeben werden. Es handelt sich um die Reden fol- gender Kolleginnen und Kollegen: Antje Blumenthal, Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Michaela Noll, Marlene Rupprecht, Ina Lenke, Dr. Ilja Seifert und Markus Kurth.2) Ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf wurfs auf Drucksache 16/10120 an die in der Tagesord- Drucksache 16/11775 an die in der Tagesordnung aufge- nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein- damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so ist die Überweisung so beschlossen. beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf: Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu Andreae, Alexander Bonde, Christine Scheel, dem Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Wolf- weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- gang Nešković, Monika Knoche, weiterer Abge- NIS 90/DIE GRÜNEN ordneter und der Fraktion DIE LINKE Kontrollrechte aus Bundesbeteiligungen stra- Keine Abschiebungen in das Kosovo tegisch nutzen – Drucksachen 16/9143, 16/11370 – – Drucksache 16/11761 – Überweisungsvorschlag: Berichterstattung: Haushaltsausschuss (f) Abgeordnete Hans-Werner Kammer Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Rüdiger Veit Finanzausschuss Hartfrid Wolff (Rems-Murr) Federführung strittig Ulla Jelpke Auch hier wurden die Reden zu Protokoll gegeben, Josef Philip Winkler und zwar von folgenden Kolleginnen und Kollegen: Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu die- sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. – Ich 1) Anlage 3 sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich um 2) Anlage 4 22196 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Klaus-Peter Willsch, Bernhard Brinkmann, Ulrike Flach, wir verdanken dies nicht zuletzt den Maßnahmen zur (C) Roland Claus und Dr. Thea Dückert.1) Haftvermeidung und der Justiz, die diese anwendet. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Trotzdem bleibt die Untersuchungshaft eine beson- Drucksache 16/11761 an die in der Tagesordnung aufge- dere Herausforderung für den Rechtsstaat. Mit diesem führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist Gesetzentwurf der Bundesregierung wollen wir deshalb allerdings strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der klar regeln, unter welchen Voraussetzungen welche Be- SPD wünschen Federführung beim Haushaltsausschuss, schränkungen der Freiheit zulässig sind. Wir wollen die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federfüh- auch die Rechte der Festgenommenen stärken. rung beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie. Wenn U-Haft angeordnet wird, geht es nicht nur um Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag der die Freiheitsentziehung selbst, sondern auch um beglei- Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Federführung beim tende Maßnahmen wie die Postkontrolle oder Besuchs- Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – abstimmen. beschränkungen. Im Gesetz war bislang weder geregelt, Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer welche Beschränkungen zulässig sind, noch, unter wel- ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvor- chen Voraussetzungen diese erfolgen können. Es exis- schlag ist damit abgelehnt. tierte lediglich eine gemeinsame Verwaltungsvorschrift der Länder. Infolge der Föderalismusreform regelt nun Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der der Bund das Ob der Untersuchungshaft und das gericht- Fraktionen der CDU/CSU und der SPD – Federführung liche Verfahren, während die Regelungskompetenz für beim Haushaltsausschuss – abstimmen. Wer stimmt für das Wie des Vollzugs bei den Ländern liegt. diesen Überweisungsvorschlag? – Ist jemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist damit Lassen Sie mich die wesentlichen Änderungen vor- mit großer Mehrheit angenommen. Das heißt, die Feder- stellen, die der Entwurf der Bundesregierung vorsieht. führung liegt beim Haushaltsausschuss. Zu den Beschränkungen, die Untersuchungsgefange- Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 16 auf: nen über die Freiheitsentziehung als solche hinaus zur Abwehr von Flucht-, Verdunklungs- und Wiederho- Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- lungsgefahr auferlegt werden können, gehören vor allem gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- die Überwachung der sogenannten Außenkontakte: Be- rung des Untersuchungshaftrechts suche, Telekommunikation und Briefverkehr sowie die – Drucksache 16/11644 – Trennung von anderen Gefangenen, die an derselben Tat Überweisungsvorschlag: beteiligt waren. Alle diese Eingriffe müssen im Hinblick (B) Rechtsausschuss (f) auf die Unschuldsvermutung und das Freiheitsrecht des (D) Innenausschuss Beschuldigten sorgfältig abgewogen werden. Dafür schafft unser Entwurf transparente und klare gesetzliche Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Regeln. Nicht ausreichend sind künftig rein standardmä- Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe, ßige, unabhängig von den konkreten Umständen des Sie sind damit einverstanden. Dann wird so verfahren. Einzelfalls angeordnete Beschränkungen. Die zuständi- Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat gen Stellen müssen in jedem Einzelfall prüfen, ob solche Herr Parlamentarischer Staatssekretär Alfred Harten- Beschränkungen wirklich erforderlich sind. Damit tra- bach das Wort für die Bundesregierung. gen wir der Unschuldsvermutung in Zukunft noch sehr viel besser Rechnung. (Jörg van Essen [FDP]: Nicht die Reden verwechseln!) Im Gesetz wollen wir außerdem den Rechtsschutz klarer regeln. Damit wird für die Inhaftierten künftig Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der Bun- deutlicher, dass und mit welchen Rechtsmitteln sie sich desministerin der Justiz: gegen Beschränkungen in der U-Haft rechtlich zur Wehr setzen können. Das schafft mehr Klarheit für die Voll- Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und zugspraxis, stärkt die Rechte der Betroffenen und ist ein Kollegen! Lieber Herr van Essen, bis zwei kann ich zäh- Zugewinn an Rechtsstaatlichkeit. len. Ich habe die richtige Rede. Eine zweite wichtige Neuerung geht auf eine Anre- Die Untersuchungshaft ist eine besonders schwerwie- gung zurück, die wir den europäischen Institutionen zum gende Beschränkung der Freiheit und mit weitreichen- Schutz der Menschenrechte verdanken. Es geht darum, den Grundrechtseingriffen verbunden. Ich sehe es des- dass Verhaftete über ihre Rechte möglichst frühzeitig halb als eine positive Entwicklung an, dass die Zahl der und umfassend belehrt werden. Wir regeln in diesem Ge- Untersuchungshäftlinge trotz einer effektiven Strafver- setz, dass Beschuldigte in Zukunft bereits bei ihrer Fest- folgung seit Jahren sinkt. 2006 gab es insgesamt etwa nahme und zudem schriftlich belehrt werden. Das be- 24 000 Untersuchungsgefangene. Das ist sicherlich noch deutet, dass sie nicht nur einen mündlichen Hinweis, immer eine hohe Zahl; aber 30 Jahre zuvor, 1976, also sondern auch ein Papier bekommen, auf dem zum Bei- weit vor der deutschen Einheit, waren es noch über spiel steht, dass sie spätestens am nächsten Tag einem 42 000. Das ist ein Rückgang um 43 Prozent. Ich glaube, Richter vorgeführt werden, dass sie das Recht haben, keine Aussage zu machen, und dass sie Zugang zu einem 1) Anlage 5 Verteidiger und einem Arzt bekommen können. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22197

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) Des Weiteren verbessern wir das Recht der Inhaftier- Ein zweiter Punkt gefällt mir ebenfalls sehr gut. In (C) ten, ihre Akten einzusehen. Es gibt natürlich Fälle, in de- den ursprünglichen Entwürfen, die zur Diskussion stan- nen die Gewährung von Akteneinsicht die Ermittlungen den, waren sehr starke Einschränkungen der Außenkon- und damit den Zweck der Untersuchungshaft gefährden takte des Häftlings vorgesehen. Sie sind in dem von Ih- würde. In solchen Fällen kann die Staatsanwaltschaft die nen vorgelegten Gesetzentwurf zu einer Vorgehensweise Akteneinsicht verweigern. Trotzdem muss der Untersu- zurückgekehrt, die mir sehr gut gefällt, nämlich dass im chungsgefangene oder sein Verteidiger jedenfalls die In- Einzelnen geprüft wird, ob eine Notwendigkeit zur Be- formationen bekommen, die notwendig sind, um die schränkung der Außenkontakte besteht. Das muss dann Rechtmäßigkeit der Inhaftierung beurteilen zu können. auch ausdrücklich angeordnet werden. Das entspricht Das ist auch ein Gebot der Waffengleichheit; denn wenn meines Erachtens dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, das man über die Gründe nicht Bescheid weiß, kann man ge- auch bei der Untersuchungshaft zu gelten hat. gen eine Inhaftierung keine gezielten Rechtsmittel er- greifen. (Beifall bei der FDP und der SPD) Ich denke, es wird deutlich, dass dieser Gesetzent- Es gibt einen Punkt, zu dem sich der Gesetzentwurf wurf ein echter Gewinn an Rechtsstaatlichkeit ist. Wir nicht verhält, auf den ich aber gerne eingehen möchte, stärken die Rechte der Betroffenen und stellen klare und weil er immer wieder Gegenstand von Entscheidungen praxistaugliche Regeln auf. Wir schaffen damit eine gute des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wie Balance zwischen der Unschuldsvermutung, die für Un- auch des Bundesverfassungsgerichts ist: die Länge der tersuchungsgefangene gilt, und dem Bedürfnis des Staa- Untersuchungshaft. Das muss einem tatsächlich Sorge tes nach einer wirksamen Strafverfolgung. machen. Ich will nicht verhehlen, dass hier durchaus zwei Seelen in meiner Brust wohnen. Wenn man wie ich Ich danke Ihnen. aus der staatsanwaltschaftlichen Praxis kommt, dann (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) weiß man, dass die Länge der Untersuchungshaft manchmal gar nicht von der Justiz beeinflusst werden kann. Wenn man als die Ermittlung führender Staatsan- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: walt oder Oberstaatsanwalt immer wieder den Gutachter Nächster Redner ist der Kollege Jörg van Essen für mahnt, endlich sein Gutachten vorzulegen – das Gutach- die FDP-Fraktion. ten ist für eine Anklageerhebung dringend erforderlich –, (Beifall bei der FDP) (Dr. Peter Danckert [SPD]: Es ist präjudizierend!) Jörg van Essen (FDP): (B) – richtig – und wenn man alles unternommen hat, statt (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! die Hände in den Schoß zu legen, es aber trotzdem zu ei- Ich freue mich, dass die Bundesregierung diesen Gesetz- ner langen Untersuchungshaftzeit gekommen ist, fällt es entwurf vorgelegt hat. Trotzdem will ich daran erinnern, einem manchmal schwer, einzusehen, wenn das Ober- dass ich bei meiner grundsätzlichen Kritik bleibe. Die landesgericht feststellt – wie es mir passiert ist –, dass Entscheidung im Rahmen der ersten Föderalismusre- das nicht akzeptabel ist. form, wonach die Gesetzgebung für den Strafvollzug auf die Länder übergegangen ist und nur noch das Ob nach (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Bundesrecht entschieden wird, halte ich weiter für NEN]: Aber das ist doch klar, weil der Be- falsch. schuldigte nichts dafür kann!) (Beifall bei der FDP, der SPD, dem BÜND- – Dazu komme ich noch. Deswegen habe ich darauf hin- NIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN) gewiesen, dass das am Anfang, wenn man die Ermitt- lung führt, schwer einzusehen ist, vor allen Dingen, Das ändert aber nichts daran, dass das, was die Bun- wenn der Beschuldigte – beispielsweise weil er weiß, desregierung jetzt vorgelegt hat, ein Schritt in die rich- dass ihn eine lebenslange Haft erwartet – schon alles or- tige Richtung ist; er wird von uns ganz außerordentlich ganisiert und gar keine Unterkunft mehr hat. Aber ich begrüßt. Herr Staatssekretär, ich sehe das genauso wie teile das, was Sie gesagt haben, völlig. Wenn man das Sie. Es ist gut, dass diejenigen, die in Untersuchungshaft Ganze nicht mehr mit professioneller Betroffenheit, son- kommen und für die weiter die Unschuldsvermutung dern mit etwas Abstand sieht – insofern bin ich für Ihren gilt, über das unterrichtet werden, was ihnen vorgewor- Einwand dankbar –, wird deutlich, dass der Betroffene fen wird, dass sie Anspruch darauf haben, dass ihnen ein nichts dafür kann. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass Exemplar des Haftbefehls ausgehändigt wird, und die Gerichte, insbesondere die Obergerichte, in diesem – auch das ist sehr wichtig – dass dies dem Häftling, Punkt sehr streng sind. wenn er der deutschen Sprache nicht mächtig ist, in sei- ner Heimatsprache oder einer ihm verständlichen Spra- Ich hätte mir gewünscht – vielleicht können wir das in che vorgetragen werden muss. den Berichterstattergesprächen tun –, dass wir uns, wenn (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: es schon zu einer Reform des Untersuchungshaftrechts Das fehlt ja noch im Gesetzentwurf!) kommt, auch damit befassen, wie wir dem Problem der zu langen Untersuchungshaftzeit in unserem Land, die Ich glaube, dass das ein wichtiger und richtiger Schritt häufig und auch zu Recht kritisiert worden ist, begegnen ist. können. 22198 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Jörg van Essen (A) (Beifall bei der FDP) ten nach drei Monaten verbüßter Untersuchungshaft ei- (C) nen Verteidiger. Ich habe genügend Erfahrung damit: Das werden wir als FDP-Bundestagsfraktion in die Bera- Nach drei Monaten braucht der Verteidiger gar nicht tungen einbringen. mehr anzutreten. Die sozialen Kontakte und das Arbeits- Insgesamt halten wir – das möchte ich abschließend verhältnis sind weg. Das Mietverhältnis ist aufgelöst. als Fazit festhalten – diesen Gesetzentwurf für einen Daher ist in der ersten Sekunde der Festnahme die Ver- Schritt in die richtige Richtung. Ich habe das Gefühl, teidigung das Allerwichtigste. dass alle Fraktionen gemeinsam etwas verbessern wol- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP len. Wenn der Wille da ist, sollten wir das auch nutzen, und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie um zu einem Ergebnis zu kommen, das dem Rechtsstaat bei Abgeordneten der LINKEN) Bundesrepublik Deutschland dient. Wir müssen den Gesetzentwurf, was diesen Bereich Vielen Dank. angeht, kritisch betrachten. Der Gesetzgeber hat im Ge- (Beifall bei der FDP und der SPD) setzentwurf versucht, dieses Problem zu lösen. § 147 Abs. 7 der neuen Fassung der Strafprozessordnung sieht Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: vor, dass der nicht durch einen Verteidiger vertretene In- haftierte über seine Rechte angemessen informiert wird. Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Sieg- Diese Krücke wird nicht helfen; denn mancher wird fried Kauder das Wort. nicht am Wohnort, sondern zum Beispiel irgendwo in (Beifall bei der CDU/CSU) Norddeutschland – weil er sich dort gerade aufhält – in Haft genommen, obwohl er in Süddeutschland lebt. Auf Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ dem sogenannten Schubweg braucht er etwa 14 Tage, CSU): bis er an seinem Wohnortgefängnis angekommen ist. Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kollegin- Wer will ihn dabei informieren? Das heißt, wir müssen nen! genau diese Lücke im Gesetz schließen. Ich danke dem Kollegen Danckert. Wir beide unterstützen das Anlie- Untersuchungshaft ist Freiheitsberaubung gegen- gen, dass dort, wo U-Haft angeordnet wird, ein Pflicht- über einem Unschuldigen. verteidiger beizuordnen ist, und zwar sofort, nicht erst nach drei Monaten. Das ist kein Ausspruch von mir – auch wenn er von mir sein könnte –, sondern eine Schlussfolgerung des ehe- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem maligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsge- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. (B) richts, Hassemer, im Strafverteidiger 1984, Seite 38 ff. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger [FDP]) (D) Untersuchungshaft ist die einschneidendste strafpro- Die Freiheitsentziehung beginnt aber nicht erst mit zessuale Maßnahme, die man sich vorstellen kann. Völ- der Anordnung von Untersuchungshaft. Nach § 128 der lig unvorbereitet wird ein Tatverdächtiger, für den die Strafprozessordnung kann die Polizei nach vorläufiger Unschuldsvermutung gilt, in Haft genommen. Sich aus Festnahme einen Bürger, gegen den Tatverdacht besteht, der Haft heraus zu wehren, ist außerordentlich schwie- bis zu 48 Stunden in Polizeigewahrsam halten. Auch rig. Deswegen nimmt jemand, der es sich leisten kann, dort muss schon interveniert werden. Nach geltendem einen Anwalt. Der Anwalt muss aber rechtzeitig Infor- Recht mussten die Familienangehörigen erst ab der An- mationen haben. Nach geltendem Recht konnte man ordnung von Untersuchungshaft informiert werden. Das dem Strafverteidiger, der unmittelbar nach der Verhaf- wird im neuen Gesetz anders geregelt. Sofort nach der tung mandatiert wurde, Akteneinsicht verwehren, weil vorläufigen Festnahme sind die Familienangehörigen zu der Ermittlungszweck dem entgegenstand. Hier hilft das informieren. Sie leben also nicht 48 Stunden im Unge- neue Gesetz deutlich. Danach müssen dem Strafverteidi- wissen. ger die Aktenteile sofort zur Verfügung gestellt werden, die er benötigt, um die Rechtmäßigkeit der Anordnung Wir müssen aber nicht nur regeln, dass der Festge- der U-Haft zu beurteilen. nommene sofort nach der vorläufigen Festnahme belehrt wird, dass er einen Verteidiger in Anspruch nehmen (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kann. Vielmehr soll all das, was Kollege Danckert und NEN]: Genau das steht nicht drin!) ich uns wünschen, schon für den Bereich der vorläufigen Festnahme gelten. Auch dann soll der Bürger einen An- – Genau das steht drin, Herr Kollege. spruch auf einen Pflichtverteidiger haben, der angemes- An dem, was ich gerade geschildert habe, merkt man sen informiert werden muss. aber, dass wir im Bereich des Untersuchungshaftrechtes (Beifall bei der SPD) ein Zweiklassenwahlrecht haben. Derjenige, der es sich wirtschaftlich leisten kann, nimmt sich einen versierten Der Kollege Montag nickt gefällig. – Das ist eine Forde- Verteidiger. Nach dem in Diskussion stehenden Gesetz rung, die Strafverteidiger seit langem erheben. Wir wis- bekommt der Verteidiger sofort Akteneinsicht und kann sen, dass das den Ländern Kosten verursachen wird. sich für seinen Mandaten gegen die Inhaftierung zur Aber es steht in Diskussion, die Tagessatzhöhen bei Wehr setzen. Aber was macht derjenige, der das Geld für Geldstrafen, die bisher nach § 40 Abs. 2 des Strafgesetz- einen Verteidiger nicht hat? Nach geltendem Recht be- buches bei 5 000 Euro enden, deutlich anzuheben. Man kommt er in aller Regel bei nicht allzu schweren Delik- denkt darüber nach, die bisherige Obergrenze von 5 000 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22199

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (A) Euro auf 30 000 Euro anzuheben. Das ergibt für die Län- jahrzehntealten Debatte widerspiegeln müsste. Aber der (C) der die Möglichkeit finanzieller Mehreinnahmen, die Entwurf greift diese Vorschläge mit keinem einzigen man sehr wohl für eine Pflichtverteidigerbestellung ein- Wort auf. Er beschäftigt sich nicht mit ihnen; sie werden setzen kann. schlicht ignoriert. Stattdessen – das lesen wir in der Be- gründung – wird krampfhaft ausgeführt und beteuert, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dass die Regierung und die Koalition nicht mehr kodifi- NEN]: Auch da nicke ich gefällig!) zieren möchten, als seit Jahrzehnten in der Untersu- Vielleicht kann man von diesen Mehreinnahmen noch chungshaftvollzugsordnung sowieso schon stehe. Dazu eine Forderung der Opfer erfüllen, deren Erfüllung bis- kommt noch das Eingeständnis, dass man nachvollzie- her am Widerstand der Länder gescheitert ist: 10 Prozent hen will, wozu die Bundesrepublik Deutschland inzwi- der Geldstrafen für opferschützende Organisationen. schen von internationalen Organisationen gezwungen wird. Sie, Herr Staatssekretär, haben die Entscheidungen Sie sehen also: Wenn man will, dann ist einiges mach- des Europäischen Ausschusses zur Verhütung von Folter bar. Ich würde mich auf eine weitere Unterstützung un- und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung seres Anliegens einer vorgelagerten Pflichtverteidiger- oder Bestrafung zitiert. Es gibt auch Entscheidungen des bestellung freuen. Wir werden das im Rechtsausschuss Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Das, debattieren können. was von diesen Organisationen von Deutschland ver- Ich habe Ihnen zwei Minuten und 57 Sekunden Rede- langt wird, wird mit diesem Gesetzentwurf implemen- zeit erspart. tiert – auch da nicht vollständig –, aber nichts mehr. Es fehlt unendlich viel. Vielen Dank. Ich will kurz das Wichtigste nennen. Wir brauchen (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der eine feste Begrenzung der Dauer der Untersuchungshaft. SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der Herr Kollege van Essen, Sie haben das angedeutet. Wir LINKEN) brauchen eine Beiordnung der Verteidigung ab dem ers- ten Tag der U-Haft; Herr Kollege Kauder, darin sind wir Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: uns einig. Ich hoffe, dass das Parlament die Kraft haben Herr Kollege Nešković hat seine Rede zu Protokoll wird, das tatsächlich durchzusetzen. Wir brauchen die gegeben1). volle Akteneinsicht in den Fällen der U-Haft. Herr Damit hat der Kollege Jerzy Montag für die Fraktion Staatssekretär Hartenbach meinte, dass nach der jetzt Bündnis 90/Die Grünen das Wort. vorgeschlagenen Regelung die Akten zur Verfügung zu stellen sind, die die U-Haft begründen. (B) (D) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär: Das Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! habe ich nie gesagt!) Bedingungen und Grenzen der Beschneidung der Frei- Im Text des Gesetzentwurfs heißt es, es seien der Vertei- heit im Rahmen der Untersuchungshaft aufzeigen – das digung „die für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der ist das, was ein Gesetz zur Reform der Untersuchungs- Freiheitsentziehung wesentlichen Informationen in ge- haft leisten müsste. Dabei – ich stimme Ihnen völlig zu, eigneter Weise zugänglich zu machen“. Das ist eine Ka- Herr Kollege Kauder – streitet für den nicht rechtskräftig rikatur des Rechts auf Akteneinsicht und eine Karikatur verurteilten Beschuldigten die Unschuldsvermutung. der unabhängigen Verteidigung. Beschränkungen der Freiheit sind nur dann, wenn sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) unerlässlich sind, nur dann, wenn sie auf gesetzlicher Grundlage erfolgen, und nur dann, wenn sie aufgrund Die Anordnungen der Freiheitsbeschränkungen müssen richterlicher Anordnung und richterlicher Durchführung schriftlich und begründet erfolgen. Ihre Ausführung erfolgen, zulässig. Wir haben aber stattdessen seit Jahr- durch die Staatsanwaltschaft wie auch die Polizei und zehnten nur § 119 Abs. 3 und Abs. 6 StPO und eine Ver- die Justizvollzugsanstalt bedarf der Zustimmung der Be- waltungsfiktion in der Untersuchungshaftvollzugsord- troffenen. nung, wonach jeder Ermittlungsrichter, der sich zu den Haftbedingungen der Untersuchungshaft nicht äußert, in Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: jedem einzelnen Fall fingiert alle Bestimmungen der Un- Herr Kollege, ich möchte Sie ungern unterbrechen, tersuchungshaftvollzugsordnung für diesen Beschuldig- aber der Kollege Hartenbach hat eine Zwischenfrage. ten anordnet. Gestatten Sie diese? In der Praxis ist seit Jahrzehnten über diese immer am Rande der Verfassungswidrigkeit schrammende Praxis Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): diskutiert worden. Wir haben seit Jahrzehnten Vor- Gerne. schläge zur Reform der Untersuchungshaft von Verbän- den, von Professoren und aus der wissenschaftlichen De- Alfred Hartenbach (SPD): batte. Ich finde, dass ein Gesetz zur Reform der Untersuchungshaft den Stand und das Niveau dieser Herr Kollege Montag, würden Sie als Jurist zur Kenntnis nehmen, dass das Recht auf Akteneinsicht seit etwa 100 Jahren in § 147 Abs. 1 StPO normiert ist? 1) Anlage 6 Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass ich nur 22200 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Alfred Hartenbach (A) darauf hingewiesen habe? Würden Sie außerdem zur Im Gesetzentwurf ist es wie folgt geregelt: Wird der (C) Kenntnis nehmen, dass die Beschränkung der Aktenein- Inhaftierte verteidigt, hat der Verteidiger ab der vorläufi- sicht ebenfalls seit langem – ich weiß jetzt nicht, ob auch gen Festnahme einen Anspruch auf Einsicht in die we- seit 100 Jahren – in § 147 Abs. 2 StPO normiert ist und sentlichen Aktenteile, die es ihm ermöglichen, die dass dieser Gesetzentwurf den Schritt vollzieht, dass Rechtmäßigkeit der Haftanordnung zu beurteilen. Was dem Inhaftierten und seinem Verteidiger auf jeden Fall Sie zitiert haben, betrifft den nicht verteidigten Inhaftier- ausreichende Informationen zur Verfügung gestellt wer- ten. Ihm kann man keine Aktenteile zur Verfügung stel- den, damit sie wissen, warum er in U-Haft sitzt, welche len; ich habe es in meiner Rede erwähnt. Deswegen be- Gründe dazu geführt haben? hilft man sich mit einer Krücke. Man sagt: Der nicht verteidigte Inhaftierte erhält Informationen, die ihm die Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Möglichkeit geben, die Rechtmäßigkeit der Verhaftung zu beurteilen. Da stellt sich die Frage, wie man ihm Lieber Herr Kollege und Staatssekretär Hartenbach, diese Informationen erteilt, wenn er 14 Tage „auf ich nehme als Allererstes zur Kenntnis, dass Sie in Ihrer Schub“ ist. Deswegen sage ich: Für ihn muss man einen Rede davon gesprochen haben, dass dem Verteidiger im Pflichtverteidiger bestellen. Falle einer Inhaftierung seines Mandanten diejenigen Aktenteile zur Verfügung gestellt werden Bitte, bringen Sie diese beiden Fallvarianten nicht durcheinander. – Wie ich sehe, nickt der Kollege. Also (Alfred Hartenbach [SPD]: Das habe ich nicht können wir uns auf diese Diktion einigen. gesagt! Zitieren Sie mich bitte korrekt!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- – doch; wortwörtlich haben Sie dies in Ihrer Rede gesagt –, neten der SPD) die die Untersuchungshaft begründen. (Alfred Hartenbach [SPD]: Nein, Sie gehen in Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): die Irre, Herr Kollege!) Ich will Ihre Frage nicht nonverbal, sondern verbal Jetzt hingegen reden Sie davon, dass lediglich Informa- beantworten. tionen in geeigneter Art und Weise zugänglich zu ma- (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] chen sind. [CDU/CSU]: Nonverbal ist auch gut!) Ich bleibe bei meiner Einschätzung, da in dem Ge- Ich bin sehr wohl bereit, mit Ihnen jede differenzierte setzentwurf überhaupt nicht klargestellt wird, in welcher sachliche Betrachtung nachzuvollziehen. Form dies zu geschehen hat, was geeignet und was we- (B) sentlich ist; das wird nicht normiert. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist (D) schon mal super!) (Alfred Hartenbach [SPD]: Darf ich mich wie- der hinsetzen?) Wenn es so ist, wie Sie es jetzt geschildert haben – dass der verteidigte Angeklagte über den Verteidiger und zu – Natürlich. – All dies bleibt in den Händen der Staats- Händen des Verteidigers die Aktenteile bekommt, in de- anwaltschaft. Deswegen ist dieser Gesetzentwurf sogar nen die Untersuchungshaft begründet ist –, dann wäre ein Rückschritt gegenüber der Rechtsprechung des Euro- der Gesetzentwurf die Wiedergabe der Mindestanforde- päischen Gerichtshofs für Menschenrechte. In der Praxis rungen der Europäischen Menschenrechtskonvention. wird es zurzeit so gehandhabt, dass diejenigen Akten- Leider ist in dem Gesetzentwurf bisher noch davon die teile, die die Haftgründe beinhalten, vorgelegt werden. Rede, dass die Verteidigung für die Beurteilung der Die Formulierung des Gesetzentwurfs fällt dahinter zu- Rechtmäßigkeit nur Informationen erhalten soll. rück. Ich schlage vor, dass wir darüber im Rechtsausschuss diskutieren. Dann können wir uns gegenseitig die Texte Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: vorhalten und uns überlegen, ob wir vielleicht gemein- Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen- sam zu der Überzeugung kommen, dass es, wenn sich frage, und zwar des Kollegen Kauder? ein Beschuldigter schon in Untersuchungshaft befindet, überhaupt keinen Grund mehr geben kann, dem Verteidi- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ger nicht die volle Akteneinsicht zu gewähren, weil dann Aber sehr gerne. Danke. eine Konterkarierung des Verfolgungszwecks aufseiten des Verteidigers überhaupt nicht möglich ist.

Siegfried Kauder (Villingen-Schwenningen) (CDU/ Wir sehen es so: Dieser Gesetzentwurf ist – bisher je- CSU): denfalls – nicht der große Wurf. Er enthält nur das Aller- Herr Kollege Montag, könnten wir uns auf eine diffe- mindeste dessen, was notwendig ist. Er reflektiert nicht renziertere Betrachtungsweise einigen? Es gibt den ver- die jahrzehntelange Diskussion über eine Reform des teidigten Inhaftierten, und es gibt den nicht verteidigten Untersuchungshaftrechts. Er muss in Zusammenarbeit Inhaftierten. Eines ist schon nach altem Recht so: Das aller Kolleginnen und Kollegen im Rechtsausschuss Recht auf Akteneinsichtnahme steht nicht dem Beschul- noch erheblich verbessert werden. digten persönlich zu, und zwar aus gutem Grund – es Danke. kann ja passieren, dass er Aktenteile entnimmt –, son- dern nur dem Verteidiger. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22201

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: befehl ausgestellt wird – Anspruch auf einen Pflichtver- (C) Nun hat für die SPD-Fraktion das Wort der Kollege teidiger haben. Das ist unverzichtbar. Das gehört sozusa- Dr. Peter Danckert. gen zum rechtsstaatlichen Standard, den wir gesetzlich normieren müssen. Dr. Peter Danckert (SPD): Wir schaffen in § 147 StPO eine neue Regelung. Hier Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- wird jetzt endlich etwas festgelegt, was uns das Bundes- gen! Der vorliegende Gesetzentwurf bietet uns eine Dis- verfassungsgericht schon vor Jahren vorgeschrieben hat. kussionsgrundlage. Er nimmt in einigen Bereichen Kor- Ich wundere mich sehr, dass das bisher noch nicht Ein- rekturen vor, die aus meiner Sicht – man muss es einfach gang ins Gesetz gefunden hat. Man könnte ja meinen, so sagen – überfällig waren. dass sich die Untergerichte, wenn das Bundesverfas- Die Norm des § 119 StPO, der bisher die Umstände sungsgericht eine Entscheidung zu der Frage trifft, was der Untersuchungshaft regelt, weist Defizite auf. Jetzt dem Anwalt des Beschuldigten bzw. dem Beschuldigten wird eine neue Rechtsgrundlage geschaffen, die dem in selbst zur Verfügung gestellt werden muss – dazu sind Untersuchungshaft Befindlichen rechtliche Möglichkei- grundlegende Entscheidungen getroffen worden –, da- ten eröffnet, sich gegen einzelne Maßnahmen zur Wehr nach richteten; sie tun es aber leider nicht. Deshalb ist es zu setzen. Das ist überfällig. richtig, dass wir das jetzt im Gesetz genau regeln. Es ist notwendig, dass die Angehörigen rechtzeitig in- Lieber Kollege Kauder – ich könnte noch viele andere formiert werden und nicht erst nach Wochen genau er- ansprechen –, auch hier legen wir viel Wert darauf, dass fahren, was Sache ist. Auch das ist überfällig; es soll es zu einer Gleichbehandlung des Verteidigten und des jetzt geregelt werden. Nichtverteidigten kommt. Das kann man nur erreichen, indem man dem Beschuldigten von der ersten Minute an Ich bin dem Kollegen Kauder sehr dankbar, dass er einen Verteidiger an die Seite stellt. zusammen mit mir eine Initiative gestartet hat. – Herr Kollege Kauder, ich habe das Bedürfnis, auch zu Ihnen (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem zu reden. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Siegfried Kauder [Villingen-Schwenningen] Dazu sind wir, die Gesellschaft, gegenüber jemandem, [CDU/CSU]: Herr Montag lenkt mich ab!) der als unschuldig gilt, verpflichtet. Erst wenn man im Umfeld, vielleicht bei einem Bekannten, miterlebt, dass – Dann schicken Sie ihn auf die Oppositionsbank. Was es in einer ganz speziellen Situation keine Möglichkeit macht der eigentlich bei der CDU/CSU? zur Verteidigung gibt, versteht man, wie unerlässlich es (B) (Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ ist, verteidigt zu werden. Ansonsten weiß man nämlich (D) gar nicht, wie man sich wehren kann und welche Rechte DIE GRÜNEN]: Textexegese! – Siegfried man hat. Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/ CSU]: Er liest das Gesetz!) Ich halte es an dieser Stelle auch für unverzichtbar – Macht das doch an anderer Stelle. – In einigen Berei- – das müssen wir im Rahmen der Ausschussberatungen chen besteht die Notwendigkeit, Defizite zu beseitigen, regeln –, dass die Informationen über das, was zur Ver- die seit langem vorhanden sind. Lieber Kollege Kauder, haftung geführt hat, auch dem nichtverteidigten Sie haben davon gesprochen, dass wir im Bereich des Beschuldigten gegeben werden – wir plädieren für Ver- Untersuchungshaftrechtes ein Zweiklassenhaftrecht ha- teidigung von der ersten Minute an – und damit Gleich- ben. Das haben wir in der Tat: Einerseits haben wir den stellung erfolgt. Schon als Strafverteidiger habe ich nicht Beschuldigten, der sich von der ersten Minute an einen verstanden, warum der unverteidigte Beschuldigte bis- Verteidiger leisten kann, welcher sich für ihn einsetzt her darauf verwiesen wird, dass er die Akten erst erhält, und ihn möglicherweise vor der Untersuchungshaft be- wenn er einen Verteidiger hat. wahrt; andererseits haben wir den nichtverteidigten Be- schuldigten, der festgenommen wird, in Untersuchungs- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: haft wandert und nach drei Monaten – das ist die jetzige Herr Kollege, darf ich Sie an die Redezeit erinnern? gesetzliche Regelung – möglicherweise Anspruch auf ei- nen Verteidiger hat. Das müssen wir dringend ändern. Dr. Peter Danckert (SPD): Es ist nicht so – das war vielleicht ein kleines Miss- Ja, die Redezeit. Ich nehme die Redezeit des Kollegen verständnis –, dass sich nur Unschuldige in Untersu- Nešković mit in Anspruch. chungshaft befinden. Untersuchungshäftlinge gelten als (Heiterkeit) unschuldig; das ist ein kleiner Unterschied. Es kann durchaus sein, dass Personen, die in Untersuchungshaft kommen, am Ende zu Recht bestraft werden; aber in der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Zeit, in der das noch nicht geklärt ist, gelten sie als un- So einfach geht es leider nicht. schuldig. In dieser Situation müssen sie maximale Rechte erhalten. Dazu gehört auch – der Kollege Dr. Peter Danckert (SPD): Dr. Miersch ist, glaube ich, derselben Auffassung –, dass Liebe Frau Präsidentin, es ist ja die letzte Rede für die Betroffenen von der ersten Minute ihrer vorläufigen heute. Unsere Gäste hier würden sich wundern, wenn Festnahme an – spätestens jedoch, wenn ihnen ein Haft- wir schon um 19.06 Uhr Feierabend machten. 22202 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Peter Danckert (A) (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Jetzt (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei (C) fängt er schon wieder an, zu handeln! – Sieg- Abgeordneten der FDP und der LINKEN) fried Kauder [Villingen-Schwenningen] [CDU/CSU]: Er ist nicht verteidigt! – Heiter- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: keit) Damit ist die Aussprache zu diesem Punkt geschlos- sen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent- Für all das habe ich Verständnis. Ich muss Sie trotz- wurfs auf Drucksache 16/11644 an die in der Tagesord- dem darauf hinweisen. nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Die Dr. Peter Danckert (SPD): Überweisung ist damit so beschlossen. Dann können Sie Ich denke, es ist richtig, dass der Beschuldigte jeder- alle das noch schön vertiefen. zeit weiß, was ihm konkret vorgeworfen wird und wo- rauf er sich einzustellen hat. Die bisherige Regelung Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: weist ja starke Defizite auf und wird im Übrigen häufig Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank auch missbraucht, weil nach § 147 Abs. 2 der Strafpro- Spieth, , Dr. Martina Bunge, weiterer zessordnung eine Akteneinsicht verwehrt werden kann, Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE wenn der Untersuchungszweck gefährdet erscheint. Eine Entscheidung hierüber unterliegt in der Regel der subjek- Entschädigungsregelung für durch Blutpro- tiven Brille des Staatsanwalts. Sie ist dann nicht einmal dukte mit HCV infizierte Bluter schaffen anfechtbar, sie kann selbst gerichtlich nicht überprüft wer- – Drucksache 16/11685 – den. Es kann allenfalls eine Dienstaufsichtsbeschwerde Überweisungsvorschlag: erhoben werden. Das ist aber meistens fruchtlos. Auch Ausschuss für Gesundheit (f) hier müssen wir also für mehr Rechtsstaatlichkeit sor- Haushaltsausschuss gen. Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re- Ich glaube, die unserer Beratung zugrunde liegende den zu Protokoll gegeben: Jens Spahn, Christian Klei- Vorlage sollte von uns dafür genutzt werden, eingehen- minger, Dr. Konrad Schily, Frank Spieth, Dr. Harald der über das Untersuchungshaftrecht nachzudenken. Terpe und Parlamentarischer Staatssekretär Rolf Schwa- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nitz. NEN]: Richtig!) (B) Jens Spahn (CDU/CSU): (D) Den Kollegen, die das vertieft tun wollen, empfehle ich Die Infektionen mit dem Hepatitis-C-Virus (HCV) in meine grundlegenden Ausführungen in den Mitteilungen den 1980er-Jahren, die durch die Anwendung von Blut- der Bundesrechtsanwaltskammer aus dem Jahre 1988, produkten ausgelöst wurden, haben vor allem die Gruppe (Heiterkeit) der Hämophilen betroffen, die aufgrund ihrer Erkran- kung regelmäßig auf die Gabe von Blutplasmaprodukten die ich als Mitglied des Strafrechtsausschusses der Bun- angewiesen sind. Aber auch andere Patienten sind durch desrechtsanwaltskammer gemacht habe. Blutprodukte mit dem HCV infiziert worden. Uns ist die (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Tragik dieser Infektionen für die Betroffenen sehr bewusst NEN]: Davon habe ich gesprochen, Herr Kol- und unser Mitgefühl gilt den Menschen, die mit dem HC- lege Danckert!) Virus infiziert wurden. Sie und ihre Angehörige hatten und haben eine große gesundheitliche und psychische Be- lastung zu tragen. Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Herr Kollege, wir werden das alles nachlesen. Einen Grund für eine staatliche Entschädigungsrege- lung, wie sie nun im vorliegenden Antrag gefordert wird, Dr. Peter Danckert (SPD): sehe ich jedoch nicht. Eine Entschädigungsregelung des Wir sollten diese Ausführungen im Übrigen in unsere Bundes kann es nur geben, wenn staatliche Rechts- oder Beratungen einbeziehen. Prüfungsaufsichten verletzt wurden. Eine staatliche Ver- antwortung für die HCV-Infektionen, die haftungsrecht- Ich bedanke mich für Ihre Geduld, nicht zuletzt bei lich relevant wäre oder die Verpflichtung zu einer Ent- den Schriftführerinnen. schädigung auslösen würde, trifft die Bundesrepublik Deutschland aber nicht. Im Ergebnis wird meine Ansicht (Dirk Manzewski [SPD]: Auch bei uns! – Mi- auch von der Rechtsprechung geteilt, welche in den bis- chael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Auch bei herigen Verfahren die Entschädigungsansprüche gegen uns!) den Bund unter anderem aufgrund mangelnder Kausali- – Selbstverständlich auch bei Ihnen, liebe Kolleginnen tätsnachweise ablehnt. und Kollegen. – Ich hoffe auf eine fruchtbare, intensive Ein Staatsversagen lässt sich auch deshalb nicht ein- und weiterführende Beratung sowie dann eine gute Ent- deutig feststellen, da es sich bei dem Infektionsgeschehen scheidung des deutschen Parlaments. zum damaligen Zeitpunkt wohl – so hart das klingt – um Vielen Dank. unvermeidbare Ereignisse handelte. Schließlich ließ sich Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22203

Jens Spahn (A) bis weit in die 80er-Jahre kein Verfahren finden, welches die Gespräche mit den genannten Partnern, darunter na- (C) eine Infizierung von Blutprodukten mit HC-Viren voll- türlich auch den betroffenen Patientenverbänden, fort- ständig ausschließen konnte. Auch die häufig angeführte setzt und vertieft. sogenannte ALT-Testung und andere damals bekannte Verfahren waren nicht hinreichend spezifiziert, um eine Christian Kleiminger (SPD): sichere Aussage über die Durchseuchung mit HCV zu treffen. Darüber hinaus war die seit 1976 in Deutschland Wir sprechen heute über den Antrag der Fraktion Die vorgeschriebene ALT-Testung ohne nennenswerten Einfluss Linke mit dem Titel „Entschädigungsregelung für durch auf das Infektionsgeschehen bei Hämophilen, da diese Blutprodukte mit HCV infizierte Bluter schaffen“. Auch Patientengruppe mit Plasmapräparaten behandelt wird, wenn das Schicksal der von einer durch Blutprodukte ver- bei deren Herstellung tausende Einzelspenden gepoolt ursachten Hepatitis-C-Infektion betroffenen Patienten- werden. Der unvermeidliche HCV-Eintrag in Plasma- gruppe bislang in dieser Legislaturperiode noch nicht pools basiert hauptsächlich auf chronisch HCV-infizier- Gegenstand einer Plenardebatte war, so haben wir uns ten Personen, die meist nur sporadisch ALT-Erhöhungen doch auch als Parlamentarier zu verschiedenen Gelegen- aufweisen. Erst durch den spezifischen Anti-HCV-Test heiten – im Ausschuss und auch im Berichterstatterge- konnten endlich die HCV-positiven Spenden identifiziert spräch und ich auch persönlich in Gesprächen mit Be- werden. troffenen – ausführlich mit der Problematik befasst. Ich will ausdrücklich sagen, dass es sich hier jenseits aller Die häufige Bezugnahme in der Argumentation für fachlichen und juristischen Erwägungen auch mensch- eine Entschädigungsregelung auf die finanzielle Hilfe für lich um eine außerordentlich schwierige Materie handelt. die durch Blutprodukte HIV-infizierten Personen, wie sie Ich meine allerdings, dass die Linke mit ihrem Antrag der auch im vorliegenden Antrag genommen wird, führt im Komplexität der mit einer Entschädigungsregelung ver- Zusammenhang mit der Entschädigungsforderung für bundenen Fragen und der Verantwortung gegenüber den HCV-Infizierte zu Verwirrung. Der vom Deutschen Bun- betroffenen Menschen nicht gerecht wird. Auch die Be- destag eingesetzte 3. Untersuchungsausschuss „HIV-In- gründung ihres Antrages weist unzulässige Verkürzungen fektionen durch Blut und Blutprodukte“ in der 12. Legis- auf. laturperiode erhob die Forderung nach einer finanziellen Unterstützung für die durch Blutprodukte HIV-Infizier- Um es aber deutlich zu sagen: Keiner möchte das Leid, ten, welche der Bund auch direkt erfüllte. Eine Entschä- das den Betroffenen durch eine Infizierung mit Hepati- digungsregelung oder humanitäre Hilfe für die durch tis C entstanden ist, leugnen: HCV ist eine – meist chro- Blutprodukte mit Hepatitiserregern infizierten Personen nisch verlaufende – Krankheit, die auch zu schwerwie- forderte er jedoch nicht. Insofern stellt sich die Sachlage genden Erkrankungen wie Leberzirrhosen oder auch Le- (B) bei den HIV-Infektionen anders dar. Es wurde eindeutig berkarzinomen führen kann. Der Leidensweg vieler (D) eine seinerzeitige Verantwortung des Staates durch den Erkrankter macht mich persönlich betroffen. Dennoch ist Untersuchungsausschuss zugewiesen. Zudem ist eine es nicht korrekt, wenn man die von Hepatitis C betroffene HIV-Infektion trotz aller Fortschritte in der medizini- Patientengruppe undifferenziert mit derjenigen Gruppe schen Behandlung im Gegensatz zur HCV-Infektion noch gleichsetzt, die mit dem HI-Virus infiziert wurde, auf- immer in jedem Fall ein Todesurteil. Auch dies muss zu grund dessen 1995 die „Stiftung Humanitäre Hilfe für einer anderen Bewertung führen. Wichtig ist es, in jedem durch Blutprodukte infizierte Menschen“ eingerichtet Fall sicherzustellen – und das ist bei uns in Deutschland wurde. Denn bei Aids handelte es sich damals, als die Stif- auch sichergestellt –, dass die HCV-Infizierten Zugang zu tung gegen den anfänglichen Widerstand unter anderem einer flächendeckenden, hochwertigen Versorgung haben. der Pharmaindustrie eingerichtet wurde, um eine in je- dem Falle tödlich verlaufende Krankheit. Allein deshalb Bei Verweisen auf Entschädigungsregelungen anderer war eine schnelle, unbürokratische Hilfe durch die Stif- Länder muss dieser Punkt differenziert betrachtet wer- tung, an der sich Bund, Länder, die Pharmaindustrie und den. Diese Länder weisen eine im Vergleich zur Bundes- die Blutspendedienste beteiligten, so wichtig. Und auch republik abweichende staatliche Verantwortung für das heute, wo der Krankheitsverlauf bei Aids mehr und mehr Gesundheitswesen und die Versorgung von Patienten auf. chronisch wird, sind die modernen Therapien weiterhin Anbieter der Blutprodukte sind innerhalb Deutschlands mit ganz erheblichen Nebenwirkungen und hierdurch weitgehend private Unternehmen oder Einrichtungen, auch mit einer Beeinträchtigung in der Lebensqualität welche nach der Rechtsverordnung der Bundesrepublik verbunden. Deutschland grundsätzlich eigenverantwortlich handeln und zivil- und strafrechtlich verantwortlich sind. Auch die Entgegen der Behauptung der Fraktion Die Linke gibt stationäre und ambulante Versorgung der Bevölkerung es auch keinen zwingenden Nachweis dafür, dass im frag- ist in der Bundesrepublik weitgehend nicht staatlich or- lichen Zeitraum in den 70er- und 80er-Jahren nach dem ganisiert. damaligen allgemeinen Kenntnisstand tatsächlich und nachweisbar eine Infizierung mit HCV tatsächlich hätte Zu erwähnen ist aber auch, dass die Bundesregierung verhindert werden können. Insoweit macht man es sich wiederholt um eine gemeinsame Initiative für humanitäre auch zu einfach, diese Problematik allein aus der heuti- Hilfe für durch Blutprodukte HCV-infizierte Personen bei gen Sicht zu betrachten, mit dem Wissen, den Möglichkei- den Unternehmen der pharmazeutischen Industrie, den ten und der Medizin von heute. Blutspendediensten des Deutschen Roten Kreuzes und den Ländern bemüht war, jedoch bei diesen auf Ableh- Um die Betroffenen nicht mit ihrem Schicksal allein zu nung stieß. Es ist zu wünschen, dass die Bundesregierung lassen, haben wir in der Vergangenheit die Bemühungen

Zu Protokoll gegebene Reden 22204 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Christian Kleiminger (A) der Bundesregierung für eine humanitäre Hilfe unter- die Pharmaindustrie, die Behandler und die Blutspende- (C) stützt. Alle Bemühungen, mit dem Roten Kreuz, der phar- dienste. Das behauptet nicht die Linke, sondern das hat mazeutischen Industrie und den Ländern zu einer ge- der Bundestag bereits 1994 durch einen Untersuchungs- meinsamen freiwilligen Regelung zu kommen, scheiterten ausschuss festgestellt. Dennoch haben die Bundesregie- jedoch, und dies bereits zu Zeiten, als die Grünen die rungen Kohl, Schröder und Merkel bisher diesen Men- Bundesgesundheitsministerin stellten. schen eine Entschädigungsregelung verweigert. Mir ist übrigens trotz intensiver Recherche keine Ini- Wie kam es dazu? Blutern fehlt ein Gerinnungsstoff, tiative aus jenen Jahren bekannt, in denen die PDS das sodass sie bei geringsten Verletzungen verbluten können. Gesundheitsressort in meinem Bundesland Mecklenburg- Seit den 1960er-Jahren kann man ein Gerinnungsmittel Vorpommern innehatte. Dazu wäre damals doch ausrei- aus Blutspenden gewinnen und als Medikament einset- chend Gelegenheit gewesen. zen. Dieses Medikament hatte aber die Folge, dass sich Der Antrag der Fraktion Die Linke ist deshalb wohl Bluter mit Krankheiten der Blutspender infizierten. Seit dem bevorstehenden Wahlkampf geschuldet. Dafür ist 1977 gab es aber ein funktionierendes Verfahren, mit dem mir allerdings die Sache zu ernst. Im Interesse der Betrof- man Spenderblut behandeln konnte und gefährliche Viren fenen sollten wir nicht weiter Hoffnungen schüren, die in wie das Hepatitis-C-Virus oder auch HIV abtöten konnte. Form von Entschädigungszahlungen – durch den Bund Nach Tests und Arzneimittelzulassungsverfahren hätten allein – nicht erfüllt werden können. die alten, verseuchten Medikamente ab 1982, 1983 nicht mehr verabreicht werden dürfen. Aber die betroffenen Bluter wurden teils in den Praxen und in den Kranken- Dr. Konrad Schily (FDP): häusern bis 1987 weiter damit behandelt. Erst 1989 Die FDP-Bundestagsfraktion bedauert sehr, dass es im wurde die Virusinaktivierung zur Auflage gemacht. Rahmen der lebensnotwendigen Therapie von überwie- gend an Hämophilie erkrankten Patientinnen und Patien- Bis dahin infizierten sich mehrere Tausend Menschen ten durch die Anwendung von mit HCV-Viren verseuchtem mit HIV und HCV – oder beiden Viren. Für die mit HIV Blut bzw. verseuchten Blutprodukten zu HCV-Infektionen infizierten Menschen wurde infolge des Untersuchungs- gekommen ist. Je nach Ausprägungsgrad der Krankheit ist berichts völlig zu Recht das HIV-Hilfegesetz auf den Weg für die Betroffenen hieraus zum Teil großes Leid entstanden, gebracht. Für diese Gruppe gab es nun eine Entschädi- und sie müssen zahlreiche Einschränkungen ihres Lebens in gungsregelung. Nicht jedoch für die mit HCV Infizierten. Kauf nehmen. Die Linke hat dieses Thema im Gesundheitsausschuss Die immer wieder diskutierte Frage, ob diese Infektio- schon mehrfach zur Sprache gebracht und fordert für die nen zum damaligen Zeitpunkt hätten vermieden werden Betroffenen eine Lösung. Dafür gab es auch durchaus (B) können, darf nicht anhand der heute vorhandenen Erkennt- Sympathien bei den anderen Oppositionsfraktionen. (D) nisse beantwortet werden. Vielmehr müssen die damalige CDU/CSU und SPD und die Bundesregierung wehren Situation und die damaligen Erkenntnisse berücksichtigt sich jedoch dagegen. Es bestehe keine haftungsrechtliche werden. Hier geht der Antrag der Linken fehl. Eine staat- Verpflichtung für eine Entschädigung, außerdem sei die liche Verantwortung, die zu haftungsrechtlichen Entschä- Pharmaindustrie nicht bereit, etwas zu zahlen. Die ein- digungsansprüchen führen würde, ist nach Angaben des zige Schlussfolgerung, die das SPD-geführte Gesund- Bundesgesundheitsministeriums nicht gegeben. Gerichts- heitsministerium daraus gezogen hat: Die Betroffenen verfahren haben in dieser Hinsicht nichts anderes ergeben. wurden eingeladen. Es wurde ihnen aber lediglich er- klärt, warum Koalition und Regierung keine Entschädi- Der 3. Untersuchungsausschuss in der 12. Legislaturpe- gungslösung beabsichtigen. riode „HIV-Infektionen durch Blut und Blutprodukte“ hat in seinem Schlussbericht im Gegensatz zu den HIV-Infizierten Es drängt sich der Eindruck auf: Hier wird auf Zeit ge- für die HVC-Infizierten keine konkreten Forderungen für spielt und auf die biologische Lösung des Problems. Denn eine Entschädigung oder humanitäre Hilfen aufgestellt. Aus nach einer österreichischen Studie verkürzt eine HCV-In- Anteilnahme an dem Schicksal der Betroffenen ist dennoch fektion das Leben um etwa 18 Jahre. In meinen Augen ist auch auf Betreiben der FDP wiederholt der Versuch unter- die Untätigkeit der Bundesregierung ein Skandal. nommen worden, in Analogie zu dem HIV-Hilfefonds zusam- men mit den pharmazeutischen Unternehmen, den Blutspen- Nicht nur in Deutschland gab es diese Infektionen, dediensten des Deutschen Roten Kreuzes und den Ländern sondern in vielen Ländern. Diese gehen anders mit der zu einer einvernehmlichen Lösung im Sinne der Betroffenen Situation um, zum Beispiel Irland, Großbritannien, Ita- zu kommen. Dies ist jedoch leider nicht gelungen. Es ist auch lien, Spanien, Schweden und Ungarn. Dort wurden Ent- nicht zu erwarten, dass sich an dieser Haltung im Hinblick schädigungsregelungen eingeführt. Anfang 2008 ist auch auf die Beurteilung der Situation etwas ändern wird. Inso- Japan nachgezogen. Dort hat die Regierung ihre Verant- fern werden mit dem Antrag falsche Hoffnungen geweckt. wortung für die Infektionen ausdrücklich anerkannt, bei den Betroffenen um Entschuldigung gebeten und eine Einmalzahlung von bis zu etwa 250 000 Euro beschlos- Frank Spieth (DIE LINKE): sen. Und vor wenigen Wochen hat auch Frankreich eine In den 1980er-Jahren wurden einige Tausend Men- Entschädigung beschlossen. schen durch einen Arzneimittelskandal mit dem Hepati- tis-C-Virus, HCV, der zu schweren Krankheiten führt, in- Die Fraktion Die Linke fordert deshalb erstens eine fiziert. Verantwortlich für diesen Skandal waren in der umfassende Entschädigungslösung, zweitens an dieser Bundesrepublik Deutschland das Bundesgesundheitsamt, Entschädigungslösung die Pharmaindustrie zu beteili-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22205

Frank Spieth (A) gen, drittens die Entschädigung rückwirkend zu zahlen. Geschehene nicht mehr kategorisch leugnet, und ein (C) Viertens. Alternativ zu monatlichen Zahlungen könnten überfälliger Ausdruck des Bedauerns. auch einmalige Abfindungen gezahlt werden. Der Untersuchungsausschuss zu HIV und Aids hat Kurz: Die Linke fordert die Bundesregierung auf, um- 1995 klare Versäumnisse des damaligen Bundesgesund- gehend zu handeln und dem japanischen und den euro- heitsamtes festgestellt. Auf dieser Grundlage wurde eine päischen Beispielen zu folgen. Entschädigungsregelung für diejenigen Menschen ge- schaffen, die sich durch verseuchte Blutprodukte mit HIV Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): infiziert hatten. Ursache dieser Infektionen waren exakt dieselben Versäumnisse, die zur Infektion der Hämophi- Man muss sich fragen, warum wir heute – 25 Jahre lieerkrankten mit Hepatitis C führten. nachdem sich hunderte Bluter durch ein staatliches Ver- säumnis mit Hepatitis C infizierten – noch darüber debat- Es ist eine Missachtung des Parlaments, dass die Bun- tieren müssen, ob diesen Betroffenen eine Entschädigung desregierung die Erkenntnisse dieses parlamentarischen gewährt werden sollte oder nicht. Die Antwort liegt ei- Untersuchungsausschusses ignoriert. Und es ist eine gentlich auf der Hand. Ich begrüße, dass sich die Linke Missachtung des Parlaments, dass die Bundesregierung nunmehr der Forderung der Grünen anschließt, eine hu- seit Jahren versucht, den Sachverhalt immer weiter zu manitäre Entschädigung für durch Blutprodukte mit HCV vernebeln, statt eine gerechte Entschädigungslösung zu infizierte Bluter durchzusetzen. Unsere Fraktion hat be- schaffen. Es ist vor allem aber eine Ungeheuerlichkeit, reits im letzten Jahr einen entsprechenden Antrag einge- wie die Bundesregierung Tatsachen leugnet und diesen bracht, der sich weitgehend mit den Forderungen des Menschen Gerechtigkeit verwehrt. Fiskalische Erwägun- heute zur Debatte stehenden Antrags deckt. gen vermögen dieses sture Beharren nicht zu erklären ebenso wenig wie die Angst vor weiteren juristischen Die Auffassung der Bundesregierung, bei diesen Infek- Auseinandersetzungen. Mir drängt sich der Eindruck auf, tionen handele es sich um ein „unvermeidbares Ereig- dass es sich hier in erster Linie um einen verzweifelten nis“, ist nicht haltbar. Dies hat der Bericht des Untersu- Versuch der Gesichtswahrung handelt, die ein vor chungsausschusses „HIV-Infektionen durch Blut und 25 Jahren stattgefundenes staatliches Versagen einfach Blutprodukte“ eindeutig gezeigt. negieren will. Verlierer sind dabei die Betroffenen. Seit spätestens Anfang der 70er-Jahre wusste das Bun- Es ist an der Zeit, eine gerechte Entschädigungsrege- desgesundheitsamt von der Gefahr, dass eine virale (Non A/ lung zu schaffen und dabei alle damals beteiligten Ak- Non B-)Hepatitis durch infizierte Blutspenden und Blut- teure – den Bund, die Länder, pharmazeutische Unterneh- produkte übertragen werden konnte. Spätestens ab 1981 men und Blutspendedienste – einzubeziehen. Ein Vorbild standen alternativ virusinaktivierte Präparate zur Verfü- (B) gibt es dafür bereits: das 1995 beschlossene HIV-Hilfege- (D) gung, bei denen eine solche Gefahr nicht bestand. Den- setz. Ich fordere daher die Kollegen von den Koalitions- noch wurden bis 1985 auch weiterhin nicht inaktivierte fraktionen auf, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen und Produkte zugelassen, obwohl beispielsweise Faktor-VIII- sich schnellstmöglich für eine humanitäre Entschädigung Hochkonzentrate spätestens ab 1983 als bedenkliche Arz- der Erkrankten einzusetzen. neimittel hätten eingestuft und ihre Verkehrsfähigkeit ver- lieren müssen. Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär bei der Bun- Das Bundesgesundheitsamt ist damals auf dieses Ri- desministerin für Gesundheit: siko wiederholt hingewiesen worden. Dennoch verharrte Die Bundesregierung bedauert es sehr, dass in den es in seiner Untätigkeit – fast wie jetzt die Bundesregie- 70er- und 80er-Jahren durch Blutprodukte Patientinnen rung im Hinblick auf die Schaffung einer angemessenen und Patienten mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert worden Entschädigungsregelung. Das Bundesgesundheitsamt sind. Betroffen sind vor allem Bluter, die zu dieser Zeit mit hat es damals weder für notwendig erachtet, die Zulas- Gerinnungsfaktoren behandelt wurden. Es ist uns be- sung solcher Risikoprodukte zu widerrufen oder ruhen zu wusst, dass die Hepatitis C eine sehr schwerwiegende lassen, noch die Auflage erteilt, derartige Produkte zu- Krankheit sein und sich auch lebensbedrohlich auswirken künftig nur noch nach einer Inaktivierung auf den Markt kann. zu bringen. In diesem Zusammenhang ist es auch völlig unerheblich, ob damals bereits ein entsprechender Anti- Die Infektionsgeschehen sind in der Vergangenheit körpertest zur Verfügung stand oder nicht. Zu Recht hat wiederholt erörtert worden, insbesondere im Unter- der Untersuchungsausschuss zu HIV und Aids diese Un- suchungsausschuss „HIV-Infektionen durch Blut und tätigkeit auch im Falle der Infektionen mit Hepatitis C als Blutprodukte“ in der 12. Legislaturperiode, im Ausschuss schuldhafte Amtspflichtverletzung gewertet. für Gesundheit des Deutschen Bundestages – zuletzt im Frühjahr 2008 – sowie anlässlich verschiedener parla- Die Entschädigung der Menschen, die in diesem Zeit- mentarischer Anfragen und Anträge. raum infiziert wurden, ist dringend notwendig. Das Leid, dass diese Menschen durch ihre Infektion erfahren haben, Die Bundesregierung ist mit den Fraktionen der CDU/ kann nicht rückgängig gemacht werden. Aber angesichts CSU und SPD der Meinung, dass die HCV-Infektionen der bislang von der Bundesregierung gezeigten Verwei- durch Blutprodukte tragische, aber unvermeidliche Ereig- gerungshaltung wäre der Einsatz für eine solche Entschä- nisse gewesen sind. Eine staatliche Verpflichtung zu einer digung auch und in erster Linie ein Zeichen politischer Entschädigung oder humanitären Hilfe besteht nicht. Das Reife, weil sie die staatliche Mitverantwortung für das haben Gerichtsentscheidungen bestätigt. Und auch der

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Parl. Staatssekretär Rolf Schwanitz (A) Bericht des damaligen Untersuchungsausschusses des notariat beschließen. Dies begrüße ich aus mehreren (C) Deutschen Bundestages „HIV-Infektionen durch Blut und Gründen ausdrücklich. Zunächst wird durch die geplante Blutprodukte“ hat letztlich keine rechtlich zwingenden Anpassung der Bundesnotarordnung dem Regelungsauf- Feststellungen getroffen. Deshalb hatte der Untersu- trag des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April 2004 chungsausschuss auch nicht die Forderung nach einer entsprochen. Damals hat das Verfassungsgericht dem Entschädigung oder humanitären Hilfe für HCV-infi- Gesetzgeber eine Novellierung des Zugangs zum An- zierte Personen erhoben. waltsnotariat aufgegeben, die dem Prinzip der Besten- auslese eine höhere Gewichtung einräumt. Dieser Auf- Die Bundesregierung hat großes Verständnis für die be- trag wird heute erfüllt. troffenen Patientinnen und Patienten. Sie sind unverschul- det in diese Situation geraten und erwarten Hilfe. Deshalb Wir beschließen die notwendig gewordene Anpassung hatte sich das Bundesministerium für Gesundheit schon heute in diesem Hohen Hause, damit das Anwaltsnotariat unter Minister Seehofer und später durch Ministerin Fi- sein hohes Ansehen in der Bevölkerung beibehält. Der In- scher an die Gesundheitsminister der Länder gewandt, um stitution des Anwaltsnotariats wird durch den Gesetzent- eine weitere gemeinsame Hilfeaktion auf freiwilliger Basis wurf gedient, weil die Novelle eine stärkere Berücksichti- zu vereinbaren. Die Länder haben das klar und deutlich gung notarspezifischer Fachkenntnisse und damit ein abgelehnt. Auch die betroffenen pharmazeutischen Unter- durchgehend hohes fachliches Niveau sicherstellt. Der nehmen und die Blutspendedienste des Deutschen Roten Entwurf dient aber auch den einzelnen Notaranwärtern, Kreuzes haben eine solche gemeinsame Aktion mehrfach weil er ihnen größere Rechts- und Planungssicherheit zurückgewiesen. verschafft. Letzteres halte ich, der ich selbst viele Jahre Die Bundesregierung sieht keine Möglichkeit, dass der als Anwaltsnotar tätig war, für einen in seiner Bedeutung Bund diese Hilfe alleine finanziert. Diese Einschätzung nicht zu unterschätzenden Aspekt. Anwältinnen und An- wird von den Fraktionen von CDU/CSU und SPD im Aus- wälte, die beschließen, das Amt des Anwaltsnotars beklei- schuss für Gesundheit des Deutschen Bundestages geteilt. den zu wollen, müssen wissen, worauf sie sich einlassen Diese Position ist auch mit den Vertretern der Patienten- und wie ihre Chancen auf eine Zulassung stehen. Diese verbände Ende letztes Jahr erörtert worden. Berechenbarkeit eines Lebensentwurfs ist für die Betrof- fenen von großer Wichtigkeit. Das habe ich aus vielen Schreiben und Telefonaten erfahren, die mich seit der Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Einbringung der Initiative und verstärkt seit der ersten Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Lesung in diesem Hohen Hause im Mai letzten Jahres er- Drucksache 16/11685 an die in der Tagesordnung aufge- reicht haben. führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind (B) damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- Der heute unter Tagesordnungspunkt 18 gegenständli- (D) schlossen. che Gesetzentwurf verdient also bereits deshalb Zustim- mung, weil er einen Regelungsauftrag des höchsten deut- Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 18: schen Gerichts umsetzt und für die Beteiligten Planungs- Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat und Rechtssicherheit schafft. Ich halte den Entwurf aber eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur auch wegen seines materiellen Regelungsgehalts für Änderung der Bundesnotarordnung (Neurege- überzeugend. Dies möchte ich nachfolgend anhand lung des Zugangs zum Anwaltsnotariat) dreier Punkte näher darlegen. – Drucksache 16/4972 – Erstens bewirkt der Entwurf, dass künftig nur diejeni- gen als Anwaltsnotare zugelassen werden, die für diesen Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts- Beruf und diese Berufung objektiv die beste Eignung mit- ausschusses (6. Ausschuss) bringen. Wer das von mehreren Bewerbern im Einzelfall – Drucksache 16/11906 – ist, wird de lege ferenda anhand einer Punktzahl zu ermit- teln sein, die sich zu 40 Prozent nach dem Ergebnis des Berichterstattung: zweiten juristischen Staatsexamens und zu 60 Prozent Abgeordnete Dr. Jürgen Gehb nach dem Ergebnis einer notariellen Fachprüfung be- Christoph Strässer misst. Die Einführung dieser notariellen Fachprüfung Sabine Leutheusser-Schnarrenberger stellt gewissermaßen das Kernstück der hier maßgeben- Wolfgang Nešković den Bundesnotarordnungsnovelle dar. In vier schriftli- Hans-Christian Ströbele chen Aufsichtsarbeiten sowie in einer mündlichen Prü- Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch fung müssen Notaranwärter vor einem eigens dafür bei hier die Reden zu Protokoll gegeben. Es handelt sich der Bundesnotarkammer einzurichtenden Prüfungsamt um die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Mi- ihre Fachkenntnisse unter Beweis stellen. Der Prüfungs- chael Grosse-Brömer, Christoph Strässer, Mechthild Dy- umfang wurde dabei im Vergleich zum Ursprungsentwurf ckmans, Wolfgang Nešković, Jerzy Montag, Parlamenta- abgespeckt. Das wird der Bestenauswahl keinen Abbruch rischer Staatssekretär Alfred Hartenbach. tun. Der zweite Grund, weshalb ich für eine breite Zustim- Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): mung zu dem uns vorliegenden Entwurf werben möchte, Heute wollen wir in zweiter und dritter Lesung den Ge- ist dessen Festhalten am Leitbild des Notars als Träger setzentwurf zur Neuregelung des Zugangs zum Anwalts- eines öffentlichen Amtes. Wer sich unter dem Berufsbild Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22207

Michael Grosse-Brömer (A) des Notars lediglich einen „Urkundenvorleser“ vorstellt, für ist es auch höchste Zeit. Das Bundesjustizministerium (C) hat weit gefehlt. Als Mittler zwischen den Interessen sor- hat am 10. Februar 2009 ein entsprechendes Experten- gen Notare in dem für jede Gesellschaft so elementar gutachten vorgestellt und angekündigt, die Ergebnisse wichtigen Bereich des außergerichtlichen Rechts für ei- der eingesetzten Kommission mit Blick auf einen mögli- nen adäquaten Ausgleich unterschiedlicher Interessen. chen Referentenentwurf eingehend zu prüfen. Ziel muss Diese Hoheitsaufgabe verdeutlicht übrigens ganz plas- es sein, die Kostenordnung nach oben anzupassen. Das tisch das Amtsschild des Notars mit dem entsprechenden Recht der Notare wird sich somit weiterentwickeln. Landeswappen. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die Verab- Um die unbedingt erforderliche Unabhängigkeit und schiedung des vorliegenden Gesetzentwurfs zur Neurege- Überparteilichkeit auch künftig zu gewährleisten, muss lung des Zugangs zum Anwaltsnotariat einen wichtigen der zu bestellende Notar – wie bereits de lege lata – seit Beitrag für ein unverändert hohes Niveau der deutschen mindestens drei Jahren ununterbrochen in dem in Aus- Rechtspflege darstellt. sicht genommenen Amtsbereich als Anwalt tätig gewesen sein. Insgesamt muss ein Bewerber mindestens fünf Jahre Christoph Strässer (SPD): in nicht unerheblichem Umfang die Tätigkeit des Rechts- Ich freue mich, dass wir mit dem vorliegenden, in zwei- anwalts ausgeübt haben. Diese Voraussetzungen sollen ter und dritter Lesung zu verabschiedenden Gesetzentwurf sicherstellen, dass ein Notar über hinreichende Kenntnis zur Neuregelung des Zugangs des Anwaltsnotariats ein der örtlichen Gegebenheiten, über notwendige Kontakte Gesetz verabschieden werden, das auf ganz überwiegende und über jene finanzielle Unabhängigkeit verfügt, die von Zustimmung sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch bei einem Träger eines öffentlichen Amtes zwingend einzu- den Sachverständigen in der Anhörung des Rechtsaus- fordern ist. schusses und bei meinen Kolleginnen und Kollegen der Als dritten Punkt möchte ich schließlich auf eine durch anderen Fraktionen stößt. die Novelle zu erzielende Verbesserung der Rechtslage Das Gesetzgebungsverfahren wurde nötig, da die jet- eingehen, die vor allem den am Anwaltsnotariat interes- zige Verwaltungspraxis dem Grundrecht auf freie Berufs- sierten Rechtsanwältinnen und deren Familien zugute- wahl nicht hinreichend Rechnung trage, wie das Bundes- kommen dürfte. Bereits anlässlich der ersten Lesung des verfassungsgericht in seiner Entscheidung feststellte. Entwurfs am 8. Mai 2008 habe ich auf das Problem des Letztlich beschränkte sich die Verwaltungspraxis beim geringen Anteils der Frauen bei den Anwaltsnotaren hin- Auswahlverfahren auf das Ergebnis des zweiten Staats- gewiesen. Dieser bedauerliche Umstand war und ist examens und auf eine formalisierte Auswahl nach eher maßgeblich auf den derzeit noch bestehenden „Zwang quantitativ bestimmten Kriterien. Es fehlte beim Zugang (B) zum Scheinesammeln“ zurückzuführen. Bislang gestal- zum Anwaltsnotariat vor allem an einer konkreten und (D) tete sich die faktische Situation nämlich so, dass Notaras- einzelfallbezogenen Bewertung der fachlichen Leistung piranten ihre Chancen auf Zulassung durch ein Anhäufen des Bewerbers. Dazu gehört unserer Ansicht nach auch von Fortbildungsnachweisen verbessern konnten. Da al- eine stärkere und differenziertere Gewichtung notarspe- lerdings die entsprechenden Fortbildungsveranstaltun- zifischer Leistungen gegenüber dem Ergebnis des meist gen hauptsächlich an Wochenenden stattfanden, hatten es zum Zeitpunkt der Bewerbung länger zurückliegenden Anwältinnen und vor allem Anwältinnen mit Kindern Staatsexamens. häufig schwerer als andere. Hier sorgt die Neuregelung des Zugangs zum Anwaltsnotariat für Abhilfe. Wie be- Der unseren Beratungen zugrundeliegende Bundes- schrieben, soll es künftig mit der notariellen Fachprüfung ratsentwurf, den wir heute mit einigen Änderungen ver- maßgeblich auf die Qualität und nicht mehr auf die Quan- abschieden werden, hat sich als im Wesentlichen sach- tität der Fachkenntnisse ankommen. Obgleich von den gerechte Lösung für die Einführung eines bewerteten Bewerbern umfassende Kenntnisse verlangt werden, wird Leistungsnachweises in Form einer notarspezifischen künftig eine berufsbegleitende Vorbereitung eher möglich schriftlichen und mündlichen Fachprüfung erwiesen. Das sein, als dies bislang der Fall war. Wenn Juristinnen, wie ist das Kernstück der Neuregelung. Daneben muss der in der öffentlichen Anhörung mehrfach vorgetragen Notariatsbewerber eine fünfjährige Tätigkeit als Rechts- wurde, im zweiten juristischen Staatsexamen eine höhere anwalt nachweisen. Bisher galt sein Zulassungsnachweis Durchschnittsnote erzielen als ihre männlichen Kollegen, als ausreichend. Als weitere und nach geltendem Recht dürfte dies zusammen mit der notariellen Fachprüfung zu bereits bestehende Voraussetzung muss die Tätigkeit als einem insgesamt höheren Frauenanteil bei den Anwalts- Rechtsanwalt mindestens drei Jahre ohne Unterbrechung notaren führen. in dem in Aussicht genommenen Amtsbereich ausgeübt werden. Des Weiteren möchte ich positiv hervorheben, dass die im Entwurf bestimmte Übergangsfrist von 24 Monaten Angesichts der vom Bundesverfassungsgericht umris- allen Beteiligten hinreichend Zeit einräumt, sich auf die senen Mängel an der bisherigen Verwaltungspraxis halten geänderten Zugangsvoraussetzungen einzustellen. wir die beabsichtigte Neuregelung für eine sachgerechte und rechtssichere Lösung. Sie ist transparenter, objektiver, Abschließend möchte ich einen Punkt ansprechen, der leistungsbezogener und damit in der Summe geeigneter, nicht Gegenstand dieses Gesetzentwurfs ist, aber im di- die fachliche Eignung der einzelnen Bewerber festzustellen. rekten Zusammenhang damit steht. Es handelt sich um die angemessene Vergütung der Notare in Deutschland. Das Gleichwohl hatten sich in der ersten Lesung des Gesetz- Notarkostenrecht soll mittelfristig angepasst werden. Da- entwurfes sowohl von den Kolleginnen und Kollegen der

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Christoph Strässer (A) anderen Fraktionen als auch von mir und meiner Fraktion Staatsexamen abgelegt wird. Damit entkoppeln wir bewusst (C) einige Änderungswünsche am Bundesratsentwurf ange- die notarielle Fachprüfung vom Staatsexamen, verdeutli- deutet. Die Sachverständigenanhörung hat uns in unserem chen deren eigenständige Bedeutung und stellen sicher, Beschluss bestärkt, den Bundesratsentwurf in einigen dass der Bewerber zunächst ausreichend anwaltliche Punkten zu ändern. Ich freue mich, dass die wesentlichen Berufserfahrung sammeln kann und soll. Punkte letztlich im Konsens aller Fraktionen beschlossen werden konnten. Im Wesentlichen handelt es sich um fünf Viertens. Wir reduzieren die Anzahl der schriftlichen Änderungen im Vergleich zum ursprünglichen Gesetzent- Aufsichtsarbeiten um zwei und begrenzen diese damit wurf, die ich kurz erläutern möchte. insgesamt auf vier Klausuren. In den parlamentarischen Beratungen hatte sich angedeutet, zu hinterfragen, ob die Erstens. Wir haben uns dafür entschieden, den Terminus Prüfungsanforderungen nach dem Bundesratsentwurf, die der „Hauptberuflichkeit“ in § 6 Abs. 2 Nr. 1 BNotO zu doch eine erhebliche Zusatzbelastung für Rechtsanwältin- streichen. Die Formulierung, dass die Tätigkeit als Rechts- nen und Rechtsanwälte darstellen, über das anvisierte Ziel anwältin oder Rechtsanwalt in nicht unerheblichem Um- der Qualifizierung und Bestenauslese hinausschießen. fang für verschiedene Auftraggeber ausgeübt werden Ich bin der Auffassung, dass vier Klausuren ausreichen, muss, ist ausreichend. Gleichzeitig verdeutlichen wir damit um alle relevanten Tätigkeitsfelder eines Notars in den im Hinblick auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Prüfungen abdecken und ein differenziertes Leistungsbild dass auch bei einer Teilzeittätigkeit die notwendigen erstellen zu können. Voraussetzungen erfüllt werden können. Gleichzeitig möchte ich an dieser Stelle festhalten, dass Zweitens. An gleicher Stelle regeln wir, dass die Tätig- der Gesetzgeber darauf verzichtet, Bewerbern vorzugeben, keit drei Jahre ohne Unterbrechung in dem in Aussicht wie sie sich auf die Prüfungen vorzubereiten haben. Wir genommenen Amtsbereich ausgeübt werden muss. Damit wollen den Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten einen behalten wir die bisherige Regelung zur örtlichen Warte- Quasirückfall in studentische Zeiten ersparen, innerhalb zeit bei. In der Literatur scheiden sich zugegebenermaßen einer bestimmten Zeit oder Reihenfolge Fortbildungs- die Geister an der örtlichen Wartezeit. Doch diese wurde nachweise anzusammeln. Wir streben damit die Möglich- in der jüngeren Rechtsprechung nicht beanstandet. In der keit einer flexiblen Berufs- und Prüfungsvorbereitung an, Anhörung und auch in den Berichterstattergesprächen auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Vorbereitung und hat sich die Mehrheit der Sachverständigen und Abgeord- Ablegung der notariellen Fachprüfung berufsbegleitend neten für die Beibehaltung der bisherigen Regelung aus- erfolgen können soll. gesprochen, ebenso wie schon zuvor die Bund-Länder- Arbeitsgruppe. Verfassungspolitisch sind sicherlich noch Fünftens. Aus den gleichen Gründen haben wir uns dafür andere Lösungen denkbar, verfassungsrechtlich geboten entschieden, den Prüfungsstoff durch das Bundesjustiz- (B) (D) sind sie allerdings nicht. ministerium mit Zustimmung des Bundesrates in einer Rechtsverordnung regeln zu lassen. In einer Rechtsver- Es obliegt der Einschätzungsprärogative des Gesetzge- ordnung lassen sich die einzelnen Prüfungsgebiete im bers. Der Gesetzgeber ist der Ansicht, dass die örtliche Sinne der Transparenz für den Prüfling konkreter und de- Wartezeit geeignet ist, die Funktionsfähigkeit des Anwalts- taillierter umreißen mit dem Ziel, insgesamt den Umfang notariats zu sichern und auch bewährte örtliche und regio- des Prüfungsstoffes sachlich zu begrenzen. Zu diesem nale Strukturen zu erhalten. Die Gewähr ist hoch, dass ein Zwecke engt das Gesetz den Prüfungsstoff bereits auf den Bewerber, der drei Jahre vor Ort tätig war und eine örtliche notarspezifischen Tätigkeitsbereich ein. Wir wollen eine Kanzlei aufgebaut hat, als wirtschaftlich unabhängig gelten notarielle Fachprüfung und kein drittes Staatsexamen. kann. Die Aufnahme des Notaramts erfordert das Vorhan- Zudem kann mit einer Rechtsverordnung flexibler als mit densein einer personellen und organisatorischen Infra- einem Gesetz auf notarspezifische Veränderungen rea- struktur, die so sichergestellt werden kann. Gleichzeitig giert werden. kann er sich mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut machen. Dieses Argument gilt noch immer, auch wenn es Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf bewahren wir die sicherlich im Zeitalter modernster Kommunikationstech- Grundstruktur des Anwaltsnotariats, die sich in den letz- niken an Bedeutung verloren hat. ten Jahrzehnten bewährt hat. Mit dem neuen Prüfungs- verfahren erfüllen wir die Kriterien einer transparenten Einerseits gewährleistet die erfolgreiche Teilnahme und praktikablen Bestenauslese. Gleichzeitig scheint der an der Fachprüfung die hinreichende Qualifikation der Gesetzentwurf durch seine Ausgestaltung geeignet zu Notare, andererseits ermöglicht die örtliche Wartezeit ei- sein, Frauen einen besseren Zugang zum Anwaltsnotariat nen chancengleichen Zugang zum Notaramt für orts- zu ermöglichen. Dazu zählen unter anderem die Berück- ansässige Bewerber. Durch die Ausgestaltung als Soll- sichtigung von Teilzeittätigkeiten und die flexiblen Vorbe- vorschrift wird gleichzeitig sichergestellt, dass in reitungsmöglichkeiten auf die Prüfungen, sodass diese Einzelfällen Bewerber auch ohne Einhaltung der örtli- berufs- und familienbegleitend möglich erscheinen. chen Wartezeit in dem von ihnen anvisierten Amtsbereich zum Notar bestellt werden können. Ich denke, dass wir auch im Sinne der Länder ein gutes Gesetz auf den Weg bringen. Drittens. Wir führen gegenüber dem Bundesratsent- wurf eine dreijährige Wartefrist nach der Zulassung zur Anwaltschaft ein, bevor die notarielle Fachprüfung abge- Mechthild Dyckmans (FDP): legt werden kann. Damit stellen wir sicher, dass die Prüfung Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute mit der großen nicht quasi auf Vorrat direkt im Anschluss an das zweite Mehrheit des Hauses beschließen werden, beenden wir

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Mechthild Dyckmans (A) die derzeitige unklare Rechtslage hinsichtlich des Zu- Es ist mir wichtig darauf hinzuweisen, dass wir mit (C) gangs zum Anwaltsnotariat. Das Bundesverfassungsge- dem Gesetzentwurf ein gutes Beispiel für die Zusammen- richt hat in seiner Entscheidung vom 20. April 2004 fest- arbeit zwischen Bundesrat und Bundestag im Rahmen der gestellt, dass die Auslegung und Anwendung der Normen Gesetzgebung geben können. Der Bundesrat hat die Ini- der Bundesnotarordnung, die den Zugang zum Anwalts- tiative ergriffen und einen Gesetzentwurf zur Neurege- notariat regeln, nicht den verfassungsrechtlichen Erfor- lung des Anwaltsnotariats vorgelegt, der im weiteren par- dernissen genügen. Bei der Auswahl der Bewerber für lamentarischen Verfahren im Deutschen Bundestag noch das Amt des Anwaltnotars sei nicht der Vorrang desjeni- an entscheidenden Stellen verbessert werden konnte. gen mit der besten fachlichen Eignung gewährleistet. Bundestag und Bundesrat haben hier in vorbildlicher Weise zusammengearbeitet. Das Ergebnis kann sich se- Der Gesetzentwurf nimmt den Handlungsauftrag des hen lassen. Bundesverfassungsgerichts auf und etabliert ein neues, transparentes System für den Zugang zum Anwaltsnota- Ich bin davon überzeugt, dass mit dem Gesetzentwurf, riat. Der Gesetzentwurf enthält eine Kombination aus ei- den wir heute verabschieden, ein transparentes Auswahl- ner neuen notariellen Fachprüfung, einer praktischen verfahren sichergestellt werden kann, das sowohl Chan- Ausbildung im Notariat und der Beibehaltung der allge- cengleichheit zwischen den Bewerbern herstellt als auch meinen und örtlichen Wartezeiten als Voraussetzung für dazu geeignet ist, die Qualitätssicherung des Anwaltsno- die Bestellung von Anwaltsnotaren. Die Fraktionen des tariats zu garantieren. Deutschen Bundestages gehen übereinstimmend davon aus, dass die Neuregelung geeignet ist, den Zugang zum Anwaltsnotariat künftig schneller zu ermöglichen und Wolfgang Nešković (DIE LINKE): durch die Fokussierung auf die fachlichen Leistungen der Lassen Sie mich etwas Grundsätzliches vorab anmer- Bewerber insgesamt eine Qualitätssicherheit und Stär- ken: Ausweislich der Gesetzesbegründung soll mit dem kung des Anwaltsnotariats zu erreichen. vorliegenden Gesetzentwurf im Interesse der Rechtsu- chenden auch eine hohe und umfassende Qualifikation Der Gesetzentwurf des Bundesrates hat sich als sehr der Anwaltsnotare gewährleistet werden. Wenn man die sachgerechte Beratungsgrundlage herausgestellt. Auch Rechtsprechung zur Haftung der Notare einmal genau in der Anhörung haben die Sachverständigen die Grund- analysiert, dann kann man aber das Ziel, den Rechtsu- züge und die Richtung des Entwurfs übereinstimmend ge- chenden eine von hoher und umfassender Qualität ge- lobt. Im weiteren Verfahren ist es gelungen, die Hinweise kennzeichnete Beratung zukommen zu lassen, selbst der Sachverständigen und die Vorschläge der Bundesre- durch eine noch so gute Bewerberauswahl nur schwerlich gierung aufzunehmen und damit im Ergebnis den Entwurf erreichen. (B) noch weiter zu verbessern. (D) Die Haftungsrechtsprechung gewährt einen guten Ein- Vorgesehen ist eine örtliche Wartezeit, die sicherstellt, blick in die zwei signifikanten berufstypischen Schwach- dass der Rechtsanwalt vor Ort eine anwaltliche Praxis stellen der Anwaltsnotare: Zum einen üben diese den aufgebaut hat, bevor er zum Notar bestellt wird. Wir ha- Notarberuf lediglich im Nebenamt aus und verfügen na- ben uns darauf geeinigt, das Bezugsgebiet der örtlichen turgemäß in den allermeisten Fällen – auch nach jahre- Wartezeit auf den Amtsgerichtsbezirk zu begrenzen. Ge- langer Tätigkeit – über weniger Erfahrung als ein haupt- rade durch die Einführung der notariellen Fachprüfung beruflicher Notar. Zum anderen ist es für Anwaltsnotare wird es auch künftig gelingen, in den Amtsgerichtsbezir- nicht selten schwierig, ihre beiden Berufe strikt voneinan- ken eine Besetzung der Stellen mit qualifizierten Bewer- der zu trennen. Gegenüber einem aus jahrelanger anwalt- bern sicherzustellen. Darüber hinaus sieht der Entwurf licher Betreuung bekannten Mandanten ist es schon psy- nun eine Wartefrist von drei Jahren nach der Zulassung chologisch schwer vermittelbar, dass man bei der zur Rechtsanwaltschaft vor, bevor die notarielle Fach- Notartätigkeit auf einmal auch die Interessen des „Geg- prüfung abgelegt werden kann. Diese Regelung erschien notwendig, um sicherzustellen, dass die Bewerber die ners“ zu wahren hat. praxisbezogene Fachprüfung nicht unmittelbar im An- Der Schutz des Bürgers vor unqualifizierter Beratung schluss an das zweite Staatsexamen ablegen, ohne dass ließe sich daher am besten und konsequentesten mit der sie zuvor anwaltliche Berufserfahrung erworben haben. Abschaffung des Anwaltsnotariats verwirklichen. Dies Wichtig zu erwähnen ist auch, dass Wert darauf ge- war jedoch von vornherein nicht die Zielrichtung des vor- legt wurde, die Fachprüfung nicht zu einem dritten liegenden Gesetzentwurfes. Anlass war vielmehr eine Staatsexamen ausufern zu lassen. Daher wird die schrift- Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in der die- liche Prüfung auf vier Aufsichtsarbeiten beschränkt. ses die Auslegung und Anwendung der Normen der Bun- desnotarordnung in der Verwaltungspraxis der Länder Hinweisen möchte ich darauf, dass der Gesetzentwurf bemängelt hat. In der Debatte zur ersten Lesung habe ich ein wichtiges Signal zur Frauenförderung setzt. Wir ha- deshalb drei Fragen in den Mittelpunkt gestellt. Erstens: ben in dem Gesetzentwurf sichergestellt, dass auch Wollen wir überhaupt eine bundesrechtliche Lösung? Frauen, die aufgrund der Erziehung ihrer Kinder der Tä- Zweitens: Ist es sinnvoll, eine notarielle Fachprüfung als tigkeit als Rechtsanwältin nicht hauptberuflich nachge- einziges Auswahlkriterium neben dem Ergebnis des zwei- hen können, beim Zugang zum Anwaltsnotariat nicht ten juristischen Staatsexamens einzuführen? Und drit- schlechter gestellt werden als Kollegen, die sich vollum- tens: Wenn eine notarielle Fachprüfung eingeführt wird, fänglich ihrer Rechtsanwaltstätigkeit widmen können. soll dies in der vorgesehenen Ausgestaltung geschehen?

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Wolfgang NeškoviNeškoviæć (A) Auch unter Berücksichtigung der Sachverständigen- gehen. Derzeit sind dies noch immer vornehmlich (C) anhörung sind für mich die ersten beiden Fragen zu ver- Frauen. neinen. Der Bund ist nicht die Gouvernante der Länder. Wenn die Länder ihre Hausaufgaben nicht machen, dann Wegen der angesprochenen grundsätzlichen Ein- ist es nicht Aufgabe des Bundes, dies für sie zu erledigen. wände wird meine Fraktion den vorliegenden Gesetzent- Der Gesetzentwurf ist unter diesem Gesichtspunkt schon wurf jedoch ablehnen. überflüssig. Auch die Einführung einer weiteren theoreti- schen Prüfung als alleiniges Auswahlkriterium zwischen Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): den Bewerbern ist abzulehnen. Die Anforderungen, die In meiner Rede zur ersten Lesung habe ich bereits ge- ein zukünftiger Anwaltsnotar erfüllen und die bei der Be- sagt, dass der Gesetzentwurf im Grundsatz in die richtige werberauswahl im Vordergrund stehen sollten, hat der Richtung geht. Ich habe Fragen aufgeworfen, ob der Um- Parlamentarische Staatssekretär Herr Hartenbach in sei- fang des schriftlichen Teils der Fachprüfung angemessen ner Rede zur ersten Lesung des vorliegenden Gesetzent- ausgestaltet worden ist. Es war auf den ersten Blick nicht wurfes zutreffend folgendermaßen benannt: „Wir wollen unbedingt nachvollziehbar, warum es hierbei sechs fünf- Leute, die in der Praxis erfahren sind und gute Arbeit leis- stündiger Prüfungsklausuren bedürfen soll, in denen zu- ten, und wir müssen darauf achten, dass wir nicht dieje- dem thematisch über die notarspezifischen Bereiche nigen bevorzugen, die es sich leisten können, sich mit viel hinaus zum Beispiel auch Wissen zum Bürgerlichen, zum Zeit und Geld auf theoretische Prüfungsfragen vorzube- Handels- und zu unterschiedlichen Prozessrechten ge- reiten.“ Für meine Fraktion birgt der eingeschlagene prüft werden soll. Ist es wirklich gewollt, dass die schrift- Weg eines „dritten juristischen Staatsexamens“ jedoch in liche Fachprüfung zum Anwaltsnotariat – das ja immer- ganz besonderer Weise die Gefahr, genau solche Bewer- hin im Nebenberuf ausgeübt wird – den Umfang eines ber zum Zuge kommen zu lassen, die Staatssekretär Har- dritten juristischen Staatexamens erhält? tenbach eigentlich nicht wollte. Es ist deshalb auch be- dauerlich, wenn der Rechtsausschuss die zuvor schon eng Wo stehen wir heute? Nach einer hilfreichen Anhörung gefasste „Öffnungsklausel“ in § 6 Abs.3 des Entwurfes und sehr konstruktiver Auswertung der Stellungnahmen für die Berücksichtigung anderer Kriterien als die Ergeb- sind wichtige Verbesserungen vorgenommen worden. So nisse der notariellen Fachprüfung beziehungsweise des können wir jetzt sagen: Wir haben ein gutes Gesetz. zweiten Staatsexamens weiter begrenzt und zukünftig diese Möglichkeit nur noch bei einem Bewerber, der Der Bestenauslese wird nun besser Rechnung getra- schon Notar ist oder in der Vergangenheit war, ange- gen, und gleichzeitig wird der Zugang zum Anwaltsnota- wandt werden kann. riat erleichtert. Es wird eine neue Prüfung eingeführt, die spezifisch auf den Notarberuf ausgerichtet ist. Die Note (B) Die Frage, ob die Einführung der notariellen Fach- des Staatsexamens fällt geringer ins Gewicht. Die nota- (D) prüfung in der vorgesehenen Ausgestaltung erfolgen rielle Fachprüfung wird gegenüber dem Entwurf in ver- sollte, hat auch die Mehrheit des Rechtsausschusses mit nünftiger Weise abgespeckt und konkretisiert. Wir werden Nein beantwortet. Die Beschlussempfehlung des Rechts- also kein drittes Staatsexamen mehr haben. Es ist auch ausschusses geht hier auf einige – wenngleich nicht alle – sinnvoll, die Einzelheiten in eine Verordnung auszula- Einwände der Sachverständigen aus der Anhörung ein gern. und sieht entsprechende Veränderungen vor. So ist die Das übertriebene System von zahllosen teuren Wo- Anzahl der zu absolvierenden Prüfungen, die mit sechs chenendkursen zur Punktejagd, das sich in der Praxis verlangten Leistungsnachweisen überdimensioniert war, etabliert hat, wird eingedämmt. Der Praxisnachweis wird auf angemessene vier reduziert worden. Auch die Tatsa- für breitere Kreise zugänglich und kann teilweise durch che, dass die Festlegung des Prüfungsstoffes nicht mehr notariatsspezifische Praxislehrgänge ersetzt werden. unmittelbar im Gesetz erfolgt, sondern auf den Verord- nungsgeber delegiert wird, ist zu begrüßen. Damit ist es Das bisherige System hat größere und große Kanzleien besser möglich, den Prüfungsstoff auf die für die nota- begünstigt, weil diese die immensen Kosten von bis zu rielle Amtstätigkeit bedeutsamen Bereiche zu begrenzen. 40 000 Euro eher aufbringen und häufiger Notarvertre- tungen zum Praxisnachweis zur Verfügung stellen kön- Zwei weitere positive Änderungen, die Ergebnis der nen. Die Reform kommt damit besonders Frauen zugute, Ausschussberatungen waren, sollen nicht unerwähnt die überwiegend in kleineren oder Einzelkanzleien arbei- bleiben. Dass es nun nicht mehr möglich ist, die notarielle ten. Sie hatten dadurch weniger Chancen, als Notarver- Fachprüfung unmittelbar nach dem zweiten juristischen treterin bestellt zu werden sowie die Kosten und den Ver- Staatsexamen abzulegen, sondern dass zuvor eine drei- dienstausfall zu stemmen. jährige Wartezeit nach Zulassung zur Rechtsanwaltschaft abgewartet werden muss, sorgt zumindest für eine ge- Wichtig ist, dass die Voraussetzungen für die Bestel- wisse Berufserfahrung der Prüflinge und zukünftigen Be- lung zum Notar oder zur Notarin gegenüber dem ur- werber. Ebenfalls richtig ist die Ersetzung des Wortes sprünglichen Gesetzentwurf so geändert werden, dass die „hauptberuflich“ durch die Formulierung „in nicht un- vorherige fünfjährige Anwaltstätigkeit nicht hauptberuf- erheblichem Umfang“ in dem neuen § 6 Abs. 2 der Bun- lich ausgeübt worden sein muss. Das wäre eine Benach- desnotarordnung. Das Kriterium der Hauptberuflichkeit teiligung für alle gewesen, die aus Gründen der Verein- barg die Gefahr, diejenigen weiter zu benachteiligen, die barkeit von Beruf und Familie in Teilzeit arbeiten, also neben der Anwaltstätigkeit Erziehungsaufgaben wahr- besonders für Frauen. Das zu korrigieren war uns ein be- nehmen und lediglich einer Teilzeitbeschäftigung nach- sonderes Anliegen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22211

Jerzy Montag (A) Das Konzept des Gesetzes, so wie wir es heute verab- ausgestaltet ist, wird sicherstellen, dass die ausgewählten (C) schieden, legt die Grundlage dafür, dass sich der Anteil Bewerberinnen und Bewerber mit der notariellen Berufs- von Anwaltsnotarinnen endlich deutlich erhöht. Dieser praxis so gut vertraut sind, dass sie die Amtstätigkeit so- Anteil liegt nämlich immer noch unter 10 Prozent, ob- fort auf hohem Niveau beginnen können. wohl der Anteil von Rechtsanwältinnen an der Rechtsan- waltschaft immerhin etwa 30 erreicht hat. Die neuen Zugangsregelungen zum Anwaltsnotariat stellen sowohl im Interesse der Qualitätssicherung als Abschließend möchte ich noch einmal betonen: Die auch der Bestenauslese hohe Anforderungen. Die neue Zusammenarbeit der Berichterstatter – und auch mit dem notarielle Fachprüfung erstreckt sich auf den gesamten Bundesjustizministerium – nach der Anhörung war sehr Bereich der notariellen Amtstätigkeit. Über eine schrift- konstruktiv und hat ein gutes Gesetz in mehreren Punkten liche und mündliche Fachprüfung, die bei dem bei der weiter verbessert. Wir werden ihm deshalb zustimmen. Bundesnotarkammer zu errichtenden neuen Prüfungsamt durchgeführt wird, müssen Bewerberinnen und Bewerber Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der beweisen, dass sie fit sind, das Amt einer Notarin oder ei- nes Notars auszuüben. Ich weiß, dass die Prüfung Lasten Bundesministerin der Justiz: mit sich bringt, und ich weiß, dass die erforderliche Prü- Fast 8 000 Anwaltsnotarinnen und Anwaltsnotare fungsvorbereitung parallel zur Anwaltstätigkeit erfolgen üben in Deutschland neben ihrem Rechtsanwaltsberuf muss. Deshalb haben wir besonderen Wert darauf gelegt, das Amt des Notars aus. Als unabhängige Träger eines öf- die neue notarielle Fachprüfung so auszugestalten, dass fentlichen Amtes ist es ihre Aufgabe, Beurkundungen vor- sie machbar ist. Vier Punkte möchte ich hierzu kurz an- zunehmen und weitere Aufgaben auf dem Gebiet der vor- sprechen. sorgenden Rechtspflege wahrzunehmen. Sie tun dies in guter und bewährter Weise. Nun kann allerdings nicht Es gibt erstens keine gesetzlichen Vorgaben dazu, wie jede Anwältin und nicht jeder Anwalt auch Notarin oder die Prüfungsvorbereitung erfolgt. Insbesondere gibt es Notar werden. Im räumlichen Bereich eines Anwaltsnota- keine Pflichtkurse für die Bewerber. Die wissen nämlich riats sind rund 60 000 Rechtsanwältinnen und Rechts- selbst am besten, wie sie sich gut und effektiv auf eine anwälte tätig. Der Zugang zum Anwaltsnotariat ist also Prüfung vorbereiten. Vorgaben sind daher entbehrlich. ein Nadelöhr. Die mit dem Verzicht auf bürokratische Vorgaben beab- sichtigte Flexibilität liegt gerade auch im Interesse der Die letzten Jahre haben gezeigt, dass das bisher gel- Rechtsanwältinnen. Ich hoffe sehr, dass künftig mehr An- tende Zugangssystem an seine Grenzen stößt: Das gel- wältinnen den Weg in das Amt der Notarin finden werden. tende Punktesystem, das in großem Umfang auf lediglich Das Potenzial, das die vielen hervorragend qualifizierten quantitativ messbare Kriterien wie die Dauer der Anwalts- Rechtsanwältinnen haben, muss künftig auch im Notarbe- (B) tätigkeit, die Zahl vertretungsweise vorgenommener Be- reich genutzt werden. Ich bin zuversichtlich, dass das (D) urkundungen und die Zahl besuchter Fortbildungsveran- neue Zugangssystem mit der Stärkung der individuellen staltungen zurückgreift, um eine Auswahl unter den fachlichen Prüfung der Bewerber dazu führen wird, dass Bewerbern für eine ausgeschriebene Notarstelle zu tref- mehr Rechtsanwältinnen als bisher Notarin werden und fen, ist streitanfällig. Es verheißt eine Objektivität und dass ihr Anteil an den Anwaltsnotaren, der bisher unter Transparenz im Verfahren der Bestenauslese beim Zu- zehn Prozent liegt, deutlich ansteigen wird. gang zum Anwaltsnotariat, die in der Praxis nicht einge- löst werden kann. Die vor dem Rechtsausschuss des Deut- Zweitens soll der Prüfungsstoff nicht im Gesetz, son- schen Bundestages angehörten Sachverständigen haben dern in einer Rechtsverordnung geregelt werden. Das die Mängel des geltenden Rechts, die nicht erst seit dem dient – neben der damit eröffneten Flexibilität – dazu, den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 20. April Prüfungsstoff einzugrenzen und diese Begrenzung für die 2004 offenbar sind, einmütig bestätigt. Bewerberinnen und Bewerber transparent zu gestalten. Was nicht konkret als Prüfungsgegenstand benannt wird, Bestätigt haben sie auch, dass eine notarielle Fach- wird auch nicht geprüft. prüfung der einzig gangbare Weg ist, um die Mängel des geltenden Rechts zu beseitigen. Ich begrüße es daher Drittens haben wir nach den Erörterungen im Rechts- sehr, dass wir heute mit der gesetzlichen Neuregelung des ausschuss entschieden, dass auch vier statt der im Ge- Zugangs zum Anwaltsnotariat ein von Bund und Ländern setzentwurf vorgesehenen sechs Klausuren genügen, um lange und intensiv vorbereitetes Gesetzgebungsverfahren die fachliche Eignung der Bewerber festzustellen. abschließen. Die Zugangsvoraussetzungen werden klar Schließlich haben wir viertens – Sie sehen, wir haben und eindeutig geregelt. Das schafft Rechtssicherheit und uns auch um kleine, aber nicht unwichtige Details geküm- vermeidet Streitigkeiten. Eine neue notarielle Fachprü- mert – festgelegt, dass entschuldigt versäumte Klausuren fung sichert den erforderlichen Qualitätsstandard. Sie einzeln nachgeholt werden können, dass also nicht alle schafft einheitliche Standards. Das ist Voraussetzung da- Klausuren nochmals geschrieben werden müssen, wenn für, dass Anwaltsnotarinnen und Anwaltsnotare auch nur einzelne Klausuren versäumt wurden. künftig ihre Aufgaben in der vorsorgenden Rechtspflege erfolgreich für die Bürgerinnen und Bürger wahrnehmen Insgesamt wird mit der Reform des Zugangs zum An- können. Zugleich ermöglicht die notarielle Fachprüfung waltsnotariat die leistungsbezogene Bestenauslese be- eine faire und gerechte Bestenauslese. Sie ermöglicht ei- tont. Ziel ist es, denjenigen Rechtsanwältinnen und nen chancengleichen Zugang von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten den Zugang zum Notarberuf zu eröffnen, Rechtsanwälten zum Notarberuf. Und die vorgesehene die dafür am besten geeignet sind. Die Reform sichert und praktische Ausbildung im Notariat, die bewusst flexibel stärkt damit das Anwaltsnotariat.

Zu Protokoll gegebene Reden 22212 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Dazu müssten nämlich erst neue völkerrechtliche Ver- (C) Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Rechts- träge geschlossen werden. ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 16/11906, den Gesetzentwurf des Bundes- Die Position sowohl der europäischen als auch der rates auf Drucksache 16/4972 in der Ausschussfassung christlichen Union ist klar: Wir wollen keine unsicheren anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent- Reaktoren bei unseren Nachbarn. Das ist auch die Posi- wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um tion unserer Regierung. Da gibt es gar keine Diskussion. das Handzeichen. Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Sie führen also wieder einmal eine presseheischende Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den „Hätte-wäre-wenn“-Debatte mit Blick auf Ihre Klientel, Stimmen der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion jedoch ohne jede praktische Konsequenz. und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstim- Was dabei auch immer wieder gern vergessen wird: men der Fraktion Die Linke angenommen. Man kann nicht immer nur aufgeregt „Ausstieg, Aus- Dritte Beratung stieg“ fordern und Fragen von Versorgungssicherheit und Klimaschutz ignorieren. Gleichzeitig, neben dem und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem Ausstieg aus der Kernenergie, wollen Sie ja die Kohle- Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – kraftwerke beseitigen. Wo die Energie dann kurzfristig Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf herkommt, ist dabei scheinbar egal. Liebe Opposition, ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenom- hören Sie auf, zu polemisieren! men. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: Alle Zukunftsszenarien gehen davon aus, dass der Be- darf an Strom in Zukunft stärker wachsen wird als der an Beratung des Antrags der Abgeordneten Hans-Jo- anderen Energieformen. Damit müssen wir umgehen. Ein sef Fell, Sylvia Kotting-Uhl, Bärbel Höhn, weite- Drittel der Stromerzeugung in der EU erfolgt heute mit- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- tels Kernkraft. Derzeit sind in der EU 152 Kernkraft- NIS 90/DIE GRÜNEN werke in Betrieb. Der Bedarf, den diese Kraftwerke de- cken, kann nicht einfach wegdiskutiert werden. Vertragstreue Abschaltung alter Atomkraft- Gleichzeitig darf man auch nicht vergessen, dass wir be- werke in Osteuropa reits 64 alte Reaktoren stillgelegt haben. Ein deutliches – Drucksache 16/11764 – Signal gerade für eine sichere Energieversorgung. Überweisungsvorschlag: Es lässt sich aber auch nicht wegdiskutieren, dass Bul- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f) (B) Auswärtiger Ausschuss garien gefroren hat, als Russland und die Ukraine über (D) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Gas stritten. Ich glaube, dass die Bulgaren in einer sol- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union chen Situation mehr von ihren Freunden in der EU hören Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre wollen als: „Und nicht vergessen: Reaktor aus!“ Wir Reden zu Protokoll gegeben: Christian Hirte, Christoph schulden unseren osteuropäischen EU-Freunden mehr Pries, Angelika Brunkhorst, Hans-Kurt Hill und Hans- als nur den erhobenen Zeigefinger. Wir müssen ihnen da- Josef Fell. bei helfen, Energiesicherheit zu erreichen: sichere Ver- sorgung und sichere Energiegewinnung. Nur dann brau- chen wir auch nicht zu befürchten, dass alte Kraftwerke Christian Hirte (CDU/CSU): eventuell wieder ans Netz gehen. Auf eines kann man sich bei den Grünen immer verlas- sen: Fällt das Wort „Kernkraftwerk“, kommt es sofort zu Aber auch den baltischen Staaten kann man nicht ein- einem Pawlow’schen Reflex, bei dem gebetsmühlenartig fach mal ein paar Windmühlen schicken, und das wars. der Ausstieg gefordert wird – ungeachtet bestehender Da braucht es schon mehr Unterstützung und Strategien. Verträge und Gesetze. Jetzt bläst die Fraktion der Grünen Ein einfaches Nein zu fossilen und nuklearen Energieträ- zum Kreuzzug wider die slawische Gefahr vom Reaktor- gern ist noch lange keine realistische Strategie. unfall oder dem Super-GAU, um sich vorbei an aller Re- alität als Retter nicht nur Deutschlands, sondern ganz Ich bin skeptisch, dass wir Versorgungssicherheit in Europas aufzuspielen. Europa in den nächsten Jahren ohne Kernenergie errei- chen können. Es wäre geradezu töricht, den osteuropäi- Meine Damen und Herren von der Opposition, es ge- schen Ländern vorschreiben zu wollen, wie sie sichere hört zur Realität, dass auch und gerade die Union die Energie realisieren – ganz davon abgesehen, dass sich Frage der Sicherheit von Kernkraftwerken in Osteuropa die Grünen hier über geltendes EU-Recht hinwegsetzen sehr ernst nimmt. Nicht erst das Reaktorunglück von möchten. Der Energiemix ist nämlich strikt nationale Sa- Tschernobyl hat uns deutlich vor Augen geführt, welche che. Konsequenzen ein nachlässiger Umgang mit der Kern- energie haben kann. Zur Realität gehört weiterhin: Die Wenn man zu der realistischen Einschätzung kommt, EU-Beitrittsverträge regeln klar die Abschaltung der un- dass ein Staat nicht ohne Kernenergie auskommt, dann sicheren Reaktoren. Die von Ihnen im Antrag erwähnten müssen wir das berücksichtigen. Deutschland kann mit Länder können also nicht einfach mal so ein Formular seinem Know-how dabei Unterstützung leisten, klima- ausfüllen, einen Antrag auf Laufzeitverlängerung stellen, freundliche und sichere Lösungen zu finden und umzuset- und irgendein Amt entscheidet dann nach Gutdünken. zen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22213

Christian Hirte (A) Kernenergie gehört nach wie vor zum umweltfreundli- bei beruft man sich auf Art. 36 des Protokolls über die Be- (C) chen Energiemix in Deutschland und in Europa. Sicher dingungen für die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens gibt es CO2-ärmere Energieerzeugungsmethoden. Aber in die Europäische Union. Dieser Artikel sieht für die für die Erzeugung der Grundlast und vor allem für be- Jahre 2007 bis 2009 vor, dass die Beitrittsländer bei zahlbare Energie sind Kernkraftwerke derzeit noch uner- Schwierigkeiten, welche einen Wirtschaftszweig erheb- lässlich. Regenerative Energieträger, die das leisten lich und voraussichtlich anhaltend treffen oder welche könnten, sind noch nicht zu wirtschaftlich vertretbaren die wirtschaftliche Lage eines bestimmten Gebiets be- Kosten in Sicht. Deswegen haben nicht nur die Schweden trächtlich verschlechtern können, die Genehmigung zur den Ausstieg aus dem Ausstieg beschlossen, sondern in Anwendung von Schutzmaßnahmen beantragen können, mehreren europäischen Nachbarländern befinden sich um diese Lage wieder auszugleichen. Die Wiederinbe- neue Kernkraftwerke in Bau oder in Planung. triebnahme von Kozloduj soll Bulgarien bei der Bewälti- gung seiner schwierigen wirtschaftlichen Lage helfen. Europa und Deutschland können es sich im Moment nicht leisten, Kernkraftwerke und Kohlekraftwerke Grundsätzlich möchte ich sagen: Die Menschen in gleichzeitig vom Netz zu nehmen. Lassen Sie uns also da- Osteuropa haben Anspruch auf eine sichere Energiever- ran arbeiten, wie wir die Energieversorgung in Europa sorgung. Diese muss durch die Einhaltung eingegange- sichern können – mit sicheren, umweltfreundlichen Kraft- ner Verpflichtungen durch die Lieferländer gewährleistet werken und ohne Ideologie! werden. Es ist deshalb zu hoffen, dass die jetzt erzielte Ei- nigung zwischen Russland und der Ukraine eine langfris- Christoph Pries (SPD): tige Versorgungssicherheit gewährleistet. Die nukleare Sicherheit spielte eine zentrale Rolle bei Anderseits zeigen die Beispiele Bulgarien und Slowa- den Beitrittsverhandlungen der Europäischen Union mit kei auch, dass man nach dem Beitritt in die Europäische den osteuropäischen Staaten. Die alten Atomkraftwerke Union schnell gelernt hat. Insbesondere die Debatte über sowjetischer Bauart sollten entweder mit westlicher die Atomenergie hierzulande wird offenbar aufmerksam Technik nachgerüstet oder – wo dies nicht möglich war – verfolgt. Von der deutschen Energiewirtschaft hat man schnellstmöglich abgeschaltet werden. Die Beitrittskan- gelernt: Unterschreibe Verträge, wenn du deine Ziele didaten haben diesem Verfahren – trotz ihrer immer wie- nicht anders erreichen kannst. Versuche anschließend, der geäußerten Kritik – zugestimmt. die Verträge zu deinen Gunsten zu ändern. Folgende Vereinbarungen wurden in den Beitrittsver- trägen festgeschrieben: Wer die Forderungen der Bulgaren und Slowaken als Vertragsverletzung kritisiert, der muss auch das Abrü- In Litauen wurde der Reaktor Ignalina 1 am 31. De- cken der deutschen Energiewirtschaft vom Atomkonsens (B) zember 2004 abgeschaltet. Der Reaktor Ignalina 2 muss kritisieren. Ich bin hier schon sehr auf die Ausführungen (D) laut Betrittsvertrag spätestens Ende 2009 vom Netz ge- der Union und der FDP in den Ausschussberatungen ge- nommen werden. spannt. Die Slowakei schaltete die Reaktoren Bohunice 1 Auch von Teilen der deutschen Politik haben Bulgaren und 2 zum 31. Dezember 2006 und 2008 ab. und Slowaken sich etwas abgeschaut: Nutze jede Ener- In Bulgarien wurden die Reaktoren Kozloduj 1 bis 4 giekrise, um auf die Unverzichtbarkeit der Atomenergie bis zum 31. Dezember 2006 schrittweise stillgelegt. hinzuweisen. Ob damit das eigentliche Problem gelöst wird, ist egal. – Beim ersten Gasstreit im Januar 2006 hat Im Gegenzug erhalten die Beitrittsländer für die Still- es der damalige Wirtschaftsminister Glos vorgemacht. legung umfangreiche finanzielle Unterstützung durch die Als die Gaslieferungen schrumpften, forderte er vehe- Europäische Union. Ich denke, wir alle hier im Hause ment, nun müsse man aber endlich die Laufzeiten der sind uns einig, dass dieser Schritt für die Sicherheit von deutschen Atomkraftwerke verlängern. Dass zwischen Mensch und Umwelt wichtig und richtig war. Strom aus Atomkraftwerken und Wärme aus gasbetriebe- nen Heizkraftwerken kein Zusammenhang besteht, war Nun hat der Gasstreit zwischen Russland und der dem Minister offenbar nicht bewusst. Ukraine in Bulgarien und der Slowakei die Diskussion über die Abschaltung der Atomkraftwerke neu entfacht. Das Gleiche gilt auch für Bulgarien und die Slowakei. Die slowakische Regierung hatte Anfang Januar ange- Nach den Zahlen der Internationalen Energieagentur be- kündigt, aufgrund des Gaslieferstopps den gerade erst trug 2006 in Bulgarien der Anteil der Atomkraft an der abgeschalteten Reaktor Bohunice 2 wieder anzufahren – Erzeugung von Heizwärme gerade einmal 1,16 Prozent. auch um den Preis eines EU-Vertragsverletzungsverfah- Gas hingegen hatte einen Anteil von 53,5 Prozent. Bei der rens. Nach Beendigung der Krise hat die slowakische Re- Stromproduktion sind die Gewichte umgekehrt. gierung am 23. Januar allerdings entschieden, auf die Wiederinbetriebnahme des umstrittenen Reaktors zu ver- Auch in der Slowakei betrug der Anteil von Gas an der zichten. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt diese Ent- Stromproduktion 2006 gerade einmal 6,1 Prozent. Der scheidung ausdrücklich. Anteil von Atomenergie an der Wärmeenergieerzeugung lag bei bescheidenen 5 Prozent. In Bulgarien hat das Parlament am 23. Januar einen Antrag verabschiedet, der die Regierung auffordert, die Fazit: Mit Atomkraft lässt sich das Problem der Wär- Europäische Kommission um eine Überprüfung der Ab- meenergieerzeugung nicht beheben. Auch glühende schaltung der Reaktoren Kozloduj 3 und 4 zu bitten. Da- Atomstromleitungen heizen keine Wohnung.

Zu Protokoll gegebene Reden 22214 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Christoph Pries (A) Dass Heizen mit Strom ein Irrweg ist, zeigt uns Frank- duktion von 15 auf 10 Prozent sinken wird. Auch ein Ver- (C) reich in jedem kalten Winter. Dann können selbst 58 fran- treter der Internationalen Atomenergie-Agentur kommt in zösische Reaktoren den Strombedarf der Elektroheizun- der „Süddeutschen Zeitung“ zu dem Schluss, es gebe bei gen nicht decken – von der Ineffizienz und der Atomkraft lediglich eine Renaissance beim theoreti- Klimaschädlichkeit einer Stromheizung ganz zu schwei- schen Interesse. gen. Wie so ein theoretisches Interesse aussieht, konnte Bisher liegt der EU-Kommission kein Antrag der bul- man in den letzten beiden Jahren in Südafrika verfolgen. garischen Regierung vor. Die Erfolgsaussichten eines po- Im August 2007 brach dort laut n-tv die Atom-Ära an. tenziellen Antrags auf Wiederaufnahme des Betriebs der 15 Milliarden Euro sollten in fünf Jahren in die Atom- Reaktoren Kozloduj 3 und 4 werden von der EU-Kommis- energie investiert werden. Die gute Hoffnung der Atom- sion sehr zurückhaltend kommentiert. Zudem müsste der lobby auf fette Aufträge am Kap erlitt dann aber schnell EU-Rat bei einer positiven Entscheidung der EU-Kom- Schiffbruch. Bereits im Dezember 2008 erklärte der mission einbezogen werden. staatliche Energiekonzern Eskom, der geplante Neubau eines Druckwasserreaktors werde aus finanziellen Grün- Was Litauen betrifft: Ein Referendum, das Atomkraft- den aufgegeben. werk Ignalina – entgegen den Zusagen Litauens im Bei- trittsvertrag – bis 2015 am Netz zu lassen, ist im Oktober Dieses Schicksal könnte vor dem Hintergrund der Fi- 2008 gescheitert. Das notwendige Quorum – eine Wahl- nanzkrise auch noch die eine oder andere Neubauankün- beteiligung von 50 Prozent – wurde verfehlt. Insofern ist digung in Europa ereilen. In Polen ist keineswegs klar, wo der vorliegende Antrag von Bündnis 90/ Die Grünen be- das Land 16 bis 18 Milliarden Euro für seine geplanten reits vor der Beratung im Ausschuss überholt. Atomkraftwerke hernehmen soll. Ob in Schweden wirk- lich neue Atomkraftwerke als Ersatz für Altanlagen ent- Darüber hinaus erweckt der Antrag den Eindruck, als stehen, bleibt abzuwarten. Denn die Anlagen müssen habe sich die Bundesregierung bisher nicht in ausrei- komplett privatwirtschaftlich finanziert werden. Derar- chendem Maße auf europäischer und bilateraler Ebene tige Bedingungen haben bisher noch jedem hochfliegen- für eine vertragsgetreue Abschaltung der Atomkraft- den Atomprogramm zur Bruchlandung verholfen. werke in Osteuropa eingesetzt. Dies ist nicht so, und das werden wir in den Ausschussberatungen klarstellen. Es bleibt auch abzuwarten, wie viele AKW-Neubauten Unabhängig davon möchte ich für die SPD-Bundes- sich die Hersteller noch leisten können. Der Bau des tagsfraktion betonen, dass wir selbstverständlich auf ei- Atomkraftwerks in Finnland beschert Areva-Siemens be- ner vertragsgetreuen Abschaltung der Atomkraftwerke in reits einen satten Verlust von mindestens 500 Millionen Euro. Daher hat das Konsortium Ende 2008 ein Schieds- (B) Osteuropa bestehen. „Pacta sunt servanda“ – Verträge (D) müssen eingehalten werden. Das gilt für die EU-Beitritts- gerichtsverfahren angestrengt, um den zugesagten Fest- preis von 3,2 Milliarden für den Reaktor mit dem finni- verträge ebenso wie für den Atomkonsens mit den Ener- giekonzernen in Deutschland. schen Energiekonzern TVO nachzuverhandeln. Die Finnen zeigten sich hiervon wenig begeistert und überle- Für die SPD ist Atomenergie eine Energieform des gen stattdessen, Areva-Siemens auf 2,4 Milliarden Euro letzten Jahrhunderts. Gemessen an den hochfliegenden Schadensersatz wegen der dreijährigen Bauverzögerung Erwartungen der 1950er- und 60er-Jahre ist die Atom- zu verklagen. energie immer „Ankündigungsenergie“ geblieben. Zwei Beispiele: Wir sind nicht die isolierten Nachzügler einer weltwei- ten Atom-Renaissance. Deutschland ist vielmehr der Vor- Erstens. Die Internationale Atomenergie-Agentur pro- reiter beim Aufbau einer modernen Energieversorgung. gnostizierte in ihrem Jahresbericht von 1974, im Jahr Die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland und 2000 würden weltweit Atomkraftwerke mit einer Leistung auch in Europa liegt im Ausbau der erneuerbaren Ener- von 4500 Gigawatt installiert sein. Die Realität im Jahr gien, der Energieeffizienz und der Energieeinsparung. 2008: 372 Gigawatt. Die weltweit 436 Reaktoren decken Dafür steht die SPD-Bundestagsfraktion. nur rund 15 Prozent des weltweiten Strom- und circa 2,5 Prozent des Endenergieverbrauchs. Das Fazit: Die Angelika Brunkhorst (FDP): Erwartungen wurden enttäuscht, die Risiken unter- 2004 sind Polen, Litauen, die Slowakei und Slowenien, schätzt. 2007 Bulgarien und Rumänien der EU beigetreten. Ihr Zweitens. Seit Jahren eilt die Atomlobby von Renais- Beitritt war an verschiedene Bedingungen geknüpft, die sance-Ankündigung zu Renaissance-Ankündigung. vertraglich festgehalten wurden. An diese Verträge müs- Glaubt man den PR-Strategen und den Hochglanzbro- sen sich die betreffenden Länder selbstverständlich hal- schüren, schießen überall auf der Welt Atomkraftwerke ten. wie Pilze aus dem Boden. Die Realität: Im Jahr 2008 ging zum ersten Mal seit 42 Jahren kein einziges Atomkraft- Dementsprechend ist es richtig, dass die EU-Kommis- werk ans Netz. sion mit einem EU-Vertragsverletzungsverfahren droht, sollte die Slowakei zwei Reaktoren in Bohunice wieder in Die Bedeutung der Atomenergie wird weiter abneh- Betrieb nehmen. Gleiches gilt für Bulgarien. Staatspräsi- men. Im „World Energy Outlook 2008“ kommt die Inter- dent Parwanow hat angekündigt, einen Reaktor des nationale Energieagentur zu dem Ergebnis, dass bis 2030 Atomkraftwerks Kozloduj wieder in Betrieb zu nehmen, der Anteil der Atomenergie an der weltweiten Strompro- was Bulgarien laut EU-Beitrittsvertrag nicht gestattet ist.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22215

Angelika Brunkhorst (A) Auch in diesem Fall muss die EU rechtliche Schritte da- Was viel schlimmer ist, meine werten Kolleginnen und (C) gegen unternehmen. Die deutsche Bundesregierung muss Kollegen von der Union: Sie setzen die Gesundheit der der EU bei diesen Schritten Rückendeckung geben. Menschen in Europa aufs Spiel. Die Wiederbelebung der radioaktiven Leichen ist mit extrem hohen Gefahren bis Hinter den Bestrebungen der betreffenden osteuropäi- hin zur Kernschmelze verbunden. Die Unbeherrschbar- schen Länder verbirgt sich deren Wunsch, energiepoli- keit der Urantechnik ist der Grund, warum die maroden tisch unabhängig von Russland zu sein. Welche fatalen Anlagen in Deutschland vom Netz müssen. Wer hier jetzt Folgen die alleinige Energieabhängigkeit von Moskau die Rolle rückwärts macht, hat sicherlich nicht das Recht, haben kann, hat der zurückliegende Gasstreit überdeut- Bulgarien Vorschläge in der Atomfrage zu machen – ob lich gemacht. Dass das Baltikum, Polen, die Ukraine und dies nun EU-konform ist oder nicht. Das heißt: Der Aus- alle anderen Staaten – Deutschland eingeschlossen – stieg aus dem Ausstieg ist der europaweite Einstieg in die Energieunabhängigkeit von Russland anstreben, ist über- Gefahrenwirtschaft. aus verständlich. Einen Vertragsbruch rechtfertigt dieses Bestreben jedoch nicht. Wir stimmen hier mit den Grünen Doch wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass einige überein. Auf eines weisen wir jedoch ausdrücklich hin: Osteuropäer nun laut über Atomstrom nachdenken? Da Die Debatte um die vertragsgemäße Abschaltung von ost- ist zum einen das Engagement vor allem deutscher Kon- europäischen Reaktoren darf keinesfalls mit der Diskus- zerne wie RWE und Siemens zu nennen. Die wollen gern sion über eine Laufzeitverlängerung deutscher Kern- in Osteuropa neue Atomkraftwerke bauen – gern auch kraftwerke vermengt oder verwechselt werden. Erst letzte mitten in Erdbebengebieten. Zum anderen ist der Gas- Woche hat sich das Europäische Parlament klar für die streit zwischen Russland und Ukraine wieder einmal europaweite Förderung der Kernenergie ausgesprochen. pünktlich zum neuen Jahr aufgeflammt. Der Lieferkon- Das Parlament forderte die Kommission auf, einen kon- flikt fiel diesmal heftiger aus und legte über zwei Wochen kreten Fahrplan für Investitionen in Kernenergie vorzu- den Gasfluss nach Westen lahm. Länder wie die Slowakei legen und unverzüglich einheitliche rechtliche und wirt- und Bulgarien, die in der Energiewirtschaft fast aus- schaftliche Bedingungen für die friedliche Nutzung der schließlich von russischem Gas abhängig sind, saßen Kernenergie zu schaffen. Gut so! Denn mit Kernenergie plötzlich im Dunkeln. Von der EU, die energiepolitisch lässt sich der Energiemix umweltschonend, wirtschaftlich aus einzelstaatlichen Egoisten besteht, war nicht viel zu und auf Versorgungssicherheit bedacht gestalten. Sich ih- erwarten – außer fehlendem Verhandlungsgeschick. rer nicht zu bedienen, bis alternative Energien die glei- Noch weniger konnten die Osteuropäer auf Deutsch- chen Möglichkeiten bieten, ist verantwortungsloser Un- land hoffen. Wir verfügen zwar über riesige Gasspeicher, sinn. die weiter ausgebaut werden. Doch wir denken gar nicht (B) daran, dieses Know-how mit unseren Nachbarn zu teilen. (D) Viele europäische Länder haben das erkannt. In Bul- Und mit der Ostseepipeline haben wir schon gegenüber garien, Finnland, Frankreich und in der Slowakei sind Polen, Litauen und Lettland gezeigt, dass wir kein Inte- neue Reaktoren im Bau. Pläne für den Neubau schmieden resse an einer gemeinsamen Gasstrategie mit unseren derzeit Bulgarien, Finnland, Frankreich, Großbritan- osteuropäischen Partnern haben. nien, Italien, Litauen, die Niederlande, Polen, Rumänien, Schweden, die Schweiz, die Slowakei, Slowenien, die Statt acht Milliarden Euro in der Ostsee zu versenken, Ukraine und Weißrussland. müssen wir Osteuropa endlich wirksam in die Gasbevor- ratung einbinden. Und wir müssen die Energieeffizienz Länder, die auf technisch sichere Kernkraftwerke set- und den Ausbau erneuerbarer Energien schneller voran- zen, haben einige Sorgen weniger. Wir in Deutschland bringen. hingegen schlafen weiterhin den rot-grün-ideologisierten Dornröschenschlaf und stehen ohne jedes Konzept da, Wir werden aber kein Gehör finden, solange Deutsch- wie wir unsere Energieversorgung klimafreundlich, ver- land seine Nachbarn vor den Kopf stößt und mit schlech- sorgungssicher, bezahlbar und unabhängiger von Impor- tem Beispiel vorangeht. Wer jetzt effiziente und erneuer- ten gestalten wollen. Auch in Deutschland sollte es Maß- bare Energien ausbremst und die gefährliche Atomkraft stab der Vernunft sein, zunächst weiter auf die friedliche bewirbt, wie CDU/CSU und FDP es machen, bleibt un- Nutzung der Kernenergie zu setzen. glaubwürdig. Deshalb ist der erste Schritt: schnellstmög- licher Ausstieg aus der Urannutzung.

Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): Der Antrag der Grünen ist deshalb zu unterstützen. In einigen osteuropäischen Staaten planen die Regie- rungen das Wiederanfahren von alten, maroden Atom- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): kraftwerken. Dass dieses Vorgehen gegen EU-Beitritts- Um wenigstens die größten Risiken von Atomreaktoren vereinbarungen verstößt, schert diese Länder herzlich zu verringern, gehören all jene Atomreaktoren, die schon wenig. Warum auch? Schließlich lebt Deutschland derar- aufgrund ihrer Konstruktion hochgefährlich sind, abge- tige Rechtswidersprüche vor. Zu besichtigen ist der poli- schaltet. Das sieht auch die ansonsten atomfreundliche tische Atom-GAU: Die CDU wirbt mit freundlicher Un- EU-Kommission so. Sie hat deshalb in den Beitrittsver- terstützung der Atomkonzerne für die Abschaffung des trägen von Bulgarien, der Slowakei und Litauen fest- Ausstiegsgesetzes, die Bundesregierung wird unglaub- geschrieben, dass hier überalterte Reaktoren zu einem je- würdig, und Deutschland macht sich zum EU-weiten Ge- weils festgelegten Zeitpunkt aus Sicherheitsgründen spött. abgeschaltet werden müssen. In Bulgarien und der Slo-

Zu Protokoll gegebene Reden 22216 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Hans-Josef Fell (A) wakei ist dies bereits geschehen, in Litauen steht die Still- EU-Ziele erfüllt werden und sich erneuerbare Energien (C) legung noch für dieses Jahr an. aus Sonne, Wind, aber auch aus Biogas durchsetzen und Energieeffizienz vorankommt. Wir fordern deshalb die Im Zusammenhang mit der jüngsten Erdgaskrise wur- Bundesregierung auf, jetzt zu handeln und nicht bis zur den in den betreffenden Ländern Forderungen laut, die nächsten Erdgaskrise zu warten. veralteten Atomkraftwerke vertragswidrig wieder in Be- trieb zu nehmen bzw. noch in Betrieb befindliche nicht zum vereinbarten Zeitpunkt abzuschalten. Trotz einiger Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Nachrüstungen in den vergangenen beiden Jahrzehnten Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf sind sie weiterhin ein großes Sicherheitsrisiko. Ein länge- Drucksache 16/11764 an die in der Tagesordnung aufge- rer Betrieb wäre unverantwortbar. Um dieses Sicher- führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind heitsrisiko auszuschließen, muss der fortgesetzte Betrieb damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- verhindert werden. schlossen. Teilweise rudern die Regierungen wieder zurück, doch Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 20: hat sich das Problem deswegen noch lange nicht erledigt. Erste Beratung des von der Bundesregierung ein- Im Gegenteil: Angesichts der Abhängigkeit Osteuropas gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset- von russischen Energieimporten wird die Forderung zung der Verbraucherkreditrichtlinie, des zivil- schon bei der nächsten Erdgaskrise wieder aufflammen. rechtlichen Teils der Zahlungsdiensterichtlinie Der Argumentation dieser Länder, dass ein Weiterbetrieb sowie zur Neuordnung der Vorschriften über unter bestimmten Voraussetzungen rechtlich möglich sei das Widerrufs- und Rückgaberecht und diese Voraussetzungen jetzt gegeben seien, muss so- wohl juristisch als auch inhaltlich widersprochen werden – – Drucksache 16/11643 – juristisch, weil diese Ausnahmeregelungen nicht für die Überweisungsvorschlag: erneute Betriebsaufnahme gelten, sondern lediglich für Rechtsausschuss (f) einen Weiterbetrieb. In der Slowakei und in Bulgarien hat Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und sich dies mit dem bereits erfolgten Abschalten bereits er- Verbraucherschutz ledigt. Aber es muss auch inhaltlich widersprochen wer- den; denn die Erdgaskrise ist nicht durch den Fortbetrieb Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre hochgefährlicher Schrottmeiler zu lösen, sondern nur Reden zu Protokoll gegeben: Marco Wanderwitz, Dirk durch eine Energiewende in den Ländern selbst und ein Manzewski, Mechthild Dyckmans, Karin Binder, Nicole solidarisches Handeln in der EU. Die Bundesregierung Maisch, Parlamentarischer Staatssekretär Alfred Harten- (B) sollte sich hier als Vorreiter betätigen. Sollte zusätzlich bach. (D) Strom benötigt werden, dann kann und muss dieser künf- tig aus anderen Staaten der EU geliefert werden. Möglich Marco Wanderwitz (CDU/CSU): ist das heute schon. Es bedarf aber sicher auch neuer Ab- Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden die EU- kommen und eines Ausbaus von Kuppelstellen. Richtlinie zu Verbraucherkrediten und der zivilrechtliche Teil der Zahlungsdiensterichtlinie umgesetzt sowie die Aber auch den betreffenden Ländern selbst steht eine Vorschriften über das Widerrufs- und Rückgaberecht neu Fülle von Instrumentarien zur Verfügung, um die Gefahr geordnet. Damit einher geht eine tiefgreifende Weiterent- zukünftiger Erdgasverknappungen zu vermindern. Dazu wicklung dieser Rechtsgebiete. gehören eine höhere Energieeffizienz, der Ausbau der er- neuerbaren Energien, eine bessere Anbindung an das Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt den Ge- Erdgasnetz der EU sowie der Bau von Biogasanlagen. setzentwurf grundsätzlich. Es ist unser Ziel, entsprechend Hier muss ein Schwerpunkt der immer enger zusammen- der Brüsseler Vorgaben eine Umsetzung in das deutsche wachsenden europäischen Energiepolitik liegen, um die Zivilrecht rechtzeitig bis zum 31. Oktober 2009 zu leisten. berechtigten Sorgen der osteuropäischen Staaten vor Wegen der besonderen Bedeutung für die Wettbewerbsfä- künftigen Energieengpässen in Krisenzeiten zu mindern. higkeit der Zahlungsdiensteanbieter auf der einen Seite Gerade angesichts der Erfüllung des 20-Prozent-EU- und für den Verbraucherschutz auf der anderen Seite wird Ziels im Hinblick auf die erneuerbaren Energien sowie im Laufe der weiteren Beratung sorgfältig zu prüfen sein, des 20-Prozent-EU-Ziels im Hinblick auf die Effizienz inwieweit die beteiligten Interessen bereits angemessen sind auch die osteuropäischen Länder in der Pflicht. Ein berücksichtigt und zu einem vernünftigen Ausgleich ge- Weiterbetrieb der bereits abgeschalteten Reaktoren würde führt werden konnten bzw. inwieweit und an welchen Stel- den Ausbau der erneuerbaren Energien sowie Effizienz- len eine Nachsteuerung des Entwurfs erforderlich ist. Wir anreize verhindern. dürfen nicht, wie leider bereits so manches Mal, eine über die Richtlinien hinausgehende Umsetzung anstreben, Von der Bundesregierung haben wir zu diesem Thema wenn dadurch nicht eine Verbesserung der Wettbewerbs- bislang nichts gehört. Wir fordern sie deshalb auf, jetzt position im europäischen Vergleich bzw. substanzielle endlich zu handeln und sich auf EU-Ebene und bilateral für Verbesserungen im Bereich des Verbraucherschutzes er- die vertragstreue Abschaltung der betreffenden Altmeiler in reicht werden können. Ost- und Südosteuroapa einsetzt. Aber es müssen auch Alternativen geboten werden, um die Abhängigkeit von Mit der zur Umsetzung in nationales Recht anstehen- fossilen und nuklearen Energieimporten zu verringern. den Zahlungsdiensterichtlinie wird das positive Ziel an- Europa muss alles daransetzen, dass in diesen Staaten die gestrebt, grenzüberschreitende Zahlungen so einfach, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22217

Marco Wanderwitz (A) effizient und sicher zu gestalten wie rein nationale Zah- Zweitens: Werbung. Ein weiterer Punkt ist die Wer- (C) lungen innerhalb eines Mitgliedstaates. Darüber hinaus bung, die für Darlehensverträge strenger reglementiert soll der Wettbewerb dadurch erhöht werden, dass durch werden soll. Es soll nicht mehr als „Lockangebot“ eine die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes neue einzige Zahl herausgestellt werden, wie beispielsweise Anbieter in den Zahlungsverkehrsmarkt eintreten kön- ein besonders niedriger Zinssatz. Zukünftig müssen die nen, was zur höheren Effizienz und im Ergebnis geringe- Konditionen anhand eines repräsentativen Beispiels ver- ren Kosten für die Kunden führen soll. Dafür sind gleiche deutlicht werden, wobei der Zinssatz, variabel oder fest, Wettbewerbsbedingungen für alle Anbieter im EU-weiten der Nettodarlehensbetrag, der effektive Jahreszins, der Zahlungsverkehr Voraussetzung, die durch angeglichene bei mindestens zwei Drittel der zu erwartenden Verträge Anforderungen für die Beaufsichtigung der Zahlungsins- Verwendung finden wird, und die sonstigen Kosten darzu- titute und harmonisierte Marktzugangskriterien geschaf- stellen sind. Auch die Frage, „wie“ geworben werden fen werden sollen. Im Ergebnis sollen Kunden zugleich darf, wird geregelt – die Informationen sollen auffallend, bessere Transparenz über Anbieter von nationalen und also gegenüber dem restlichen Inhalt der Werbung op- grenzüberschreitenden Zahlungsdiensten gewinnen. tisch, akustisch oder ähnlich jeweils den Umständen ge- eignet, hervorgehoben werden. Damit soll der Verbrau- Um diese Ziele zu erreichen, enthält die Richtlinie be- cher insgesamt in die Lage versetzt werden, aufgrund reits sehr detaillierte Regelungen. Neben den aufsichts- eines verbesserten Kenntnisstandes selbst die Vor- und rechtlichen Anforderungen sind umfassende zivilrechtliche Nachteile des jeweiligen Kreditangebots abzuwägen. Normierungen vorgesehen, die für alle Zahlungsdienst- leistungen bis spätestens zum 31. Oktober 2009 in der Hier sehe ich Diskussionsbedarf, denn es ist bisher Europäischen Union und den Staaten des Europäischen noch offen, wie zum Beispiel die Zweidrittelregelung ein- Wirtschaftsraums in nationales Recht umgesetzt werden geschätzt und wirksam kontrolliert werden soll, welche müssen. Vergleichsportfolios heranzuziehen sind und welche Da- ten offenzulegen sein werden. Der vorliegende Regierungsentwurf integriert die um- fangreichen Vorgaben der Richtlinie in Bezug auf den zi- Drittens: Musterverträge für Verbraucherdarlehen. vilrechtlichen Teil der Umsetzung in das Bürgerliche Ge- Künftig ist vorgesehen, einheitliche, für ganz Europa gel- setzbuch bzw. das Einführungsgesetz zum BGB. Um tende Musterverträge für Kreditverträge zu etablieren. welche neuen Vorgaben handelt es sich, bzw. welcher Der Gesetzesentwurf sieht vor, dies in Deutschland erst- gesetzgeberische Handlungsbedarf besteht? Die Ver- mals auch gesetzlich zu kodifizieren, um an dieser Stelle braucherkreditrichtlinie beinhaltet viele inhaltliche und die Rechtssicherheit bzw. Verbindlichkeit solcher Muster technische Neuerungen, indem sie die Bestimmungen ins- zu verbessern. (B) besondere zur Werbung, zur vorvertraglichen Informa- (D) tion, zum Widerruf, zur vorzeitigen Rückzahlung nebst Viertens: Kündigungsmöglichkeiten. Von besonderem Vorfälligkeitsentschädigung harmonisiert. Kurz gesagt: Interesse wird auch die vorgeschlagene Neuregelung der Neuerungen, durch die Verbraucher zukünftig besser Kündigungsmöglichkeiten bei Darlehensverträgen sein. über den Vertragsinhalt informiert werden sollen und Kündigungen durch den Darlehensgeber sollen künftig durch die zugleich Widerrufs- und Rückgaberechte bei bei unbefristeten Kreditverträgen nur noch zulässig sein, Verbraucherkreditverträgen vereinfacht werden sollen. wenn eine Kündigungsfrist von mindestens zwei Monaten eingehalten wird. Dagegen sollen Verbraucher einen un- Herausheben möchte ich folgende Punkte: befristeten Kreditvertrag zu jeder Zeit kündigen können. Eine vertraglich zu vereinbarende Kündigungsfrist darf Erstens: Informationspflichten. Der Verbraucher soll für den Verbraucher eine Frist von einem Monat nicht künftig vor Abschluss eines Darlehensvertrages in der überschreiten. Im Falle eines befristeten Vertrages soll Phase der Vertragsanbahnung über die wesentlichen Be- das Darlehen entsprechend jederzeit ganz oder teilweise standteile des Kredits informiert werden. Unterstützt wird zurückgezahlt werden dürfen. Ein eventuell entstehender dies, indem der Verbraucher vor Vertragsschluss einen Anspruch des Darlehensgebers auf eine Vorfällig- Entwurf des Darlehensvertrages anfordern kann. Der keitsentschädigung soll dabei auf maximal ein Prozent Kreditgeber hat den Verbraucher über dieses Recht, für des vorzeitig zurückgezahlten Kreditbetrages beschränkt das im Übrigen kein gesondertes Entgelt erhoben werden werden. Von den Neuregelungen sollen nicht nur reine darf, gesondert vorab zu informieren. Dies soll dem Ver- Darlehensverträge, sondern auch andere Finanzierungs- braucher die Möglichkeit eröffnen, verschiedene Ange- geschäfte, wie etwa Teilzahlungsgeschäfte und Leasing- bote besser zu vergleichen und in Kenntnis aller Um- verträge, umfasst werden. stände sich für oder gegen eine Vertragsofferte zu entscheiden. Sobald sich die Wahl für einen bestimmten Daneben ist die Zahlungsdiensterichtlinie zu betrach- Kredit abzeichnet, muss der Darlehensgeber dem Ver- ten, die neben den gesondert zu regelnden aufsichtsrecht- braucher zusätzlich die Hauptmerkmale des Vertrags er- lichen Bestimmungen zivilrechtliche Regelungen für die läutern. Dabei wird nicht nur festgelegt, über was im Ein- verschiedenen Zahlungsdiensteanbieter bzw. Zahlungs- zelnen zu informieren ist, sondern auch, auf welche Weise verfahren vorsieht. Im Gegensatz zu dem aufsichtsrecht- dies zu erfolgen hat. Damit geht die Vorschrift hinsichtlich lichen Teil der Zahlungsdiensterichtlinie, der das Ver- ihres Detaillierungsgrades deutlich über die bisherigen hältnis zwischen Zahlungsdienstleistern und Staat regelt, Regelungen hinaus. Genauso ist neu, dass der Verbraucher befasst sich der zivilrechtliche Teil mit dem Verhältnis jederzeit – während der gesamten Vertragslaufzeit – einen zwischen Zahlungsdienstleistern und Kunden. Im Bereich Tilgungsplan vom Darlehensgeber fordern kann. des bargeldlosen Zahlungsverkehrs gelten für Anbieter

Zu Protokoll gegebene Reden 22218 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Marco Wanderwitz (A) und Nutzer von Zahlungsdienstleistungen künftig europa- rechtliche Bestimmungen insbesondere zu Werbung, In- (C) weit weitestgehend einheitliche Rechte und Pflichten. formationspflichten, Widerruf und Entschädigung har- Zum ersten Mal sollen sowohl für rein inländische als monisiert werden sollen. auch für grenzüberschreitende Zahlungsverfahren, zum Ich gehe davon aus, dass durch den Gesetzentwurf ins- Beispiel Überweisungen, einheitliche Regelungen festge- besondere das Schutzniveau für die Verbraucher bei Ver- legt werden. Interessant ist dies insbesondere für bargeld- braucherkreditverträgen verbessert wird. Das gilt nicht lose Zahlungen. Ein einheitlicher Euro-Zahlungsraum nur für den Abschluss, sondern auch für die Durchfüh- wird es den Anbietern von Zahlungsdiensten darüber hi- rung von Darlehen. Verbraucher werden besser über den naus erlauben, neue, europaweit funktionierende Verfah- Vertragsinhalt informiert werden, und unseriösen Lock- ren für Zahlungen in Euro zu entwickeln. Insbesondere vogelangeboten wird ein Riegel vorgeschoben. für Verbraucher bedeutet das, dass bei einer Bestellung aus dem europäischen Ausland die Bezahlung nicht mehr Auch die geplante einheitliche Regelung über die Aus- notwendigerweise per Kreditkarte vorgenommen werden gestaltung der Widerrufs- und Rückgabebelehrung in muss, sondern künftig auch mittels einer Überweisung § 360 BGB bei Verbraucherverträgen wird von mir dabei beglichen werden kann. ausdrücklich begrüßt. Die neue Vorschrift fasst die An- forderungen an eine ordnungsgemäße Widerrufs- bzw. Von Bedeutung für die Zahlungsdiensteanbieter sind Rückgabebelehrung zusammen, was zu einer Vereinfa- auch die neuen Vorschriften zu einer Vereinheitlichung chung und Erleichterung für den Rechtsanwender führen und Verkürzung der Ausführungs- und Wertstellungsfris- wird. ten, die nicht mehr zwischen nationalen und grenzüber- schreitenden Zahlungen innerhalb der EU unterscheiden. Für den europäischen Markt werden darüber hinaus Aktuell müssen grenzüberschreitende Überweisungen in einheitliche Rechte und Pflichten für den bargeldlosen der EU binnen fünf Werktagen ausgeführt werden. Ab Zahlungsverkehr geschaffen. Ich teile dabei die Auffassung dem 1. Januar 2012 sind alle Zahlungsaufträge in Euro der Ministerin aus der entsprechenden Pressemitteilung innerhalb eines Geschäftstages auszuführen. Bis dahin des BMJ, dass hiervon die Kunden und die Zahlungs- kann eine dreitägige Ausführungsfrist vereinbart werden. dienstleister profitieren werden. Ich finde übrigens gut, dass die Werbung für Darlehensverträge stärker regle- Dies waren jetzt nur einige beispielhafte Neuerungen, mentiert wird. Dadurch, dass nicht nur der meinetwegen mit denen wir uns in diesem Gesetzgebungsverfahren niedrige Zinssatz, sondern auch die weiteren Kosten des auseinandersetzen werden. Vertrages angegeben werden müssen, werden Lockange- Zusammenfassend lässt sich feststellen: Die zur Um- bote unterbunden und dem Verbraucher aussagekräftigere setzung anstehenden Richtlinien bzw. der vorgelegte Informationen zugeleitet. Dies wird unterstützt dadurch, (B) Gesetzentwurf zielen auf eine Verbesserung des Verbrau- dass künftig für die unterschiedlichen Kreditverträge ein- (D) cherschutzes ab. Dies und die zu erwartenden Kostenvor- heitliche Muster zur Unterrichtung der Verbraucher gel- teile durch Etablierung eines echten Binnenmarktes auch ten; denn die unterschiedlichen Angebote können so bes- für Verbraucherkredite sind grundsätzlich zu begrüßen. ser verglichen werden. Zu beachten ist jedoch, dass überbürokratische Vor- Profitieren werden die Verbraucher auch von den neuen schriften, die am Ende lediglich erhebliche Mehrkosten Kündigungsmöglichkeiten bei Darlehensverträgen – zum für die Unternehmen der Kreditwirtschaft, im Ergebnis einen, weil Kündigungen durch den Darlehensgeber bei jedoch wenig echten Mehrwert für die Verbraucher schaf- unbefristeten Verträgen nur noch zulässig sind, wenn eine fen und schlussendlich Kreditprodukte zu verteuern ge- Kündigungsfrist von mindestens zwei Monaten vereinbart eignet sind, was wiederum für Verbraucher von Nachteil wurde, der Darlehensnehmer demgegenüber aber jeder- wäre, vermieden werden. zeit kündigen kann, und zum anderen, sollte dies der Fall Insoweit wird im Rahmen des weiteren Gesetzge- sein, weil eine vereinbarte Vorfälligkeitsentschädigung bungsverfahrens, eine Expertenanhörung ist jedenfalls auf maximal 1 Prozent des vorzeitig zurückgezahlten Be- erforderlich, zu untersuchen sein, ob der gesetzgeberi- trags beschränkt ist. sche Spielraum bei der Umsetzung der vorgenannten Im Bereich des bargeldlosen Zahlungsverkehrs werden Richtlinien richtig genutzt wurde. Uns als Union geht es künftig für Anbieter und Nutzer von Zahlungsdienstleis- darum, die Umsetzung der Richtlinien als Chance zu nut- tungen europaweit weitestgehend einheitliche Rechte und zen, gleichermaßen den Verbraucherschutz wie die Wett- Pflichten gelten. Dies wird bargeldlose Zahlungen er- bewerbsfähigkeit der deutschen Kreditinstitute im künftig leichtern und die Rechtssicherheit für alle Beteiligten er- intensiver werdenden europäischen Wettbewerb zu ver- höhen. Als Nebeneffekt ist verstärkter Wettbewerb unter bessern. den Zahlungsdienstleistern zu erwarten.

Dirk Manzewski (SPD): Soweit das BMJ die Auffassung vertritt, dass die neuen Regelungen zu einer Vereinheitlichung und Verkürzung Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen vor allem der Ausführungs- und Wertstellungsfristen führen wird, Richtlinien des europäischen Parlaments in nationales wird diese Hoffnung von mir geteilt, zumal nicht mehr Recht umgesetzt werden. Dabei geht es zum einen um die zwischen nationalen und grenzüberschreitenden Zahlungen Zahlungsdiensterichtlinie, mit der ein harmonisierter innerhalb der EU unterschieden werden wird. Rechtsrahmen für unbare Zahlungen im europäischen Binnenmarkt geschaffen werden soll, und zum anderen Uns liegt hier ein durchdachter Gesetzentwurf vor. Na- um die Verbraucherkreditrichtlinie, mit der verbraucher- türlich ist die eine oder andere Vorschrift noch einmal

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22219

Dirk Manzewski (A) kritisch zu betrachten. Das werden wir auch im Laufe des schritten worden ist, wird man nüchtern feststellen müs- (C) Gesetzgebungsverfahrens tun. Insgesamt gesehen han- sen, dass ein abermaliger Systemwechsel zu einer neuer- delt es sich meiner Auffassung nach jedoch um einen aus- lichen Belastung des Rechts- und Geschäftsverkehrs gewogenen Entwurf. Ich freue mich jedenfalls schon auf führen würde, woran niemand ein Interesse haben kann. die anstehenden Beratungen mit Ihnen. Für mich ist mit der Festlegung auf eine Musterwider- rufsbelehrung aber keine Vorentscheidung für andere Mechthild Dyckmans (FDP): Rechtsbereiche, beispielsweise das Gesellschaftsrecht, Da liegt sie nun, die Drucksache 16/11643 vom verbunden. Hier sollte die Rechtsgestaltung weiterhin 21. Januar 2009. 313 Seiten gilt es zu durchdringen, und den rechtsberatenden Berufen vorbehalten bleiben. Dies das in gerade einmal 15 Werktagen. Dass die heutige ermöglicht auch eine schnellere Anpassung an die sich erste Lesung da nicht mehr sein kann als eine erste Ein- ändernden Verhältnisse. schätzung, liegt auf der Hand. Lassen Sie mich nun zu den umzusetzenden Richtlinien Lassen Sie mich mit einem Thema beginnen, dem die kommen und mit der über Verbraucherkredite beginnen. besondere Aufmerksamkeit der FDP-Bundestagsfraktion Ziel ist es, Verbraucher künftig besser zu schützen, wenn galt und gilt: der Rechtssicherheit beim Widerrufs- und sie Kredite aufnehmen oder abbezahlen. Zu diesem Rückgaberecht. Es war die FDP-Bundestagsfraktion, die Zweck sollen die Kreditgeber die Verbraucher bereits in dieses Thema in parlamentarischen Initiativen auf die po- der Anbahnungsphase eines Vertrages umfassend infor- litische Agenda gesetzt und die Kritik aus Reihen der mieren. Auch soll – so Bundesjustizministerin Brigitte Zy- Rechtsprechung und Literatur aufgegriffen hat. Auf diese pries in einer Pressemitteilung – „Lockvogelangeboten Weise haben wir erreicht, dass nach jahrelanger Kritik ein Riegel vorgeschoben werden“. Um dies zu erreichen, zum 1. April 2008 eine korrigierte Musterbelehrung in müssen in Zukunft alle Kosten des Vertrages aufgelistet Kraft treten konnte, die zu einem Zuwachs an Rechtssi- werden. Außerdem sollen die Verbraucherrechte bei einer cherheit geführt hat. Da jedoch auch dieses Muster nur Darlehenskündigung gestärkt werden. Bei befristeten Verordnungsrang hatte, hätte es theoretisch weiterhin von Verträgen sollen Verbraucher das Darlehen künftig je- einzelnen Gerichten für unwirksam erklärt werden und derzeit ganz oder teilweise zurückzahlen dürfen. Verlangt findige Anwälte hätten ihren „Abmahnterror“ weiter ver- der Kreditgeber in einem solchen Fall eine Vorfällig- anstalten können. Damit ist nun Schluss. Nach dem Ge- keitsentschädigung, soll diese auf maximal 1 Prozent des setzentwurf soll das Muster in einem formellen Gesetz ge- vorzeitig zurückgezahlten Betrages beschränkt werden. regelt werden. Dies führt zu mehr Rechtssicherheit und zu Das alles klingt sehr technisch. Tatsächlich verbindet einem besseren Schutz vor Abmahnungen, auch wenn es sich hiermit jedoch die Hoffnung, einen echten Binnen- in Sachen Rechtssicherheit durchaus noch Gestaltungs- (B) markt für Verbraucherkredite schaffen zu können. Für (D) spielräume für Verbesserungen gibt. Anbieter von Krediten soll es zukünftig nicht mehr not- Noch immer vorgesehen ist eine Vielzahl von Gestal- wendig sein, sich an die unterschiedlichen Rechtsvor- tungshinweisen, die in der Praxis zu Interpretations- und schriften der einzelnen Mitgliedstaaten anpassen zu müs- Auslegungsfragen und zu Diskussionen darüber führen sen. Effizienzgewinne der Banken und größenbedingte werden, ob die im konkreten Fall verwendete Formulie- Einsparungen sollen die Folge sein. rung den gesetzlichen Anforderungen genügt. Wün- Positive Effekte sollen sich auch für die Verbraucher schenswert wäre darüber hinaus ein einheitliches Muster einstellen. Der verstärkte Wettbewerb soll zu einem brei- für alle Vertragsarten und Vertriebsformen unter Ein- teren Angebot und zu einem Sinken der Kreditzinsen füh- schluss auch von Verbraucherdarlehensverträgen. Min- ren. Verbraucher sollen zudem vor unverhältnismäßigen destens erforderlich ist eine Maximalgrenze für die Aus- Krediten geschützt werden. Mitunter sollen sie gar vor übung des Widerrufsrechts. Dies gilt jedenfalls so lange, sich selbst geschützt werden. Ökonomisch könnte es näm- wie Verbraucherkreditverträge aus dem Anwendungsbe- lich durchaus sinnvoll sein – so die Richtlinie – wenn Kre- reich der Musterbelehrungen ausgeklammert sind. ditgeber in einzelnen Fällen einen Kredit auch einmal Ausdrücklich zu begrüßen ist die Absicht, die bislang verweigern. Dies diene überdies der Stabilisierung der bestehende Ungleichbehandlung von Onlineshops und internationalen Finanzwelt, die nicht zuletzt durch die Internetauktionen bei Widerrufsfrist und Wertersatz auf- unverantwortliche Kreditvergabepraxis US-amerikani- zuheben. Diese Unterscheidung war künstlich. Sie be- scher Banken in Turbulenzen geraten sei. ruhte auf einer rechtlichen Konstruktion, ohne dass in der Sache eine unterschiedliche Behandlung geboten gewe- Das alles klingt gut und nachvollziehbar. Es darf aber sen wäre. nicht den Blick dafür versperren, dass mit der Richtlinie auch Gefahren, in jedem Falle aber Kosten verbunden Gestatten Sie mir in diesem Zusammenhang noch eine sein werden. Den Kreditgebern werden Kosten entstehen, grundsätzliche Bemerkung. Ich begrüße das Muster aus beispielsweise um den Beratungs- und Dokumentations- praktischen Erwägungen. Rechts- und ordnungspolitisch pflichten zu genügen. Das Risiko, in gerichtliche Verfah- könnte man auch zu anderen Ergebnissen kommen. Un- ren verwickelt zu werden, wird steigen. Und die steigen- verändert stellt sich die Frage, ob es Aufgabe des Gesetz- den Kosten und Risiken werden es für Kreditgeber häufig gebers ist, Muster für die Rechtspraxis vorzuhalten. Nach finanziell unattraktiv machen, überhaupt bestimmte klei- meiner Auffassung ist dies eigentlich Aufgabe der rechts- nere Darlehen zu gewähren. Es ist also nicht gänzlich beratenden Berufe. Nachdem nun aber einmal der Weg auszuschließen, dass am Ende eine Verknappung des Kre- über Muster des Verordnungs- bzw. jetzt Gesetzgebers be- ditangebotes stehen wird. Den Preis hierfür werden aber

Zu Protokoll gegebene Reden 22220 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Mechthild Dyckmans (A) auch die Verbraucher zahlen, die entweder höhere Kre- wird, die bis hin zu § 675 „z“ BGB gehen soll. Wer soll (C) ditkosten tragen müssen oder überhaupt keinen Kredit das eigentlich noch verstehen? mehr erhalten können. Gemessen an der wechselvollen und langen Entstehungsgeschichte der neuen Richtlinie Ich bin mir des begrenzten Spielraums, der für den na- hätte es schlimmer kommen können. tionalen Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie verbleibt, durchaus bewusst. Wir dürfen jedoch den Kopf Gleichwohl bleiben Zweifel am Harmonisierungskon- nicht in den Sand stecken, sondern müssen den verblei- zept der neuen Richtlinie. Was wir beobachten, ist ein benden Spielraum im Gesetzgebungsverfahren effektiv Flickenteppich, eine bunte Mischung aus Vollharmonisie- nutzen. Das gilt einerseits im Interesse der Verbraucher. rung, Mindestharmonisierung, partieller Harmonisie- Hier werden wir uns mit dem Zusammenspiel der neuen rung und zulässigen Alternativregelungen in Form von Regelungen noch intensiver beschäftigen müssen. So Optionsklauseln. Das macht die Richtlinie zu einem Re- kann es doch beispielsweise nicht sein, dass der Widerruf gelwerk, das im Gemeinschaftsprivatrecht seinesgleichen von Zahlungsaufträgen bei sofort erkannten Fehlern of- sucht. Das bleibt nicht ohne Folgen auch für die Ziele, die fensichtlich fast unmöglich wird und sich Fehler nicht mit der Richtlinie verfolgt werden. Ich habe Zweifel, dass mehr unbürokratisch beseitigen lassen. Dies gilt aber die Rechtslage in den Mitgliedstaaten durch die Umset- auch im Interesse der Banken. Die Umsetzung der Ver- zung tatsächlich soweit vereinheitlicht wird, dass die braucherkredit- und Zahlungsdiensterichtlinie bedeutet Marktbedingungen in allen Mitgliedstaaten gleich sind für die Kreditwirtschaft einen weiteren großen Kraftakt in und Banken ihre Verbraucherkredite wirklich in identi- einer Zeit, in der durch die Finanz- und Wirtschaftskrise scher Form EU-weit anbieten können. ohnehin schon genug Belastungen zu bewältigen sind. Hier liegen große Anstrengungen vor den Banken. Mit Blick auf das gemeinschaftsrechtliche Subsidiari- tätsprinzip stellt sich deshalb mit besonderem Nachdruck Deshalb sollte das einheitliche Inkrafttreten der Um- die Frage, ob eine Vollharmonisierung im Verbraucher- setzung von Verbraucherkreditrichtlinie und Zahlungs- recht mit allen Schwierigkeiten, die sie für die Mitglied- diensterichtlinie noch einmal überdacht werden. Für die staaten birgt, überhaupt gerechtfertigt ist. In diesem Zahlungsdiensterichtlinie gilt ein Umsetzungszeitraum Sinne ist die Verbraucherkreditrichtlinie ein echter Test- bis zum 1. November 2009. Das ist schon knapp genug, ballon für alle weiteren Harmonisierungsbestrebungen aber nicht zu ändern. Bei der Verbraucherkreditrichtlinie im Verbraucherrecht. Dies gilt insbesondere auch im Hin- haben wir etwas mehr Luft. Hier ist Stichtag für die Um- blick auf die anstehende Überarbeitung des Verbraucher- setzung der 12. Mai 2010. Es ist kein Sachgrund ersicht- acquis. lich, das Inkrafttreten des Gesetzes auch insoweit auf den 31. Oktober 2009 vorzuziehen. Das sollten wir im Gesetz- (B) Neben diesen eher grundsätzlichen Überlegungen gebungsverfahren korrigieren. (D) werden wir uns im Gesetzgebungsverfahren auch mit Ver- In diesem Sinne freue ich mich auf gute Beratungen besserungen im Detail auseinanderzusetzen haben. Eine und auf entsprechende Erkenntnisgewinne bei allen Be- wichtige Forderung in diesem Zusammenhang ist die Ver- teiligten. meidung von unverhältnismäßigen Rechtsfolgen bei In- formationsdefiziten. Wenn man bedenkt, dass der Gesetz- entwurf an verschiedenen Stellen Rechtsfolgen bis hin Karin Binder (DIE LINKE): zum Verlust jeglicher Zinsansprüche vorsieht, bedarf dies Angesichts der weltweiten Wirtschafts- und Finanz- einer sehr kritischen Überprüfung. krise ist der vorliegende Gesetzentwurf fast schon eine Provokation. Während die Bürgerinnen und Bürger mit Ich bitte mir nachzusehen, dass ich die Zahlungs- ihren Steuern und häufig genug auch mit dem Verlust ih- diensterichtlinie an dieser Stelle aus Zeitgründen nur res Arbeitsplatzes die Folgen der Krise zu bezahlen streifen kann. Grenzüberschreitende Zahlungen sollen haben, und während Milliarden an Steuergeldern an genauso einfach, effizient und sicher werden wie Zahlun- Wirtschaft und Banken verschenkt werden, wird der fi- gen innerhalb eines Mitgliedstaates. Darüber hinaus soll nanzielle Verbraucherschutz von Bundesregierung und der Wettbewerb erhöht werden. Durch die Schaffung ei- EU nicht etwa gestärkt, sondern geschwächt. Fehlender nes einheitlichen Binnenmarktes sollen neue Anbieter in unmittelbarer oder mittelbarer Verbraucherschutz spielt den Zahlungsverkehrsmarkt eintreten können, was zu ei- eine bedeutende Rolle in der Finanzkrise. Doch nicht ein- ner höheren Effizienz und zu geringeren Kosten führen mal jetzt macht sich die Bundesregierung auf, ein zu- soll. All dies findet seinen Niederschlag in einer Vielzahl kunftsfähiges und Verbraucherinnen und Verbraucher von sehr detaillierten Regelungen, die zu entsprechend schützendes Kreditwesen zu schaffen. engen Vorgaben für den nationalen Gesetzgeber führen. War im deutschen Recht bislang nur der Überweisungs- Dieser Gesetzentwurf bringt alles andere als die Ver- vertrag detailliert geregelt, enthalten die neuen Vor- besserung des finanziellen Verbraucherschutzes in schriften nunmehr darüber hinausgehende Anforderun- Deutschland. Er basiert auf einer EU-Richtlinie, an der gen, die auch für die sonstigen Zahlungsinstrumente, wie die Bundesregierung in Brüssel maßgeblich beteiligt war. zum Beispiel Lastschriften, Karten, das Onlinebanking, Der Entwurf belegt, dass trotz aller Beteuerungen aus die Geldkarte usw., gelten sollen. dem Regierungslager über dringend notwendige, schär- fere Regulierungen der Finanzmärkte gerade das genaue All dies hat erhebliche Auswirkungen auf unser gutes Gegenteil stattfindet. Inmitten der katastrophalen Fi- altes BGB. Mir wird schwummrig bei der Vorstellung, nanz- und Wirtschaftskrise lässt die Regierung den Neo- dass § 675 BGB künftig eine Buchstabenkette aufweisen liberalismus hochleben. Das ist die Wirklichkeit.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22221

Karin Binder (A) Ich werde Ihnen das erläutern. Die Verbraucherkredit- Der Zinssatz ist nach der bisherigen Rechtsprechung auf (C) richtlinie enthält heute alles, was die Bankenlobby sich maximal 16 bis 18 Prozent beschränkt. Diese Wucherkre- wünscht: die Anerkennung von Kreditverkäufen, ein nicht dite werden nicht von den Gutsituierten in Anspruch ge- aussagefähiger Effektivzins, Ausnahmen für Kleinkredite, nommen, sondern von den Leuten, denen bereits jetzt das Anerkennung der wucherischen Überziehungsprovisio- Wasser bis zum Hals steht. Dazu gehören auch Kleinstun- nen und Verschuldung auf Mausklick im Internet ohne ei- ternehmer und Selbstständige. Diese Wucherzinsen müs- genhändige Unterschrift. Den nationalen Parlamenten sen verboten werden. wurde nur wenig Spielraum gelassen, um die Verbrauche- rinnen und Verbraucher besser zu schützen. Während in Frankreich, Italien, den Benelux-Ländern oder auch in Polen Antiwuchergesetze bestehen, gibt es in Aber auch diesen Spielraum nutzt die Bundesregie- Deutschland bislang nur eine Rechtsprechung, die jedoch rung in ihrem Gesetzentwurf nicht. Der Kreditmarkt ist nicht mehr greift. Sie besagt nämlich, das Doppelte vom intransparent und soll offenbar auch weiter intransparent Üblichen sei nichtig. Was jedoch „üblich“ ist, wurde per- bleiben. Banken können weiterhin mit Kreditzinsen wer- vertiert. In Deutschland wird Wucher so zum Alltagspro- ben, die die Verbraucherinnen und Verbraucher in der blem. Realität nie bekommen werden. So gehört mittlerweile Die Koalitionäre von CDU/CSU und SPD lässt das zur gängigen Praxis, dass 50 Prozent der Kreditkosten kalt. Wo sind die Antiwucherregelungen in Ihrem Gesetz- verschleiert werden, indem die Vergabe von Krediten mit entwurf? Ist für Sie der § 138 Abs. 2 BGB etwa der Weis- einer Restschuldversicherung gekoppelt wird, die den heit letzter Schluss? Kredit erheblich verteuert. Ignoriert wird auch, dass eine Kreditvergabe häufig an den Abschluss einer Kapitalle- Ich fasse zusammen: Wir haben in Deutschland – im bensversicherung gebunden wird. Danach müssen zuerst Unterschied zu zahlreichen anderen vergleichbaren Län- die Kosten der Versicherungen und das Anlageprodukt dern – ein großes Problem mit dem Effektivzins, mit dem bezahlt werden, bevor der Kredit abgetragen werden Kreditmonopol, mit Wucher, mit Kreditkartenketten und kann. So kassieren die Banken doppelt: erst die Provisio- mit Überschuldung. Das alles scheint Ihnen gleichgültig nen der Versicherungen, die teilweise 60 Prozent betra- zu sein. Im Gesetzentwurf ist es kein Thema. gen, und obendrein die hohen Zinsen der Kreditnehme- Ich möchte daran erinnern, dass die internationale rinnen und Kreditnehmer. Gemeinschaft sieben Prinzipien für eine verantwortliche Ein weiteres großes Problem sind Kleinkredite, die Kreditvergabe aufgestellt hat. Sie könnten dies als Anre- ebenso wenig unter die verbraucherschützenden Normen gung nutzen, um den Gesetzentwurf zu überarbeiten. des Gesetzes fallen. Dazu gehört zum Beispiel die Praxis Auch besteht dringender Handlungsbedarf bei der finan- (B) der Banken, Verbraucherinnen und Verbraucher zu einer ziellen und personellen Ausstattung der Schuldnerbera- (D) Kette von Kreditkarten zu verleiten, in der die Überschul- tungsstellen. Bereits heute wird von der Wirtschaftsaus- dung einer Kreditkarte durch die nächste verlängert und kunftei Creditreform für dieses Jahr eine Zunahme der verschärft wird und die Menschen in eine Überschul- Verbraucherinsolvenzen um 50 Prozent angekündigt. dungsspirale treibt. Das Gleiche gilt für Kapitallebens- Dieser Gesetzentwurf birgt gerade für Menschen mit versicherungskredite oder für sogenannte finanzierte Ka- kleineren Einkommen massive Verschlechterungen. Er pitalanlagen. Diese Praxis, die in angelsächsischen darf so nicht angenommen werden. Ländern verbreitet ist, treibt nun auch bei uns ihre fal- schen Blüten. Damit wird das Kreditmonopol untergra- ben. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Finanzkrise hat es deutlich gezeigt: Ob bei Geld- Es wird zusätzlich dadurch aufgeweicht, dass es in ei- anlagen oder Kreditvermittlung, die Verbraucherinnen nigen neuen EU-Ländern, wie zum Beispiel in Tsche- und Verbraucher brauchen mehr Schutz auf den Finanz- chien, es dieses Kreditmonopol gar nicht gibt. Interessiert märkten. Der nun vorliegende Gesetzentwurf zur Umset- es die Bundesregierung gar nicht, welche Probleme für zung der Verbraucherkreditrichtlinie setzt eine EU-Richt- die Bürgerinnen und Bürger dadurch entstehen können? linie um, die im Frühjahr 2008 verabschiedet wurde. Auch Kettenumschuldungen interessieren die Koalition Bereits in der EU-Richtlinie wurde der Verbraucher- offenbar nicht, die die Kreditnehmerinnen und Kreditneh- schutz aufgrund von massiven Protesten der Banken im mer in eine Überschuldung treiben. So müssten die Ket- Vergleich zum ursprünglichen Entwurf erheblich aufge- tenkredite untersagt werden, wo wegen eines geringen weicht. Zusatzbedarfs des Kreditnehmers gleich der gesamte Kredit mehrfach umgeschuldet wird. Dadurch verdop- Leider ist der Gesetzentwurf der Bundesregierung zur peln sich die Kreditkosten innerhalb kürzester Zeit, ohne Umsetzung der Richtlinie ebenfalls kein großer Wurf in dass die Kreditnehmerin bzw. der Kreditnehmer eine Sachen Verbraucherschutz. Viele Probleme bleiben im Chance gehabt hätte, den Kredit zu mindern. Dadurch Gesetz ungeregelt. Ein Beispiel ist das Thema unseriöse werden Schuldenberge aufgetürmt, die nicht mehr abzu- Kreditvermittler. Nach wie vor werden die Verbrauche- tragen sind. Das ist Ausbeutung durch Umschuldung. rinnen und Verbraucher nicht effektiv vor Kredithaien ge- schützt, obwohl die EU-Richtlinie durchaus Raum für Das Gesetz ändert nichts an der Praxis, von den Ver- strengere Auflagen und Pflichten für Kreditvermittler ge- braucherinnen und Verbrauchern Wucherzinsen zu neh- lassen hätte. Das ist fahrlässig, denn mit unseriösen Kre- men. Bei Überschreitung des Dispolimits verlangen viele diten werden im Jahr mindestens 150 Millionen Euro zum Institute schon 20 Prozent und mehr Überziehungszins. Schaden der Verbraucherinnen und Verbraucher umge-

Zu Protokoll gegebene Reden 22222 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Nicole Maisch (A) setzt. Die Zahl der Verbraucherinnen und Verbraucher, Alfred Hartenbach, Parl. Staatssekretär bei der (C) denen diese unseriösen Kredite angeboten werden, liegt Bundesministerin der Justiz: jährlich bei 400 000, wie eine Schufa-Studie belegt. Hier Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie- hätte die Bundesregierung handeln müssen, damit den rung sollen zwei europäische Richtlinien in deutsches schwarzen Schafen am Markt endlich das Handwerk ge- Recht umgesetzt und die Vorschriften zum Widerrufsrecht legt wird und die Menschen nicht mit faulen Kreditange- neu geordnet werden. Zur Umsetzung der Richtlinien ist boten geködert werden. Diejenigen Verbraucherinnen besonders darauf hinzuweisen, dass beide Richtlinien und Verbraucher, die sich bewusst zur Aufnahme eines dem Prinzip der Vollharmonisierung folgen. Der natio- Kredits entscheiden, müssen sich darauf verlassen kön- nale Gesetzgeber darf also grundsätzlich nicht inhaltlich nen, dass sie nicht übervorteilt oder in unüberschaubare von den Vorgaben aus den Richtlinien abweichen. Folg- Schulden getrieben werden. Zu einem seriösen Umgang lich beschränkt sich der Entwurf in weiten Teilen auf eine mit Krediten gehören auch verbraucherfreundliche Stan- Eins-zu-eins-Umsetzung. dardinformationen in der Werbung. Der Gesetzentwurf beinhaltet, die Vorgaben der Ver- Bei den Regelungen zum Widerrufsrecht wurde eben- braucherkreditrichtlinie sowie des zivilrechtlichen Teils falls geschlampt. Verbraucherinnen und Verbraucher der Zahlungsdiensterichtlinie in das Bürgerliche Gesetz- müssen davor geschützt werden, dass sie nicht auf Pro- buch zu integrieren. Dies ist konsequent. Auch bisher sind dukten sitzen bleiben, die sie weder haben wollten noch die entsprechenden Regelungsmaterien, die durch die wissentlich bestellt haben. Ein effektives und klar ver- beiden Richtlinien betroffen werden, dort angesiedelt. ständliches Widerrufsrecht im Sinne der Verbraucher Um das Bürgerliche Gesetzbuch nicht mit Details zu wäre hier wünschenswert gewesen. überfrachten, sollen die langen Informationspflichten- kataloge sowie die erforderlichen Muster in das Einfüh- Schutzdefizite gibt es auch bei den Neuregelungen für rungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch überführt die Restschuldversicherungen. Unter anderem fehlt die werden. Damit stehen diese Vorschriften und Muster auch Festlegung einer angemessenen Obergrenze für Rest- auf einer formell-gesetzlichen Grundlage, was die schuldversicherungen. Rechtssicherheit der Betroffenen erhöht. An diesen Auch die Regelungen beim Zahlungsverkehr bringen grundlegenden Entscheidungen ist im bisherigen Verlauf keine Vorteile für die Verbraucherinnen und Verbraucher. des Gesetzgebungsverfahrens keine Kritik geübt worden. Kommt es zu Missbrauch bei Kartenzahlung oder PIN, Inhaltlich ist Folgendes hervorzuheben: Die Neuord- trägt noch immer der Verbraucher ein sehr hohes Haf- nung der Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs zum tungsrisiko. Hier hätte der Gesetzgeber endlich dafür Widerrufs- und Rückgaberecht dient der Vereinfachung sorgen müssen, dass nicht die Verbraucherinnen und Ver- und soll die Verständlichkeit dieser schwierigen Materie (B) braucher den Schaden alleine tragen, wenn sie bei Kar- (D) verbessern. Sie ist zur Richtlinienumsetzung nicht erfor- tenzahlungen von Betrügern abgezockt werden. Noch un- derlich, bietet sich aber in diesem Sachzusammenhang an. verständlicher ist, dass der jetzige Entwurf vorsieht, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher bei Kartenmiss- Im Verbraucherdarlehensrecht wird die Pflicht des brauch in jedem Fall mit 150 Euro selbst haften, auch Darlehensgebers zur vorvertraglichen Information dazu dann, wenn sie nachweislich nicht fahrlässig gehandelt führen, dass Verbraucher die Vor- und Nachteile eines haben. Das ist nicht akzeptabel. Vielmehr sollten die Ban- Vertragsabschlusses besser abwägen können. Dies stärkt ken endlich in die Verantwortung genommen werden und die Position des mündigen Verbrauchers, der eigenverant- sichere Zahlungssysteme für ihre Kunden und Kundinnen wortlich auf fundierter Grundlage seine Entscheidungen bereitstellen. trifft. Einheitliche Informationsmuster werden es dem Verbraucher ermöglichen, auf einen Blick mehrere Ange- Für die Verbraucherinnen und Verbraucher bergen die bote miteinander zu vergleichen. Regelungen zur Zahlungsdiensterichtlinie auch Über- schuldungsrisiken. Wenn Kreditkartenanbieter zukünftig Hinzu kommen Regelungen zur jederzeitigen vorzeitigen keine Banklizenz mehr benötigen, werden noch mehr Kre- Rückzahlung des Darlehens. Verbraucher können zukünf- ditkarten im Umlauf sein. Für die Verbraucherinnen und tig Darlehen, die nicht grundpfandrechtlich gesichert Verbraucher ist die Gefahr der Überschuldung umso hö- sind, jederzeit, das heißt ohne die bisherige Warte- und her, wenn sie unzählige Kreditkarten nutzen können. Kündigungsfrist, zurückzahlen. Als Ausgleich steht dem Darlehensgeber eine Vorfälligkeitsentschädigung zu. De- Insgesamt bleibt festzustellen: Der Verbraucher- ren Berechnung war auf europäischer Ebene bis zuletzt schutz kommt im Gesetzentwurf wieder einmal zu kurz. umstritten. Nach dem Gesetzentwurf ist dieser Anspruch Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat den Antrag als ein in der Höhe begrenzter Schadensersatzanspruch „Verbraucherschutz auf den Finanzmärkten“, Drucksa- ausgestaltet. Dies ist eine systemkonforme Umsetzung, che 16/11205, in das parlamentarische Verfahren einge- die insgesamt sachgerecht und ausgewogen erscheint. bracht. Unter anderem fordern wir dort auch, dass ein so- genannter Finanzmarktwächter die Interessen der Neu geregelt wird ferner die Werbung für Verbraucher- Verbraucherinnen und Verbraucher auf den Finanzmärk- kredite. Wirbt ein Unternehmer mit Zahlenangaben für ten vertritt. An diesem und den zahlreichen anderen Vor- Kredite, kann er zukünftig nicht mehr eine besonders schlägen sollte sich die Bundesregierung orientieren und günstige Zahl, wie etwa den Jahreszins, herausstellen, sie in ihre Gesetzgebung einfließen lassen, damit die Ver- sondern muss weitere Pflichtangaben machen. Damit soll braucherinnen und Verbraucher nicht weiterhin die Ver- Lockvogelangeboten in der Werbung entgegengewirkt lierer auf dem Finanzmarkt sind. werden. Nach dem Vorschlag im Umsetzungsgesetz müssen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22223

Parl. Staatssekretär Alfred Hartenbach (A) die Pflichtangaben so gewählt werden, dass mindestens die Zahlungsdiensterichtlinie am 31. Oktober 2009 und (C) zwei von drei Verträgen, die aufgrund der Werbung abge- für die Verbraucherkreditrichtlinie am 12. Mai 2010. Ich schlossen werden, den in der Werbung versprochenen wäre Ihnen daher für eine zügige Beratung des Entwurfs Konditionen entsprechen. dankbar, damit wir diese Fristen einhalten können. Ein weiterer Schwerpunkt des Gesetzentwurfs betrifft die Umsetzung der zivilrechtlichen Vorschriften der Zahlungs- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: diensterichtlinie. Die Richtlinie schafft einen harmonisier- Auch hier wird die Überweisung des Gesetzentwurfs ten Rechtsrahmen für unbare Zahlungen im europäischen auf Drucksache 16/11643 an die in der Tagesordnung Binnenmarkt. Die Umsetzung erfordert erhebliche Än- aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe kei- derungen und Ergänzungen sowohl der einschlägigen nen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so be- Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs – §§ 675a ff. schlossen. BGB – als auch der Regelungen zu den Informations- Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 21 auf: pflichten. Erstmals gibt es sowohl für rein inländische als auch für grenzüberschreitende Zahlungsverfahren, zum Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank Beispiel Überweisung, Zahlungskarte oder Lastschrift, Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer einheitliche Regelungen. Dies erleichtert bargeldlose Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE Zahlungen und erhöht die Rechtssicherheit für alle Betei- Krankenhausinfektionen vermeiden – Multi- ligten. Ein einheitlicher Euro-Zahlungsraum – Single resistente Problemkeime wirksam bekämpfen Euro Payments Area, SEPA – wird es den Anbietern von Zahlungsdiensten darüber hinaus erlauben, neue, euro- – Drucksache 16/11660 – paweit funktionierende Verfahren für Zahlungen in Euro Überweisungsvorschlag: zu entwickeln, sogenannte SEPA-Produkte. Ausschuss für Gesundheit (f) Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Beispiele: Ein europäisches Lastschriftverfahren wird Verbraucherschutz es ermöglichen, dass Strom- und Telefonkosten für eine Fe- Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre rienwohnung auf Teneriffa oder die Miete für das Zimmer Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Hans Georg Faust, im Studentenwohnheim bei einem Auslandsaufenthalt mo- Dr. Carola Reimann, Dr. Konrad Schily, Frank Spieth, natlich von einem deutschen Konto bequem abgebucht Dr. Harald Terpe, Parlamentarischer Staatssekretär Rolf werden können. Auch bei Internetbestellungen aus dem Schwanitz. europäischen Ausland muss eine Bezahlung nicht mehr notwendigerweise per Kreditkarte erfolgen, sondern Dr. Hans Georg Faust (CDU/CSU): (B) kann per Lastschrift oder Überweisung durchgeführt In Deutschland werden jährlich circa 17 Millionen (D) werden. Deshalb wird – jedenfalls soweit es um die Be- Menschen an 142 Millionen Pflegetagen in etwa zahlung geht – der Standort eines Anbieters künftig kein 2 100 Krankenhäusern behandelt. Hinzu kommen medi- Hindernis mehr dafür sein, sich als Kunde für das güns- zinische Maßnahmen im Rahmen der ambulanten medizi- tigste Angebot zu entscheiden. Zugleich fördern gleiche nischen Versorgung und in anderen Einrichtungen des Rahmenbedingungen auch den grenzüberschreitenden Gesundheitswesens. Wie in anderen Industrienationen Wettbewerb unter den Zahlungsdienstleistern. Durch ein- gehören Infektionen, die in zeitlichem Zusammenhang heitliche Vorgaben über die Information der Kunden wird mit einer medizinischen Maßnahme stehen und als solche es leichter, auch das Angebot ausländischer Zahlungs- nicht bereits vorher bestanden – nosokomiale Infektio- dienstleister zu bewerten. nen; § 2 Infektionsschutzgesetz, IfSG –, zu den häufigsten Schließlich führen die neuen Regelungen zu einer Ver- Infektionen in Deutschland und den häufigsten Kompli- einheitlichung und Verkürzung der Ausführungs- und kationen medizinischer Behandlungen insgesamt. Natio- Wertstellungsfristen. Künftig wird nicht mehr zwischen na- nale und internationale Prävalenzstudien zeigen, dass tionalen und grenzüberschreitenden Zahlungen innerhalb nosokomiale Infektionen bei circa 4 bis 9 Prozent der der EU unterschieden. Bisher sind grenzüberschreitende vollstationär behandelten Patienten auftreten. Dabei gibt Überweisungen in der EU binnen fünf Werktagen zu er- es Unterschiede in Spektrum und Häufigkeit der Infektio- bringen. Ab 1. Januar 2012 müssen alle Zahlungsaufträge nen je nach Land, Region, Krankenhaus, Abteilung und in Euro innerhalb eines Geschäftstages ausgeführt werden. Fachrichtung. Bis dahin kann eine dreitägige Ausführungsfrist vereinbart Von besonderer Bedeutung sind Infektionen mit Erre- werden. Damit können Zahlungsdienstnutzer zielgenauer gern mit speziellen Resistenzen und Multiresistenzen, die ihre Zahlungspflichten gegenüber ihren Gläubigern erfül- darüber hinaus mit erhöhter Letalität belastet sind. Ein len und so lange wie möglich mit ihrem Geld arbeiten. Teil dieser Infektionen ist durch geeignete Präventions- maßnahmen vermeidbar. Solche werden von der Kommis- Abschließend möchte ich betonen, dass der Gesetzent- sion für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention wurf inhaltlich ausgewogen ist. Er beschränkt sich grund- beim Robert-Koch-Institut unter Einbeziehung weiterer sätzlich auf die zur Umsetzung notwendigen Eingriffe in Experten erarbeitet und zusammen mit ergänzenden hilf- das bestehende Recht und geht nur insoweit über die Vor- reichen Informationen veröffentlicht: www.rki.de. gaben hinaus, als dies mit den Grundgedanken des bishe- rigen Rechts in Einklang steht. Gleichwohl ist er natürlich Zu den international bewährten und allgemein aner- sehr umfangreich und durchaus nicht unkompliziert. Und kannten Maßnahmen der Prävention und Kontrolle er ist äußerst eilbedürftig. Die Umsetzungsfrist endet für nosokomialer Infektionen gehört wesentlich auch eine 22224 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Hans Georg Faust (A) etablierte Surveillance, also die systematische und kon- Die Auseinandersetzung mit den Infektionsraten muss (C) tinuierliche Überwachung von Erkrankungen bzw. To- vor allem in den Krankenhäusern bzw. in den medizini- desfällen. Mit diesem Ziel wurde die Erfassung und Be- schen Abteilungen und auf den pflegerischen Stationen wertung von nosokomialen Infektionen und von Erregern erfolgen. Nur hier können die richtigen Schlüsse in Be- mit speziellen Resistenzen einschließlich der Rückkopp- zug auf mögliche Konsequenzen bei den Infektionsprä- lung an die betroffenen Organisationseinheiten in ventionsmaßnahmen gezogen werden. Dass dieser An- Deutschland im Infektionsschutzgesetz gesetzlich veran- satz, wonach die Auseinandersetzung mit den kert – § 23 Abs. 1 IfSG – und ein Nationales Referenzzen- Infektionsraten vor allem in den Krankenhäusern erfol- trum, NRZ, für die Surveillance nosokomialer Infektionen gen muss, der zielführendere ist, wird deutlich, wenn man geschaffen. Von dort wird das auf freiwilliger Teilnahme die jüngsten Erkenntnisse des 33. Interdisziplinären Fort- basierende Krankenhaus-Infektions-Surveillance-Sys- bildungsforums der Bundesärztekammer vom 8. Januar tem, KISS, geleitet und koordiniert. Die freiwillige und 2008 zur Kenntnis nimmt. Denn dort stellte Frau Dr. gegenüber Dritten anonymisierte Teilnahme dient dabei Christine Geffers vom Hygieneinstitut der Charité Berlin der Datenqualität. die aktuellen Daten zu methicillinresistenten Staphylo- kokken, MRSA, in Deutschland vor. Nach den medizi- Von besonderer Bedeutung sind also die mehrfach ge- nisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen von Frau Dr. gen Antibiotika resistenten Erreger, die sich im Kranken- Geffers lag in Deutschland der Anteil der MRSA an allen haus ausbreiten und die mit der Verlegung von Patienten Staphylokokken in Blutkulturen 2007 bei 16 Prozent nach auch zwischen Krankenhäusern übertragen werden kön- über 20 Prozent in den Jahren davor. Eine ähnlich gute, nen. Im Falle von Infektionen mit diesen Erregern sind rückläufige Tendenz ist bei postoperativen Wundabstri- die antibiotischen Behandlungsalternativen deutlich ein- chen festzustellen: Hier lag die Quote 2007 bei 20,7 Pro- geschränkt. Gegenwärtig besteht diese Problematik in zent, im Jahr zuvor noch bei 21,9 Prozent. Deutschland insbesondere bei Methicillin(Oxacillin)-re- Wenn die tatsächlichen Infektionen in Kliniken analy- sistenten Staphylococcus-aureus-Stämmen (MRSA) so- siert werden, zeigt sich sogar ein noch deutlicherer Rück- wie – regional verschieden – bei vancomycinresistenten gang. So lag die Inzidenzdichte für MRSA-Infektionen auf Enterokokken, besonders VRE faecium, sowie multiresis- deutschen Intensivstationen in den Jahren 2006 und 2007 tenten Stämmen von Pseudomonas und Acinetobacter. bei 0,3 Infektionen pro 1 000 Patiententage. 1997 waren es noch 50 Prozent mehr Fälle. Dass die deutschen Kran- Die systematische Erfassung und Bewertung von Iso- kenhäuser darüber hinaus auch weiter aktiv sind, wird laten mit bestimmten Resistenzen und Multiresistenzen ist dadurch deutlich, dass mittlerweile 1 116 Kranken- gemäß § 23 Abs. 1 IfSG bereits jetzt eine bewährte Me- schwestern bzw. Krankenpfleger mit der Zusatzqualifika- (B) thode, entsprechende Risikobereiche, gesteigerte Antibio- tion „Hygienefachkraft“ in den Häusern beschäftigt wer- (D) tikaverbrauche und Cluster bzw. Ausbrüche zu erkennen. den und dort eine vorbildliche Arbeit leisten. Somit ist mit Inkrafttreten des Infektionsschutzgesetzes im Jahr 2000 für Krankenhäuser die Durchführung einer ge- Sehr geehrte Damen und Herren von der Fraktion Die zielten Surveillance nosokomialer Infektionen, also die Linke, nicht wirklich überraschend ist, dass Sie hier wie- Erfassung, Dokumentation und Feedback der Daten, ver- der einmal nur einen Antrag eingebracht haben, der nicht pflichtend. Diese Verpflichtung ergibt sich aus § 23 wirklich zur Lösung von Herausforderungen im Gesund- Abs. 1 IfSG. Dem Gesundheitsamt ist auf Verlangen Ein- heitssystem beitragen wird bzw. nur Ängste und Sorgen sicht in die Aufzeichnungen zu gewähren. Hierdurch soll bei den Menschen weckt. Denn wenn es Ihnen ernsthaft das Gesundheitsamt in die Lage versetzt werden, sich von um die Bekämpfung von Krankenhausinfektionen gegan- der Durchführung der gesetzlich verlangten Surveillance gen wäre, hätten Sie, um Sachkenntnis erhalten zu kön- zu überzeugen. nen, zumindest die öffentliche Anhörung des Gesund- heitsausschusses vom 18. Juni 2008 zu Ihrem Antrag In diesem Zusammenhang sollte mit großer Vorsicht „Aktuelle Finanznot der Krankenhäuser beenden“, darüber diskutiert werden, ob es zielführend ist, die bei Drucksache 16/8375, nutzen können. Sie haben dies aber der Surveillance ermittelten Infektionsraten der Öffent- – im Gegensatz zur CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die die lichkeit zugänglich zu machen und gegebenenfalls als Sachverständige Frau Dr. Annette Busley vom Medizini- Werbeträger von den Krankenhäusern einsetzen zu las- schen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen e. V. sen. Der Wunsch, vorzeigbare Infektionsraten zu ermit- und den Sachverständigen Herrn Georg Baum von der teln, und die Verknüpfung von Surveillancedaten mit wirt- Deutschen Krankenhausgesellschaft e. V. befragt hat – un- schaftlichen Interessen könnten einer objektiven terlassen. Zur Erinnerung: Frau Dr. Busley antwortete Surveillance jedoch dann im Wege stehen. Denn zurzeit damals folgendermaßen: „Es gibt sicher keine dramati- kann noch keine Aussage darüber getroffen werden, ob sche Zunahme von Infektionen in den deutschen Kranken- die Vorteile solcher öffentlichen Berichte zu nosokomia- häusern.“ Und Herr Baum sagte: „Über eine dramati- len Infektionen die Nachteile aufwiegen werden. Obwohl sche Zunahme von Krankenhausinfektionen kann ich in den USA seit 2002 in inzwischen fünf Bundesstaaten nicht berichten.“ bereits ein Public Reporting von nosokomialen Infektio- Auf die verschiedenen unterstützenden Aktivitäten der nen gesetzlich gefordert wird, spricht das US-amerikani- Bundesregierung, wie zum Beispiel die „Aktion saubere sche Healthcare Infection Control Practices Advisory Hände“ oder das „Aktionsbündnis Patientensicherheit“, Committee, HICPAC, daher keine Empfehlung für die möchte ich nicht weiter eingehen, denn Sie haben ja Veröffentlichung von Infektionsdaten aus. durch die Antworten auf Ihre schriftlichen und Kleinen

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22225

Dr. Hans Georg Faust (A) Anfragen dazu ausreichend Informationen erhalten. Und hat. Dazu zählen unter anderem Fortbildungsveranstal- (C) falls Sie dies nicht so empfinden sollten, empfehle ich tungen, verstärkte Öffentlichkeitsarbeit und die Erfas- herzlich einen Besuch der Homepage des Bundesministe- sung und Meldung des Desinfektionsmittelverbrauchs auf riums für Gesundheit. allen Stationen. Diese vergleichsweise einfachen, aber höchst wirksamen Programme zur Handdesinfektion sind Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion sind die ein wichtiger Baustein zur Eindämmung von Kranken- Patientensicherheit und die Qualität der Versorgung von hausinfektionen. Patientinnen und Patienten ein zu hohes Gut, um es durch schnelllebige Anträge beschädigen zu lassen. Daher leh- Krankenhausinfektionen stellen eine der größten He- nen wir diesen Antrag ab. rausforderungen auf dem Gebiet der Patientensicherheit dar. Die Bundesregierung hat in ihrem Verantwortungs- Dr. Carola Reimann (SPD): bereich die notwendigen Maßnahmen auf den Weg ge- Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke fordert bracht, sei es über gesetzliche Regelungen oder über die die Bundesregierung auf, Maßnahmen zur Bekämpfung Förderung entsprechender Programme. Dort, wo weite- der Krankenhausinfektionen zu ergreifen. Die Bundesre- rer Handlungsbedarf besteht wie beispielsweise bei der gierung ist sich der Problematik der Krankenhausinfek- Meldepflicht, werden Änderungen vorgenommen. Zu- tion sehr bewusst, und aus diesem Grund ist sie in diesem gleich sind die Länder gefordert, in ihrem Zuständigkeits- Bereich schon seit geraumer Zeit aktiv. Wenn ich mir ihre bereich ihren Beitrag zur Bekämpfung der Krankenhaus- Forderungen so ansehe, dann kommt mir das Sprichwort infektionen zu leisten. Ich bin mir sicher, dass wir dann von den Eulen, die nach Athen getragen werden, in den bei der Eindämmung der Infektionen einen guten Schritt Sinn. Denn entsprechende Maßnahmen zur Bekämpfung vorankommen. Einen weiteren Antrag, der nichts Neues der Krankenhausinfektion hat die Bundesregierung beinhaltet, brauchen wir hierfür allerdings nicht. längst in Angriff genommen. Dr. Konrad Schily (FDP): Bei anderen Forderungen richten sie den Appell an Resistenzen bei Bakterien, also das Unempfindlichwer- den Bund, obwohl dafür die Länder zuständig sind, wie den von Bakterien gegen Substanzen oder Medikamente, beispielsweise der Forderung nach Aufstockung und bes- die sie zurückdrängen oder vernichten sollen, sind ein Pro- serer Qualifizierung des Fachpersonals der Gesundheits- blem, das über die Hygienemaßnahmen der Krankenhäu- ämter. Auch für den Erlass von Krankenhaushygienever- ser hinausgeht. Resistenzen können viele Ursachen haben. ordnungen sind die Länder zuständig. Einige Länder, wie Sie entwickeln sich durch zu häufige und nicht indizierte zum Beispiel Bremen, Sachsen und Berlin, haben bereits Verschreibung von Antibiotika, durch das Verfüttern von solche Verordnungen. Ich erwarte, dass andere Länder Antibiotika an Tiere, deren Fleisch dann wieder von Men- (B) dem Beispiel folgen und nicht versuchen, ihre Verantwor- (D) schen genossen wird, oder durch nicht ausreichende Des- tung an andere abzuschieben, wie kürzlich die nieder- infektionen, um nur einige Beispiele zu nennen. sächsische Gesundheitsministerin Ross-Luttmann mit ih- ren unpassenden Forderungen an den G-BA. Infektionen mit MRSA – Methicillin-resistenter Sta- phylococcus aureus – sind ein Problem vorwiegend bei Ebenfalls kein Geheimnis ist, dass das Bundesministe- Patienten und Patientinnen, die langdauernd antibiotisch rium für Gesundheit derzeit einen Entwurf zur Erweite- behandelt werden mussten. Die im Antrag der Linken for- rung der Meldepflicht von MRSA in enger Abstimmung mulierte Unterstellung, Krankenhäuser würden aus wirt- mit den Ländern, Verbänden und Experten erarbeitet. Es schaftlichen Gründen auf die Verdachtsdiagnose MRSA ist davon auszugehen, dass bereits im Sommer eine ent- verzichten und eine auf MRSA-Infektion gerichtete sprechende Regelung in Kraft treten kann. Sie sehen, Diagnostik unterlassen, ist durch nichts zu belegen. auch hier hat man den Handlungsbedarf längst erkannt, und entsprechende Maßnahmen sind ergriffen worden. Die Umsetzung der im Antrag der Linken formulierten Forderungen würde mit Sicherheit höhere Kosten im System Der Kampf gegen Krankenhausinfektionen muss an verursachen. Ob damit jedoch das Problem der multi- mehreren Stellen und mit verschiedenen Mitteln geführt resistenten Problemkeime im Allgemeinen und von MRSA werden. Neben gesetzlichen Bestimmungen spielen Kam- im Besonderen einer Lösung näher gebracht werden pagnen und Programme für eine Verbesserung der Kran- kann, darüber muss noch einmal grundlegend im Rahmen kenhaushygiene eine wichtige Rolle. Ein Beispiel dafür der Beratung im Ausschuss diskutiert werden. ist die vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte „Aktion Saubere Hände“. Die sorgfältige Handdesinfek- tion ist die wichtigste Maßnahme zur Vermeidung der Frank Spieth (DIE LINKE): Übertragung von Infektionserregern; darin sind sich alle Stellen Sie sich vor, Sie bringen Ihre Mutter ins Kran- Experten einig. Bundesweit nehmen fast 500 Kranken- kenhaus, der ein Herzschrittmacher implantiert werden häuser an dieser Aktion teil. Ich freue mich über die gute soll. Bei der erforderlichen Operation infiziert sie sich Resonanz, insbesondere auch darüber, dass sich in mei- mit Krankenhauskeimen. Die Folge: Es entstehen Ent- ner Heimatstadt Braunschweig gleich zwei Häuser betei- zündungen an unterschiedlichen Körperstellen, die an ligen: das Herzogin Elisabeth Hospital und das Klinikum den Händen so schlimme Auswirkungen haben, dass ein- Braunschweig, wo die Aktion mit dem bundesweiten Ak- zelne Fingern amputiert werden müssen. Sie mögen glau- tionstag am 22. Oktober 2008 gestartet wurde. Das Kli- ben, dies sei ein Horrorszenario. Weit gefehlt. Diese Er- nikum hat eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe einge- fahrung habe ich selbst gemacht. Wenn ein Patient ein setzt, die eine Reihe von Maßnahmen in die Wege geleitet geschwächtes Immunsystem hat, und der Keim besonders

Zu Protokoll gegebene Reden 22226 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Frank Spieth (A) aggressiv ist, breiten sich solche Entzündungen aus und ist das MRSA-Risiko bis zu 20-mal höher als dort – mit (C) können im schlimmsten Fall zum Tode führen. Gemeinhin steigender Tendenz. Die positiven niederländischen Zah- nimmt man an, dass man Krankenhausentzündungen mit len sind kein Zufall, sondern Ergebnis eines ganzen Bün- Antibiotika behandeln kann. Wenn Sie Glück haben, ge- dels von Maßnahmen, die die Politik den dortigen Kran- lingt dies. Wenn Sie Pech haben, nicht. Nach Schätzungen kenhäusern verordnet hat. der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene muss man davon ausgehen, dass in Deutschland jährlich Wir fordern, dass auch in Deutschland die Lösung des etwa 20 000 bis 50 000 Menschen an Krankenhauskei- Problems der Krankenhauskeime wirkungsvoll ange- men sterben. Zum Vergleich: In Deutschland sterben an packt wird. Präventionsmaßnahmen stehen dabei an ers- Brustkrebs jährlich rund 17 000, im Straßenverkehr ter Stelle. Die Ausbreitung von Keimen muss ständig be- 5 000, an illegalen Drogen 1 400 und knapp 500 Men- obachtet und in ihrer Entstehung verhindert werden. schen an Aids. Auch das ist unakzeptabel, der Vergleich Dazu wären Screenings sinnvoll. Bei den derzeitigen Ver- zeigt aber: Krankenhauskeime sind ein gewaltiges Ge- gütungsmechanismen hätten Krankenhäuser, die konse- sundheitsrisiko in Deutschland. quent Screenings durchführen und Maßnahmen gegen Keime ergreifen, jedoch einen Wettbewerbsnachteil. Die Jedes Jahr infizieren sich etwa 500 000 bis Fallpauschalen in den Krankenhäusern führen mehr und 800 000 Menschen in den deutschen Krankenhäusern, mehr zur Fließbandmedizin. Hygiene und das Patienten- also etwa jeder zwanzigste bis dreißigste Patient. Als be- wohl sind unter diesen Bedingungen leider nur zweitran- sonders gefährlicher Keim erweist sich der Methicillin- gig, weil sie sich betriebswirtschaftlich für das Kranken- resistente Staphylococcus aureus, MRSA. 1992 hat dieser haus nicht rechnen. Auch das muss sich schnell ändern. Keim nur 2 Prozent der Krankenhausinfektionen ausge- macht. Bis 2007 hat sich diese Zahl jedoch verdreizehn- Wir fordern, dass jedes Krankenhaus Hygieneärzte facht. Auf Intensivstationen beträgt das Infektionsrisiko einstellen muss. Nicht nur in den Krankenhäusern, son- mittlerweile durchschnittlich 15 Prozent. Die starke Aus- dern auch in den Gesundheitsämtern muss das Personal breitung der Keime kommt unter anderem daher, dass das geschult und aufgestockt werden, damit die Gesundheits- Krankenhauspersonal unter einem enormen Zeitdruck ämter ihrer Kontrollfunktion auch ernsthaft nachkommen steht und die erlernten Hygienemaßnahmen unzurei- können. Die Bundesregierung muss Einfluss auf die Bun- chend einhält. Oft geht es um Basishygiene: Der eine desländer nehmen, da vieles nur über Landesrecht zu re- wäscht sich zu selten die Hände, der andere trägt wo- geln ist. chenlang denselben Kittel. Die Medizin am Fließband fordert so ihren Tribut. Die Richtlinie des Robert-Koch-Instituts zum Umgang mit MRSA muss konsequent und verbindlich umgesetzt Besonders tückisch: Immer mehr Erreger sind resis- (B) werden. Für MRSA muss eine Meldepflicht her, damit (D) tent gegen Antibiotika. Die Keime lernen, mit den Anti- endlich systematisch gegen diesen Keim vorgegangen biotika umzugehen, und vererben diese Eigenschaft an werden kann und damit nicht jedes Krankenhaus auf sich die nächsten Generationen weiter. Der falsche oder über- allein gestellt ist. Diese Absicht hat die Bundesregierung triebene Einsatz von Antibiotika fördert die Verbreitung auch bereits im Januar 2008 bekundet, und immer noch resistenter Keime. Folgt dann noch ein zu lascher Um- ist nichts passiert. Und schließlich muss man nicht alles gang mit Desinfektionsmitteln und andere Hygienemaß- neu erfinden: Andere Länder, nicht nur die Niederlande, nahmen im Krankenhaus, verschärft sich das Problem machen uns erfolgreich vor, wie die gefährlichen Keime immer weiter. zu stoppen sind. Daran sollten wir uns orientieren. Die jetzige Bundesregierung und ihre Vorgängerregie- Das wird erst einmal Geld kosten; das ist klar. Aber es rung packen die Lösung des Problems nicht konsequent geht um die Gesundheit und das Leben von Zehntausen- an. Es gibt lediglich Programme, an denen Krankenhäu- den Menschen jedes Jahr. Das alleine sollte uns das Geld ser auf freiwilliger Basis mitmachen können. Was wir wert sein. Es ist aber zudem zu erwarten, dass die Prä- brauchen, sind verbindliche Vorschriften, damit dem ventionsmaßnahmen rentierlich sein werden, da durch Schlendrian in der Hygiene in den Krankenhäusern ein die Vermeidung von Erkrankungen auch viel Geld einge- Ende gemacht wird. spart werden kann. Erschwerend kommt hinzu, dass die Bundesländer über Landesrichtlinien größtenteils für die Hygiene in Ich bitte Sie daher, diesem Antrag zuzustimmen im den Krankenhäusern zuständig sind. Gute Beispiele ge- Sinne der Patienten. ben Berlin, Sachsen und Bremen ab. Hier wurden ver- pflichtend Hygieneärzte in Krankenhäusern eingeführt. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Durch die bundesweite Aufsplitterung von Kompetenzen Der Antrag, über den wir heute diskutieren, greift ein entsteht aber ein Flickenteppich von Regelungen. Kran- wichtiges Thema auf: Krankenhausinfektionen, insbeson- kenhauskeime machen jedoch an den Grenzen der Bun- dere solche mit multiresistenten Keimen, können bei den desländer nicht halt, und so werden gute Ansätze einzel- Betroffenen großes Leid verursachen, sie können ihre ner Länder wieder zunichtegemacht. Gesundheit auf Dauer schädigen, und sie können sie im Andere europäische Staaten, zum Beispiel die Nieder- schlimmsten Fall das Leben kosten. Deshalb ist es zu- lande, zeigen uns, wie es funktionieren kann. Dort hat nächst einmal zu begrüßen, dass sich auch die Politik man bereits Anfang der 1980er-Jahre mit offensiven darüber Gedanken macht, welchen Beitrag sie dazu leis- Maßnahmen gegen MRSA begonnen. Ergebnis: Bei uns ten kann, dieses Leid zu verhindern.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22227

Dr. Harald Terpe (A) Zunächst muss man aber eine Tatsache berücksichtigen: beispielsweise Screeningprogramme, eine konsequente (C) Da wir es hier mit biologisch aktiven und auch wandlungs- Desinfektion oder den Einsatz von Hygienefachkräften fähigen Keimen zu tun haben, werden wir solche Infektio- und -fachärzten. Berlin, Bremen und Sachsen ebenso wie nen nie umfassend und komplett verhindern können. Es gilt ein Modellprojekt im Raum Münster machen uns vor, wie aber, die Gefahr so weit zu reduzieren, wie es in unserer man dadurch gezielt Krankenhausinfektionen verhindern Macht steht. Dänemark macht dies in beeindruckender kann. Weise vor. Hier in der Bundesrepublik besteht hingegen noch Nachholbedarf. Seit 1990 ist beispielsweise die Zahl Eine generelle Änderung der Situation können wir nur der MRSA-Infektionen in Kliniken deutlich angestiegen, herbeiführen, indem wir alle diese Verantwortungsträger von 1,7 auf 32 Prozent. einbeziehen. Ein Alleingang des Bundes ist hier schwer möglich. Der Bund könnte aber Initiator einer konzertierten Unabhängig von der Frage, ob die von den Linken im Aktion der Gesundheitsministerkonferenz werden, damit vorliegenden Antrag vorgeschlagenen Lösungen die In- entsprechende personelle, materielle und organisatorische fektionsgefahr signifikant verringern können, muss man Ressourcen in Krankenhäusern und Gesundheitsämtern sich eines Problems bewusst werden: Wir haben es hier realisiert werden. Langfristig werden dadurch Kosten ge- mit einer enormen Zersplitterung von Verantwortlichkei- senkt und vor allem das mögliche Leid vieler Betroffener ten zu tun – nicht nur rechtlich, sondern auch in der prak- verhindert. tischen Umsetzung. Der vorliegende Antrag vermittelt den Eindruck, dass es in der alleinigen Macht des Bundes Rolf Schwanitz, Parl. Staatssekretär bei der Bun- stehe, die notwendigen Schutzmaßnahmen zu treffen und desministerin für Gesundheit: so die Infektionsgefahr zu verringern. So wünschenswert Im Krankenhaus erworbene Infektionen sind eine dies in diesem Fall vielleicht wäre, weil es die Sache ein- große Herausforderung für die Medizin. Jährlich betref- facher machen würde, so wenig stimmt es. Natürlich hat fen diese Infektionen circa 500 000 Menschen, von denen der Bund im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes Mög- 10 000 bis 40 000 daran sterben. Etwa 30 Prozent dieser lichkeiten, auf die Ausbreitung bestimmter Erreger Ein- Infektionen sind vermeidbar. Um diese vermeidbaren In- fluss zu nehmen. Es bleibt allerdings die Frage, ob Maß- fektionen erfolgreich zu bekämpfen und Krankenhausin- nahmen in diesem Kompetenzbereich – wie beispielsweise fektionen und resistente Keime einzudämmen, müssen die vorgeschlagene Einführung einer Meldepflicht – wirk- alle Beteiligten ihre Verantwortung wahrnehmen. Neben lich ausreichen. der Bundesregierung und ihren Einrichtungen sind dies Die personelle und materielle Ausstattung der Kranken- die Länder und ihre Behörden, die medizinischen Fach- häuser, wie beispielsweise auch der Einsatz von Hygiene- gesellschaften und Ärztekammern, die Selbstverwaltung, die Krankenhäuser und medizinischen Einrichtungen und (B) fachkräften und -fachärzten, liegt in der Zuständigkeit (D) der Länder und der Krankenhausträger. Die Umsetzung natürlich auch die Beschäftigten im Gesundheitswesen. der erforderlichen Schutzmaßnahmen liegt hingegen in Der Bund begegnet der Problematik der Krankenhaus- der Hand der Krankenhausleitung, die Kontrolle in der infektionen und der Resistenzentwicklung konsequent. Verantwortung des jeweils zuständigen Gesundheitsamtes. Das Infektionsschutzgesetz enthält umfangreiche Rege- Die Ausstattung der Gesundheitsämter, damit sie ihre lungen zur Prävention von Krankenhauskeimen. Notwen- Aufgabe wahrnehmen können, liegt wiederum in der Ver- dige Anpassungen dieses Gesetzes werden zeitnah umge- antwortung der Länder. setzt. Derzeit ist der Entwurf einer Rechtsverordnung zur MRSA-Meldepflicht in der Abstimmung mit den Ländern. Dazu kommt: Viele Übertragungswege können – auch Darüber hinaus werden auf Bundesebene fachliche Emp- durch gesetzliche Regelungen oder Aktionen wie „Saubere fehlungen und Leitlinien erstellt und durch die Initiierung Hände“ oder „HAND-KISS“ – nicht beseitigt werden, und Förderung von Projekten wichtige Impulse und An- wenn die einzelnen Akteure nicht mitziehen. Die Einhaltung stöße gegeben. von bereits existierenden Hygienevorschriften wie den Richtlinien des Robert-Koch-Institutes zur Prävention von Lassen Sie mich beispielhaft nennen: Mit der Deut- MRSA oder das verantwortungsvolle Verschreiben von schen Antibiotika-Resistenzstrategie haben BMG und Antibiotika liegt in der Hand der Ärzte und des Pflege- BMELV ein Bündel aufeinander abgestimmter Maßnah- personals. Eine entsprechende Weiterbildung der Ärzte, men zur Eindämmung von Antibiotikaresistenzen und dieser Verantwortung auch gerecht zu werden, ist Auf- Krankenhausinfektionen initiiert und auch die durchfüh- gabe der ärztlichen Selbstverwaltung. renden Stellen benannt. Bei der Erstellung dieser Strate- gie waren Fachgesellschaften, Verbände und Selbstver- Wir haben es also mit einem mehr oder weniger erfolg- waltung eingebunden. Selbstverständlich wurden auch reichen Zusammenwirken vieler Faktoren zu tun. Dies er- die Erfahrungen der Nachbarländer berücksichtigt. kennt man auch an folgender Tatsache: Die Verbreitung von multiresistenten Keimen ist nicht nur von Bundesland zu Was die Einsetzung von Hygienefachkräften und Ärz- Bundesland, sondern teilweise auch von Region zu Region ten für Hygiene in Krankenhäusern betrifft, hat die vom und von Krankenhaus zu Krankenhaus unterschiedlich. Bundesministerium für Gesundheit berufene Kommission Hier könnte zwar die Einführung einer Meldepflicht den für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention Vorteil bringen, das Bewusstsein in einigen Kliniken oder (KRINKO) entsprechende fachliche Empfehlungen ent- Regionen zu schärfen, gezielter auf die Einhaltung der wickelt, wie es ihre im Infektionsschutzgesetz vorgese- Hygienevorschriften zu achten. Für eine wirkungsvolle hene Aufgabe ist. Diese Empfehlungen mit Leitliniencha- Prävention aber brauchen wir gezielte Maßnahmen wie rakter geben den medizinischen Einrichtungen die

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Parl. Staatssekretär Rolf Schwanitz (A) erforderlichen Hinweise für das korrekte Vorgehen und geben. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen verfolgt nach (C) dienen den Gesundheitsbehörden als Grundlage für ihre eigenen Angaben mit dem Antrag das Ziel, den riskanten Überwachungs- und Beratungstätigkeiten. Die Länder Cannabiskonsum einzuschränken. Aufgabe sollte es jedoch können hieraus auch verbindliche rechtliche Vorgaben in sein, den Cannabiskonsum generell zu verringern. Denn es Form von Krankenhaushygieneverordnungen ableiten, gibt keine ungefährliche Menge an Cannabis. Jeglicher wie es bereits einige getan haben – die Bundesregierung Konsum von Cannabis schädigt die Gesundheit. Dies bele- würde es begrüßen, wenn alle Länder sich dazu entschlie- gen Studien namhafter Wissenschaftler aus dem In- und ßen könnten. Ausland. Lassen Sie mich abschließend noch einmal betonen, So fand im Jahr 2005 ein Forscherteam des Institut dass die Bundesregierung das Thema Krankenhausinfek- Universitaire de Medicine Legale in der Schweiz heraus, tionen und Antibiotikaresistenzen sehr ernst nimmt. Die dass Cannabis schädlicher ist, als bisher vermutet. Den Bundesregierung hat das Instrumentarium für eine um- Probanden wurde eine geringe Dosis des aktiven Be- fassende Bekämpfung von Krankenhausinfektionen be- standteils von Cannabis – delta-9-THC – verabreicht. Bei reitgestellt. Alle am Gesundheitswesen Beteiligten sind einem Teil der Testpersonen löste bereits diese geringe aufgerufen, dieses Instrumentarium verantwortlich zu Dosis schwerwiegende Angststörungen und in weiterer nutzen. Folge Realitätsverlust, Entpersonalisierung, Schwindel und paranoide Angststörungen aus. Dies zeigt also: Nicht Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: nur der Dauerkonsum, sondern bereits der Konsum ge- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf ringer Mengen von Cannabis ist gesundheitsschädigend Drucksache 16/11660 an die in der Tagesordnung aufge- und sollte daher vermieden werden. Bei langfristigem führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind Konsum weisen Studien auf eine Reihe akuter Beein- damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- trächtigungen hin. Diese sind vor allem bei chronischem schlossen. Dauerkonsum mit großen gesundheitlichen Risiken bis Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 22: hin zur psychischen Abhängigkeit verbunden. Beratung des Antrags der Abgeordneten Besorgniserregend ist auch der mittlerweile wissen- Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth schaftlich erbrachte Nachweis, dass Cannabis Einstiegs- Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der droge für den späteren Konsum härterer Drogen ist. Wis- Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN senschaftler der Universität Amsterdam konnten dies durch eine Studie bestätigen: Jugendliche, die Cannabis Besitz und Anbau von Cannabis zum Eigen- rauchen, haben ein sechsfach höheres Risiko, später här- gebrauch entkriminalisieren – Glaubwürdige (B) tere Drogen zu konsumieren, als Jugendliche, die kein (D) und am Menschen orientierte Cannabisprä- vention umsetzen Cannabis nehmen. Daher ist es unverantwortlich, eine Straffreistellung für den Besitz von Cannabis zum Eigen- – Drucksache 16/11762 – gebrauch zu fordern, wie Bündnis 90/Die Grünen dies Überweisungsvorschlag: tun. Jegliche Bemühungen im Bereich der Prävention Ausschuss für Gesundheit (f) werden ad absurdum geführt, wenn der Besitz erlaubt und Rechtsausschuss durch das mit dem Antrag geforderte Modellprojekt sogar Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend noch durch den Staat gefördert wird. Die Kolleginnen und Kollegen Maria Eichhorn, Dr. Margrit Spielmann, Detlef Parr, Monika Knoche und Durch das von Bündnis 90/Die Grünen geforderte na- Dr. Harald Terpe haben ihre Reden zu Protokoll gege- tionale Aktionsprogramm zur Cannabisprävention soll ben. riskantem Cannabisgebrauch entgegengewirkt und sol- len die Therapiemöglichkeiten verstärkt werden. Dieses Maria Eichhorn (CDU/CSU): Programm ist unglaubwürdig, wenn der Staat selbst die Cannabis ist keine Spaßdroge. Sie ist deutschland- und Droge ausgibt. Dabei hat die Präventionsarbeit der letz- europaweit die am weitesten verbreitete illegale Droge. ten Jahre bereits Früchte getragen. Ganz offensichtlich Der Konsum hat in den vergangenen 10 bis 15 Jahren konnte mehr Jugendlichen vermittelt werden, dass Can- stark zugenommen. Während 1993 16 Prozent der 12- bis nabis keine Spaßdroge ist, sondern wesentliche gesund- 25-Jährigen Erfahrungen mit dem Konsum von Cannabis heitliche Risiken nach sich zieht. hatten, waren es 2004 schon 32 Prozent. Mittlerweile Die Zahl jugendlicher Cannabiskonsumenten ist nach sind in Deutschland etwa 600 000 vorwiegend junge einer Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Auf- Menschen Cannabiskonsumenten; 220 000 sind stark ab- klärung endlich wieder rückläufig. So sank der Prozentsatz hängig. Die Zahl der Behandlungszugänge hat sich von derjenigen 14- bis 17-Jährigen, die in ihrem Leben schon 2 600 im Jahr 1992 auf 14 700 im Jahr 2002 mehr als einmal Cannabis konsumiert haben, von 22 Prozent im verfünffacht. Vor diesem Hintergrund lehnen wird den Jahr 2004 auf heute 13 Prozent. Von einer Trendwende vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- beim Cannabiskonsum zu sprechen ist dennoch zu früh. nen ab. Der Anteil der jungen Erwachsenen, die regelmäßig Can- In diesem wird gefordert, den Besitz von Cannabis zum nabis konsumieren, ist nach wie vor hoch. Um den Einstieg Eigengebrauch von Strafe freizustellen und Cannabis in Jugendlicher in den Drogenkonsum zu verhindern, ist es einem Modellversuch kontrolliert an Konsumenten abzu- daher notwendig, die Präventions- und Beratungsarbeit

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Maria Eichhorn (A) vor allem an Schulen und in Vereinen weiterhin auszu- sumieren, haben ihren Konsum weiter reduziert. Diese (C) bauen. Tatsachen sprechen für sich. Von einer unzureichenden und unglaubwürdigen Prävention kann hier also nicht die Das Hilfesystem ist bisher nicht ausreichend auf die Rede sein. Konsummuster jugendlicher Cannabiskonsumenten aus- gerichtet. Junge Abhängige können nicht mit den gleichen Natürlich darf man sich hier nicht zufrieden zurück- Methoden behandelt werden wie Alkoholkranke oder Opiat- lehnen und es bei dem bereits Getanen belassen. Beson- abhängige, die meist älter sind. Das Beratungs- und The- ders Jugendliche, bei denen ein früher Kontakt mit Can- rapieangebot muss stärker auf die Zielgruppe der jugend- nabis nachweislich ein erhöhtes Risiko für eine lichen Konsumenten ausgerichtet und die Aufklärung Suchterkrankung im Erwachsenenalter zur Folge hat, verstärkt werden. Dass der Cannabiskonsum irreparable müssen vor den Gefahren geschützt und ausreichend auf- gesundheitliche Schäden hervorrufen kann, muss in das geklärt werden. Das Verbot von Spice, einer viel genutz- Bewusstsein der Jugendlichen dringen. Drogenberatungs- ten Ausweichdroge für Cannabiskonsumenten, zielt dabei stellen und Jugendhilfe müssen hierbei noch intensiver in die richtige Richtung. Dagegen hätte Ihr Ansatz zur zusammenarbeiten. Folge, dass die Hemmschwelle zum Konsum der zuvor il- legalen Droge weiter sinkt. Können Sie es verantworten, Ein Modellprojekt, wie von Bündnis 90/Die Grünen vor allem Jugendliche diesem erhöhten Suchtrisiko aus- gefordert, würde mehrere Millionen Euro kosten, und dies zusetzen? Ich in meinem Verständnis als Gesundheits- für ein Projekt, dessen Nutzen höchst zweifelhaft und nicht politikerin kann es jedenfalls nicht. Dies entspricht nicht erwiesen ist. Stattdessen wird sogar die Schädlichkeit der meinem Verständnis von Prävention. Droge verharmlost. Das Geld wäre weitaus besser angelegt, wenn es in den Ausbau bestehender, erfolgreich funktio- Zudem assoziiert eine Freigabe von Cannabis für den nierender Präventionsprojekte fließen würde. Hiermit Eigengebrauch, dass es sich hierbei um eine harmlose, könnte auch einer weitaus größeren Anzahl von Menschen ungefährliche Droge handelt. Dagegen sollte es aber Ziel geholfen werden. der Politik sein, endlich mit dem Spaßdrogenklischee von Cannabis aufzuräumen. Keine der neueren Studien hat Mit uns wird es keine Legalisierung des Cannabiskon- Cannabis eine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausge- sums geben. Cannabis dient als Einstiegsdroge und führt stellt. Hinzu kommen die hinlänglich bekannten und be- zu starken gesundheitlichen Schäden. Das wollen wir wiesenen Gesundheitsrisiken, die eindeutig gegen eine verhindern. Aufhebung der Strafbarkeit von Cannabis sprechen.

Dr. Margrit Spielmann (SPD): Zum letzten Punkt ist außerdem noch zu sagen, dass seit dem sogenannten Cannabisbeschluss des Bundesver- (B) Herr Jürgen Trittin, Bundesminister a. D., hat über fassungsgerichts vom 9. März 1994 bis zum Besitz einer (D) eine Jamaika-Koalition einmal gesagt: „Jamaika soll bestimmten Menge ohnehin von einer Strafverfolgung ab- eine schöne Insel sein, aber grüne Inhalte können Sie da gesehen wird. Die von Ihnen beschriebene soziale Aus- in der Tüte rauchen.“ Liest man Ihren Antrag, scheinen grenzung durch die angeblich unverhältnismäßige Krimi- die grünen Inhalte tatsächlich nicht mehr wert zu sein als nalisierung der Cannabiskonsumenten ist damit hinfällig. der Rauch eines Glimmstengels. Auch Ihre Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht In Ihrem Antrag stellen Sie Behauptungen auf, die kann ich nicht nachvollziehen. Natürlich hat jeder schlicht und ergreifend falsch sind. Sie sagen, der Ansatz, Mensch ein Recht, dieses wahrzunehmen. Andererseits mithilfe des Strafrechts den Konsum von Cannabis zu ver- besitzt der Einzelne aber auch ein Recht auf Schutz vor hindern, habe nachweislich keinen Erfolg. Wie kommt es gesundheitsschädigendem Verhalten. Deshalb haben wir dann, dass laut der Jahresberichte der deutschen und eu- in der nahen Vergangenheit ja auch so viel für den Nicht- ropäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Dro- raucherschutz getan. Die Fürsorgepflicht des Staates und gensucht sowie der Sonderauswertungen der BZgA von auch Art. 2 des Grundgesetzes, also das Recht jedes Men- 2007 der Cannabiskonsum sinkt? Nur noch 13 Prozent schen auf Leben und körperliche Unversehrtheit, stehen der 14- bis 17-Jährigen haben 2007 zumindest einmal hier dem Selbstbestimmungsrecht entgegen. Zudem ist für Haschisch oder Marihuana probiert. 2004 waren es noch mich ohnehin fraglich, ob ein Drogenabhängiger über- 22 Prozent in dieser Altersgruppe. haupt noch mündig und selbstbestimmt handeln kann. Ihrer Auffassung nach verhindern die Illegalisierung Besonders interessant finde ich auch Ihren Hinweis, von Cannabis und Kriminalisierung der Konsumenten dass die Kosten der Repression höher seien als die Aus- und Konsumentinnen eine glaubwürdige Prävention. gaben für Präventionsmaßnahmen. Dass Sie sich dabei Fakt ist, dass in den letzten Jahren eine Reihe von Projek- auf Schätzungen des Deutschen Hanfverbandes berufen, ten erfolgreich auf den Weg gebracht worden ist. Neben der zwangsläufig ein hohes Interesse an einer Freigabe dem Projekt „FreD – Frühintervention bei erstauffälli- von Cannabis hat, ist schlicht und ergreifend absurd. Tat- gen Drogenkonsumenten“ sind das „Realize it“, eine sache ist, dass über diese komplexen Repressionskosten Kurzintervention bei Cannabismissbrauch, oder auch selbst der Bundesregierung keine genauen Zahlen vorlie- „Can Stop“ zur Rückfallprävention, um nur einige zu gen. nennen. Besonders erfolgreich verlief dabei das Pro- gramm „Quit the shit“ der BZgA. Nach drei Monaten Außerdem stellt sich für mich die Frage, wie Sie sich wiesen 30 Prozent der Teilnehmer dieses Programms kei- die Aufgabe der Prohibition von Cannabis in den völker- nen Konsum mehr auf. Und die Personen, die weiter kon- rechtlichen Verträgen vorstellen. Nur zur Erinnerung:

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Dr. Margrit Spielmann (A) Das Verbot von Cannabis zum Eigengebrauch 1961 und heitsrisiken ausgesetzt. Diese sollten also möglichst ge- (C) 1988 war ja gerade die Folge des zunehmenden Miss- ring gehalten werden. brauchs von Cannabis als Rauschdroge. Mir ist unver- ständlich, warum man hier durch eine Freigabe wieder Allerdings hält auch die FDP den Weg, den Gelegen- einen Schritt zurückgehen soll. heitskonsumenten zu entkriminalisieren, für richtig. Für die Tatsache, dass das gelegentliche Rauchen eines Joints Wie so häufig wird auch in Ihrem Antrag Cannabis mit ein gesellschaftliches Phänomen ist – was auch, wie ein- Alkohol und Nikotin verglichen, was wohl eine relative gangs erwähnt, die Zahlen der Studien beweisen –, gilt es, Harmlosigkeit suggerieren soll. Dazu kann ich abschlie- eine angemessene und verhältnismäßige Lösung zu fin- ßend nur eines sagen: Solange Cannabis nicht als ge- den. Dies sollte nicht repressiv mit „aller Staatsmacht“ sundheitlich unbedenklich angesehen werden kann, gibt erfolgen, sondern praktikabel. Dazu gehört unbedingt es keine Veranlassung, den bestehenden Gesundheitsrisi- eine bundesweit einheitliche Festlegung auf eine gering- ken durch Tabak und Alkohol durch die Freigabe von fügige Menge, die straffrei bleibt. Cannabis ein weiteres hinzuzufügen. Vor allem in Zeiten, in denen der Cannabiskonsum ge- rade bei Kindern und Jugendlichen besorgniserregend Detlef Parr (FDP): ansteigt, ist eine Intensivierung der Aufklärungs- und Die Diskussion in Deutschland über die Legalisierung Präventionsarbeit dringend nötig. Über die gesundheitli- von Cannabis reißt nicht ab. Immer wieder wird die ge- chen Gefahren, die entstehen, sobald aus dem gelegent- nerelle Legalisierung von Cannabis gefordert. Auch nicht lichen Konsum ein Dauerkonsum wird, und darüber, neu ist die Forderung der Entkriminalisierung von Can- welche Auswirkungen der Konsum bei Kindern und Ju- nabis bei Eigengebrauch – sprich: insofern der Hanf le- gendlichen hat, muss verstärkt informiert und aufgeklärt diglich zum eigenen Gebrauch gezüchtet und hergestellt werden. Eine liberale Sucht- und Drogenpolitik setzt aus wird und auch die im Besitz befindliche Menge für den Ei- diesem Grund stärker auf Prävention als auf Repression. genkonsum bestimmt ist. Diese Forderungen untermau- Das gilt auch für die weiche Droge Cannabis. ern die in der breiten Öffentlichkeit oft geäußerte Mei- nung, der Konsum von Cannabis sei doch unbedenklich, sofern er mit Augenmaß erfolgt. Monika Knoche (DIE LINKE): Wenn neue Drogen in größerem Maßstab Verbreitung Diese Auffassung ist schlichtweg falsch. Experten finden, kommt es immer wieder zu Aufwallungen in der warnen eindringlich vor dem Cannabiskonsum, da die Öffentlichkeit. Rufe nach einem Verbot werden laut. Das Droge immer giftiger wird und der THC-Gehalt im Laufe Beispiel „Spice“ hat es gerade erst wieder gezeigt. Aber der Jahre durch verschiedene Züchtungen der Droge im- (B) auch für die Konsumenten von Cannabis ist die Zeit der (D) mer höher geworden ist. Dieser hohe THC-Gehalt kann Diskriminierung nicht vorbei. Die Kriminalisierung des beispielsweise schnell zu schizophrenen Psychosen füh- Anbaus von Cannabis und die Praxis des Führerschein- ren. entzugs beim Nachweis des Wirkstoffs THC sind nur zwei Studien belegen, dass der Konsum von Cannabispro- Beispiele. dukten eng mit dem Jugend- bzw. jungen Erwachsenenal- Natürlich trägt eine realistische und rationale Be- ter verknüpft ist. Fast jeder Zweite in der Altersgruppe trachtung viel dazu bei, dass ein aufgeklärterer Blick ent- der 18- bis 20-Jährigen hat Erfahrungen mit Cannabis steht. Wenn circa vier Millionen Bundesbürger schon ein- gesammelt. Die Zahl derjenigen, die exzessiv Cannabis mal Cannabis gebraucht haben, dann weist das auf die konsumieren, steigt stetig. Nach internationalen Diagno- prinzipielle Unmöglichkeit hin, ein drogenfreies Leben zu sestandards weisen 10 bis 15 Prozent aller Konsumenten postulieren und abweichendes Verhalten zu kriminalisie- einen abhängigen Cannabiskonsum auf. Wir wissen, dass ren. Zumindest kann das so für das allgemeine Bewusst- gerade für Heranwachsende der intensive Konsum von sein gesagt werden. Abgesehen von den ernstzunehmen- Cannabis lebenslange Gesundheitsschäden zur Folge ha- den Gefährdungen, die individuell im Konsum von ben kann. Cannabis liegen können, zum Beispiel als Auslöser psy- Vor diesem besorgniserregenden Hintergrund lehnen chischer Krankheitsbilder, sind gerade auch höchstrich- wir als FDP eine Legalisierung von Cannabis ab. Bei ei- terliche Urteile in Deutschland ergangen, nach denen ner prinzipiellen Aufhebung des Verbotes ergeben sich Cannabisgebrauch für medizinische Zwecke nicht mehr praktische und auch juristische Fragen, die schwierig zu als Straftat betrachtet werden kann. Sogar der Deutsche klären sind. Wie soll zum Beispiel in der Praxis der Anbau Bundestag muss mittlerweile zugestehen – wie sich auf ei- für den Eigengebrauch abgegrenzt werden gegenüber ner Fachanhörung im Gesundheitsausschuss gerade erst dem kommerziellen und somit illegalen Handel? zeigte –, dass Cannabis als verschreibungsfähige Arznei zugelassen werden sollte. Auch das gerne angeführte Argument, Cannabis zu le- galisieren sei eine logische Konsequenz, weil ja auch der Längst ist Cannabis keine kulturfremde Droge mehr. Konsum von Tabak und Alkohol gesundheitsgefährdend Ähnlich wie bei Alkohol und Nikotin ist sein Gebrauch re- ist und diese Produkte legal sind, ist nicht stichhaltig. Wir lativ üblich. Dennoch existieren hohe Strafrechtsnormen, wissen, dass bei Dauergebrauch die möglichen Gesund- die in keinem Verhältnis stehen zu Allgemeingefährdung heitsschäden erheblich sind. Die gesellschaftlichen Fol- oder Fremdgefährdung respektive Eingriffen in Rechts- gen sind nicht kalkulierbar. Kinder und Jugendliche sind güter anderer, die durch den Gebrauch entständen. Es in der heutigen Gesellschaft ohnehin zunehmend Gesund- sind nichts weiter als Schikanen, die der Gesetzgeber den

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Monika Knoche (A) Cannabiskonsumenten auferlegt, und dazu ist der Bun- dings halte ich den Vorschlag, ein Modellprojekt aufzule- (C) destag meiner festen Auffassung nach nicht berechtigt. gen, wie es im Antrag dargestellt wird. Bei der Heroinsubstitution war das der richtige Weg. Beim Kon- Darüber hinaus wird das postulierte Präventionsziel sum aus Genussgründen – und dieses Recht hat eine jede durch eine Fokussierung auf das Strafrecht erkennbar und ein jeder – sehe ich für eine wissenschaftliche Studie nicht erreicht. Höchst zweifelhaft ist darüber hinaus, ob keinen rechten Anlass. Präventionspolitischen Wissens- es dem Gesetzgeber überhaupt zusteht, ein gegebenen- gewinn kann ich im Moment nicht erkennen. Aber viel- falls selbstschädigendes Verhalten unter Strafandrohung leicht werden wir in den weiteren Beratungen des Antrags zügeln zu wollen. mehr dazu hören können. All diese hier von mir umrissenen Überlegungen sind alles andere als neu. Seit etwa zehn bis 15 Jahren sind im Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Deutschen Bundestag die drogenpolitischen Argumente Es geht hier und heute nicht nur ganz allgemein um die ausgetauscht worden und dennoch ist bislang keine Re- Entkriminalisierung von Cannabis. Es geht auch darum, gierung dem Beispiel anderer Staaten gefolgt. Nicht ein- ob vor allem Union und SPD endlich bereit sind, die mal der Eigenanbau und der Besitz zum Eigenverbrauch Realitäten wahrzunehmen. Cannabis ist keine Mode- sind aus dem Kriminalitätskatalog gestrichen worden. droge. Cannabis ist längst eine Alltagsdroge wie Alkohol Das sage ich ausdrücklich zu den Antragstellern. Die oder Tabak. Es eignet sich nicht, um daran einen ewig Grünen haben während ihrer relativ langen Regierungs- währenden Kulturkampf zu zelebrieren. zeit von sieben Jahren nichts, aber auch gar nichts getan, um eine Entkriminalisierung voranzutreiben. Ich war da- Cannabis ist Ausdruck für eine verfehlte Drogenpoli- mals drogenpolitische Sprecherin der Grünen im Bundes- tik, die noch immer vorrangig auf Repression setzt und tag und kann bezeugen: In der Regierungsverantwortung bei der die Prävention nicht Hauptsache, sondern nur sind die Grünen kleinbürgerlich, kleinlaut und hasenfü- Beiwerk ist. Cannabis ist zu einem Symbol geworden für ßig gewesen. Jetzt in der Opposition ist es für sie wieder eine Drogenpolitik, die an einer Ideologie, aber nicht an attraktiv, sich als dynamische, unangepasste Szene- und der Lebensrealität der Menschen orientiert ist. Es ist an Klientelpartei darzustellen. Ich unterstelle ihnen Lauter- der Zeit, die Glaubwürdigkeit und vor allem die Wirksam- keit in ihrem Antragsbegehren und halte nahezu alle For- keit dieser Drogenpolitik und ihrer Instrumente kritisch derungen für richtig. Dennoch möchte ich sagen: Keine zu hinterfragen. ihrer früheren Ministerinnen, auch nicht Frau Künast als Die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens gilt in Verbraucherministerin, hat eine Initiative ergriffen, um der Rechtsordnung immer als Ultima Ratio: Ein bestimm- die Voraussetzungen im Betäubungsmittelgesetz zu schaf- tes Verhalten wird von der Gesellschaft als so sozial- fen und eine Entkriminalisierung durchzusetzen. Wie viel (B) schädlich angesehen, dass es nicht nur verboten ist, son- (D) Glaubwürdigkeit soll ich also dieser Initiative heute bei- dern dass auch jeder Verstoß durch eine individuelle messen? Bestrafung des Handelnden geahndet werden muss. In Ich sehe die Notwendigkeit, dass das völkerrechtliche vielen Fällen macht dies Sinn. Aber auch beim Eigenge- Verträgekorsett gelockert wird. In Ihrem Antrag wird die- brauch von Cannabis? Der Schutz der Gesellschaft, ins- ser ganz wesentliche Rechtsrahmen benannt. Ohne eine besondere der Rechtsgüter Dritter, kann ein solches Ver- Aufhebung des Konzeptes des internationalen „war on bot nicht rechtfertigen. Der Eigengebrauch an sich drugs“ kann es keine echten Legalisierungen geben. Das schädigt keine Dritten. Auch die allgemeine Sicherheit ist in der Sache vollkommen richtig. Zumindest aber sind wird dadurch nicht gefährdet. Im Gegenteil könnte insbe- Regelungen wie in den Niederlanden realisierbar. sondere die Legalisierung des Eigenanbaus dazu beitra- gen, den Schwarzmarkt auszutrocknen. Man kann das Für die Linke stelle ich fest: Die Kriminalisierung des sehr anschaulich an den Erfahrungen der USA nach Auf- Drogenkonsums ist nicht zu rechtfertigen. Präventions- hebung der Prohibition beobachten. Zudem wissen wir politisch ist die Kriminalisierung ein gescheiterter Weg. aus der Suchtforschung, dass der Umstieg von Cannabis Wissenschaftlich belegt ist die medizinische Nutzung und auf härtere Drogen nicht durch den Stoff selbst bedingt therapeutische Wirkung von Cannabisprodukten. Das ist, sondern durch den Kontakt mit der Drogenszene auf Gesundheitsministerium verhindert einen rationalen, dem Schwarzmarkt. Auch Gesundheitsgefahren durch mit aufgeklärten und gesundheitspolitisch sinnvollen Um- Blei oder Glas verunreinigten Cannabis – wie er ver- gang mit Cannabis. Konsumenten illegaler Drogen wer- mehrt auch in Deutschland auftaucht – könnte so wirk- den gegenüber Konsumenten legaler Drogen diskrimi- sam begegnet werden. Gesamtgesellschaftlich betrachtet niert. Die Prohibition widerspricht dem Konzept wäre eine Legalisierung des Eigenanbaus also eher dazu mündiger Bürger und ihrer Selbstbestimmungsrechte und geeignet, Rechtsgüter zu schützen als diese zu gefährden. zeichnet darüber hinaus ein Kriminalitätsbild in der Be- völkerung, das der Realität nicht entspricht. Die völker- Keine Droge ist harmlos. Auch Cannabis kann bei in- rechtliche Ächtung von Cannabis ist ein weltweit geschei- tensivem Gebrauch zu einer psychischen Abhängigkeit terter Weg und hält die Drogenmafia am Leben. führen. Bei bestimmten Konsumentinnen und Konsumen- ten besteht auch die Gefahr der Auslösung von Psycho- Meiner Auffassung nach ist es allein der politische sen. Zudem führt das Cannabisrauchen zu ähnlichen ge- Wille, der fehlt, um endlich Vernunft in die Drogenfragen sundheitlichen Schädigungen wie der Tabakkonsum. einkehren zu lassen. Deshalb halte ich den vorliegenden Antrag für einen wichtigen Beitrag, parlamentarisch end- Cannabis sollte allerdings auch nicht einfach mit an- lich Mehrheiten zu finden. Für nicht erforderlich aller- deren illegalen Drogen auf eine Stufe gestellt werden.

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Dr. Harald Terpe (A) Das Suchtpotenzial von Cannabis ist bedeutend geringer, prävention, zur Verbesserung der Therapie und zur (C) als früher angenommen, und beispielsweise nur halb so Schadensminderung, und setzen Sie sich auch auf inter- hoch wie das von Alkohol. Menschen mit Alkoholproble- nationaler Ebene dafür ein, in diesem Bereich das Prohi- men landen 13-mal so häufig in stationärer Therapie wie bitionsdogma durch eine rationale Gesundheitspräven- Cannabiskonsumenten. Weltweit starben 2007 rund tion zu ersetzen. Ziel einer glaubwürdigen und wirksamen 2,5 Millionen Menschen am Konsum von Alkohol. Und Prävention muss die Verhinderung des frühen Einstiegs der in den letzten zehn Jahren angeblich dramatisch an- in den Cannabiskonsum und die bessere und frühere Er- gestiegene THC-Gehalt von Cannabis ist ein Märchen. reichbarkeit von Menschen mit riskanten Konsummus- Er lässt sich weder mit den Zahlen des Bundeskriminal- tern sein, nicht ihre Kriminalisierung. amtes noch der Europäischen Union belegen. Es gehört für mich auch zur Glaubwürdigkeit einer Drogen- und Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: Suchtpolitik, dass man gesetzliche Regelungen an realen Gesundheitsgefahren orientiert. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/11762 an die in der Tagesordnung aufge- Kann aber vielleicht die Strafbarkeit dazu beitragen, führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind dem Täter sein gesundheitsschädliches Verhalten vor Au- damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be- gen zu halten und so eine Verhaltensänderung herbeizu- schlossen. führen? Eine Befragung des Münchner Instituts für The- rapieforschung hat ergeben, dass nur rund 0,4 Prozent Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23: der ehemaligen Cannabiskonsumenten ihren Konsum we- Beratung des Antrags der Abgeordneten Frank gen eines Strafverfahrens aufgegeben haben. Das ist für Spieth, Klaus Ernst, Dr. Martina Bunge, weiterer die Wirksamkeit einer Präventionsmaßnahme, ehrlich ge- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE sagt, ein vernichtendes Urteil. Der Staat könnte das Geld, das Polizei und Justiz in die Strafverfolgung investieren, Kürzungen bei künstlicher Befruchtung woanders besser einsetzen, zum Beispiel in wirksame zurücknehmen Prävention durch Aufklärung über Konsumrisiken oder Frühintervention bei Konsumenten mit riskantem Ge- – Drucksache 16/11663 – brauch. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Gesundheit (f) Eine solche Prävention ist aber nur bei einer Entkri- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend minalisierung des Eigengebrauchs möglich – übrigens Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre auch nach Einschätzung der Deutschen Hauptstelle für Reden zu Protokoll gegeben: Maria Eichhorn, Hubert (B) Suchtfragen und der Drogen- und Suchtkommission des Hüppe, Mechthild Rawert, Dr. Konrad Schily, Frank (D) Bundesgesundheitsministeriums aus dem Jahr 2002. Der Spieth, Birgitt Bender, Parlamentarische Staatssekretärin bloße Hinweis auf die Strafbarkeit mit der Forderung Marion Caspers-Merk. nach Abstinenz hat, wie die letzten Jahrzehnte zeigen, bis- lang kaum Wirkung gehabt. Im Gegenteil: Länder mit einem strengen Cannabisverbot haben viel größere Pro- Maria Eichhorn (CDU/CSU): bleme mit anderen, halblegalen Drogen, auf die Jugend- Kinderlosigkeit ist nicht nur ein gewolltes Phänomen, liche gegebenenfalls ausweichen, die aber mitunter viel sondern kann für viele Paare bei ungewollter Kinderlo- größere Risiken für die Gesundheit bergen. Ich erinnere sigkeit zu einer wirklichen Belastungsprobe werden. Von nur an die jüngsten Erfahrungen mit Spice. den deutschen Erwachsenen zwischen 25 und 59 Jahren wollen nur rund 8 Prozent ausdrücklich keine Kinder. Die letzte verbleibende Rechtfertigung, die es also Aber 30 Prozent von ihnen haben keine Kinder. Wunsch noch für ein Verbot geben könnte, wäre, dass dies andere und Realität klaffen also deutlich auseinander. Menschen davor abschreckt, selbst Cannabis zu konsu- mieren. Aber auch dies trifft nicht zu. Die Zahl der Kon- Wenn der ersehnte Kinderwunsch jahrelang ausbleibt, sumenten liegt hierzulande seit Jahren konstant bei 2 bis ist die künstliche Befruchtung für viele Paare der letzte 4 Millionen Menschen. Umgerechnet auf die Gesamtbe- Ausweg. Doch die Behandlungen sind nicht nur aufwen- völkerung ist das prozentual mindestens genauso viel wie dig und belastend, sondern sind seit der Einschränkung in den Niederlanden. Und nur 2,8 Prozent der ehemali- der Kostenübernahmeregelung, die mit dem GKV-Mo- gen Cannabiskonsumenten geben an, dass sie aus Angst dernisierungsgesetz vorgenommen wurde, eine finan- vor Bestrafung ihren Konsum aufgegeben hätten. zielle Hürde. Die gesetzliche Krankenkasse beteiligt sich mit 50 Prozent an den Kosten für die ersten drei Versuche Sie sehen also: alle Gründe, die eine Kriminalisierung der künstlichen Befruchtung. Die Folge ist, dass viele des Eigengebrauchs von Cannabis rechtfertigen könnten, Paare auf eine reproduktionsmedizinische Behandlung laufen ins Leere. Mitunter wirkt das Strafrecht sogar kon- verzichten oder diese nach wenigen Versuchen abbre- traproduktiv. Wir fordern die Bundesregierung und die chen. Koalitionsfraktionen deshalb auf: Stellen Sie endlich eine glaubwürdige und wirksame Prävention in den Mittel- In ihrem Antrag fordert die Fraktion Die Linke, die punkt ihrer Drogenpolitik! Lösen Sie sich von Ihren alten Einschränkung der Kostenübernahmeregelung zurückzu- Klischeevorstellungen! Heben Sie die Strafbarkeit des Ei- nehmen. Grundsätzlich ist auch aus Sicht der CDU/CSU gengebrauchs von Cannabis auf! Entwickeln Sie ein um- eine Vollfinanzierung reproduktiver Maßnahmen durch fassendes nationales Aktionsprogramm zur Cannabis- die gesetzlichen Krankenkassen positiv. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22233

Maria Eichhorn (A) Die Einschränkung der Kostenübernahme von 2004 in anderen Bereichen wurde eine Beteiligung der Versi- (C) war eine bewusste Entscheidung aufgrund der finanziel- cherten eingeführt. len Situation. Wegen der aktuellen Lage hat diese Be- Ein solidarisches Gesundheitssystem – und auch die gründung weiterhin Bestand. öffentliche Hand – kann nicht alles Wünschenswerte oder Es ist auch zu bedenken, ob es sinnvoll ist, dass eine fa- medizinisch Mögliche unbeschränkt finanzieren. Es muss milienpolitisch als richtig erscheinende Maßnahme aus- Grenzen geben, die sich am medizinisch Notwendigen schließlich aus Mitteln der gesetzlichen Krankenversi- orientieren. Natürlich kann man eine Auseinanderset- cherung bezahlt werden soll. Vielmehr ist zu überlegen, zung darüber führen, ob die Grenze bei drei oder vier Be- ob sie nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe einer zu- handlungszyklen festzulegen ist, ob und wie hoch eine sätzlichen Finanzierung durch Steuermittel bedarf. Selbstbeteiligung zu sein hat, ob man eine ausreichende Erfolgswahrscheinlichkeit bei einem maximalen Lebens- Diesen Weg geht der Freistaat Sachsen. Ab März die- alter von 40 oder 45 Jahren ansiedelt. ses Jahres bekommen Ehepaare für die zweite und dritte Behandlung staatliche Zuschüsse von jeweils bis zu 900 Das Deutsche IVF-Register veröffentlicht Daten ab Euro. Für die vierte wird eine Pauschale von 1 600 bis 1982, es deckt also mittlerweile einen Zeitraum von 1 800 Euro gezahlt. Das Bundesland stellt dafür jährlich 25 Jahren ab. Betrachtet man die Daten des Deutschen 1,1 Millionen Euro bereit. IVF-Registers, so stellt man fest: Im Jahre 2007, dem jüngsten erfassten Jahr, wurde mit 64 578 Zyklen die Die Bedingungen sind die gleichen wie auf Bundes- dritthöchste Zahl an IVF-Behandlungen seit Anbeginn ebene: Die Frau muss zwischen 25 und 40 Jahre alt sein des IVF-Registers registiert. Das Jahr 2007 wird hin- und der Mann das Alter von 50 Jahren nicht überschritten sichtlich der Zahl durchgeführter künstlicher Befruchtun- haben. Weiterhin müssen sie verheiratet sein. gen nur von den beiden Rekordjahren 2002 und 2003 Die Altersgrenzen halte ich für sinnvoll und richtig; übertroffen. Zehn Jahre zuvor, 1997, zähte das Deutsche denn sie orientieren sich an der von der Natur vorgege- IVF-Register noch 30 676 Zyklen; das ist weniger als die benen Zeitspanne, in der Frauen in der Regel Kinder be- Hälfte der für 2007 erfassten Zyklen. Der geburten- kommen. Deshalb sollte die Altersbeschränkung nicht, stärkste Jahrgang mit fast 1,4 Millionen Geburten war wie im Antrag der Linken gefordert, zurückgenommen 1964. Wer 1964 geboren ist, war 1997 33 Jahre alt, ge- werden. hörte also zu der Altersgruppe, die potenziell Kinder be- kommt. Der Jahrgang 1974 verzeichnete nur noch etwas Ebenso muss die Vorraussetzung bestehen bleiben, über 800 000 Geburten. Wer 1974 geboren ist, war dann dass nur Paare, die verheiratet sind, Maßnahmen der im Jahre 2007 33 Jahre alt und gehörte zu der Alters- künstlichen Befruchtung in Anspruch nehmen dürfen. Die gruppe, die potenziell Kinder bekommt. Natürlich be- (B) (D) verantwortungsvolle Entscheidung, eine Familie zu grün- rücksichtigt dieses Beispiel keine Faktoren wie Ab- und den, sollte auf einer stabilen Partnerschaft beruhen. Das Zuwanderungen, doch es zeigt die Tendenz. ist eine Voraussetzung für den Aufbau guter Eltern-Kind- Beziehungen. Die Ehe als ein Versprechen lebenslanger Obwohl also die Zahl potenzieller junger Eltern in den gegenseitiger Verantwortung kann dem am besten Rech- zehn Jahren zwischen 1997 und 2007 stark zurückgegan- nung tragen. Dies bestätigen die Statistiken. gen ist, hat sich die Zahl der IVF-Behandlungszyklen im gleichen Zeitraum von 30 676 auf 64 578 mehr als ver- Die Beschränkung auf drei Versuche ist sinnvoll. Denn doppelt, so jedenfalls die Zahlen des Deutschen IVF-Re- viele erfolglose Versuche bedeuten eine körperliche und gisters. seelische Belastung für die Frau. Viele Argumente, die Und obwohl die seit 2004 geltenden Regelungen der durchaus bedenkenswert sind, sprechen für eine volle Finanzierung künstlicher Befruchtungen innerhalb der Kostenübernahme reproduktiver Behandlungen. So kann gesetzlichen Krankenversicherung seither nicht geändert vielen Paaren, die ungewollt kinderlos bleiben, mithilfe wurden, verzeichnet das Deutsche IVF-Register seit 2005 von Methoden künstlicher Befruchtung der Kinder- wieder eine Zunahme: Gegenüber 56 232 Behandlungs- wunsch doch noch erfüllt werden. Auch wird von Exper- zyklen 2005 verzeichnet das Deutsche IVF-Register für ten darauf hingewiesen, dass die künstliche Befruchtung 2006 bereits 59 295 und für 2007 64 578. Gleichzeitig nicht nur die Geburtenstatistik erhöht, sondern auch die entnehmen wir dem Deutschen IVF-Register, dass das demografische Krise in Deutschland abmildern kann. mittlere Alter der Frauen zwischen 1997 und 2007 von Dennoch ist aufgrund der Situation in der gesetzlichen 32,6 Jahren auf 34,6 Jahre angestiegen ist. Krankenversicherung der Vorschlag der vollständigen Der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen Kostenübernahme derzeit nicht umsetzbar. Die Beiträge hat gemäß § 27 a SGB V Richtlinien über die künstliche sind gerade erst erhöht worden, eine weitere Erhöhung Befruchtung beschlossen. Danach dürfen Maßnahmen wäre nicht zumutbar. Deshalb sollten andere Wege der zur künstlichen Befruchtung nur durchgeführt werden, Finanzierung gesucht werden. wenn hinreichende Erfolgsaussicht besteht, dass durch die Behandlungsmethode eine Schwangerschaft herbei- Hubert Hüppe (CDU/CSU): geführt wird. Eine hinreichende Erfolgsaussicht besteht Das GKV-Modernisierungsgesetz hat ab 2004 eine Be- nach diesen Richtlinien in der Regel dann nicht, wenn die grenzung der Ausgaben für künstliche Befruchtung einge- IVF-Behandlung bis zu viermal vollständig durchgeführt führt, die von den Grundsätzen der medizinischen Not- wurde, ohne dass eine Schwangerschaft eingetreten ist. wendigkeit und der Erfolgsaussicht geleitet ist. Wie auch Wenn der Bundesausschuss jedenfalls nach dem vierten

Zu Protokoll gegebene Reden 22234 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Hubert Hüppe (A) Versuch keine hinreichende Erfolgsaussicht mehr sieht, müssen sie nicht nur ermutigen, wir müssen auch die (C) war die Begrenzung des Leistungsanspruchs auf drei Ver- Rahmenbedingungen schaffen, damit vor allem junge suche vertretbar. Frauen während ihrer Ausbildung, ihres Studiums und auch später im Berufsleben nicht in ein Entweder-Kind- Ähnlich hat der Bundesausschuss der Ärzte und Kran- oder-Karriere-Dilemma kommen. kenkassen zur Altersgrenze niedergelegt: Da das Alter der Frau im Rahmen der Sterilitätsbe- „Familienpolitik ist Zukunftspolitik“ – so die doch handlung einen limitierenden Faktor darstellt, sol- richtige Aussage aus dem Bundesfamilienministerium. len Maßnahmen zur künstlichen Befruchtung bei Ich teile diese Einschätzung und frage mich, weshalb die Frauen, die das 40. Lebensjahr vollendet haben, Linke diesen Zusammenhang noch nicht verstanden hat. nicht durchgeführt werden. Ausnahmen sind nur bei Warum fordert sie keine Ausweitung der künstlichen Be- Frauen zulässig, die das 45. Lebensjahr noch nicht fruchtung auf alle hetero- und homosexuellen Lebensfor- vollendet haben und sofern die Krankenkasse nach men und damit die familienpolitische Gleichstellung von gutachterlicher Beurteilung der Erfolgsaussichten Regenbogenfamilien und anderen Familien? Warum for- eine Genehmigung erteilt hat. dert die Linke nicht, dass Frau von der Leyen getreu ih- rem Leitspruch „Familienpolitik ist Zukunftspolitik“ un- Da bereits nach dem 30. Lebensjahr das Optimum der verzüglich Mittel aus dem Etat ihres Ministeriums für natürlichen Empfängnisfähigkeit überschritten ist, und ungewollt kinderlose Paare zur Verfügung stellen muss? weil die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft nach Für mich als Sozialdemokratin ist nicht nachvollziehbar, dem 40. Lebensjahr sehr gering ist, war es vertretbar, weshalb Frau Bundesministerin von der Leyen nicht auch dass zulasten der Solidargemeinschaft IVF-Behandlun- die entsprechenden Konsequenzen für eine solche Zu- gen nur bis zu einem Maximalalter der Frau von 40 Jah- kunftspolitik zieht und ihrer gesamtgesellschaftlichen ren finanziert werden. Verantwortung für die kommenden Generationen nach- Das Mindestalter von 25 Jahren betrifft allenfalls sehr kommt. wenige unfruchtbare Ehepaare. Das Mindestalter trägt Ich wiederhole es gerne – vergleiche meine Plenarrede dazu bei, dass die Chancen einer natürlichen Schwanger- zur zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfes zur schaft ausgeschöpft werden und es nicht vorschnell zu ei- Änderung des Fünften Sozialgesetzbuches am 7. März ner Medikalisierung des Kinderwunsches kommt. 2008; ich habe damals gesagt –: „Wer Vorschläge zur Die gegenwärtige Regelung verkennt nicht die Hoff- Ausweitung der künstlichen Befruchtung macht, muss nungen und Wünsche vieler Paare mit unerfülltem Kin- auch sagen, wie diese aus familienpolitischer Sicht sicher- derwunsch. Die Solidargemeinschaft unterstützt drei Ver- lich wünschenswerte Forderung im SBG V, dem Rege- (B) suche, mithilfe von IVF-Maßnahmen Eltern eines Kindes lungsbereich der gesetzlichen Krankenkassen – GKV –, (D) zu werden. Für die Leistungsansprüche gelten Vorausset- finanziert wird.“ Eine Antwort gibt die Linke nun in ihrem zungen und Grenzen, die angesichts des Kostendrucks im Antrag: „Um die vollständige Kostenübernahme für Maß- Gesundheitswesen und der Belastbarkeit der Beitrags- nahmen der künstlichen Befruchtung zu gewährleisten, zahler vertretbar sind. wird der Bundeszuschuss an die gesetzliche Kranken- kasse, GKV, entsprechend erhöht“. Was aber bedeutet Mechthild Rawert (SPD): diese Forderung angesichts der auch den Linken bekannten Was will die Linke? In ihrem letzten Antrag vom ver- Tatsache, dass die vorgesehene Erhöhung des steuer- gangenen Jahr hat sie sich gegen die Rechtsprechung des finanzierten Bundeszuschusses in der gesetzlichen Kran- Bundesverfassungsgerichtes von 2007 und die gesetzlichen kenkasse zur Stabilisierung des Leistungskatalogs der Änderungen im Rahmen des GKV-Modernisierungs- GKV gedacht ist? Ich sage Ihnen, was aus der Forderung gesetzes von 2004 ausgesprochen und eine Ausweitung der Linken unweigerlich folgt: Die Linke will Steuererhö- der Eigenmittel bei künstlichen Befruchtungen auf nicht hungen. verheiratete Paare gefordert. Unter Bezugnahme auf ei- Doch zurück zur künstlichen Befruchtung selbst. Seit nen von den CDU-geführten Ländern Saarland, Sachsen dem 1. Januar 2004 haben Versicherte bei ungewollter und Thüringen in den Bundesrat eingebrachten und von Kinderlosigkeit folgende Leistungsansprüche bis hin zur der Länderkammer dann beschlossenen Antrag revidiert künstlichen Befruchtung an ihre gesetzlichen Kranken- die Linke ihren Antrag von 2008 und will die Hilfen bei kassen. Alle Mitglieder der GKV haben – unter anderem künstlichen Befruchtungen nun doch auch weiterhin auf aufgrund des § 27 SGB V – bei ungewollter Kinderlosig- verheiratete Paare beschränkt lassen. Eine Gleichbehand- keit einen Leistungsanspruch auf Krankenbehandlung. lung sieht anders aus. Aber das verstehe, wer will. Die Kosten für die Diagnostik der ungewollten Kinder- Obgleich bereits im Kontext des Antrags von 2008 aus- losigkeit werden grundsätzlich übernommen. Gleiches gilt giebig diskutiert, bleibt die Linke dabei, dass es sich bei auch für medizinische Maßnahmen zur Herstellung der einer künstlichen Befruchtung ausschließlich um eine Zeugungs- oder Empfängnisfähigkeit beispielsweise durch gesundheitspolitische und nicht auch um eine familien- chirurgische Eingriffe, die Verordnung von Medikamenten politische Leistung handelt. Unbestritten ist, dass die oder auch durch eine psychotherapeutische Behandlung. Gebär- und Zeugungsfähigkeit mit zunehmendem Alter Diese Maßnahmen haben grundsätzlich Vorrang vor der abnimmt. Als Sozialdemokratin möchte ich Frauen und künstlichen Befruchtung durch zum Beispiel intrauterine Männer ermutigen, bereits in jungen Jahren ihren Kinder- Insemination, IUI, durch die In-vitro-Fertilisation, IVF, wunsch zu erfüllen. Ja, ich gehe sogar noch weiter: Wir und/oder intrazytoplasmatische Spermieninjektion, ICSI.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22235

Mechthild Rawert (A) Wenn diese Maßnahmen nicht greifen, übernimmt die und in 2010 sollen hierfür im Ministerium für Familie, (C) zuständige Krankenkasse auf der Grundlage des von ihr Soziales und Gesundheit von CDU-Ministerin Christine im Vorfeld zu bewilligenden Behandlungsplanes 50 Pro- Clauß Haushaltsmittel – je nach Pressemeldung – in zent der Behandlungskosten und Medikamente für bis zu Höhe von jährlich 500 000 oder sogar von 1,1 Millionen drei Versuche. Die übrigen 50 Prozent sind als Eigen- Euro eingestellt sein. Partizipieren können von diesem anteil zu erbringen. Die Leistungen gelten für Ehepaare; Programm auch hier nur verheiratete Paare; die Frau Frauen dürfen zwischen 25 und 40 Jahre alt, Männer darf nicht älter als 40 Jahre und der Mann nicht älter als müssen unter 50 Jahre alt sein. 50 Jahre alt sein. Und noch eines ist von besonderer Be- deutung: Die Paare müssen seit mindestens einem Jahr Zur vollen Wahrheit gehört, dass die Einfügung des ihren Wohnsitz in Sachsen haben und sich auch hier be- § 27 a SGB V im Jahr 1990 als Nachtrag zur Gesund- handeln lassen. Wie lange die Paare auch noch im An- heitsreform von 1988 erfolgte. Schon damals war grund- schluss in Sachsen wohnen müssen, ist mir nicht bekannt. sätzlich strittig, ob die künstliche Befruchtung überhaupt in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen werden Wer die Regelungen zu den Leistungen bei der künstli- soll. Denn die Verfolgung familienpolitischer Zielsetzung chen Befruchtung heute als „Soziale Selektion“ – Christine ist nicht Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen. Kinder- Clauß – bezeichnet, vergreift sich nicht nur in der Wort- losigkeit gilt nicht als Krankheit. Die künstliche Befruch- wahl. Er verkennt auch, dass für eine Beschränkung der tung selbst gilt folglich nicht als Behandlung einer Versuchszahl und die Einführung einer Altersgrenze eine Krankheit. Damit sie dennoch in den Leistungskatalog Reihe wissenschaftlicher Erkenntnisse sprechen. So werden der GKV aufgenommen werden konnte, wurde sie den für die Erfolgsaussichten der künstlichen Befruchtung nach Krankheiten geltenden Regelungen des SGB V quasi unter- dem dritten Versuch und mit zunehmendem Lebensalter stellt. Die Leistungen bezüglich künstlicher Befruchtun- der Frau immer geringer. Tatsächlich kommt es auch nur gen sind weiterhin versicherungsfremde Leistungen des bei 18 von 100 behandelten Frauen zur Geburt des er- solidarischen Gesundheitssystems. Ja, ich verhehle auch hofften Wunschkindes. nicht, dass die 2004 erfolgte Einschränkung der Anzahl von Versuchen sowie die Beschränkung auf Ehepaare Auch aus der FDP in NRW wird die Forderung laut nach eine Kostenbegrenzung zur Folge hatte. Gesprochen wird voller Kostenübernahme für die künstliche Befruchtung von einer Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen um durch die Krankenkassen. Es sei – ich zitiere –: „inhuman rund 100 Millionen Euro im Jahr. und in Zeiten des demografischen Wandels auch töricht, dass hier finanzielle Hürden aufgebaut worden sind“. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Kritisiert wird die Begrenzung auf drei Befruchtungs- hat eine volkswirtschaftliche Rechnung aufgemacht. Wenn versuche. Allerdings sei die Voraussetzung, dass es sich der Staat die Kosten für eine künstliche Befruchtung zu (B) um verheiratete Paare handeln müsse, zu überdenken. (D) 100 Prozent übernähme – etwa 18 000 Euro pro Wunsch- Willkürlich sei die Altersbegrenzung bei den Müttern auf kind –, würde er nach einer Studie des Instituts sogar das 40 Jahre und 50 Jahre bei den Vätern. Kann man hier Vierfache – etwa 79 000 Euro pro Wunschkind – wieder wirklich von Willkür sprechen? Ich finde, ethische Zweifel zurückbekommen. Die Rechnung beruht darauf, dass aus sind durchaus berechtigt, wenn ich an den aktuellen Fall Kindern später einmal auch Steuer- und Beitragszahler der 60-jährigen Kanadierin denke, die Zwillinge bekom- werden. men hat. Aus familien- bzw. bevölkerungspolitischer Sicht be- Aus der in politischer Verantwortung der Linkspartei grüße ich das Vorhaben des Landes Sachsen, Frauen und geführten Senatsverwaltung Gesundheit, Umwelt und Männern bei künstlichen Befruchtungen über die Möglich- Verbraucherschutz ist zu vernehmen, dass es in Berlin keiten der gesetzlichen Krankenkassen hinaus finanziell auch weiterhin keine finanzielle Unterstützung für Ehe- zu helfen. Es stimmt: Die demografische Entwicklung un- paare geben wird, die sich einer künstlichen Befruchtung serer Gesellschaft und die geringe Geburtenrate lassen unterziehen. Angesichts der Haushaltslage seien Finanz- eine volle Kostenübernahme bei Hilfen zur künstlichen hilfen aus Ländermitteln nicht möglich. Zu Recht weisen Befruchtung durchaus erstrebenswert erscheinen. Experten auf einen möglichen Flickenteppich von bundes- Doch auch in anderen europäischen Ländern gibt es bei länderbezogenen Regelungen oder auch Nichtregelungen den gesetzlichen Vorgaben zu künstlichen Befruchtungen hin. eingeschränkte Leistungsansprüche, beispielsweise in Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist Großbritannien. In den meisten Ländern werden Behand- bewusst, dass es für Menschen eine schwere Belastung ist, lungen und Arzneimittel nur teilweise und nur für eine wenn sie eigene Kinder haben wollen und keine Kinder be- beschränkte Anzahl von Zyklen erstattet. kommen können. Ich nehme die Trauer und die Verzweif- Was aber macht Sachsen genau? Sachsen wird für die lung ungewollt kinderloser Menschen sehr ernst. Gerade zweite und dritte Behandlung einer künstlichen Befruchtung deshalb dürfen wir aber neben den tatsächlichen Erfolgen staatliche Zuschüsse an die hoffungsfrohen Eltern in Höhe der künstlichen Befruchtung – wie schon erwähnt, bekom- von jeweils 900 Euro auszahlen, für die vierte Behandlung men nur 18 Frauen von 100 tatsächlich ihr „Wunsch- wird eine Pauschale von 1 600 bis 1 800 Euro gewährt. Die kind“ – nicht verschweigen, dass die körperlichen und Eltern mit Kinderwunsch müssen die notwendigen Eigen- seelischen Belastungen bei den verschiedenen Formen mittel der ersten Behandlung auch in Sachsen selber der künstlichen Befruchtung hoch und dass auch gesund- finanzieren, und von einer fünften oder auch sechsten heitliche Risiken damit verbunden sind. Für viele Paare ist Behandlung ist auch hier nicht die Rede. Ab März 2009 die künstliche Befruchtung der letzte Ausweg. Sie wollen

Zu Protokoll gegebene Reden 22236 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Mechthild Rawert (A) und können in der Situation wohl auch gar nicht anders, lichen Krankenversicherung zusammen. Neben Zuzah- (C) als eher die Fortschritte der Reproduktionsmedizin zu sehen lungserhöhungen für Medikamente, Heil- und Hilfsmittel und weniger die belastende und aufwendige Behandlung. sowie Krankenhausaufenthalte wurde die Praxisgebühr eingeführt, Brillen müssen seitdem selbst bezahlt werden, Ich wiederhole: Es ist mir unverständlich, warum die das Sterbegeld wurde abgeschafft und vieles anderes Linke ihre Forderungen für „Maßnahmen der assistierten mehr. Diese Koalition des Sozialabbaus beschloss gleich- Reproduktion“ ausschließlich an die Gesundheits- und zeitig, die Krankenkassenbeiträge der Arbeitgeber zu eben nicht an die Familienpolitik richtet. Und ich bekräf- senken – auf Kosten der Arbeitnehmerinnen und Arbeit- tige auch noch einmal: Familienpolitische Ziele, wie es ja nehmer sowie der Rentnerinnen und Rentner, die deshalb die Erhöhung der Geburtenrate in Deutschland ist, sind heute mehr zahlen. nicht ausschließliche Aufgaben der gesetzlichen Kran- kenversicherungen. Familienpolitik ist Zukunftspolitik. Menschen, die Kinder bekommen wollen, aber auf na- türlichem Wege nicht zeugen können, haben heute immer Selbstverständlich will auch ich keinen bundesländer- noch mit den folgeschweren Kürzungen zu tun. Bis 2003 spezifischen Flickenteppich. Wir wissen aus anderen wurden die ersten vier Versuche einer künstlichen Be- Politikfeldern, wie schädlich das sein kann. Aber die fruchtung von der Krankenkasse bezahlt. Ab 2004 werden bloße Aussage der Linken, „um die vollständige Kosten- nur noch die ersten drei Versuche gezahlt – und die nur zu übernahme für Maßnahmen der künstlichen Befruchtung 50 Prozent übernommen. Das hat die Auswirkung, dass zu gewährleisten, wird der Bundeszuschuss an die gesetz- die Betroffenen pro Versuch etwa 1 750 Euro drauflegen liche Krankenkasse (GKV) entsprechend erhöht“, reicht müssen. Wenn drei Versuche notwendig sind, kostet das für eine verantwortungsvolle Politik nicht aus. 5 250 Euro. Jeder weitere Versuch muss selbst gezahlt Mein Fazit: Die Linke versucht, ein Thema zu besetzen. werden. Bei vier Versuchen kostet die Zeugung des Auch ich bin der Meinung, dass im Sinne der ungewollt Wunschkindes die Betroffenen dann etwa 8 750 Euro. kinderlosen Menschen die Diskussion fortgeführt werden muss. Wer aber die ungewollte Kinderlosigkeit für die Einige können das zahlen, viele aber nicht. Deshalb ist Betroffenen wirklich beheben und nicht nur ein Thema alleine 2004 die Zahl der künstlichen Befruchtungen fast besetzen will, muss ein komplettes familienpolitisches halbiert worden. Dies sind 45 000 Einzelschicksale, in Maßnahmenbündel schnüren und es entsprechend formu- denen keine künstliche Befruchtung durchgeführt wurde. lieren. Das aber erfüllt der Antrag der Linken zu „Kür- In meinen Augen ist dies nicht nur skandalös, sondern zungen bei künstlicher Befruchtung zurücknehmen“ mit- auch familienfeindlich. Die Entscheidung zu einer künst- nichten. Stattdessen birgt dieser Antrag der Linken die lichen Befruchtung darf nicht an einem zu kleinen Geld- Gefahr in sich, dass mit den Gefühlen vieler ungewollt (B) beutel scheitern. Denn niemand entscheidet sich mir (D) kinderloser verheirateter Menschen – ich möchte auch nichts, dir nichts für eine solche Behandlung. Denn bei ei- die ungewollt kinderlosen, unverheirateten Menschen, ner Befruchtung im Reagenzglas muss zuerst die Frau mit und zwar die hetero- und homosexuellen, zusätzlich er- nebenwirkungsreichen Hormonen behandelt werden, da- wähnen – gespielt wird und dass Hoffnungen geweckt mit Eizellen heranreifen. Dann müssen der Frau die Ei- werden, die über die Solidargemeinschaft der gesetzlich zellen entnommen werden, bevor die eigentliche Befruch- Krankenversicherten nicht abgesichert werden können. tung im Reagenzglas stattfinden kann. Die SPD-Fraktion lehnt den Antrag daher ab. Danach hat das Paar eine weitreichende Entschei- dung zu treffen: Wie viele Embryonen sollen in die Gebär- Dr. Konrad Schily (FDP): mutter implantiert werden? Es kommt oft vor, dass ein In einer über Zwangsabgaben finanzierten Kranken- Embryo sich nicht in der Gebärmutter einnistet. Deshalb versicherung muss an jedem einzelnen Punkt genau über- ist es gesetzlich erlaubt, pro Befruchtungsversuch bis zu legt werden, welche Leistungen hierüber finanziert wer- drei Embryonen im Reagenzglas zu erzeugen und zu im- den sollen und welche nicht. Das gilt auch für die plantieren. Je mehr implantiert werden, umso besser ste- künstliche Befruchtung. Vom Grundsatz her handelt es hen die Chancen auf eine Schwangerschaft, umso höher sich um eine versicherungsfremde Leistung. Insofern ist ist aber auch das Risiko einer Mehrlingsschwanger- der Antrag der Linken konsequent, die Aufstockung der schaft. Kostenübernahme auf 100 Prozent durch einen höheren Bundeszuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung Wenn das Paar über wenig Geld verfügt und lange auf finanzieren zu wollen. Im Hinblick auf die 28,8 Milliarden den Versuch hat sparen müssen, dann wird mit höherer Euro, die die GKV zusätzlich über das Konjunkturpaket II Wahrscheinlichkeit die Einsetzung von drei Embryonen erhält, glaubt man wohl, dass es auf weitere Mehrbelas- gewählt. Die sich daraus entwickelnde Schwangerschaft tungen nicht mehr ankommt. Diese Kredite müssen je- ist dann mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Drillings- doch irgendwann zurückgezahlt werden. Im weiteren Ge- schwangerschaft. Das bedeutet ein erhöhtes Risiko für setzgebungsprozess muss deshalb über den Vorschlag die Frauen und die sich entwickelnden Kinder. Oft raten noch einmal gründlich diskutiert werden. die Ärzte dann zu einer Reduktion, also der Abtötung ei- nes oder zweier Embryonen bzw. Föten. Mir liegt es fern, solche Entscheidungen moralisch zu bewerten. Es ist Frank Spieth (DIE LINKE): aber absurd, wenn solche existenziellen Entscheidungen 2004 strichen SPD, CDU/CSU und Grüne in einer abhängig von den zur Verfügung stehenden finanziellen wahren Kürzungsorgie den Leistungskatalog der gesetz- Mitteln getroffen werden müssen.

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22237

Frank Spieth (A) Unsinnig war auch die neue Festlegung der Alters- miss gefunden, zu dem wir trotz einer eher kritischen (C) grenzen. Frauen unter 25 Jahren haben seither gar kei- Sicht auf IVF und ICSI weiterhin stehen. Er war Teil eines nen Anspruch auf Kostenbeteiligung der Kassen und Gesamtpakets von höheren Eigenbeteiligungen durch Pa- müssen bei Unfruchtbarkeit erst dieses Alter abwarten. tientinnen und Patienten oder Streichungen; Stichworte Frauen ab 40 haben auch keinen Anspruch mehr, auch Praxisgebühr oder Wegfall der Erstattung frei verkäufli- dann nicht, wenn ein Gutachten Erfolgschancen ver- cher Arzneimittel. Diese Regelung zur künstlichen Be- spricht. Die Altersgrenze 50 Jahre für Männer ist ge- fruchtung wurde im September 2007 vom Bundessozial- nauso unsinnig. Diese starren und willkürlichen Grenzen gericht bestätigt. gab es zuvor nicht, und sie sollten nach unserer Auffas- sung auch wieder abgeschafft werden. Es wurde damals nicht nur eine Eigenbeteiligung von 50 Prozent eingeführt, sondern es wurden auch erstmals Das alles wollen wir mit unserem Antrag ändern. Wir Altersgrenzen festgelegt. Mich würden die Gründe inte- wollen, dass die Betroffenen selbstbestimmt den aktuellen ressieren, warum die Linke diese Altersgrenzen wieder Stand der medizinischen Möglichkeiten nutzen können. abschaffen will. Denn schließlich schützen diese Alters- Eine Rückkehr zu der alten Regelung hat auch bereits der grenzen zum einen davor, dass junge Frauen zu schnell in Bundesrat gefordert. Im Juli 2008 hat der Bundesrat auf unnötige bzw. zum anderen ältere Frauen in erfolglose Antrag des Saarlandes, von Thüringen und Sachsen be- Behandlungen mit möglicherweise massiven Nebenwir- schlossen, dass die Bundesregierung die Kürzungen zu- kungen getrieben werden. rücknehmen und zum alten Rechtszustand zurückkehren soll. Äußerst kritisch sehe ich, dass die Diskussion über un- Die Gesundheitsministerin Frau Schmidt hat diese gewollte Kinderlosigkeit eine extreme Konzentration auf Entschließung kurz und knapp beiseite gewischt. Von der die Methoden der künstlichen Befruchtung und hier von Presse zu der Bundesratsentscheidung befragt, sagte sie IVF und ICSI erfahren. Es gibt unbestritten Fälle, in de- nur, die Vollfinanzierung sei eine familienpolitische Auf- nen medizinische Befunde vorliegen, die ein solches Vor- gabe und keine Aufgabe der gesetzlichen Krankenversi- gehen notwendig machen. Aber ist dies immer auch der cherung. richtige oder erfolgversprechende Weg? So weist das Deutsche IVF-Register auch eine nicht unbeträchtliche Wir nehmen sowohl den Bundesrat als auch die Minis- Zahl von Fällen ohne Befund aus, und laut der aktuellen terin beim Wort: Wir fordern, dass die künstliche Befruch- deutschen ICSI-Follow-up-Studie II werden 20 Prozent tung wieder voll finanziert werden soll. Die Mehrkosten derjenigen, die durch ICSI schwanger wurden und eine sollen aus Steuermitteln kommen. Dazu soll der Bundes- erneute Schwangerschaft planten, später spontan, das zuschuss an die gesetzliche Krankenversicherung ent- heißt auf natürlichem Weg schwanger. (B) sprechend erhöht werden. Das ist ein Vorschlag, mit dem (D) Bundesrat und Ministerin, aber vor allem die Betroffenen In der Gesundheitsberichterstattung des Bundes leben können. Daher bitte ich auch um die Unterstützung – Robert-Koch-Institut, Heft 20 – wird auf eine Studie der anderen Fraktionen. verwiesen, die darstellt, dass ungewollt Kinderlose oft wenig über die Altersabhängigkeit der Fruchtbarkeit wis- Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): sen. Noch erschreckender ist, dass 50 Prozent der an der Nachdem wir im März 2008 bereits einen – wenn auch Studie beteiligten ungewollt Kinderlosen keinen Ge- in eine andere Richtung gehenden – Antrag der Linken schlechtsverkehr in den fruchtbaren Tagen hatten. Die beraten haben, liegt uns nun ein neuer, anders gelagerter Schlussfolgerung lautet, dass vor reproduktionsmedizini- Vorstoß vor. Beim aktuellen Antrag muss ich mich nicht, schen Eingriffen eine Sexualanamnese und Sexualaufklä- wie vor etwa zwei Jahren, wundern, warum die sonst üb- rung notwendig seien. liche linke Rhetorik der Abschaffung von Zuzahlungen Gestern konnte man in der Presse – zitiert wurden Re- fehlt. Dafür verwundert es mich heute, dass die Linke nun die von ihr vorgeschlagenen finanziellen Verbesserungen produktionsmediziner – Schätzungen über den Anteil un- aus dem Beutel der Versichertengelder ausschließlich gewollt kinderloser Paare lesen. Die dort verkündeten Ehepaaren zugutekommen lassen will. Sind ihr heute die 15 Prozent stehen in krassem Widerspruch zu den Aussa- unverheirateten kinderlosen Paare nicht mehr genauso gen der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Dort viel wert? Auf die Einbeziehung von kinderlosen Allein- heißt es, der Anteil ungewollt Kinderloser werde häufig stehenden sowie Lesben hatte die Linke ja von Anfang an überschätzt; nach neueren Untersuchungen blieben etwa verzichtet. Nun sind Sie aber voll auf der konservativen 3 Prozent der Paare dauerhaft kinderlos. Damit das De- Schiene gelandet: nur in der Ehe soll es den Anspruch auf mografieproblem zu begründen dürfte sehr schwer fallen. eine Finanzierung der künstlichen Befruchtung geben. Wir haben es hierbei mit vielfältigen Ursachen zu tun. Die sächsische Linke müsste gegen dieses „antiquierte Statt immer wieder Anträge zur Finanzierung der Re- Familienbild“ ihrer Bundestagsfraktion konsequenter- produktionsmedizin einzubringen, wäre es aus grüner weise genauso Sturm laufen, wie sie es gegenüber der Sicht sehr viel sinnvoller, sich im Bundestag in Bezug auf sächsischen Landesregierung getan hat, die verheirate- die technisch assistierte Fortpflanzungsmedizin mit dem ten Paaren ab März 2009 Zuschüsse für die künstliche wissenschaftlichen Erkenntnisstand in Bezug auf die Ge- Befruchtung zahlt. sundheit von Frauen und Kindern sowie einem Überblick Ich kann mich nur wiederholen: Im Rahmen der Ge- über Erfolge, Probleme, aber auch alternativen Lösungs- sundheitsreform 2003 wurde der heute gültige Kompro- ansätzen auseinanderzusetzen.

Zu Protokoll gegebene Reden 22238 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Birgitt Bender (A) Im Gegensatz zur Linken betreiben wir Bündnisgrünen das SGB V eingefügt worden ist. Bei den umfangreichen (C) keine Symbolpolitik, sondern machen Nägel mit Köpfen. Vorarbeiten zu diesem Gesetz ist auch die Frage erörtert Wir Grünen haben vorgeschlagen, dass das Büro für worden, welche Formen der künstlichen Befruchtung in Technikfolgenabschätzung einen Bericht zur Fortpflan- die Leistungspflicht der Krankenkassen einbezogen wer- zungsmedizin erstellt. Der Forschungsausschuss hat eine den sollen. Die Beschränkung des Leistungsanspruchs TAB-Studie „Fortpflanzungsmedizin – Wissenschaftlich- auf Ehepaare gründet auf der im Grundgesetz veranker- technische Entwicklungen, Folgen und Rahmenbedin- ten Pflicht zur Förderung der Ehe und Familie. Erst im gungen“, in die auch Vorschläge der SPD eingeflossen Jahr 2007 hat das Bundesverfassungsgericht die Be- sind, verabschiedet. Der Bericht wird einen Überblick schränkung der Leistung auf Ehegatten für verfassungs- über den aktuellen Stand und die Perspektiven der tech- mäßig erklärt. nisch assistierten Reproduktionsmedizin ebenso wie über Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz ist im breiten die nichttechnischen, alternativen Interventionen, zum Konsens vom Deutschen Bundestag verabschiedet wor- Beispiel psychosoziale und psychotherapeutische Bera- den. Die Notwendigkeit einer umfassenden Gesundheits- tungskonzepte, bei ungewollter Kinderlosigkeit geben reform hat es erforderlich und möglich gemacht, auch und diese vergleichen. Ein grünes Anliegen dabei ist, über eigene persönliche und parteipolitische Ansichten dass die gesundheitlichen und psychischen Folgen für hinweg Themenkomplexe anzugehen, die anderenfalls Frauen und Kinder, zum Beispiel Recht des Kindes auf möglicherweise nicht zur Disposition gestanden hätten. Wissen der Abstammung, Mehrlingsschwangerschaften, Die Anspruchseinschränkung wurde seinerzeit für erfor- ebenso wie die sozialwissenschaftliche Forschung über derlich gehalten, um die Ausgaben der GKV im Bereich die Auswirkungen der künstlichen Befruchtung Berück- der versicherungsfremden Leistungen nicht ausufern zu sichtigung finden. lassen. Ich rate der Linken, ständige, sich auch noch wider- Die Gründe, die im Jahr 2003 zu Einschränkungen des sprechende Vorstöße zur Finanzierung der künstlichen Anspruchs führten, sind im Jahre 2009 nicht weniger ge- Befruchtung zu unterlassen und eine ernsthafte Diskus- wichtig. Auch wenn eine Ausweitung des Anspruchs auf sion zu beginnen, wenn der TAB-Bericht vorliegt. künstliche Befruchtung manchem als familienpolitisch sinnvoll erscheinen mag, ist doch eines klar: Die Verfol- Marion Caspers-Merk, Parl. Staatssekretärin bei gung familienpolitischer Zielsetzungen ist nicht Aufgabe der Bundesministerin für Gesundheit: der gesetzlichen Krankenversicherung. Wer also eine Der Anspruch von Versicherten der gesetzlichen Kran- volle Kostenübernahme für diese Leistung fordert, muss kenversicherung auf Maßnahmen zur künstlichen Be- auch einen Finanzierungsvorschlag machen. Und der fruchtung ist durch das GKV-Modernisierungsgesetz mit kann sich nicht darauf beschränken, mit dem Finger auf (B) (D) Wirkung vom 1. Januar 2004 zumutbar eingeschränkt die Krankenkassen zu weisen. worden. Seitdem werden nur noch drei Versuche zur Her- beiführung einer Schwangerschaft von den Krankenkas- Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: sen anteilig statt zuvor vier Versuche vollständig über- nommen. Zugleich gelten Altersgrenzen zwischen 25 und Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf 40 Lebensjahren für Frauen bzw. 50 Lebensjahren bei Drucksache 16/11663 an die in der Tagesordnung aufge- Männern. Grund für die Beschränkung der Versuchszahl führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind und die Einführung einer oberen Altersgrenze war nicht auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so zuletzt, dass die Erfolgsaussichten der künstlichen Be- beschlossen. fruchtung nach dem dritten Versuch und mit zunehmen- Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf: dem Alter immer geringer werden. Beratung der Beschlussempfehlung und des Be- Die Kostenübernahme durch die Krankenkassen be- richts des Auswärtigen Ausschusses (3. Aus- trägt nunmehr 50 Prozent, sodass die Versicherten mit ei- schuss) zu dem Antrag der Abgeordneten Jürgen ner Eigenbeteiligung von ebenfalls 50 Prozent an den Trittin, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nacht- Kosten der künstlichen Befruchtung beteiligt werden. wei, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Wie nach früher geltendem Recht übernehmen die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Krankenkassen die anteiligen Kosten einer künstlichen Kontraproduktive US-Operationen in Pakis- Befruchtung nur, wenn gewährleistet ist, dass bestimmte tan sofort einstellen – Umfassende Strategie Voraussetzungen erfüllt sind: zur Stabilisierung Pakistans entwickeln Die Maßnahmen müssen nach ärztlicher Feststellung – Drucksachen 16/10333, 16/11251 – erforderlich sein. Es muss nach ärztlicher Feststellung hinreichende Aussicht bestehen, dass durch die Maßnah- Berichterstattung: men eine Schwangerschaft herbeigeführt wird. Es werden Abgeordnete Holger Haibach grundsätzlich nur bis zu drei Maßnahmen durchgeführt. Gert Weisskirchen (Wiesloch) Die Kostenübernahme gilt nur für Ehepaare und nur für Dr. Werner Hoyer Maßnahmen mit Ei- und Samenzellen der Eheleute, also Wolfgang Gehrcke im sogenannten homologen System. Marieluise Beck (Bremen) In diesem Zusammenhang möchte ich in Erinnerung Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die Reden rufen, dass die Vorschrift – § 27a SGB V – erst 1990 in zu Protokoll gegeben werden. Es handelt sich um die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22239

Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt (A) Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Holger Hai- der nun geltenden Bestimmung nur die konkrete Verwen- (C) bach, Johannes Pflug, Elke Hoff, Wolfgang Gehrcke und dung umfasst, aber nicht absolut gilt. Kerstin Müller.1) Die damals von der rot-grünen Bundesregierung vorge- Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Auswärtige schlagene Regelung hätte die Bestimmung der Reichweite Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf des Patentschutzes in die Hände der Gerichte gelegt. In Drucksache 16/11251, den Antrag der Fraktion Bünd- diesem sensiblen Bereich ist allerdings der Gesetzgeber nis 90/Die Grünen auf Drucksache 16/10333 abzuleh- gefordert. Er kann derart fundamentale Entscheidungen nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer nicht an die Gerichte delegieren, sondern muss selbst ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh- Position beziehen. Wenn wir der rot-grünen Bundesregie- lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der rung gefolgt wären, hätte dies zu Rechtsunsicherheit ge- FDP-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Gegen- führt. Das konnte durch die Unionsfraktion verhindert stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenom- werden. men. Was allerdings schon etwas merkwürdig anmutet, ist, Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 25: warum es nun der Oppositionsfraktion von Bündnis 90/ Die Grünen nicht schnell genug gehen kann mit einer Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrike Überprüfung der rechtlichen Situation bei biotechnologi- Höfken, Priska Hinz (Herborn), Jerzy Montag, schen Erfindungen. Als sie noch in Regierungsverantwor- weiterer Abgeordneter und der Fraktion tung standen, haben sie da etwas mehr Muße an den Tag BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gelegt. Mitte 1998 ist die Richtlinie in Kraft getreten und hätte bis Mitte 2000 von Deutschland umgesetzt werden Biopatentrecht verbessern – Patentierung von müssen. Erst Anfang 2005 haben sie es geschafft, die Pflanzen, Tieren und biologischen Züchtungs- Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht im Bundes- verfahren verhindern gesetzblatt zu veröffentlichen. Eben noch auf dem Stand- – Drucksache 16/11604 – streifen und jetzt schon auf der Überholspur, das ist wenig glaubwürdig. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Ich kann auch nicht erkennen, welcher besondere Anlass Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und nun in der konkreten Patenterteilungspraxis eingetreten Verbraucherschutz (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit sein soll, der es rechtfertigen könnte, auf Ebene der Bundes- Ausschuss für Bildung, Forschung und regierung im europäischen Rechtsrahmen aktiv werden zu Technikfolgenabschätzung müssen. Sie liefern nämlich selbst ein sehr gutes Beispiel (B) Federführung strittig dafür, dass die Selbstreinigungskräfte des Europäischen (D) Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Patentübereinkommens sehr gut funktionieren. Reden zu Protokoll gegeben: Dr. Günter Krings, Der US-Forscher James Thomson brachte in Zusam- Dr. Matthias Miersch, Dr. Christel Happach-Kasan, menarbeit mit der amerikanischen Universitätsstiftung Dr. Kirsten Tackmann und Ulrike Höfken. Wisconsin Alumni Research Foundation eine Patent- anmeldung beim Europäischen Patentamt in München Dr. Günter Krings (CDU/CSU): ein. Gegenstand des Patentantrags war die künstliche „Biopatentrecht verbessern – Patentierung von Pflanzen, Herstellung von menschlichen embryonalen Stammzellen, Tieren und biologischen Züchtungsverfahren verhindern“ wodurch automatisch Embryonen vernichtet werden. Das lautet der Antrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/ Europäische Patentamt nahm den Patentantrag schon im Die Grünen. So sehr erstrebenswert das Ansinnen ist, die Jahr 2004 nicht an, was den Antragsteller allerdings Patentierung von Pflanzen, Tieren und biologischen nicht davon abhielt, in die nächste Instanz zu gehen, um Züchtungsverfahren zu verhindern, so sehr muss man sich doch noch an das Patent zu gelangen. Die Sache wurde aber auch die Frage stellen, ob dafür wirklich das Bio- an die Große Beschwerdekammer verwiesen, die Ende patentrecht verändert werden muss oder ob die heutigen letzten Jahres klarstellte: Ein derartiges Patent würde gegen Bestimmungen nicht doch ausreichend sind. die öffentliche Ordnung und die guten Sitten verstoßen. An Deutlichkeit lässt diese Entscheidung nichts zu wün- Vor gut vier Jahren standen wir schon einmal an dieser schen übrig. Stelle und haben über das gleiche Thema diskutiert. Damals Es ist nicht ersichtlich, warum das Europäische Patent- ging es um die Umsetzung der Biopatentrichtlinie in natio- amt bei Tieren, Pflanzen und biologischen Züchtungsver- nales Recht. Die Unionsfraktion, obwohl damals in der Op- fahren nicht die gleiche Sorgfalt an den Tag legen sollte position, hat sich konstruktiv an den Gesetzesberatungen wie bei menschlichen Embryonen. Was im Moment der beteiligt und letztlich auch dem ausgehandelten Kompro- Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patent- miss zugestimmt. Die Reichweite des Patentschutzes wurde amtes zur Entscheidung vorliegt, sind Patente zum Züch- seinerzeit nicht etwa wegen des Engagements des grünen tungsverfahren von Brokkoli und Tomaten. Hier geht es um Koalitionspartners eingegrenzt, sondern auf Initiative von die patentrechtlich entscheidende Abgrenzung: Haben wir CDU und CSU. Dies geschah durch die Einschränkung des es hier mit einem im Wesentlichen biologischen Verfahren Stoffschutzes, sodass der Schutzumfang des Patents nach zu tun – das wäre dann nicht mehr patentfähig –, oder zeichnen sich die Verfahren durch technische Besonder- 1) Anlage 7 heiten aus, die dann patentierbar wären? 22240 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Günter Krings (A) Man sollte sich die Entscheidung der Großen Be- weitert wurden. Die Gründe hierfür sind vielfältig. So (C) schwerdekammer sehr genau anschauen, aber man sollte wurden die Forschungs- und Züchtungsmethoden kosten- sie nicht jetzt vorwegnehmen. Änderungen, die jetzt im intensiver. Mit der Erweiterung der Schutzrechte sollte Vorfeld auf europäischer Ebene eingespeist werden, kön- der Wettbewerb und vor allem auch die mittelständische nen die Entscheidung ohnehin nicht mehr beeinflussen, Züchtungsindustrie gestärkt werden. zumal auch gar nicht klar ist, wo der Hebel für eine Än- derung im Patentrecht angesetzt werden müsste. Wenn Ich will an dieser Stelle nicht die Frage vertiefen, ob Lehren aus der Entscheidung der Großen Beschwerde- die Rechtsänderungen tatsächlich geeignet gewesen sind, kammer des Europäischen Patentamts zu ziehen sind, die Ziele zu erreichen. Ich möchte auch nicht der Frage dann ergibt es mehr Sinn, zunächst die Entscheidung ab- nachgehen, ob die Forschung gerade im Bereich der zuwarten und sich anschließend, in Kenntnis der Ent- Pflanzenwissenschaft in die richtige Richtung geht. Ich scheidung, für eine Änderung der Biopatentrichtlinie ein- möchte an dieser Stelle vor allem auf das Spannungsfeld zusetzen. zwischen wirtschaftlichen Interessen und Interessen der Allgemeinheit hinweisen. Gerade in den eingangs be- Wenn Sie in Ihrem Antrag als Kronzeugen für den Hand- schriebenen Bereichen ist es entscheidend, dass die Inte- lungsbedarf den wissenschaftlichen Beirat beim Bundes- ressen der Allgemeinheit gewahrt werden. ministerium für Wirtschaft und Technologie zitieren, dann ist das selbstverständlich nur die halbe Wahrheit. Denn in Mit großer Sorge muss man deshalb die unterschiedli- dem Gutachten „Patentschutz und Innovation“ heißt es chen Verfahren vor dem Europäischen Patentamt be- auch: trachten, die sich zum Beispiel mit der Patentierung von Zuchtverfahren normaler, konventioneller Schweineras- Die Kriterien für die Erteilung von Patenten sollten sen beschäftigen oder mit der Patentierung von konven- konsequent angewendet und bei Bedarf verschärft tionellen Pflanzenarten. Bislang konnte davon ausgegan- werden. Patente sollten Innovationen unterstützen, gen werden, dass bei konventionellen Pflanzenarten aber nicht Investitionen absichern. Die operative lediglich das Sortenschutzrecht und nicht das Patentrecht Umsetzung dieser Aufgabe fällt den Patentämtern Gültigkeit hat. Dabei muss berücksichtigt werden, dass zu, beispielsweise durch Erhöhung der Anforderun- im Bereich des Sortenschutzes nur eine Pflanzensorte ge- gen an den erfinderischen Schritt einer Erfindung. schützt werden kann. Dagegen eröffnet das Patentrecht Es ist hier nicht notwendig, den Gesetzgeber zu be- viel weitergehende Möglichkeiten. Insoweit wird auch die mühen. grüne Gentechnik von Landwirten und Verbrauchern kri- tisch beurteilt, da die gentechnische Veränderung – wenn Der Patentierung menschlichen Lebens hat das Euro- sie eine biotechnologische Erfindung darstellt – paten- päische Patentamt klar widersprochen. Ich erwarte eine (B) tierbar ist und das damit zusammenhängende Patent eine (D) ebenso klare Entscheidung bei den anhängigen Züch- Vielzahl von Pflanzensorten und Pflanzenarten betreffen tungsverfahren. Zurzeit gibt es daher keinen Handlungs- kann. bedarf seitens des Gesetzgebers. Dem Bericht ist insofern nichts hinzuzufügen, zumal er auch gar nicht konkret auf Ich kann Ihnen im Namen der SPD-Fraktion versi- biotechnologische Erfindungen eingeht und in diesem chern, dass auch wir die von Ihnen angesprochenen Bereich spezielle Probleme erkennen lässt. Punkte sehr kritisch beobachten und die weiteren Bera- tungen nutzen werden, um möglichst eine einheitliche Li- Ich plädiere dafür, die Entscheidung der Großen Be- nie mit den anderen Fraktionen des Bundestages zu ent- schwerdekammer des Europäischen Patentamts bezüglich wickeln. Dabei darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass der biologischen Züchtungsverfahren abzuwarten. Geht die Biopatentrichtlinie bei uns nach langen Beratungsab- sie nicht nach unseren Vorstellungen aus, dann – in dem läufen im Jahr 2005 umgesetzt worden ist und – wie die Punkt haben die Grünen recht – gehört diese Debatte in Grünen in ihrem Antrag richtig hervorheben – im Rah- den Deutschen Bundestag. Wir sprechen heute also über men der rechtlichen Möglichkeiten Einschränkungen das richtige Thema zum falschen Zeitpunkt. vorgenommen worden sind. Zu betonen ist auch, dass die Entscheidung des Europäischen Patentamts zu den em- Dr. Matthias Miersch (SPD): bryonalen Stammzellen aus dem Jahre 1998 zu begrüßen Auf drei Bereiche wird es in der Zukunft ganz beson- ist und gleichzeitig offenbart, dass jede Novellierungsde- ders ankommen: auf die Wasserversorgung, auf die Ener- batte auch all die Kräfte wieder auf den Plan rufen gieversorgung und auf die Versorgung mit Nahrungsmit- könnte, die für eine Erweiterung der Biopatentierung ein- teln. Alle drei Bereiche sind für die Menschheit treten. Auf der anderen Seite kann und darf der Gesetzge- existenziell. Insoweit ist es verständlich, dass diese Fel- ber nicht schweigen, wenn sich Entwicklungen andeuten, der seit längerer Zeit auch in den Fokus wirtschaftlicher die dem Willen des Gesetzgebers gerade nicht entspre- Interessen gerückt sind. Das gewerbliche Schutzrecht ist chen. dabei ein Hebel, diesen wirtschaftlichen Interessen ge- recht zu werden. Ich meine, dass der Gesetzgeber nicht immer auf höchstrichterliche Entscheidungen warten sollte, wenn Im Ernährungsbereich hat das Saatgut zentrale Be- sich im Laufe von rechtlichen Auseinandersetzungen an- deutung. Hier bilden Sortenschutzrecht und Patentrecht deutet, dass zumindest Zweifel an der Auslegung zentra- die Rechtsgrundlagen, die – das möchte ich an dieser ler Fragen bestehen. Vielmehr ist der Gesetzgeber dann Stelle gleich betonen – nach meiner Auffassung in den aufgerufen, seiner Aufgabe und Verantwortung gerecht vergangenen 20 Jahren stets zugunsten der Wirtschaft er- zu werden und für Klarstellungen zu sorgen. Das gilt

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22241

Dr. Matthias Miersch (A) umso mehr, wenn zumindest zweifelhaft ist, ob die Kon- Wiederaufnahme der polarisierten Diskussion über Bio- (C) trollmechanismen wirkungsvoll sind und denen einer un- patente erreichen und daraus für sich einen Nutzen zie- abhängigen richterlichen Kontrolle entsprechen. hen. Ihr Handeln richtet sich gegen die Interessen des Wissenschaftsstandortes Deutschland. Der Bericht der Mir ist bewusst, dass die Bundesrepublik Deutschland EU-Kommission 2002 weist aus, dass über 25 Prozent nur ein Staat des Europäischen Patentübereinkommens der Patentanmeldungen beim Europäischen Patentamt ist, die Biopatentrichtlinie europäisches Recht darstellt aus Deutschland kommen. und es deshalb nicht allein auf die Bundesrepublik an- kommt. Das darf jedoch nicht ein Argument dafür sein, Es gibt kein Patent auf Leben, auch wenn mit dieser eine Entwicklung kommentarlos hinzunehmen, die derzeit griffigen Formel häufig gegen Biopatente emotionalisiert beim Europäischen Patentamt, das seinen Sitz in Mün- wird. Es gibt die Möglichkeit, Pflanzen und Tiere unter chen hat, klar zu beobachten ist. Am 16. Juli 2008 wurde bestimmten in der Richtlinie festgelegten Voraussetzun- am Europäischen Patentamt das Patent EP 1651777 auf gen patentieren zu lassen. Die Krebsmaus ist dafür ein die Zucht normaler, konventioneller Schweine erteilt. Das ganz bekanntes Beispiel, eine Maus, die in der Erfor- Patent beruht auf der Nutzung von natürlichen Gen- schung neuer Möglichkeiten zur Heilung von Krebs eine varianten, die in allen Schweinerassen vorkommen. Ent- große Bedeutung hat. sprechende Patente können sich auch auf Nachkommen erstrecken und haben somit eine enorme Reichweite. Das Biopatente sind eine besondere Form des Schutzes Patent reiht sich ein in die Kette weiterer Patentanmel- geistigen Eigentums für Erfindungen. Es ist völlig unbe- dungen im Bereich der Tier- und Pflanzenzucht. Es droht stritten, dass Autoren das Recht der wirtschaftlichen Ver- somit die Gefahr, dass das Patentrecht dazu verwendet wertung ihrer schriftstellerischen Arbeit haben. Genauso wird, globale Abhängigkeiten zu schaffen. unbestritten sollte sein, dass Erfinder das Recht haben, wirtschaftlichen Nutzen aus ihrem Patent zu ziehen. Pa- Das von mir beschriebene Spannungsfeld zwischen tente haben zwei Funktionen: Sie schützen das Recht des wirtschaftlichen Interessen und den Interessen der Allge- Erfinders auf wirtschaftliche Verwertung. Gleichzeitig meinheit würde empfindlich gestört werden. Bereits die sind sie auch eine Veröffentlichung der Erfindung. Der anhängigen Verfahren beim Europäischen Patentamt do- Erfinder bezahlt durch die Veröffentlichung seiner Erfin- kumentieren die offenkundigen Auslegungsspielräume. dung für deren Schutz. Dieser Schutz ist zeitlich begrenzt. Sie zeigen, dass zumindest der Wille des nationalen Ge- setzgebers, biologische Verfahren vom Patentrecht aus- Jeder weiß, dass das Rezept für Coca-Cola nicht pa- zuschließen und Pflanzensorten sowie Tierrassen nicht tentiert und auch nicht öffentlich zugänglich, also geheim patentieren zu können, infrage gestellt wird und es insbe- ist. Eine Patentierung hätte zur Veröffentlichung geführt, und jeder hätte das Rezept nach Ablauf von 20 Jahren (B) sondere bei der Abgrenzung zwischen nicht patentierba- (D) ren biologischen Verfahren wie Züchtungen einerseits nutzen können. Aber Coca-Cola gibt es seit 1886. und patentierbaren biotechnologischen Erfindungen an- Die Pflicht zur Veröffentlichung zusammen mit dem dererseits erhebliche Rechtsunsicherheit gibt. Wir sollten Forschungsprivileg ermöglichen den Informationsaus- nicht warten, bis die letztinstanzlichen Entscheidungen tausch über Erfindungen, ohne deren kommerzielle An- des Europäischen Patentamtes vorliegen, sondern bereits wendung zu gefährden. Das ist eine wesentliche Funktion jetzt klar zum Ausdruck bringen, wo wir eine deutliche von Patenten. Voraussetzung für die Erteilung eines Pa- Fehlentwicklung sehen. Es geht hier um elementare ethi- tents sind die Kriterien der Neuheit der Erfindung; nur sche und rechtliche Grundfragen. Erfindungen, nicht aber Entdeckungen werden patentiert. Schließlich sollten wir die Beratungen auch nutzen, Die Biopatentrichtlinie bestimmt eindeutig, dass Pflan- um institutionelle Fragen der Patentämter zu klären. So zensorten und Tierrassen nicht patentierbar sind. Verfah- besteht nach meiner Einschätzung Bedarf, den Aspekt der ren zum Klonen von Menschen sind ebenfalls nicht paten- Finanzierung der Patentämter – gerade auch des Euro- tierbar, ebenso wenig totipotente Stammzellen. Gegen die päischen Patentamtes – und die Möglichkeit der richter- Erteilung eines Patents kann Einspruch erhoben werden. lichen Überprüfung letztinstanzlicher Entscheidungen Dies ist vielfach erfolgreich geschehen. näher anzuschauen. Es ist zu beobachten, dass Unternehmen versuchen, sehr weitreichende Patentansprüche mit dem Patentrecht Dr. Christel Happach-Kasan (FDP): durchzusetzen. Es ist verständlich, dass dies zu Unmut Die Biopatentrichtlinie hat sich laut Urteil derer, die führt. Dennoch ist eine stärkere gesetzliche Vorgabe ab- sie anwenden, weitgehend bewährt. Vor diesem Hinter- zulehnen. Die Vorstellung, dass im Gesetz jede Einzelheit, grund und auch im Rückblick auf die fast zehnjährige die jetzt von Bedeutung ist und die zukünftig von Bedeu- konstruktive Diskussion über die Biopatentrichtlinie und tung sein wird, festgelegt werden kann, ist absurd. Ge- deren Bestätigung durch den EUGH ist ihre Änderung richte brauchen Ermessensspielräume für ihre Entschei- zurzeit sachlich nicht geboten. Es gibt keinen unmittelba- dungen, um mit ihren Urteilen jedem Einzelfall gerecht ren Handlungsbedarf. werden zu können. Die Alternative wäre ein unüber- schaubares Gesetz, das niemandem helfen würde. 2002 stellte die Kommission fest: ,,… es ist dem euro- päischen Gesetzgeber gelungen, eine praktikable Rege- lung zu schaffen, welche die in der Europäischen Ge- Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE): meinschaft anerkannten ethischen Grundprinzipien Was haben Brokkoli, Schweine und Sonnenblumen ge- berücksichtigt.“ Die Grünen wollen mit ihrem Antrag die meinsam? Man kann sie, wenn Mensch will, essen. Und

Zu Protokoll gegebene Reden 22242 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

Dr. Kirsten Tackmann (A) weil Essen existenziell ist, wäre die Kontrolle über das, schen Anreize gibt, weshalb ihr Schutz oft hinter andere (C) was wir essen, eine Schlüsselposition. Wer Essen oder Verwertungsinteressen gestellt wird. Das ist letztlich in- den Zugang zu Essen kontrolliert, hat so unglaubliche novations- und forschungsfeindlich und muss durch poli- Macht – bis zur Erpressbarkeit derer, die essen. tische Entscheidungen verhindert werden. Was hat das mit dem vorliegenden Antrag der Grünen Die Landwirtschaft muss sich weiterhin auf frei zu- zu tun? Die wahrscheinlich beste Möglichkeit, mit Nah- gängliche genetische Ressourcen stützen können. Dafür rungsmitteln für die Menschheit Geld zu verdienen, ist die brauchen wir gesamtgesellschaftliches Wissen über die Patentierung von Genen. Wer so ein Patent besitzt, kann Genome unserer Kulturpflanzen und Nutztierrassen. Pa- theoretisch jedes Mal mitverdienen, wenn Sie in Ihr Bröt- tente auf das Wissen über dieses Leben schränken dage- chen beißen. Eigentlich ist das in Europa verboten, aber gen den Zugang ein. Das ist mit der Linken nicht zu ma- eben nur eigentlich. Das Europäische Patentamt, EPA, chen. umgeht das Verbot regelmäßig, in letzter Zeit immer häufiger – leider. Wenn ein Erzeugnis, eine Pflanzensorte Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): oder Tierart, nicht patentierbar ist, dann wird das Her- Die zahlreichen Streitfälle um Biopatente, die vom stellungsverfahren oder eine Verwendung des Erzeugnis- Europäischen Patentamt in den letzten Jahren erteilt ses zum Patent angemeldet. Die negative Wirkung bleibt wurden, zeigen die eklatanten Mängel der EU-Biopatent- die gleiche: Das Schwein in meinem Stall gehört nicht Richtlinie immer deutlicher. Es geht dabei nicht nur um mehr mir. gentechnisch veränderte Pflanzen oder Tiere, sondern Das EPA nutzt dabei Spielräume in der zu löchrig for- aktuell besonders um biologische Züchtungsverfahren. mulierten EU-Biopatentrichtlinie. Herstellungsverfahren Art. 4 der Biopatent-Richtlinie 98/44/EG besagt in wie zum Beispiel Selektionsverfahren sind so ein Schlupf- Abs. 1: Nicht patentierbar sind a) Pflanzensorten und loch. Diese Schlupflöcher sind aber kein Zufall, sondern Tierrassen, b) im Wesentlichen biologische Verfahren zur absichtlich eingebaut. So dürfen beispielsweise keine Pa- Züchtung von Pflanzen oder Tieren. tente auf „im Wesentlichen“ biologische Verfahren zur Im Widerspruch dazu besagt Art. 4 Abs. 2s: Erfindun- Züchtung von Pflanzen und Tieren erteilt werden. Die bei- gen, deren Gegenstand Pflanzen oder Tiere sind, können den Worte „im Wesentlichen“ sind doch genau deshalb in patentiert werden, wenn die Ausführungen der Erfindung diesem Satz, damit Ausnahmen möglich sind. technisch nicht auf eine bestimmte Pflanzensorte oder Die aktuelle Situation, in welcher multinationale Ag- Tierrasse beschränkt ist. Und Art. 2 Abs. 2: Ein Verfahren rar- und Saatgutkonzerne auf die Grundlagen unserer Er- zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren ist im Wesentli- nährung zugreifen können, ist und bleibt schlicht nicht chen biologisch, wenn es vollständig auf natürlichen (B) hinnehmbar. Bis vor kurzem galt der freie Zugang zu ge- Phänomenen wie Kreuzung oder Selektion beruht. (D) netischen Ressourcen als Grundrecht und Grundvoraus- Das Europäische Patentamt hat in industriefreundli- setzung für die Züchtung. Ja, wir brauchen auch eine cher Auslegung dieser widersprüchlichen EU-Richtlinie freie, uneingeschränkte Arbeit von Forschung und Ent- in den letzten Jahren daher Patente auf Tiere und Pflan- wicklung. Auch dafür muss das Biopatentrecht wieder zen erteilt. Dies entspricht einer Interpretation der Richt- vom Kopf auf die Füße gestellt werden, statt die allein linie, wonach Orangen nicht patentiert werden können, profitorientierte Ausbeutung und Blockade menschlichen Südfrüchte aber schon. Bis 2005 wurden in Europa Wissens auch noch zu protegieren. Zumindest in Berei- 850 Patente auf Pflanzen und Tiere erteilt. Aktuelle Fälle chen des öffentlichen Interesses muss der alleinige oder betreffen Brokkoli (Firma Bioscience), Schweine – ur- zu bezahlende Wissenszugriff auf Ausnahmen beschränkt sprünglich von Monsanto angemeldet, derweil im Besitz oder noch besser unterbunden werden. des US-Unternehmens Newsham Choice Genetics – und Für die Linke gilt dabei weiterhin der Grundsatz: Kein Kühe (neuseeländische und belgische Forscher). Dage- Patent auf Leben. Wir wollen weder ein Recht, Gene zu gen laufen zahlreiche Organisationen, Umweltverbände patentieren, noch ein Patentrecht auf eine besondere Saatzuchtunternehmen und Bauernverbände – auch der Eigenschaft eines Gens. Gene sind keine Erfindungen, deutsche Bauernverband – Sturm. Lediglich das ehren- sondern Ergebnis der Evolution. Sie können gesucht, un- amtliche Engagement einer kritischen Öffentlichkeit tersucht, bewundert und verwendet, aber sie dürfen nicht führt so derzeit dazu, dass die Vergabe von Biopatenten in privaten Besitz genommen werden. Allenfalls sind sie gelegentlich vom EPA nachträglich eingeschränkt wird, der Besitz der Völker, mit dem sie im Interesse nachfol- wie kürzlich im Fall der Embryonen. Doch trotz aller gender Generationen umgehen müssen. Eine Privatisie- Proteste zeigt die EU-Kommission keinerlei Bereitschaft, rung oder Ausbeutung von gesamtgesellschaftlichen, na- die EU-Biopatent-Richtlinie zu korrigieren. Die Bundes- türlichen Ressourcen im alleinigen privaten Interesse ist regierung sieht der katastrophalen Entwicklung tatenlos nicht zu akzeptieren. zu. Mit der heutigen Praxis der Patentierung werden Züchtung und Innovation eingeschränkt und die Land- Die Patentierung von Pflanzen, Tieren und deren Ge- wirtschaft somit ihrer Produktionsgrundlagen beraubt. nen hat das Potenzial, im Bereich der allgemeinen Le- bensgrundlagen weitreichende Monopole zu schaffen. Die Abhängigkeit der Landwirtschaft wie auch der Profitabel ist der technologische Eingriff, während es im kleinen und mittelständischen Züchtungsunternehmen kapitalistischen Wirtschaftssystem für den Erhalt der Ar- steigt angesichts der hohen Lizenzgebühren und Eigen- tenvielfalt und das kollektive Wissen von Landwirtschaft tumsrechte der Agro-Konzerne dramatisch. Wenn Pa- und Pflanzenzüchtung keine vergleichbaren ökonomi- tente, wie das auf den Brokkoli, die gesamte Produktions-

Zu Protokoll gegebene Reden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22243

Ulrike Höfken (A) kette von der normalen Zucht bis hin zum Lebensmittel als privatwirtschaftliches Kontrollinstrument stellt eine (C) umfassen, führt das zu einer regelrechten Übernahme der entscheidende Bedrohung der biologischen Vielfalt dar; Kette der Lebensmittelproduktion durch die Patentinha- deren Schutz und Förderung die Bundesregierung sich ber. Diese versuchen so, den industriellen Mehrwert für noch im letzten Jahr als Gastgeberland der Vertragsstaa- sich zu reklamieren. tenkonferenz des Übereinkommens über die biologische Vielfalt (CBD) vollmundig auf die Fahnen schrieb. „Das Patentrecht wird zu einer Krake, die Pflanzen und Tiere als Grundlagen der Welternährung umschlingt Das Europäische Patentamt erteilt seine Patente weit- und der Kontrolle von Konzernen unterwirft“, sagt der gehend auf Basis der widersprüchlichen EU-Biopatent- Gentechnikspezialist Christoph Then. Die Bekämpfung Richtlinie, die in der Praxis zu inakzeptablen Patentie- des Welthungerproblems wird vollständig ad absurdum rungen führt. geführt, wenn Saatgut, das heute noch zu 80 Prozent frei getauscht wird, mit teuren Besitzansprüchen von Privat- Wir fordern: konzernen belegt ist. Dies bedeutet eine akute Bedrohung Das Biopatentrecht muss verbessert werden. Die Bun- der Ernährungssicherheit und ein Scheitern der desregierung muss umgehend die Initiative auf EU-Ebene Milleniumsziele. Angesichts der wachsenden Bedeutung ergreifen, um die EU-Biopatent-Richtlinie zu reformie- des Weltmarktes bei Nahrungsmitteln versuchen die ren. Patente auf Pflanzen und Tiere sowie biologische Agro-Konzerne, die Ur- und Lebensmittelproduktion zu Züchtungsverfahren dürfen nicht erteilt werden. monopolisieren. Auch die Terminator-Technologie, bei der das Erbgut Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt: von Pflanzen so verändert wird, dass sie unfruchtbar wer- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf den, zielt in diese Richtung. Dadurch wird verhindert, Drucksache 16/11604 an die in der Tagesordnung aufge- dass ein Teil der Ernte für die Aussaat im nächsten Jahr führten Ausschüsse vorgeschlagen. Strittig ist allerdings wieder verwendet werden kann. Die Technologie ist we- die Federführung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der gen der Auskreuzungsgefahr von der Konvention über SPD wünschen Federführung beim Rechtsausschuss, die biologische Vielfalt (CBD) geächtet worden. Sogar der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- Wirtschaft und Technologie warnt in einer Stellungnahme braucherschutz. vom März 2007, dass die heutige Patentierungspraxis ne- gative Auswirkungen auf Wirtschaft und Entwicklung ha- Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag ben kann. Er schreibt – ich zitiere –: „Eine Rückbesin- der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, das heißt Feder- führung beim Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft (B) nung auf hohe Qualitätsstandards bei Recherche und (D) Prüfung in den Patentämtern ist daher dringend zu for- und Verbraucherschutz, abstimmen. Wer stimmt für die- dern – höhere Anforderungen an die Patentierbarkeit sen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Der würden die Zahl marginaler Patente […], die auf einem Überweisungsvorschlag ist damit abgelehnt. geringen erfinderischen Schritt beruhen – verringern, die Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der Komplexität des Patentdickichts reduzieren und die Nut- Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, das heißt Feder- zung solcher Patente für strategische Zwecke einschrän- führung beim Rechtsausschuss, abstimmen. Wer stimmt ken.“ für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Auch die englische „Commission on Intellectual Pro- Damit ist dieser Überweisungsvorschlag angenommen; perty Rights“ – Komission für geistige Eigentumsrechte – das heißt, die Federführung liegt beim Rechtsausschuss. empfiehlt ausdrücklich, dass zumindest Entwicklungslän- Damit, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind wir am der Patente auf Saatgut und Pflanzen komplett verbieten Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich danke Ih- sollten. nen, dass Sie der Debatte so lange beigewohnt und sie Nicht Entdeckungen sollen im Patentrecht belohnt aktiv gestaltet haben. werden, sondern ausschließlich Erfindungen mit konkre- Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- ter Anwendung und darauf beschränktem Geltungsbe- destages auf morgen, Freitag, den 13. Februar 2009, reich. 9 Uhr, ein. Nutztiere und Nutzpflanzen sind ein gemeinsames kul- Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend und schließe turelles Erbe der Menschheit, das in jahrhundertealter die Sitzung. Arbeit entstand. Sie sind kein Privatbesitz weniger Unter- nehmen und sollen es auch nicht werden. Unfruchtbarkeit (Schluss: 19.17 Uhr)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22245

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Anlage 2 Liste der entschuldigten Abgeordneten Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der Haftung von ehrenamtlich täti- entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich gen Vereinsvorständen (Tagesordnungspunkt 12)

Dr. Akgün, Lale SPD 12.02.2009 Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Es ist richtig und notwendig, alles Vernünftige zu tun, um die Übernahme von ehrenamtlichen Ehrenämter Andreae, Kerstin BÜNDNIS 90/ 12.02.2009 zu erleichtern und die Bürger sogar dazu zu ermuntern, DIE GRÜNEN dies zu tun. Wir wollen auch nicht, dass engagierte Per- sonen durch Haftungsregelungen unzumutbaren Risiken Burkert, Martin SPD 12.02.2009 ausgesetzt und von der Übernahme solcher Ämter in Vereinen abgehalten werden. Deshalb unterstützen wir Ernstberger, Petra SPD 12.02.2009 Intentionen, Haftungseinschränkungen vorzunehmen. Aber doch nicht so, wie der Bundesrat es in seinem Ent- Gabriel, Sigmar SPD 12.02.2009 wurf vorgeschlagen hat. Damit würde das Haftungsri- siko zulasten der Vereine, der Interessen der Vereinsmit- Heller, Uda Carmen CDU/CSU 12.02.2009 glieder und Dritter umverteilt. Die Gegenäußerung der Freia Bundesregierung enthält zahlreiche zutreffende Erwä- gungen und Argumente gegen die vom Bundesrat vorge- Dr. Högl, Eva SPD 12.02.2009 schlagene gesetzliche Neuregelung. Wir lehnen den Entwurf des Bundesrates ab. Maß- Hörster, Joachim CDU/CSU 12.02.2009 gelblich sind die folgenden Gründe: Große Vereine, auch gemeinnützige, sind häufig auch große Wirtschaftsunter- Homburger, Birgit FDP 12.02.2009 nehmen mit großen Umsätzen und zahlreichen Mitarbei- tenden. Gerade die Angestellten der Vereine, aber auch (B) Lafontaine, Oskar DIE LINKE 12.02.2009 Mitglieder, Spender und Geschäftspartner sollten nicht (D) schlechtergestellt werden. Im Interesse der Mitarbeiten- den sollten die gesamten Vereinsvorstände nicht aus der Menzner, Dorothée DIE LINKE 12.02.2009 Verpflichtung entlassen werden, die Tätigkeit und die Geschäfte der Vereine so zu organisieren und zu kontrol- Mücke, Jan FDP 12.02.2009 lieren, dass etwa die Steuer-, Sozial- und Versicherungs- angelegenheiten ordnungsgemäß geregelt und abgewi- Nitzsche, Henry fraktionslos 12.02.2009 ckelt werden, damit ihre berechtigten Interessen keinen Schaden nehmen können. Die Freistellung eines Teils Parr, Detlef FDP 12.02.2009 der Vorstandes von der Haftung für fahrlässiges Handeln und Unterlassen könnte sich so auswirken, dass Vor- Paula, Heinz SPD 12.02.2009 standsmitglieder meinen, ihre Verpflichtungen nicht mehr so ernst nehmen zu müssen wie bisher. Schuldhaf- Pflug, Johannes SPD 12.02.2009 ter Pflichtverletzung muss weiterhin vorgebeugt werden durch die Möglichkeit, für eventuelle Folgen oder Schä- Schily, Otto SPD 12.02.2009 den haften zu müssen. Beschäftigte von Vereinen, die sich auf ihre vertrag- Schmidt (Fürth), CDU/CSU 12.02.2009 lich vereinbarte Sozialversicherung verlassen, dürfen Christian nicht gegenüber anderen Beschäftigten benachteiligt werden, indem ehrenamtlich unentgeltliche Vereinsvor- Schultz (Everswinkel), SPD 12.02.2009 stände als Arbeitgeber letztlich folgenlos die Abführung Reinhard von Sozialversicherungsbeiträge unterlassen, und dies zulasten der Versichertengemeinschaft. Das erscheint Steinbach, Erika CDU/CSU 12.02.2009 uns nicht verantwortbar. Diese Arbeitgeberfunktion müssen alle Vereinsvorstände gesamtschuldnerisch wahrnehmen oder innerorganisatorisch sicherstellen, Dr. Strengmann-Kuhn, BÜNDNIS 90/ 12.02.2009 dass jedenfalls ein Mitglied die Beiträge abführt. Die Wolfgang DIE GRÜNEN strafrechtliche Haftung der anderen ist dann ohnehin auf Vorsatz begrenzt; eine noch weiter gehende Verringe- Dr. Terpe, Harald BÜNDNIS 90/ 12.02.2009 rung ist unangebracht. Anders als der Entwurf vor- DIE GRÜNEN schlägt, sollen die weiteren Vorstandsmitglieder sich 22246 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) diesbezüglich nicht von jeglichen Kontroll- und Über- tion Die Linke, der einen totalen Abschiebestopp für (C) wachungspflichten freizeichnen können. Flüchtlinge fordert. Diesmal handelt es sich um Flücht- linge aus dem Kosovo. Der Antrag wird von der Linken Wenn in Konsequenz dieser Vorschläge nur einzelne mit dem mangelnden Schutz von Minderheiten wie zum ehrenamtliche Vorstände haftungsbefreit würden, aber wenigstens ein anderer ehrenamtlicher Vorstand dann al- Beispiel den Serben begründet. Nach Erkenntnissen des lein das volle Haftungsrisiko tragen müsste, würde dies Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist die Lage absehbar die Offenheit verringern, ehrenamtlich be- seit der Unabhängigkeitserklärung, abgesehen von stimmte Vorstandsämter zu bekleiden. Hinzu kommt: Nordkosovo, weitestgehend stabil. In dem bisher von der Schädigt ein Vereinsvorstand leicht fahrlässig einen UNMIK kontrolliertem Gebiet sind sehr wohl Fort- Dritten und bliebe er gleichwohl von dessen Ansprüchen schritte bei der Stabilisierung und Demokratisierung freigestellt, würde der gesamte Verein mit dem Vereins- festzustellen. Seit der Unabhängigkeitserklärung sind vermögen, das Mitglieder und Spender für gemeinnützige militante bzw. gewaltbereite kosovo-albanische Gruppen Zwecke aufgebracht haben, bis zur Insolvenz haften, nicht kaum mehr in Erscheinung getreten. Aber auch wenn aber alle Vereinsvorständler. Diese Folgenlosigkeit von nun das Ziel der „Unabhängigkeit“ erreicht ist, können Pflichtverletzungen durch Vorstandsmitglieder können wir nicht davon ausgehen, dass sich diese vollkommen wir nicht wollen. Wenn in Konsequenz dieser Vor- zurückziehen oder gar auflösen werden. Die Mehrzahl schläge nur einzelne ehrenamtliche Vorstände haftungs- der Menschen will aber letztendlich in Frieden leben und befreit würden, aber wenigstens ein anderer ehrenamtli- endlich zur Tagesordnung übergehen. cher Vorstand dann allein das volle Haftungsrisiko tragen müsste, würde dies absehbar die Offenheit verrin- Am 21. Januar dieses Jahres nahm die Kosovo Security gern. Force, KSF, als volksübergreifende Sicherheitseinheit ihre Arbeit auf. Sie soll Unruhen zwischen Kosovo- Sorgen möglicher Vereins- und Stiftungsvorständler Albanern und Serben niederschlagen helfen. Dabei vor Haftungsrisiken aus ihrem Amt und ihrer Stellung wurde darauf geachtet, dass die Einheit im Gegensatz im Verein können und sollen durch eine obligatorische Versicherung des Vereins gegen derlei Risken entgegen- zum Vorgänger Kosovo Protection Corps nicht von gewirkt werden. Auch wäre die vorgeschlagene zivil-, UCK-Veteranen dominiert wird, sondern multiethnisch steuer- und sozialrechtliche Haftungsprivilegierung von zusammengesetzt ist. Auch dies ist ein wichtiger Beitrag unentgeltlich tätigen Vereinsvorständen etwa gegenüber zur Stabilisierung in der Region. Es gibt derzeit keinen ebenso unentgeltlich ehrenamtlich tätigen Stiftungsvor- triftigen Grund für einen totalen Abschiebestopp. Die ständen, Vormünden, Betreuern und Pfleger erscheint Lage in Nordkosovo ist allerdings noch verhältnismäßig unangemessen. Hier wäre eine stimmige Gesamtlösung angespannt. Die serbische Regierung in Belgrad versuchte (B) für alle unentgeltlich und ehrenamtlich Tätigen nötig. bisher mit allen Mitteln, die serbischen Siedlungsgebiete (D) unter ihre volle Kontrolle zu bringen. Kosovo-serbische Die vorgeschlagene steuerrechtliche Haftungsbegren- Beamte – Polizisten, Richter, Eisenbahner – verweigerten zung von ehrenamtlich unentgeltlich tätigen Vereinsvor- dem neuen Staat und der Rechtsstaatlichkeitsmission standsmitgliedern ist nicht vertretbar. Dies könnte dazu EULEX zum Teil ihre Dienste. führen, dass sich alle Vorstandsmitglieder bis auf eines durch vorstandsinterne Abreden von der Erfüllung steu- Dies betrifft wohlgemerkt hauptsächlich den Nord- erlicher Vereinspflichten zulasten des Steueraufkom- kosovo. Es sicher notwendig, dass in dieser Beziehung mens freizeichnen. Sie würden nur mithaften, wenn ih- auch entsprechend stärker auf die serbische Regierung nen Kenntnis etwaiger Pflichtverletzungen des haftenden eingewirkt wird. Ein Schritt in die richtige Richtung ist Vorstandsmitglieds – in Missbrauchsfällen eventuell so- damit getan worden, dass nunmehr die UNMIK im gar eines mittellosen Strohmanns – nachgewiesen wer- Nordkosovo Aufgaben der EULEX übernommen hat, den könnten. Das jedoch wird kaum je gelingen. was zu einer besseren Akzeptanz durch die Serben füh- Das Land Nordrhein-Westfalen hat folglich bereits im ren soll. Hin und wieder sind immer noch gewaltsame Bundesrat beantragt, jedenfalls diese steuerliche Privile- Auseinandersetzungen zwischen Kosovo-Serben und gierung zu streichen, war damit jedoch unterlegen. Kosovo-Albanern zu beobachten. Hier ist jedoch nach Erkenntnissen des BAMF nicht immer klar, ob diese im- Das richtige Ziel, die Übernahme von Ehrenämtern zu fördern, muss auf andere, überlegtere Art und Weise mer einen ethnischen Hintergrund haben oder ob es sich weiter verfolgt werden. um Auseinandersetzungen zwischen kriminellen Verei- nigungen handelt. Trotz aller Probleme sollten wir die weiteren Fort- Anlage 3 schritte in der Region abwarten. Ich bin der Meinung, Zu Protokoll gegebene Reden hier geht es um Ursachenbekämpfung und nicht um den Kampf gegen die Symptome, sodass ein genereller Ab- zur Beratung der Beschlussempfehlung und des schiebestopp und die damit verbundene Einstellung von Berichts: Keine Abschiebungen in das Kosovo Einzelfallprüfungen überhaupt keinen Sinn machen. Im (Tagesordnungspunkt 13) Gegenteil: Mit einer Besserstellung der Flüchtlinge aus dem Kosovo gegenüber anderen Flüchtlingen verlassen Hans-Werner Kammer (CDU/CSU): Zum wieder- wir den Pfad einer gerechten, aber konsequenten Flücht- holten Male behandeln wir hier einen Antrag der Frak- lingspolitik. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22247

(A) Als Begründung für einen generellen Abschiebestopp fall zu verzichten? Mit ihren steten Forderungen nach (C) führt die Fraktion Die Linke ferner die schwierige öko- generellen Abschiebestopps haben die Linken den Blick nomische Lage vor Ort an. Auch dies rechtfertigt keinen für eine Flüchtlingspolitik, die der jeweiligen Situation generellen Abschiebestopp. Hier sei auf das EU-Rück- gerecht wird, verloren. Ihre Realitätsferne zeigt erneut, kehrprojekt verwiesen, welches die Rückkehrer auch in dass sie noch in einem anderem Staat zu Hause sind. wirtschaftlichen Belangen unterstützt. So hat die Arbeitsgruppe Entwicklung und Fachkräfte im Bereich Alle beteiligten Stellen, UNMIK, die Länder und Migration Rückkehrern, die sich selbstständig machen auch das BAMF leisten eine gute Arbeit und gehen auf wollen, sowohl in Deutschland als auch im Kosovo spe- die berechtigten Interessen der Flüchtlinge ein. Trotz al- zielle Seminare für Existenzgründer angeboten. Auch die ler Schwierigkeiten zeichnet sich im zehnten Jahr der Arbeiterwohlfahrt Nürnberg bietet Qualifizierungsmaß- UNMIK-Mission eine, wenn auch nur allmähliche, Sta- nahmen an, um freiwillige Rückkehrer bestmöglich auf bilisierung der Situation ab. Ich hoffe, dass die serbische die Anforderungen im Berufsleben vorzubereiten. Gegen Regierung, der ja einige Kolleginnen und Kollegen hier einen generellen Abschiebestopp sprechen auch die ak- im Hause auch gerne das Wort reden, nach dem Rückzug tuellen Fallzahlen: 2008 stammten insgesamt 879 Asyl- von EULEX aus dem Nordkosovo sich dort auch koope- bewerber aus dem Kosovo. 0,5 Prozent der Anträge von rationsbereiter zeigt. Ferner zeigt auch die offensichtlich Personen aus dem Kosovo wurden anerkannt. Für 1,9 Pro- zurückgehende Zahl von Anträgen aus dem Kosovo, zent der Antragsteller wurde 2008 subsidiärer Schutz ge- dass es keine Veranlassung gibt, bei den Ländern einen währt, indem ein Abschiebungsverbot für diese Personen generellen Abschiebestopp zu erwirken. Aus diesen erlassen wurde. Gründen lehnen wir von der Union den Antrag der Frak- tion Die Linke ab. Wir folgen damit der Empfehlung des Ich bin dem Bundesinnenministerium und dem Bundes- Innenausschusses. amt für Migration und Flüchtlinge in diesem Zusammen- hang dankbar, dass nunmehr statistisch zwischen Antrag- Rüdiger Veit (SPD): Vor knapp acht Monaten haben stellern aus dem Kosovo und aus Serbien unterschieden wir über genau den gleichen Antrag schon einmal bera- wird. Ich hoffe jedoch, die Kolleginnen und Kollegen ten. Damals habe ich gesagt, dass wir die Sicherheitslage der Linken werfen der Bundesregierung hierbei nicht im Kosovo nach wie vor kritisch beobachten müssen. auch wieder die Unterstützung von völkerrechtswidrigem „Sobald sich diese negativ entwickle, seien selbstver- Separatismus vor. Durch die statistische Differenzierung ständlich weitere Maßnahmen zu ergreifen“, heißt es im wird es zukünftig möglich sein, genaue Schlussfolgerungen Bericht und in der Beschlussempfehlung des Innenaus- aus den Zahlen der Asylbewerber aus Serbien und dem schusses zum vorliegenden Antrag. Kosovo zu ziehen. Addiert man die Fallzahlen aus Serbien (B) und Kosovo, so ergäbe sich bei 1 536 Asylerstanträgen im Die auch von mir geteilte Befürchtung, es könne nach (D) Jahr 2008 ein Rückgang um 460 Anträge, also 23 Pro- der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo im Februar zent, im Vergleich zu 2007. Damit sind Serbien und Ko- 2008 erneut zu schweren ethnisch motivierten Unruhen sovo die einzigen unter den Hauptherkunftsstaaten mit kommen, hat sich erfreulicherweise nicht bewahrheitet. einem deutlichen Rückgang an Asylbewerbern im Jahr Auch wenn die Lage von Minderheiten im Kosovo im- 2008. Leider ist bisher noch nicht daraus zu erkennen, mer noch nicht stabil ist, so hat sich doch in den vergan- welchen Anteil Flüchtlinge aus dem Kosovo an diesem genen acht Monaten die Situation immer mehr verbes- signifikanten Rückgang haben. Aber die Zahlen des letzten sert. Quartals 2008 lassen schon eine Tendenz erkennen. So war innerhalb des vierten Quartals die Zahl der monatli- Bereits im Februar 2008 verpflichteten sich das Parla- chen Asylanträge aus dem Kosovo ebenfalls rückläufig. ment und die politische Führung des Kosovo auf rechts- Auch ist bei den Asylbewerbern aus Serbien eine zu- staatliche und demokratische Standards für ihr Land. Sie rückgehende Tendenz zu beobachten. sagten zu, dass das Kosovo Heimat aller seiner Bürger sein werde. Dieses klare Bekenntnis zu Rechtsstaat, De- Das Bundesamt für Migration für Flüchtlinge lässt mokratie und Multiethnizität findet sich auch in der ko- zudem bei den bewährten Einzelfallprüfungen auch die sovarischen Verfassung, die am 15. Juni 2008 in Kraft notwendige Sorgfalt walten. So werden zum Beispiel trat. Rückführungen bei Kranken, deren ausreichende medi- zinische Versorgung vor Ort nicht sichergestellt werden Seit Juni 2008 wurde dann auf Initiative des UN-Ge- kann, schon mal ausgesetzt. Zweifel an der guten Arbeit neralsekretärs Ban Ki-Moon mit der Umgestaltung und des BAMF sind in diesem Zusammenhang unange- Anpassung der internationalen zivilen Präsenz im Ko- bracht. Auch für die Roma wird ein besonderes Schutz- sovo begonnen. Der UN-Sicherheitsrat hat dem Plan bedürfnis vor dem Hintergrund des UNHCR-Papiers zum Aufbau der EU-Polizei- und -Justizmission EULEX vom Juni 2006 beachtet. So können nur besonders zugestimmt. Am 9. Dezember letzten Jahres hat die zi- schwere Straftäter de facto zurückgeführt werden. In den vile Polizeimission der Europäischen Union offiziell mit meisten Fällen hat UNMIK im Rahmen der Einzelfall- ihrer Arbeit auf dem gesamten Territorium des Kosovo prüfung die Rückführung nicht gestattet. begonnen. Ich fasse zusammen: Die CDU/CSU-Fraktion steht für Das Ziel von EULEX ist es, eine multiethnische Poli- eine maßgeschneiderte Flüchtlingspolitik. Wozu haben zei, Justiz und Verwaltung im Kosovo aufzubauen und wir denn sonst die vielen Ausnahmetatbestände, die es eine Unterdrückung der serbischen Minderheit zu ver- erlauben, gegebenenfalls auf Rückführungen im Einzel- hindern. EULEX ist die größte zivile Mission, die im 22248 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidi- gemacht: Die ganze Welt ist Notstandsgebiet, und diese (C) gungspolitik, ESDP, bisher jemals aufgestellt wurde. Not nur auf deutschem Boden zu heilen: Am deutschen Von den insgesamt 3 000 Mitarbeitern werden 1 900 an- Wesen soll die Welt genesen – auf sozialistisch. reisen, die restlichen werden aus der örtlichen Bevölke- rung angeworben. Momentan zählt die Mission rund Die Linke, so können wir auf ihrer Netzseite lesen, 1 300 Mitarbeiter. Der EULEX-Etat für die ersten hält die Unabhängigkeit des Kosovo für „völkerrechts- 16 Monate beträgt 205 Millionen Euro. widrig“; Denn, so heißt es dort: Der EU-Einsatz ist zunächst auf 28 Monate befristet. Letztendlich ist die Unabhängigkeit des Kosovo das Diplomaten rechnen aber bereits mit einer Dauer von Ergebnis des Krieges der NATO gegen das dama- fünf bis zehn Jahren. Die EU ist mit beachtlichem Ein- lige Jugoslawien und basiert dementsprechend auf satz im Kosovo vor allem auch zur Verhinderung von einer gewaltsam herbeigeführten Grenzverände- ethnisch motivierten Konflikten vor Ort und leistet prak- rung. Damit sind die jetzigen Entwicklungen eine tische Hilfe beim Aufbau einer multiethnischen Verwal- direkte – zeitlich verzögerte – Folge des Krieges. tung. Auch wenn es immer noch jede Menge Probleme Dass an einem solchen, gegen den strammen Sozialis- gibt, hat sich die Situation doch entschärft. Es ist zu kei- mus eines Milosevic und seiner Epigonen gegründeten nen neuen ethnisch motivierten Krawallen mehr gekom- Staat kein gutes Haar gelassen werden kann, ist in der men. Für die Minderheitengruppe der Aschkali und Linken-Logik klar. Deshalb muss natürlich nach Sicht Ägypter fordert selbst Amnesty International keinen ge- der Linken sofort ein Abschiebestopp für Menschen her, nerellen Abschiebestopp mehr. die zwar kein Aufenthaltsrecht in Deutschland haben, aber vor „diesem“ Kosovo unbedingt zu schützen sind. Schwieriger sieht die Situation generell für Roma aus Niemand bestreitet mögliche Probleme in der inneren und Serben, die aus dem Süden des Kosovo stammen. Ordnung des neuen Staates. Aber die Linke will diese Immer noch werden Roma in allen Teilen des Landes Probleme nicht lösen. Sie vergießt Krokodilstränen in schwerwiegend diskriminiert; die im Süden des Kosovo ihrem Antrag, wenn sie moniert, dass die KFOR-Trup- lebenden Serben sind dort die Minderheit. Sie leben in pen nicht gegen Ausschreitungen gegen Minderheiten Enklaven und können sich häufig nur in Begleitung von vorgegangen seien. Gleichzeitig hat sie sich selbst laut- Polizeischutz durchs Land bewegen. hals gegen den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo aus- Auf der anderen Seite werden gegenwärtig aus der gesprochen. Gruppe der Roma nur schwere Straftäter abgeschoben. Die Linke will das Kosovo in möglichst schlechtem Auch seit das kosovarische Innenministerium die Kom- Licht erscheinen lassen, sein staatliches Existenzrecht petenz für die Rückführungen innehat und nicht mehr und seine Legitimität in Abrede stellen, keinen wirksa- (B) UNMIK, ist die Zahl der Abschiebungen nicht sprung- (D) men Beitrag zur Problemlösung vor Ort leisten, schon haft angestiegen. Im Gegenteil: Jetzt, in den Wintermo- gar nicht militärisch, und nutzt das so systematisch un- naten, sind die Abschiebungen in das Kosovo fast einge- terstützte Chaos zur Forderung, dieses nun möglichst stellt worden. Von Massenabschiebungen kann nicht die umfassend noch zu einem innenpolitischen Problem der Rede sein. Auch die Zahl der Rückführungen insgesamt Bundesrepublik zu machen. Das ist keine Politik; das ist ist im vergangenen Jahr 2008 im Vergleich zu den Zah- Propaganda unter dem Deckmantel der Humanität. Es ist len von 2007 gesunken und nicht etwa angestiegen. unerträglich, dass die Linke auch den Holocaust heran- Dies alles lässt darauf schließen, dass in Einzelfällen zieht, um ihre Chaosförderungspolitik zu begründen. mit Augenmaß entschieden und häufig auch auf Rück- Ein genereller Abschiebestopp, wie die Linken for- führungen verzichtet wird. Wir werden die Entwicklung dern, ist sachlich nicht angemessen. Gerade vor dem des Kosovo jedoch weiterhin kritisch verfolgen und un- Hintergrund der Verantwortung für andere Fälle muss ser Handeln den jeweils aktuellen Erfordernissen anpas- die Notwendigkeit eines Abschiebestopps genau geprüft sen. werden. Der generelle Abschiebestopp ist ein politisches Aus den vorgenannten Gründen kann ich einem gene- Instrument im Falle einer akuten Entwicklung, die ra- rellen Abschiebestopp heute allerdings genauso wenig sches Handeln erfordert. Dieses Instrument darf nicht in- oder eher noch weniger als vor knapp einem Jahr zustim- flationär verwendet werden. Die individuelle Prüfung, men. Ich empfehle daher, den Antrag abzulehnen. ob ein Asylgrund vorliegt, bleibt ja nicht ausgeschlos- sen. Eine darüber hinausgehende kollektive Ausnahme von den ausländerrechtlichen Bestimmungen scheint Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP): Auch nach den kaum angemessen. Ausschussberatungen ist der Eindruck, den die FDP vom vorliegenden Antrag hat, unverändert: Die Linke unter- Die Konflikte im Kosovo sind unzweifelhaft eine nimmt einmal mehr einen Anlauf, das deutsche Auslän- langfristige Entwicklung. Die Probleme im Zusammen- derrecht auszuhebeln. Diesmal soll das Kosovo als Not- leben verschiedener Ethnien und verfeindeter Gruppen standsgebiet dargestellt werden, in das Deutschland können nicht auf dem Boden der Bundesrepublik niemanden abschieben dürfe. Das Auswärtige Amt und Deutschland gelöst werden. Stattdessen müssen wir hel- die diesbezügliche Praxis der Bundesregierung rechtfer- fen, dass diese Konflikte im Kosovo beigelegt werden tigen eine solche Pauschalausnahme vom Ausländer- können. Wir tun das durch EULEX, der Rechtsstaats- recht nicht. Die bisherigen Anträge der Linken zum mission der EU. Sie hilft, rechtsstaatliche Strukturen im Thema Ausländerrecht haben deren Weltbild zu deutlich Kosovo aufzubauen und nachhaltig zu entwickeln. Wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22249

(A) tun das, indem wir dem Bundeswehreinsatz im Kosovo len Sicherungssystem und vom Gesundheitssystem sind (C) zugestimmt haben, die hilft, diese Entwicklung militä- die Roma ebenfalls ausgeschlossen. Selbst wenn sie re- risch abzusichern. Es ist gerade die Linke, die das stän- gistriert sind, können sie sich die Medikamente nicht dig und systematisch zu torpedieren versucht. Ihr Antrag leisten. ist durchsichtig: Ihre Ideologie ist der Linken wichtiger als das langfristige Wohl der Menschen. Ich fordere Sie daher auf: Stoppen Sie Abschiebungen in Not und Elend! Sorgen Sie für eine dauerhafte Per- Der Antrag der Linken ist in seiner mehrfachen Ziel- spektive der Roma-Flüchtlinge in der Bundesrepublik! setzung, der Destabilisierung des unabhängigen Kosovo, Und nicht zuletzt: Leisten Sie einen Beitrag zur dauer- der Diffamierung der westlichen Anerkennung derselben haften Stabilisierung des Kosovo! und auch bei der Infragestellung wesentlicher Merkmale des bestehenden deutschen Ausländerrechts, allzu Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- durchsichtig. Die FDP lehnt ihn ab. NEN): Die Stabilisierung der kosovarischen Institutio- nen muss aus unserer Sicht so kurz nach der Unabhän- Ulla Jelpke (DIE LINKE): Wir beraten heute ab- gigkeit des Landes das wichtigste Ziel sein. Die schließend einen Antrag der Fraktion Die Linke, keine Stabilisierung der kosovarischen Institutionen benötigt Angehörigen von Minderheiten in das Kosovo abzu- Zeit und die notwendige Hilfestellung durch EULEX. schieben. Der Bundesinnenminister soll sich dafür ein- setzen, dass alle Maßnahmen beendet werden, die solche In diesem Zusammenhang sind Tausende von abge- Abschiebungen zum Ziel haben. schobenen ethnischen Minderheitsangehörigen aus Deutschland gar nicht hilfreich und schaffen ein großes Leider ist die Abschiebemaschinerie in Deutschland Risiko der Destabilisierung. Es gibt nach wie vor im Ko- schon angelaufen. Ein Beispiel vom vergangenen sovo keine Aufnahme- und Integrationskapazität für Herbst: Am frühen Dienstagmorgen des 4. November Minderheiten, Kranke oder für Rückkehrer, die mittellos reißen circa 30 Polizeibeamte die Familie Berisha in sind. Es gibt für Abgeschobene keine Unterstützung im Mannheim aus dem Schlaf. Die Mutter und vier Kinder Kosovo, weder von kosovarischen noch von internatio- werden mit Handschellen gefesselt zum Flughafen Ba- nalen Institutionen. Abgeschobene Flüchtlinge sind völ- den-Baden gebracht. Sie können nur mitnehmen, was sie lig auf sich selbst gestellt bzw. auf Unterstützung aus am Körper tragen. Die Mutter ist schwer herzkrank, drei dem Familenverbund angewiesen. Roma und andere eth- der Kinder sind minderjährig und in Deutschland gebo- nische Minderheiten haben häufig keine Unterkunfts- ren, nachdem die Mutter vor 17 Jahren hierherkam. Sie möglichkeit und finden keine Arbeit etc. Es gibt keine leben nun auf der Straße und erhalten keinerlei Unter- nachhaltige Verbesserung der medizinischen Versor- (B) stützung von den kosovarischen Behörden. gungslage gerade im Bereich der Traumabehandlung, (D) Familien wie diese gibt es viele. Nach Schätzungen worauf auch zahlreiche Experten und die zuständigen leben circa 100 000 Roma-Flüchtlinge in Europa. Allein Behörden immer wieder hinweisen. Auch aktuelle Be- in Deutschland geht es um schätzungsweise 23 000 richte, wie der der International Crisis Group, ICG, be- Menschen, die seit zehn Jahren und länger hier leben. schreiben die Sicherheitslage nach wie vor als fragil und Die meisten von ihnen werden nur geduldet, weil die Be- insbesondere für ethnische Minderheiten unvorherseh- hörden eine Rückkehr in das Kosovo grundsätzlich für bar. Auch kommt es nach wie vor zu interethnischen zumutbar halten. Zwischenfällen. Die Fraktion Die Linke findet es nicht zumutbar, Daher teilen wir das Grundanliegen des vorliegenden Menschen in ein Land zu schicken, in dem der Minder- Antrags. heitenschutz weiterhin nur auf dem Papier steht. Die Zu den Forderungen der Fraktion Die Linke im Ein- Linke findet es nicht zumutbar, Menschen in Armut und zelnen: Rechtlosigkeit abzuschieben. Die Linke findet es nicht zumutbar, Kinder abzuschieben, die zehn Jahre und län- Die Forderung nach einem generellen Abschie- ger in Deutschland leben und das Kosovo nur aus Erzäh- bestopp für Flüchtlinge aus dem Kosovo, die keinen lungen kennen. Aufenthaltstitel haben – also auch für alle ethnischen Al- Circa ein Drittel der Roma, Aschkali und der soge- baner – ist zwar sehr weitgehend; es sei aber noch ein- nannten Ägypter aus dem Kosovo haben keine gültigen mal daran erinnert, dass die Bundesregierung den Vor- Ausweispapiere. Es ist ihnen unmöglich, bei einer Rück- schlag des Sondergesandten des UN-Generalsekretärs kehr in das Kosovo ihre Identität nachzuweisen und ih- für den zukünftigen Kosovo Martti Ahtisaari unterstützt ren früheren Besitz zurückzuerlangen. Und selbst wenn hat. Herr Ahtisaari hat unmissverständlich deutlich ge- sie ihre Identität nachweisen können, hilft ihnen das oft macht hat, dass eine Rückkehr ins Kosovo nur freiwillig nicht weiter. Denn ihnen fehlen die Mittel, um ihr Recht erfolgen sollte. Im Annex zu seinem Bericht an den UN- einzuklagen. Die Justiz im Kosovo ist nicht willens und Sicherheitsrat vom 26. März 2007, S/2007/168, wird oft schlicht nicht in der Lage, Angehörigen von Minder- dies klar. Es ist sehr bedauerlich, dass sich die Bundes- heiten zu ihrem Recht zu verhelfen. länder der Umsetzung dieser Empfehlung nicht ver- pflichtet fühlen. So kommt es trotz eines grundsätzlichen Die soziale Situation vor allem der Roma ist insge- Rückführungsverbotes für Roma in den Kosovo insbe- samt erbärmlich. Die meisten leben von weniger als ei- sondere in Nordrhein-Westfalen – übrigens unter einem nem US-Dollar pro Tag, also in purer Armut. Vom sozia- FDP-Innenminister – immer wieder zu Rückführungs- 22250 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) versuchen dieser Gruppe. Der Abschiebungsschutz für sogar noch weiter an, wenn die Behinderten Frauen oder (C) Roma aus dem Kosovo wird in der Praxis der NRW- Mädchen sind. Ausländerbehörden umgangen, indem die Volkszugehö- rigkeit bei Rückführungsersuchen nicht angegeben wer- Das Europäische Parlament geht davon aus, dass den und die Zuständigen im Kosovo diese nicht prüfen. nahezu 80 Prozent der Frauen und Mädchen mit Behin- Dies widerspricht eklatant der Readmission Policy, die derungen Opfer von psychischer oder physischer Gewalt regelt, dass den kosovarischen Behörden bei jedem Er- werden. Erste Stichproben zeigten: Mehr als jede zweite suchen unter anderem auch die ethnische Zugehörigkeit Frau mit Behinderungen hat bereits sexualisierte Gewalt der Person mitgeteilt werden soll. erleben müssen. Wir haben eine Vermutung, eine dunkle Ahnung, dass die Täterinnen und Täter aus dem direkten Die zweite Forderung im Antrag der Linksfraktion sozialen Umfeld kommen. Wir können uns vorstellen – und nach der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für ethni- lesen es immer wieder in der Presse –, dass Menschen sche Minderheiten teilen wir ausdrücklich. Ähnliches mit Behinderungen vielfach Gewalt von den Menschen hatte die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen schon mehr- erfahren, die sie pflegen und betreuen. fach gefordert. Es geht insbesondere um Roma und Ser- ben und Albaner aus Gebieten im Kosovo, in denen sie Bisher wissen wir in Deutschland nicht verlässlich eine Minderheit darstellen, zum Beispiel in der Stadt über das Ausmaß und den Umfang von Gewalt gegen Nordmitrovica. Frauen und Mädchen mit Behinderungen Bescheid. Die Datenlage ist dünn. Bisherige Studien fußen nicht auf Auch die Forderung nach Beendigung bzw. Einstel- repräsentativen und belastbaren Zahlen; meist greifen sie lung von Widerrufsverfahren gegenüber Flüchtlingen nur auf Stichproben zurück. Wenn wir die Frauen und aus dem Kosovo teilen wir prinzipiell. In der Realität Mädchen mit Behinderungen aber wirksam vor Gewalt sind die Widerrufsverfahren für Kosovaren beim Bun- und Übergriffen schützen wollen, brauchen wir genauere desamt für Migration und Flüchtlinge allerdings schon Informationen über Täter und Tatumstände. Wir müssen weitgehend abgeschlossen. wissen, wer wo und wie betroffen ist, damit wir unter- stützende Strukturen aufbauen können und damit diese Gewalt verhindert werden kann. Anlage 4 Deshalb fordern wir in unserem Antrag, im Rahmen Zu Protokoll gegebene Reden einer Studie, die Situation der Frauen und Mädchen mit Behinderungen genau zu untersuchen. Denn die Frauen zur Beratung des Antrags: Frauen und Mäd- und Mädchen sind es, die wegen ihrer doppelten Aus- chen mit Behinderungen wirksam vor Gewalt grenzung besonders gefährdet sind. Da die Bundesregie- (B) schützen und Hilfsangebote verbessern (Tages- rung derzeit eine Studie zu diesem Thema plant, können (D) ordnungspunkt 14) wir daran anknüpfen. Die Untersuchung im Rahmen des Aktionsplans II soll den häuslichen, den beruflichen und Antje Blumenthal (CDU/CSU): Weltweit sind circa öffentlichen Bereich abdecken und auch ambulante und 650 Millionen Menschen behindert. Für sie haben wir stationäre Einrichtungen in den Blick nehmen. Wir wol- vor zwei Monaten, am 4. Dezember 2008, im Bundestag len, dass bei der dreijährigen Studie besonders die Tat- das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen umstände sowie die Täter- und Gewaltstruktur untersucht mit Behinderungen beschlossen und der Ratifizierung werden. Wir wollen weiter, dass dem Parlament ein Zwi- den Weg geebnet. Das Ziel ist, ihr Recht auf Teilhabe, schenbericht vorgelegt wird, denn sonst geht wieder zu auf Bildung und auf Arbeit zu gewährleisten. Für viele viel Zeit ins Land, ehe wir als Parlament gegebenenfalls der 650 Millionen Menschen mit Behinderungen welt- dringend erforderliche Maßnahmen einleiten können. weit sind diese Rechte jedoch nicht selbstverständlich. Bei uns in Deutschland dagegen sieht die Lage der Men- Unser Antrag hat noch ein weiteres Ziel: Gerade schen mit Behinderungen vergleichsweise gut aus. Die wenn wir wissen, dass Frauen und Mädchen mit Behin- Menschenrechte und damit natürlich auch die Rechte derungen zu Opfern von Gewalt und Übergriffen werden von Menschen mit Behinderungen sind im Grundgesetz können, muss es uns darum gehen, sie nicht ausschließlich verankert und in einer Vielzahl von Gesetzen konkretisiert. als Opfer zu sehen. Vielmehr muss es uns darum gehen, Frauen und Mädchen mit Behinderungen bei ihrer Teil- Aber wir wissen alle, dass es bei der Umsetzung in habe und ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen. Gerade die Praxis allzu oft noch hapert. Deswegen ist auch für in dem heute diskutierten Kontext geht Teilhabe über die uns das Übereinkommen der Vereinten Nationen ein Bereiche Arbeit, gesundheitliche Versorgung und Bil- beachtlicher Meilenstein in der Behindertenpolitik. Wir dung hinaus. Sie betrifft den Bereich Partnerschaft und haben damit unsere politische Verpflichtung erneuert, Sexualität, der in Verbindung mit Menschen mit Behin- immer wieder auf die Praxis zu schauen und uns ständig derungen lange Zeit tabuisiert wurde. Aber gerade hier dafür einzusetzen, dass die Teilhabe, die wir in Gesetze handelt es sich um Erfahrungen, die ganz wesentlich zur schreiben, auch gelebt werden kann. Denn ein Gesetz al- Persönlichkeitsentwicklung, zur Identitätsfindung und lein ändert leider nichts an der Tatsache, dass Menschen auch zur Selbstbestimmtheit beitragen können. Und ge- mit Behinderungen immer noch Opfer von Diskriminie- rade in der sexuellen Selbstbestimmung scheinen Lü- rung und Opfer von Gewalt werden, und das weit häufi- cken zu klaffen. Sexualaufklärung und Sexualerziehung ger als nicht behinderte Menschen. Ihr Risiko, vernach- müssen daher auch für Menschen mit geistigen Behinde- lässigt, missbraucht oder geschlagen zu werden, steigt rungen selbstverständlich werden. Nur so können sie im Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22251

(A) Rahmen ihrer Möglichkeiten befähigt werden, Über- Im Unterschied zu nicht behinderten Menschen befin- (C) griffe als solche zu erkennen und sich zur Wehr setzen. den sich Mädchen mit Behinderung nicht nur im Jugend- Das Bewusstsein der Mädchen und Frauen muss dafür alter, sondern auch als Erwachsene in einer erhöhten so- geschärft werden, wo sexuelle Übergriffe beginnen und zialen Abhängigkeit. Damit vergrößert sich auch die welche Folgen sie haben. Gefahr, bis ins hohe Alter Opfer von Gewalt zu werden. Deshalb fordern wir, bei der Entwicklung von entspre- Die mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen chenden Maßnahmen die Altersverteilung der Betroffe- verbundenen Erwartungen der Menschen mit Behinde- nen besonders in den Blick zu nehmen und entsprechend rungen sind hoch. Ich wünsche mir deshalb sehr, dass zu berücksichtigen. wir mit diesem Antrag den Handlungsspielraum für Frauen und Mädchen mit Behinderungen auf ihrem Weg Eine der wirksamsten Präventionsmöglichkeiten vor zu mehr Selbstbestimmtheit und Teilhabe verbessern Gewalt ist es, die Betroffenen selbst im Vorfeld zu stär- können. Ich denke, dass wir damit einen Teil dazu beitra- ken, damit sie Übergriffen entgegentreten können. Häu- gen, die berechtigten Erwartungen, die die Menschen fig werden sexuelle Übergriffe aus dem ganz nahen Um- mit Behinderungen in das UN-Übereinkommen setzen, feld der betroffenen Frauen verübt. Die Täter sind meist zu erfüllen. in dem Personenkreis zu finden, auf den die behinderten Frauen täglich angewiesen sind. Je größer das Abhän- gigkeitsverhältnis, desto höher ist das Risiko sexueller Michaela Noll (CDU/CSU): Psychische und physi- Gewalterfahrung. Um uns ein genaueres Bild vom Aus- sche Gewalt gegenüber Frauen und Mädchen einschließ- maß und Umfang von Gewalt gegen Frauen und Mäd- lich sexueller Gewalt sind Menschenrechtsverletzun- chen mit Behinderung unter Berücksichtigung der Ge- gen, deren Ausmaß jeder aufgedeckte Fall aufs Neue walt- und Täterstruktur zu verschaffen, wollen wir, dass bewusst werden lässt. Das Erschrecken darüber ist dann die dazu geplante Studie schnellstmöglich in Auftrag ge- ganz besonders groß, wenn Mädchen und Frauen mit geben und dem Parlament ein Zwischenbericht vorgelegt Behinderung betroffen sind. Das Thema Frauen und wird. Mädchen mit Behinderung muss daher verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt und darf nicht länger Weiterhin brauchen wir barrierefreie Beratungsange- tabuisiert werden. Gerade diese Frauen und Mädchen bote. Kaum einer Frau, die Opfer sexueller Gewalt sind einem erhöhten Risiko ausgesetzt, sexueller Gewalt wurde, gelingt es ohne Hilfe von außen, sich aus dieser zu begegnen. Die Dunkelziffer ist hoch. Frauen und Situation zu befreien und die Folgen zu bewältigen. Be- Mädchen mit Seh- oder Hörschäden, mit körperlicher hinderte Frauen mit Assistenzbedarf haben noch größere Beeinträchtigung oder geistiger Behinderung können Probleme zu bewältigen und benötigen deshalb auch (B) Gefahren nicht immer rechtzeitig erkennen. Sie haben weitgehende und umfassende Beratung und Unterstüt- (D) noch weniger Möglichkeiten, sich zu schützen. zung. Behindertenberatungsstellen sind eher selten in der Lage, frauenspezifisch zu sexueller Gewalt zu bera- Wie können wir nun Gewalt gegen behinderte Frauen ten, Frauenberatungsstellen sind hingegen nicht immer und Mädchen reduzieren? Die bisher allgemein aner- barrierefrei. Deswegen werden wir uns dafür einsetzen, kannten Strategien der Prävention oder Bewältigung se- dass das Hilfesystem verstärkt den Bedürfnissen von xueller Übergriffe können nicht ohne Weiteres auf die Frauen und Mädchen mit Behinderung gerecht wird und Situation behinderter Frauen übertragen werden. Vieler- spezielle Unterstützungsangebote entwickelt und bereit- orts wird Aufklärungs- und Präventionsarbeit geleistet, gestellt werden. aber darüber hinaus wollen wir mit unserem Antrag er- Die Flucht ins Frauenhaus ist oftmals auch für die be- reichen, dass zielgruppenspezifisches Aufklärungs- und hinderten Frauen der letzte Ausweg. Barrierefreie Frau- Informationsmaterial erarbeitet und auch den behinder- enhäuser gibt es in der Bundesrepublik nur wenige. Aus ten Frauen und Mädchen zur Verfügung gestellt wird. diesem Grund setzen wir uns dafür ein, dass ein ausrei- Mit dem Antrag verfolgen wir zudem das Ziel, Hilfsan- chendes Angebot an barrierefreien Frauenberatungsstel- gebote für die Betroffenen zu verbessern. Denn die psy- len und Frauenhäusern für Frauen mit Behinderung, die chischen und körperlichen Folgen für diese Opfer sind in von Gewalt betroffen sind, zur Verfügung gestellt wird. vieler Hinsicht identisch mit denen nicht behinderter Menschen. Neben Prävention und Förderung der Selbstbestimmt- heit brauchen wir eine umfassende Hilfestruktur. Nur so Die behinderten Frauen und Mädchen befinden sich kann es uns gelingen, Mädchen und Frauen mit Behinde- in einem Teufelskreis, denn ihre Signale werden eher als rung wirksam vor Gewalt zu schützen. Folge ihrer Behinderung und nicht als Folge von Gewalt interpretiert. Wenn es Vertrauenspersonen gelingt, Op- Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Gewalt- fern Mut zu machen, sich mitzuteilen und professionelle freiheit ist einer der zentralsten Grundwerte unserer Ge- Hilfe anzunehmen, kann dies ein erster Schritt sein, Ta- sellschaft. Die Ausübung von Gewalt verletzt Menschen buisierung aufzubrechen. Deshalb müssen wir Projekte in ihren gesetzlich verbürgten Grundrechten und be- und Modellversuche fördern, die zum Ziel haben, das schränkt sie in ihrer Entfaltung und Lebensgestaltung. Betreuungs- wie Pflegepersonal und die Ärzteschaft über Gewaltfolgen und Prävention in Bezug auf betrof- Studien zeigen, dass Frauen quer durch alle Alters- fene Frauen und Mädchen mit Behinderung fortzubil- gruppen, soziale Schichten und ethnische Zugehörigkei- den. ten in einem hohen Ausmaß von Gewalt betroffen sind. 22252 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Mit dem ersten Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt alle Menschenrechte und Grundfreiheiten uneinge- (C) gegen Frauen 1999 wurde in Deutschland ein Gesamt- schränkt und gleichberechtigt genießen können. konzept entwickelt, dessen Erfolge sich sehen lassen (2) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maß- können, sei es das Gewaltschutzgesetz, Projekte gegen nahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der häusliche Gewalt oder das Gesetz zur gewaltfreien Er- Förderung und der Stärkung der Autonomie der ziehung. Frauen, damit gewährleistet wird, dass sie die in Eine Gruppe, die aber noch nicht genügend Beach- diesem Übereinkommen genannten Menschen- tung bekommen hat, ist die der behinderten Frauen und rechte und Grundfreiheiten ausüben und genießen Mädchen. Die Datenlage ist schwierig. Es gibt noch können. keine repräsentativen Daten oder wissenschaftlichen Un- Deutschland hat die Konvention ratifiziert und ver- tersuchungen zum Thema Gewalt gegen behinderte pflichtet sich damit zur Umsetzung. Frauen mit Behinde- Frauen und Mädchen. Doch man geht davon aus, dass rung nehmen so im zweiten Aktionsplan der Bundesre- 80 Prozent der Frauen mit Behinderungen zu Opfern von gierung zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen physischer oder psychischer Gewalt werden. Sie sind oft erstmals größeren Raum ein. von Mehrfachdiskriminierungen betroffen. Sie sind in höherem Maße als andere Frauen der Gefahr sexueller Im Rahmen dieses zweiten Aktionsplans hat die Bun- Gewalt ausgesetzt. Und Gewalt kommt bei behinderten desregierung eine Untersuchung zu Ausmaß und Um- Frauen nicht nur häufig vor, sondern ist oft selbst die Ur- fang der Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen ange- sache für die Behinderung. Die Täter und manchmal kündigt. Die Studie soll über drei Jahre hinweg den auch Täterinnen kommen meistens aus dem sozialen häuslichen, beruflichen und öffentlichen Bereich sowie Umfeld der behinderten Frauen und Mädchen. Die die ambulanten und stationären Einrichtungen und Übergriffe finden im häuslichen Bereich und in Ein- Dienste der Eingliederungshilfe untersuchen. Diese Un- richtungen statt oder auf Fahrten zu Schule oder Werk- tersuchung wird dringend gebraucht. Denn es wird deut- statt. Dabei wird die vorhandene Abhängigkeitssitua- lich, dass sich Erkenntnisse aus dem Bereich häuslicher tion ausgenutzt. Gewalt gegen nicht behinderte Frauen nicht einfach übertragen lassen. Eine Verbesserung der Datenlage ist Geistig behinderte Frauen und Mädchen sind oft un- dringend notwendig. Auch an zielgruppenspezifischem genügend sexuell aufgeklärt und wissen über sexuelle Aufklärungsmaterial mangelt es. Gewalt nicht Bescheid. Wenn es zu Übergriffen kommt, Gewalt gegen behinderte Frauen ist nicht altersspezi- können sie sich oft nicht verständlich mitteilen oder das fisch. Sie kann sich bis ins hohe Alter fortsetzen oder gar Betreuungspersonal kann die Mitteilung nicht richtig erst im höheren Lebensalter beginnen. Die Untersu- (B) einschätzen. Dies stellt die Bekämpfung dieser Gewalt (D) chung wird auch hier nützlich sein, denn bei der Ent- vor vielschichtige Probleme, und man muss hier ganz wicklung von Maßnahmen gegen Gewalt muss die Al- anders ansetzen als bei Fällen von Gewalt gegen nicht tersverteilung der Betroffenen natürlich erkannt und behinderte Frauen und Mädchen. berücksichtigt werden. Die Stärkung der Rechte von Frauen und Mädchen Das Schlüsselwort bei der Bekämpfung von Gewalt mit Behinderungen wird auf nationaler und internationa- heißt Prävention. Unser Ziel ist es, die Betroffenen im ler Ebene verfolgt. Neben der auf internationaler Ebene Vorfeld zu stärken. Mit dem entsprechenden Selbstbe- im Jahr 2008 in Kraft getretenen UN-Behindertenrechts- wusstsein können behinderte Frauen und Mädchen konvention sind die EU-Ebene, die Europaratsebene so- Grenzüberschreitungen und Übergriffen rechtzeitig ent- wie die nationale Ebene zu nennen. gegentreten. Um in Deutschland die Umsetzung der UN-Behinder- Bei der Präventionsarbeit sehr wichtig ist ein behin- tenrechtskonvention voranzutreiben, haben wir diesen dertengerechter Zugang zu Frauenberatungsstellen und Antrag auf den Weg gebracht. Wir sind der Auffassung, Frauenhäusern. Alle Barrieren, die das Aufsuchen von dass die Benachteiligung und Mehrfachdiskriminierun- Gewaltberatungsstellen erschweren, müssen aus dem gen von geistig und körperlich beeinträchtigten Frauen Weg geräumt werden. Damit ist nicht nur der uneinge- und Mädchen viel stärker als bislang in das Licht der Öf- schränkte, hindernisfreie Zugang zu Beratungsstellen fentlichkeit gerückt werden müssen. Die UN-Konven- gemeint, sondern auch die Überwindung von sprachli- tion über die Rechte von Menschen mit Behinderungen chen Missverständnissen, die im Rahmen der Beratung hat das Ziel, die Chancengleichheit der Menschen mit entstehen können. Ich denke hierbei an spezielle Beglei- Behinderungen zu gewährleisten, ihre Grundrechte zu terinnen und Begleiter und Ärztinnen und Ärzte, die in garantieren und ihnen umfassende Teilhabe in der Ge- der Lage sind, die Kommunikation zwischen geistig be- sellschaft zu fördern. hinderten Menschen und dem Beratungspersonal zu ver- mitteln. In Art. 6 der UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen heißt es: Die Fortbildung des Betreuungspersonals ist von ent- scheidender Bedeutung. Wir fordern die Bundesregie- (1) Die Vertragsstaaten erkennen an, dass behin- rung daher auf, Projekte und Modellversuche zu fördern, derte Frauen und Mädchen mehrfacher Diskrimi- die die Fortbildung des Betreuungs- und Pflegepersonals nierung ausgesetzt sind, und ergreifen in dieser und der Ärzteschaft, die im Bereich Gewalt gegen behin- Hinsicht Maßnahmen, um sicherzustellen, dass sie derte Frauen und Mädchen arbeiten, zum Ziel haben. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22253

(A) Wir wollen weiterhin, dass die Öffentlichkeit mithilfe Also außer Studien und Prüfaufträgen beinhalten die (C) von Projekten und Kampagnen noch intensiver mit dem Forderungen wenig Substanzielles. Thema Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behinde- rungen vertraut gemacht und dafür sensibilisiert wird. Was soll dieser Antrag erst jetzt zum Ende der Legis- laturperiode? Wenn, dann würden konkrete, in diesem Wir wollen Menschen ermutigen, sich nicht mit Ge- Jahr noch von der Bundesregierung umsetzbare Vor- walt abzufinden, sondern ihr aktiv entgegenzutreten. schläge der beiden Regierungsfraktionen für Frauen und Und wir wollen Frauen, behinderte und nicht behinderte, Mädchen mit Behinderungen von Nutzen sein. Ange- darin stärken, ihre Rechte wahrzunehmen und ein Leben sichts der mehr als zögerlichen Behindertenpolitik der ohne Gewalt und Angst zu führen. Koalition ist deshalb leider nicht damit zu rechnen, dass diesem Antrag voller Willensbekundungen auch Taten Ina Lenke (FDP): Mit dem vorliegenden Antrag set- folgen werden. zen Union und SPD ihre unentschlossene Politik für Wir werden den Antrag im Familienausschuss beraten Menschen mit Behinderung fort. So wird zum Beispiel und zu konkreteren Vorschlägen kommen. Wir sind uns Art. 6 der UN-Konvention über die Rechte behinderter sicher einig, dass sich nicht die Behinderten der Lebens- Menschen zwar wörtlich zitiert, verschwiegen wird al- welt von Nichtbehinderten anpassen müssen, sondern lerdings, dass die Bundesregierung über kein Konzept die Lebenswelt so gestaltet werden sollte, dass alle zur Umsetzung der Konvention verfügt. Das haben die gleichberechtigt teilhaben können. Beratungen im Deutschen Bundestag im vergangenen Dezember gezeigt. Die Konvention, die von der FDP ausdrücklich begrüßt und mitgetragen wird, wurde im Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Dass Frauen mit Be- Hauruckverfahren und ohne eine angemessene parla- hinderungen nachweisbar in vielen Lebensbereichen ei- mentarische Beratung durch Bundesrat und Bundestag ner Mehrfachdiskriminierung ausgesetzt sind, wissen gepeitscht. Wie die Konvention mit Leben gefüllt wer- Sie spätestens seit dem im November 2005 vom Famili- den soll, kann die Bundesregierung bis heute nicht erklä- enministerium vorgelegten Gender-Datenreport. Mehr ren. als drei Jahre später legen Sie nun diesen Antrag vor. Auch die im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und Gut finde ich beim Koalitionsantrag, dass der Art. 6 SPD versprochene Weiterentwicklung der Eingliede- – „Frauen mit Behinderungen“ – der inzwischen auch in rungshilfe wurde Jahr um Jahr verschoben und ist jetzt der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten UN-Behin- endgültig von der Tagesordnung dieser Bundesregierung dertenrechtskonvention genannt und zitiert wird. Ich gestrichen worden. Frühestens im November 2009, nach finde es aber nicht gut, wenn die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage auf Drucksache 16/11603 antwor- (B) der Wahl, wird wieder über Behindertenpolitik gespro- (D) chen werden. tet, dass ihrer Meinung nach „aufgrund des Übereinkom- mens Änderungen der deutschen Rechtslage nicht erfor- Sie beschreiben in Ihrem Antrag, dass in den Ver- derlich sind“, und wenn sich Bundeskanzlerin Angela tragsstaaten behinderte Frauen und Mädchen mehrfacher Merkel bei einem Treffen mit dem Deutschen Behinder- Diskriminierung ausgesetzt sind, und geben die Auffor- tenrat, DBR, am 10. Februar 2009 zwar offen für die Er- derung nach Art. 6 der Konvention wieder: „dass die stellung eines konkreten Aktionsplanes zur Umsetzung Vertragsstaaten alle geeigneten Maßnahmen zur Siche- der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Natio- rung der vollen Entfaltung, Förderung und der Stärkung nen zeigt, aber gleichzeitig verkündet, dass dieses durch- der Autonomie der Frauen und Mädchen treffen, damit aus sinnvolle Vorhaben realistischerweise erst in der gewährleistet wird, dass sie die in dem Übereinkommen nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden könne. genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten aus- üben und genießen können.“ Sie fordern also ihre eigene Auch der hier vorliegende Antrag der Koalition so Bundesregierung auf, dass das Thema Frauen und Mäd- kurz vor der Wahl spricht für sich bzw. für die „Ernsthaf- chen mit Behinderungen verstärkt in den Fokus der Öf- tigkeit“ und das Engagement, mit der die Regierungsko- fentlichkeit gerückt werden müsse. Sie beschreiben rich- alition um wirkliche Veränderungen für Frauen und tigerweise die Probleme durch erhöhte Gefahr, Opfer Mädchen mit Behinderungen kämpft. So fordert sie un- von Gewalt zu werden. Da ist es sicher auch von beson- ter anderem, „die geplante Studie zum Ausmaß und Um- derer Bedeutung, dass sich Frauen und Mädchen mit fang von Gewalt gegen Frauen und Mädchen mit Behin- geistiger Behinderung bei Übergriffen nicht immer ge- derungen“ schnellstmöglich in Auftrag zu geben und „zu genüber Dritten entsprechend äußern können. prüfen, ob die Einführung von Frauenbeauftragten in Einrichtungen erfolgen sollte“. Das hört sich sehr sinn- Es verwundert nicht, dass der vorliegende Antrag voll an. Wer aber über die Maßnahmen im behinderten- zwar viele Probleme benennt, aber kaum Konkretes zur politischen Bereich informiert ist, reibt sich verwundert Verbesserung der Situation behinderter Frauen und Mäd- die Augen: Im Haushaltsplan 2007 sind sowohl die Stu- chen beinhaltet. Sie fordern als CDU/CSU-Fraktion und die als auch das Modellprojekt „Etablierung von Frauen- SPD-Fraktion, eine geplante Studie schnellstmöglich in beauftragten in Einrichtungen für Menschen mit Behin- Auftrag zu geben, bei der Entwicklung von entsprechen- derungen“ als neue Maßnahme des Aktionsplans II der den Maßnahmen die Altersverteilung in den Blick zu Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen nehmen und zu berücksichtigen, Aufklärungsmaterial zu Frauen aufgeführt – als Titel 684 21 zu Kapitel 1702, erarbeiten, öffentliche Kampagnen aufzulegen, zu prü- klar benannt mit Laufzeit und Ausgaben. In den Haus- fen, sich einzusetzen … haltsplänen 2008 und 2009 sind dann beide Projekte als 22254 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Fortsetzungsmaßnahme aufgelistet. Laut Haushaltsplan Auch fehlt mir im Koalitionsantrag die klare Forde- (C) 2009 läuft die wissenschaftliche Untersuchung zu Ge- rung nach einem flächendeckenden Präventionsnetz zum walt gegen behinderte Frauen und Mädchen bereits seit Schutz vor Gewalt gegen behinderte Frauen und Mäd- Oktober 2008. Auf eine Kleine Anfrage unserer Fraktion chen. Ohne dieses Netz ist der strukturellen Gewalt nicht listete die Bundesregierung am 8. Juli 2008 – Drucksa- wirklich zu begegnen. Strukturelle Gewalt liegt auch che 16/9934 – die gleiche Untersuchung plötzlich wie- vor, wenn das Selbstbestimmungsrecht eingeschränkt ist der als neue – in der Vorbereitung befindliche – Maß- oder vermeidbare Beeinträchtigungen gegeben sind. nahme auf. Und auf meine Anfrage antwortete erst Hier trägt die Bundesregierung generell mit ihrer Spar- gestern Staatssekretär Dr. Hermann Kues, dass das Bun- politik nicht zur Verbesserung der Situation behinderter desministerium für Familie, Senioren und Jugend Frauen bei – sei es bei der Gesundheitsreform, der Pfle- voraussichtlich noch in dieser Woche einen diesbezügli- gereform oder der Föderalismusreform, die einen weite- chen Werkvertrag mit der Universität Bielefeld abschlie- ren Rückfall in Kleinstaaterei erwarten und befürchten ßen wird. lässt, dass die erkämpften Rechte der Behindertenbewe- gung im Hinblick auf bundeseinheitliche Standards wei- Es erübrigt sich jeder weitere Kommentar dazu. Inte- ter zerbröckeln. Nötig sind eine tatsächlich barrierefreie ressant zu wissen wäre allerdings, was mit den bisher Gesundheitsversorgung, der Rechtsanspruch auf Eltern- veranschlagten Geldern passiert ist. Für das Haushalts- assistenz, tatsächlich erreichbare Angebote der Frühför- jahr 2007 waren für die Studie und das Modellprojekt derung usw. „Frauenbeauftragte“ jeweils 150 000 Euro veranschlagt, für 2008 jeweils 250 000 Euro und für 2009 für die Stu- Auch die sogenannte Pflegereform im vergangenen die 335 000 Euro und für das Modellprojekt 161 000 Euro. Jahr war eine verpasste Chance, wirksame Maßnahmen Beim Verein Weibernetz gibt es ja nun seit Dezember zum Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt zu er- 2008 das Projekt „Frauenbeauftragte in Einrichtungen“, greifen. Die Linke forderte das Recht der Wahl der Pfle- das vom Familienministerium bezahlt wird. Also wozu geperson; denn gerade vor dem Hintergrund der Gefahr dann noch die Aufforderung dazu in diesem Antrag? von sexualisierter Gewalt in der Pflege wünschen sich viele Frauen mit Behinderung eine Frau als Pflegeperson Die anderen Forderungen des Antrags sind vernünf- für die (Intim-)Pflege. Sie haben den diesbezüglichen tig, allerdings fehlt mir die klare Benennung, dass, wie Antrag der Linken abgelehnt. Stattdessen steht nun im und wo Gesetze konkret geändert werden sollen. Dazu § 2 Satz 3 des SGB XI: Wünsche der Pflegebedürftigen verpflichtet bereits die UN-Behindertenrechtskonven- nach gleichgeschlechtlicher Pflege haben nach Möglich- tion. Es reicht nicht, wenn sich die Bundesregierung bei keit Berücksichtigung zu finden. – Diese Formulierung (B) den Ländern dafür einsetzt, das Hilfesystem zu verstär- ist viel zu schwammig; denn mit dieser Formulierung ist (D) ken, wie hier im Antrag gefordert. Vielmehr lese ich da- es Pflegediensten nach wie vor möglich, einen Mann in bei heraus, der Bund müsse sich nicht in der Verantwor- die Pflegesituation zu schicken, wenn der Dienstplan es tung fühlen. Und wir müssen auch über weitere so ergibt. Welch eine Zumutung, wenn sich Frauen und Ursachen reden: über die hohe Zahl von Frauen und Mädchen mit Behinderungen – darunter viele gewalter- Mädchen mit Behinderungen, die von Arbeitslosigkeit fahrene Frauen – von Männern bei der Intimpflege hel- und Armut betroffen sind. Und wir müssen etwas dage- fen lassen müssen! gen tun. Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Seit dem 30. Dezember 2003 gilt das neue Strafrecht Koalition: Hören Sie auf, sich mit solchen Schaufenster- mit neuen Regelungen, die auch behinderte und „wider- anträgen in Wahlkampfzeiten zu schmücken, und tun Sie standsunfähige“ Frauen betreffen. Dabei sind einige For- wirklich etwas zur Verbesserung der Lebenssituation derungen der Frauen- und Behindertenbewegung umge- von Frauen und Mädchen – mit und ohne Behinderun- setzt worden. Das war angesichts der Tatsache, dass gen, und zwar vor der Wahl! nahezu 80 Prozent der Frauen und Mädchen mit Behin- derungen durchaus zu Opfern physischer und psychi- scher Gewalt werden und im Vergleich zu Frauen ohne Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Behinderungen doppelt so häufig Opfer sexueller Ge- Frauen und Mädchen mit Behinderungen sind einer er- walt sind, ein wichtiger Teilerfolg. Aber es bleibt für höhten Gefahr ausgesetzt, Opfer von Gewalt zu werden. mich unakzeptabel, wenn in § 179 des Strafgesetzbuches Dabei sind sie auch von sexualisierter Gewalt und Aus- nicht klargestellt wird, dass „behindert“ nicht gleich beutung betroffen. Seit Mitte der 90er-Jahre gibt es hier- „widerstandsunfähig“ ist; denn widerstandsunfähig sind über ausführliche empirische Studien. So ergab 1994 nur solche Personen, die keinen eigenen Willen entwi- eine bundesweite Erhebung über sexualisierte Gewalt in ckeln können. Dies ist zum Beispiel bei Wachkomapa- stationären Einrichtungen, dass in der Hälfte der be- tientinnen der Fall, aber bei weitem nicht bei allen forschten Einrichtungen Fälle sexualisierter Gewalt ge- Frauen mit Behinderung. Unerträglich ist für mich, dass gen Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung „leichtere“ Sexualstraftaten bei behinderten Frauen nur bekannt waren. Eine Studie in Wohneinrichtungen der als Vergehen bezeichnet werden, während diese bei nicht Berliner Behindertenhilfe aus dem Jahr 1998 zeigt, dass behinderten Frauen – richtigerweise – als Verbrechen ge- jede dritte bis vierte Bewohnerin in der Altersgruppe der ahndet werden. Hier sieht die Linke dringenden Ände- 12- bis 25-Jährigen von sexualisierter Gewalt betroffen rungsbedarf. war. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22255

(A) Die Gründe für die besondere Gefährdung behinderter Stichpunkte. Das von der rot-grünen Bundesregierung (C) Mädchen und Frauen sind vielfältig. Sexualisierte Gewalt im Rahmen des § 44 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch wird dabei jedoch nicht durch individuelle Verhaltens- initiierte Projekt „SELBST – Selbstbewusstsein für weisen des Opfers provoziert; dies ist bekannt. Gewalt ist behinderte Mädchen und Frauen“ hatte zum Ziel, Selbst- vielmehr im Kontext gesellschaftlicher Einstellungen zu behauptungs- und Selbstverteidigungskurse für behin- den Opfergruppen zu sehen. Bündnis 90/Die Grünen derte Frauen und Mädchen innerhalb und außerhalb des sind der Auffassung, dass alle Frauen und Mädchen mit Behindertensports zu konzipieren. Das Projekt endete im Behinderungen den gleichen Anspruch auf Schutz ihrer September 2006. Aus der Praxis hören wir jedoch, dass körperlichen Unversehrtheit wie Menschen ohne Behin- die Übungspläne im Rehabilitationssport nicht zur An- derung haben. Dies ist keine Selbstverständlichkeit. wendung kommen. Noch bis zur letzten Reform des Strafgesetzbuches wirkte sich der sexuelle Missbrauch an sogenannten Der nun vorliegende Antrag gibt uns die Möglichkeit, widerstandsunfähigen Personen, das heißt an Personen, diese Problematiken in den Ausschüssen zur Sprache zu die ihren Widerstand nicht äußern können, erheblich bringen und nach Lösungsmöglichkeiten zu suchen. strafmildernd aus. Dies war ein unhaltbarer Zustand. Die rot-grüne Bundesregierung hat daher im Jahr 2003 dafür Sorge getragen, dass der Strafrahmen bei sexuellem Anlage 5 Missbrauch widerstandsunfähiger Personen an den Zu Protokoll gegebene Reden Strafrahmen, der üblicherweise bei sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung Anwendung findet, weitgehend zur Beratung des Antrags: Kontrollrechte aus angepasst wurde. Nichtsdestotrotz kann es auch heute Bundesbeteiligungen strategisch nutzen (Tages- noch zu Fallkonstellationen kommen, in denen bei sexu- ordnungspunkt 15) ellem Missbrauch sogenannter Widerstandsunfähiger ein unterschiedlicher Strafrahmen zur Anwendung kommt. Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): In Zeiten wie den Auch Rot-Grün hat es in der vergangenen Legislatur gegenwärtigen, in denen wir als Staat aus Sorge um die nicht vermocht, die Frage der „Widerstandsunfähigkeit“ Funktionsfähigkeit des Finanzsektors mit dem Finanz- politisch abschließend zu klären. Diese Entscheidung marktstabilisierungsgesetz gewaltig in das Marktgesche- wurde den Gerichten überlassen. Der Bundesgerichtshof hen eingegriffen haben, mag die Verlockung groß sein, hat in mehreren Entscheidungen bekräftigt, dass eine den Staat in weiteren Bereichen zum Akteur, gar zur Widerstandsunfähigkeit voraussetze, dass der oder die Schlüsselfigur zu machen. Die Grünen bewegen sich in Geschädigte aufgrund ihres Zustands zum Zeitpunkt der diesem Fahrwasser, wenn sie ein einheitliches Beteili- (B) Tat nicht in der Lage sei, sexuelle Übergriffe des Täters gungsmanagement für den Bund entwickeln wollen. Sie (D) abzuwehren. Dieser Zustand ist beispielsweise bei bemängeln darüber hinaus in ihrem Antrag, dass der Wachkoma oder epileptischen Anfällen anzunehmen. Bund bei seinen Beteiligungen Kontrolldefizite habe und Allein aus dem Umstand einer sogenannten geistigen unter anderem die Aufsichtsratsmitglieder und die Ver- Behinderung sei, so das Gericht, eine Widerstandsunfähig- treter in den Hauptversammlungen ungenügend schule. keit nicht mehr abzuleiten. Im Rahmen des Haushaltsrechts soll eine effektivere Kontrolle des Bundestages erreicht werden, welches Diese Ausführungen sind nicht zufriedenstellend, zu- nicht durch Geheimhaltungspflichten, zum Beispiel aus mal wenn man bedenkt, dass der Bundesregierung keine dem Aktiengesetz, unterlaufen werden soll. Erkenntnisse darüber vorliegen, ob und wie häufig auch heute noch die Justiz bei sexualisierter Gewalt gegenüber Die CDU/CSU-Fraktion lehnt den Antrag aus Frauen mit Behinderungen weiterhin auf den strafmil- verschiedenen Gründen ab. So ist nicht nur die von den dernden § 179 des Strafgesetzbuches – sexueller Miss- Grünen geforderte Entwicklung von sozialen und ökolo- brauch widerstandsunfähiger Personen – zugreift. Ich ver- gischen Kriterien für eine Unternehmenspolitik des Bun- weise auf die Antwort auf unsere Große Anfrage auf des vollkommen sachfremd. Unternehmen sollten nach Drucksache 16/9283. Um diese Erkenntnisse zu erlangen, betriebswirtschaftlichen Kennziffern, nicht nach tages- bedarf es nach Auffassung von Bündnis 90/Die Grünen politischen Opportunitäten oder Kategorien von Gut- daher einer rechtstatsächlichen Untersuchung über die menschentum und Political Correctness geführt werden. Anwendungspraxis des § 177 Strafgesetzbuch – sexuelle Nötigung, Vergewaltigung – und des § 179 Strafgesetz- Dies ist für mich jedoch nicht der einzige Grund. Die buch bei sexualisierter Gewalt gegenüber Frauen mit ständigen Kollisionen von parlamentarischen Auskunfts- Behinderungen. Es obliegt der Bundesregierung, heraus- wünschen und betrieblichen Geheimhaltungspflichten zufinden, inwiefern auch heute noch der sexuelle Miss- machen deutlich, dass es klug ist, wenn der Staat sich brauch behinderter Menschen strafmildernd beurteilt weitgehend aus dem operativen Geschäft im Markt he- wird. raushält. Diese beiden rechtlichen Regelkreise sind von ihrer Regulierungsabsicht her zu unterschiedlich, als dass Fernab der Frage des Strafrahmens ist es insbesondere sie sich sinnvoll versöhnen ließen: Parlamentarische Kon- Aufgabe der Prävention, sexualisierte Gewalt zu verhin- trolle von Regierungshandeln ist auf Transparenz und dern. So gibt es verschiedenste Faktoren, die behinderte Offenheit angelegt, um so eventuelles Fehlverhalten, Inef- Frauen und Mädchen besonders verletzlich machen. fizienzen mit öffentlicher Kritik begleiten und abstellen Fremdbestimmte Abhängigkeit, Diskriminierung, Stig- zu können. Im Wirtschaftsrecht steht das Unternehmen matisierung sowie Uninformiertheit sind da nur einige im Vordergrund, Betriebsgeheimnisse und Wettbewerbs- 22256 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) vorteile gegenüber Mitanbietern sind zu schützen, es Auch treten die Aufsichtsräte durch die Vorgänge in der (C) müssen strategische Überlegungen zur zukünftigen Aus- derzeitigen Krise mehr in den Blickpunkt der Öffentlich- richtung des Unternehmens vertraulich ausgetauscht und keit und unterliegen somit verstärkt einer Kontrolle vereinbart werden können. Werden hier Fehler gemacht, durch die Gesellschaft insgesamt. werden sie vom Markt bestraft. Ich habe mir im Vorfeld der Debatte einmal die Beset- Von Ausnahmen abgesehen – etwa bei herausragenden zung der Aufsichts- bzw. Verwaltungsräte von Deutscher nationalen Interessen oder bei Marktversagen – ist der Telekom, Deutscher Bahn, Deutscher Post und KfW Staat in einer marktwirtschaftlichen Ordnung Regelsetzer, angesehen. Nach der Theorie der Grünen sollten wir Normengeber, Regulierer, Überwacher, kurz: Er gibt den zumindest den Vertretern des Bundes in diesen Gremien Rahmen vor und wacht über die Einhaltung der Regeln, er Nachhilfe zur Erfüllung der Aufgaben im Aufsichtsrat ist aber eben nicht Akteur im Markt. Beim Fußball gehört geben. Demnach sollten wir also die gesamte Führungs- der Schiedsrichter zu keiner der beiden Mannschaften im spitze des Bundesfinanzministeriums auf die Schulbank sportlichen Wettbewerb, sondern er wacht über die Ein- schicken. Meine lieben Kollegen von den Grünen, das haltung der Regeln und greift bei Verstößen ein, damit wird doch nicht Ihr Ernst sein. Zudem hat die Bundes- die bessere oder glücklichere Mannschaft sich im fairen regierung in ihrer Antwort darauf hingewiesen, dass bei Wettstreit durchsetzt. Natürlich sitzt er weder bei der einen besonderem Bedarf bereits Fortbildungsveranstaltungen noch bei der anderen Mannschaft bei der Teambespre- angeboten werden. chung dabei, er würde seine Unparteilichkeit damit nachhaltig verspielen. Deshalb sollten wir uns von allen In ihrer Kleinen Anfrage aus dem Dezember führen staatlichen Firmenbeteiligungen trennen, sofern diese die Grünen die Überwachungsskandale bei der Deut- nicht aus wichtigen nationalen Interessen erforderlich schen Telekom AG und der Deutschen Bahn AG als Be- sind, sobald es das Marktumfeld zulässt. lege für das Versagen des Staates bei der Kontrolle sei- ner Beteiligungen an. Wie hätte hier der Staat Regeln Neben diesen mehr grundsätzlichen Feststellungen muss entwickeln sollen, die diese Vorgänge verhindert hätten? der Antrag der Grünen auch als überflüssig bezeichnet Vor wenigen Monaten hätte wohl kaum jemand vermu- werden, da die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen tet, dass solche Vorgänge möglich sind. Oder wie hätten ausführlich über die Wahrnehmung der Aufsichts- und bundespolitische Vorgaben die berühmte Montagsbu- Kontrollfunktion des Staates als Anteilseigner berichtet chung der KfW an Lehman verhindern sollen? Wie hät- hat. Die darin enthaltenen Informationen zeigen mir, ten die Aufsichtsräte der Deutschen Bahn die Achsen der dass hier keine weitere Regulierung notwendig ist. ICEs mit ihrem Röntgenblick selbstständig untersuchen sollen? Es gibt Vorgänge in Unternehmen, die durch noch (B) Dass Aufsichtsräte auch einmal Fehler begehen oder so viele Regeln nicht zu verhindern oder zu beeinflussen (D) gewisse Entwicklungen nicht absehen können, ist nur sind. natürlich. Weltweit haben nur wenige Wissenschaftler, Politiker, Manager und Aufsichtsräte die Finanz- und Bitte bedenken Sie: Der Staat ist kein guter Unterneh- Wirtschaftskrise vorhergesehen. Die Schulung möchte ich mer, wofür wir in jüngster Vergangenheit eine Reihe sehen, welche Aufsichtsräte dazu in die Lage versetzt trauriger Belege vorgefunden haben. Umso weniger hätte, die aufziehende Gefahr in diesen Dimensionen zu sollte er versuchen, privatwirtschaftlich wirtschaftende erkennen. Ich habe hier Zutrauen in unser Spitzenpersonal: Unternehmen etwa Leitlinien für ein Geschäftsmodell Der größte Teil der Mitglieder von Aufsichtsräten wird vorzugeben. In der Sondersituation durch die Finanz- seine Aufgabe mit der notwendigen Sachkenntnis und krise sind in Teilen besondere Schritte eingeleitet worden. großem Engagement erfüllen. Dazu gehört auch, dass Diese staatliche Einflussnahme sollte jedoch nicht zur sich die Aufsichtsräte bei Antritt ihres Postens in die Regel werden, sondern eine Ausnahme bleiben und Materie einarbeiten und auch während ihrer Zugehörig- strikt auf die zur Zweckerreichung erforderliche Zeit be- keit selbstständig für eine entsprechende Weiterbildung schränkt werden. sorgen. Sie erfüllen ihre Aufgabe nach bestem Wissen und Gewissen. Wie andere börsennotierte Unternehmen auch unter- liegen Unternehmen mit Bundesbeteiligung dem An- Die Grünen übersehen auch, dass wir eine klare Geset- wendungsbereich des Deutschen Corporate Governance zeslage haben: Vorstände deutscher Unternehmen haften Kodex. Darüber hinaus haben die auf Veranlassung des für eine ordnungsgemäße Unternehmensführung. Falls Bundes gewählten oder entsandten Mitglieder in Überwa- Sorgfaltspflichtverletzungen vorliegen, können die Kapital- chungsorganen sowie die beteiligungsführenden Stellen geber Schadensersatzansprüche geltend machen; die des Bundes mit den Hinweisen für die Verwaltung von Staatsanwaltschaft hat gegebenenfalls Straftatbestände Bundesbeteiligungen eigene Grundsätze guter Unterneh- wie den der Untreue zu prüfen. Aufsichtsratsmitglieder mensführung. haften für die Sorgfalt eines ordnungsgemäßen Überwa- chers, ihnen drohen vergleichbare Sanktionen im Falle Die Eingriffs- und Kontrollmöglichkeiten des Bundes von Pflichtverletzungen. Ich bin davon überzeugt, dass aus den vorgenannten Sachverhalten sind ausreichend, um die Krise im Finanzsektor der letzten Monate dazu führt, die Kontrollrechte in Unternehmen mit Bundesbeteiligun- dass diejenigen Aufsichtsräte, welche sich bisher der gen auszuüben. Daher sei abschließend noch einmal fest- Verantwortung nicht genug bewusst waren, sich nun we- gestellt: Meine Fraktion lehnt den Antrag von Bündnis 90/ sentlich intensiver mit ihrer Aufgabe auseinandersetzen. Die Grünen ab. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22257

(A) Bernhard Brinkmann (Hildesheim) (SPD): Lassen die bereits seit 1959 bestehenden und auch im Internet (C) Sie mich zunächst feststellen, dass der heutige Antrag einsehbaren „Berufungsrichtlinien für die Besetzung von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf einer Ant- von Gremien“ fortentwickelt. Dort sind auch die Krite- wort der Bundesregierung beruht, die anlässlich einer rien – insbesondere fachliche Qualifikation; keine Inte- Kleinen Anfrage bereits ausführlich behandelt worden ressenskonflikte – und Entscheidungswege dargelegt. ist. Schon der Ausgangspunkt dieser Anfrage und der heute gestellte Antrag gehen nach Auffassung der SPD- Bei Bundesbeteiligungen sehen diese Regeln auch Fraktion von unzutreffenden Annahmen und falschen vor, dass bei der Besetzung von Aufsichtsräten keine Tatsachen aus. Personen berücksichtigt werden sollen, die bereits drei Aufsichtsratsmandate haben – und sind damit enger ge- Ich möchte das an zwei Beispielen deutlich machen: fasst als im Deutschen Corporate Governance Kodex. Erstens. Die Aussage, es gebe massive Probleme im Die Qualifikation der Aufsichtsräte etc. beruht auf Management von Unternehmen mit bedeutenden staatli- Ausbildung, erfolgreichem beruflichen Werdegang und chen Beteiligungen, ist weit hergeholt und trifft nicht zu. einer entsprechenden Persönlichkeit, nicht auf Schulun- Unternehmerisches Handeln ist nicht per se erfolgreich, gen. Man kann „Aufsichtsrat“ meines Erachtens nicht sondern auch mit dem Risiko von Verlusten verbunden. erlernen, man muss aber bereit sein, sich das „Hand- Wer etwas anderes behauptet und dabei die Deutsche werkszeug“ anzueignen. Gleichwohl werden Schulun- Post AG, die Deutsche Telekom oder die Deutsche Bahn gen mit unterschiedlichen Zielsetzungen angeboten. AG – aktuell den Überwachungsskandal – als pauschale Gründe für das Versagen des Staates aufführt, handelt Der Bund ist kein Konzern: Angesichts der Band- unverantwortlich und fahrlässig, denn gerade in den ak- breite der Unternehmen, die von Forschungseinrichtun- tuellen Fällen erfolgt eine Aufarbeitung und Überprü- gen wie dem Deutschen Primatenzentrum über die Fi- fung auch durch die Aufsichtsräte des Unternehmens. nanzagentur bis hin zu Minderheitsbeteiligungen in der Telekommunikation reichen, sind einheitliche uniforme Zweitens. Der Staat übt wie jeder private Anteilseig- Strategien weder sinnvoll noch möglich. ner seine Funktionen aus. Er hat bei der Kontrolle seiner Beteiligungen nicht versagt, sondern er verhält sich nach Die Unternehmensplanung und -organisation, wie Aktien- und Beteiligungsrecht sehr verantwortungsbe- etwa Investitions- und Standortpolitik, Datenschutz, wusst und korrekt. Auch hier hat der hehre Grundsatz technische Kontrolle bei Maschinen und Geräten, ist zu- Gültigkeit: „Wo Menschen tätig sind, passieren auch dem grundsätzlich Aufgabe des Vorstands bzw. der Ge- Fehler“ – fehlerfrei ist jedenfalls niemand. Die Unter- schäftsleitung. Diese Maßnahmen werden – soweit nehmen mit Bundesbeteiligungen werden wie Unterneh- rechtlich vorgesehen – mit den Überwachungsorganen (B) men mit privater Anteilsstruktur geführt, und das ist und/oder der Anteilseignerversammlung abgestimmt. (D) auch gut so. Dies ist der richtige Ansatz der seit Jahr- Besonderheiten aus der Umsetzung der Konjunkturpa- zehnten bewährten privatwirtschaftlich orientierten Be- kete sind für jedes Unternehmen einzeln durch die zu- teiligungsführung. Der Bund kann hier auch nur den ständigen Unternehmensorgane zu beurteilen. Einfluss geltend machen, der ihm aufgrund seiner Betei- Eine Änderung des Haushaltsrechts mit Blick auf die ligung zusteht. Nicht mehr und auch nicht weniger. Kontrollfunktion des Parlaments ist nicht erforderlich. Der Bund verfolgt mit seinen Beteiligungen keine Das operative Geschäft organisationsprivatisierter oder übergeordnete Konzernstrategie, denn der Staat ist nicht teilprivatisierter Gesellschaften mit Bundesbeteiligung Unternehmer im Wettbewerb auf verschiedenen Märk- fällt nach geltender Verfassungslage in die alleinige Zu- ten. In einer marktwirtschaftlichen Ordnung soll er sich ständigkeit der Unternehmen selbst. Diese Trennung ist nach Auffassung meiner Fraktion grundsätzlich nicht an mit Blick auf klare Zuständigkeiten und Verantwortlich- industriellen oder sonstigen erwerbswirtschaftlichen Un- keiten wichtig und hat sich bewährt. Soweit Informatio- ternehmen beteiligen, es sei denn, dieses dient, wie § 65 nen, die den Zuständigkeitsbereich der Regierung und BHO sagt, zur Erfüllung einer wichtigen Aufgabe des zugleich die Rechte der Unternehmen betreffen, erbeten Bundes. Die aktuellen Ereignisse, die in der internatio- werden, können diese mit Einverständnis der Betroffe- nalen Finanzkrise begründet sind, bedürfen einer gründ- nen in Verfahren, die die Vertraulichkeit sichern, auch lichen Prüfung. Das wird durch die Bundesregierung dem Parlament oder den zuständigen Ausschüssen zur auch gewährleistet. Darüber hinaus gilt für den Umgang Kenntnis gegeben werden. Geheimhaltungspflichten ste- mit den aus Bundesbeteilungen entstehenden Kontroll- hen einer parlamentarischen Kontrolle nicht entgegen, rechten seit langem eine Grundlage, die auch über das sondern sind ihr notwendiger und fester Bestandteil. Internet einsehbar ist. Hier gibt es viele „Hinweise für Meine Ausführungen haben deutlich gemacht, dass die Verwaltung von Bundesbeteiligungen“. der vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Auch der populistische Hinweis, die vom Bund ge- Grünen nicht zielgerichtet ist und daher abgelehnt wer- wählten oder entsandten Mitglieder von Überwachungs- den muss. organen seien nicht ausreichend qualifiziert und müssten darüber hinaus regelmäßig geschult werden, geht völlig Ulrike Flach (FDP): Der vorliegende Antrag greift ins Leere. Wie bei jedem privaten Anteilseigner ist es im ein Problem auf, das auch die FDP-Fraktion erkennt und Interesse des Bundes, nur entsprechend qualifizierte Per- ernst nimmt. Wie geht der Bund mit seinen Möglichkei- sonen in Aufsichtsräte zu berufen oder in Hauptver- ten um, die ihm aus den strategischen Beteiligungen an sammlungen zu entsenden. Aus diesem Grund wurden Unternehmen erwachsen? 22258 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) In der Analyse können wir durchaus zustimmen. Der Ihr Antrag bringt zwar einige kleine Verbesserungen; (C) Bund hat bisher offenbar keine Strategie, was er durch der Herausforderung eines völlig neuen Verhältnisses seine Beteiligungen erreichen will, wie er sie nutzt und von Staat und Wirtschaft wird er aber nicht gerecht. Des- entsprechend dem politischen Willen steuert. Bei Bahn, halb werden wir uns zu Ihrem Antrag enthalten. Post oder Telekom ist das klar zu erkennen. Und ich füge hinzu: Bei der IKB gab es ebenfalls keine Strategie. Roland Claus (DIE LINKE): Selbstverständlich ist Beim Einstieg in die Bankenlandschaft fehlt mir auch der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen von ak- nach wie vor eine klare Perspektive, welche Rolle sich tueller Bedeutung. Und weil er das ist, will ich mir auch der Bund hier vorstellt. die Frage verkneifen, warum diese strategische Kontroll- rechtenutzung nicht in den sieben Jahren bündnisgrüner Allerdings gibt es deutliche Akzentverschiebungen Regierungsbeteiligung verwirklicht worden ist. Es ist ja zwischen Ihrem und unserem Lösungsansatz. Ihr Antrag gut und wichtig, dass der einen oder anderen einstigen sagt zwar, es solle keine Rückkehr zu Wirtschaftsdirigis- Verfechterin, dem einen oder anderen einstigen Verfech- mus und Eingriffen ins operative Management geben. ter neoliberaler Wirtschaftsstrategien nun doch endlich Aber einige Spiegelstriche dahinter fordern Sie die An- ein Licht aufgeht. Und da soll man dann ja auch nicht wendung ökologischer und sozialer Kriterien in den bun- kleinlich sein, sondern an einem Strang ziehen. desbeteiligten Unternehmen. Sie meinen, mit ein wenig Schulung könnten Sie aus Bundesbeamten Manager ma- Allerdings ist der Begriff „strategisch“ im Antrags- chen. Das wird scheitern. titel zu vollmundig gewählt. Strategie heißt Summe und Vielfalt aller Wege zu einem vorbestimmten Ziel. Was Unser Weg geht in eine andere Richtung: Wenn der die Grünen-Fraktion hier anbietet, ist ein respektabler Staat bzw. seine Repräsentanten in den Aufsichtsräten Reparaturbetrieb des bestehenden Gefüges. Ein Weg zu nicht strategisch ausgerichtet agieren, wenn sie nicht für neuen Zielen der Bundesbeteiligung an übergroßen Un- ihre Rolle ausgebildet sind und ihre Kontrollrechte nicht ternehmen jedoch ist das nicht. kennen, dann ist nicht ein bisschen Schulung die Lö- sung, sondern der Rückzug des Staates aus solchen Un- Es liegt auf der Hand, dass sich dieser Tage eine De- ternehmen. Der Staat ist nicht der bessere Unternehmer. batte wie die heutige auf die Deutsche Bahn AG fokus- Das haben die Landesbanken gezeigt, das hat auch die siert. Es gibt dort einen in seinem Gesamtausmaß immer KfW gezeigt, und ich fürchte, das wird sich auch bei der noch nicht bekannten Mitarbeiterausspionierungsskan- Commerzbank zeigen. Deshalb kann man zwar einzelne dal, und sowohl Vorstandsvorsitzender Hartmut Meh- Punkte Ihres Antrags durchaus begrüßen, aber die Lö- dorn als auch der zuständige Minister Wolfgang Tiefen- sung liegt nicht in einer Begrenzung der Zahl der Auf- see versagen vollständig bei der Aufklärung, bei einem Konzern, bei dem der Staat, also die öffentliche Hand (B) sichtsratsmandate, sondern in einer Begrenzung des (D) Alleingesellschafter ist. Der Skandal macht deutlich, wie Staatsanteils. viel da absolut im Argen liegt. Ich sage das gerade, weil der Trend momentan in eine Wenn man nun etwa versucht, sich mittels des Beteili- andere Richtung geht. Es wird die große Aufgabe der gungsberichts 2008 der Bundesregierung ein wenig ins nächsten Bundesregierung sein, eine Ausstiegsstrategie Bild zu setzen über die Situation des Konzerns Deutsche für die staatlichen Unternehmensbeteiligungen zu entwi- Bahn AG, wächst die Undurchsichtigkeit von Seite zu ckeln. Wir sollten uns beispielsweise nicht in den Seite. Nehmen wir nur die Deutsche Bahn AG als Be- 25 Prozent plus eine Aktie Anteil an der Commerzbank standteil des Konzerns Deutsche Bahn AG, zu dem au- eine ökologische Nische bauen, sondern der Bund sollte ßerdem Unternehmen wie DB Mobility Logistics AG, dort baldmöglichst mit einer gewinnorientierten Strate- Schenker AG, Railion Deutschland AG, DB Netz AG, gie wieder aussteigen, sobald die Bank eigenständig ihr DB Regio AG, DB Fernverkehr AG und DB Station& Geschäftsmodell weiterfahren kann. Service AG gehören. Beim Teilunternehmen Deutsche Bahn AG stellt die öffentliche Hand mit 2,15 Milliarden Größere Staatsanteile an Unternehmen verzerren den Euro 100 Prozent des Grundkapitals, aber im 25-köpfi- Markt. Wir können das jetzt schon erkennen in einer gen Aufsichtsrat ist sie mit ganzen 5 Personen – also ei- Flucht der Anleger hinter einen vermeintlichen staatli- nem Fünftel – vertreten: einem Mitglied des Bundesta- chen Garantieschirm. Diesen Ausnahmezustand als Dau- ges und vier Staatssekretären; einem aus dem Bundes- erzustand zu akzeptieren hieße, diejenigen Unterneh- ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, ei- men, die nicht staatliche Beteiligungen oder Garantien nem aus dem Bundesministerium der Finanzen und bekommen, mittelfristig ebenfalls zu Bittstellern zu ma- zweien aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und chen. Das wäre der Einstieg in den Staatskapitalismus, Technologie. Was müssen die wissen, was können die den zumindest der überwiegende Teil des Hauses sicher- beeinflussen, was dürfen die tun als so kleine Minder- lich nicht will. heit? Im Aufsichtsrat des Konzernbestandteils DB Mobi- lity Logistics AG ist die öffentliche Hand gar nicht ver- Ich glaube, viele haben noch gar nicht erkannt, wel- treten, bei DB Netz mit 3 von 22 Mitgliedern usw. che massiven Probleme wir uns mit den Staatsanteilen an Unternehmen ins Haus holen. Diesen Ausstieg zu or- Mit Recht wird im Antrag die Forderung nach einer ganisieren wird eine der historischen Aufgaben der deut- Beteiligungsstrategie aufgestellt. Bleiben wir beim Kon- schen Liberalen sein, denn alle anderen Parteien sind zu zern Deutsche Bahn AG. Die Gewinn- und Verlustrech- staatsgläubig, um dies entschieden durchzusetzen. nung des Konzerns weist im Beteiligungsbericht keine Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22259

(A) Angaben dahin gehend aus, wie sich die Umsatzerlöse nicht einmal die Finanzkrise. Da drängt sich doch die (C) auf die Inlands- und Auslandsgeschäfte verteilen. Es Frage auf, ob der Staat bei der Kontrolle seiner Beteili- wird ein Jahresüberschuss 2007 in Höhe von gungen versagt. Nun haben wir die Finanz- und Wirt- 1,716 Milliarden Euro vermeldet, aber man weiß nicht, schaftskrise, Skandale und Versagen können wir noch wie er sich zusammensetzt. Und das lässt die Bundesre- weniger gebrauchen als sonst. Doch beim Bankenret- gierung zu. Sie lässt zu, dass es keine Klarheit darüber tungspaket ist genau das zu befürchten, da der Bund auf gibt, was dieses ganze Getöne der Konzernspitze vom verbindliche Vorgaben für die Geschäftspolitik der Ban- „Globalen Logistiker“ wirklich gebracht hat und wie ken verzichtet und eine aktive Rolle als Anteilseigner groß der Anteil der öffentlichen Gelder, die aus den Län- ausschließt. dern an die DB Regio AG für den Regionalverkehr ge- zahlt werden, am Jahresüberschuss ist. Die Frage ist also Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine ganz einfach: Hat die Bundesregierung die Strategie, Anfrage zum Beteiligungsmanagement des Bundes dass die DB AG vor allem der Daseinsfürsorge in zeigt: Der Bund verfolgt beim Umgang mit seinen Betei- Deutschland zu dienen hat, oder ist ihre Strategie noch ligungen keine Strategie. Die Schulung von Aufsichts- immer der Börsengang, dem – wie man von Tag zu Tag ratsmitgliedern und Vertretern auf Hauptversammlungen deutlicher erkennen kann – alle Dienstleistung im Sinne findet nicht statt. Zwar sprechen die „Hinweise für die der Daseinsfürsorge geopfert werden wird? Verwaltung von Bundesbeteiligungen“ des Finanzminis- teriums davon, dass der Einfluss des Bundes bei Beteili- Eine höchst undurchsichtige Beteiligungsstrategie gungen an Unternehmen entsprechend sichergestellt verfolgt die Bundesregierung auch in Bezug auf Ost- werden muss. Es gibt Aufgabenbeschreibungen für die deutschland. Der Beteiligungsbericht 2008 weist insge- Vertreterinnen und Vertreter des Bundes in den Unter- samt für Deutschland und das Ausland 454 Beteiligun- nehmen. Die Praxis lässt aber deutliche Zweifel am ver- gen des Bundes mit einem Nennkapital von mindestens antwortlichen Umgang mit diesen Kontrollrechten zu. 50 000 Euro und mindestens 25 Prozent aus. Von diesen Vertreter des Bundes in Aufsichtsräten oder Anteilseig- 454 Beteiligungen sind ganze 18 – ich wiederhole: 18, nerversammlungen von Unternehmen werden nicht be- also ganze 3,9 Prozent – in Ostdeutschland ohne Berlin sonders auf ihre Aufgabe vorbereitet. Sie sollen sich die angesiedelt. Die bedeutendsten unter diesen 18 sind mit notwendigen Kenntnisse selbst aneignen, heißt es in der dem Konzern DB AG verbunden. Übrig bleiben dann Antwort der Bundesregierung. Die Unternehmenspla- solche Posten wie etwa eine Beteiligung mit 51 129 nung und -organisation sei grundsätzlich Aufgabe des Euro an der Abwicklung – ja, Abwicklung! – des DFA Vorstandes bzw. der Geschäftsleitung. Fertigungs- und Anlagenbaus GmbH Chemnitz. Auch wir wollen nicht, dass der Staat dirigistisch in die (B) Solche Zahlen sagen über den Stand der deutschen Unternehmensführung eingreift. Es geht lediglich um (D) Einheit mehr aus als alle Reden des Ost-Beauftragten der Kontrollrechte, wie sie jeder private Investor auch ausübt. Bundesregierung zum Osten zusammen. Man stelle sich Doch die massiven Probleme im Management von Unter- nur für einen winzigen Moment vor, er hätte sich dafür nehmen mit bedeutenden staatlichen Beteiligungen oder eingesetzt, dass die High-Tech Gründerfonds GmbH & Mehrheitsbeteiligungen haben die Bundesregierung nicht Co. KG mit 88,24-prozentiger Bundesbeteiligung, die zu einer Änderung dieser Haltung bewegt. Sie hat aus den 239,95 Millionen Euro ausmacht, statt in Bonn in Dres- Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt und wird diese den oder Jena angesiedelt wird. So aber begnügen wir uns auch bei den weiteren Maßnahmen zur Bewältigung der freudig damit, dass der Bund über die TLG mit 188 000 Finanzmarktkrise wiederholen. Darum fordern wir die Euro – gleich 94 Prozent – am Hotel de Saxe an der Frau- Bundesregierung noch einmal nachdrücklich auf, ihrer enkirche GmbH & Co. KG in Dresden beteiligt ist – und Verantwortung bei den Bundesbeteiligungen nachzu- hoffen, dass es wenigstens da keine Skandale gibt. kommen und ihre Kontrollrechte auszuüben. Sonst sind die nächsten Skandale durch Missmanagement vorpro- grammiert. Dr. Thea Dückert (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Immer wieder geraten Unternehmen im staatlichen Be- sitz, mit staatlicher Mehrheit bei den Anteilen oder mit Anlage 6 maßgeblicher staatlicher Beteiligung in die Schlagzeilen. Der Überwachungsskandal bei der Telekom und die Spit- Zu Protokoll gegebene Rede zelaffäre bei der Deutschen Bahn, die immer weitere zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Kreise zieht, sind aktuelle und besonders negative Bei- Änderung des Untersuchungshaftrechts (Tages- spiele. Die Telekom hat auch durch Rationalisierungsmaß- ordnungspunkt 16) nahmen bei den Servicecentern heftigen Protest auf sich gezogen, die Deutsche Bahn ist mit den Problemen beim ICE-Einsatz in der Kritik. Die Deutsche Post AG musste Wolfgang Nešković (DIE LINKE): Seit Jahrzehnten nach den Verlusten auf dem US-Paketmarkt ihre Ge- demonstriert der Gesetzgeber an kaum einem anderen winnerwartungen drastisch reduzieren. Managementpro- Rechtsgebiet so deutlich fehlendes rechtsstaatliches Inte- bleme bei der KfW und den Landesbanken haben sowohl resse wie bei dem Untersuchungshaftrecht. Eine Hand- die Medien als auch Bund und Länder stark beschäftigt. voll Normen, gewürzt durch Verwaltungsvorschriften der Länder aus dem Jahre 1953 waren schon alles, was der An schlechten Beispielen mangelt es wahrhaftig Rechtsstaat aufbot, um der Unschuldsvermutung und den nicht. Und für die meisten Skandale brauchte es noch Freiheitsrechten der Beschuldigten Rechnung zu tragen. 22260 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Umso höher waren die Erwartungen an den nun einge- tatsächlich die Umsetzungen von Forderungen nach (C) brachten Entwurf. Es hätte sich die Gelegenheit geboten, erweiterten Informationsrechten für die Beschuldigten, zahlreiche sinnvolle Forderungen aus Wissenschaft und wie sie der Europäische Ausschusses zur Verhütung von Praxis der letzten Jahrzehnte zu berücksichtigten. Der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behand- Entwurf berücksichtigt jedoch nicht die geforderte Ein- lung oder Strafe erhob. schränkung und Konkretisierung der Haftgründe, die Forderung nach der Abschaffung des Haftgrundes der Das führt mich zum Fazit: Die Justizministerin zeigt Wiederholungsgefahr, die Notwendigkeit, den Beschleuni- erneut, dass sie ihr Amt lediglich mit dem Bewusstsein gungsgrundsatz zu präzisieren, und auch nicht die ange- einer Politikbeamtin verwaltet. Große rechtspolitische mahnte Festschreibung von zwingenden Höchstgrenzen Gestaltungsakte sind von ihr nicht zu erwarten. Für das der Haftdauer. Untersuchungshaftrecht heißt das konkret: Wenn auch die Rechte der Beschuldigten bei Festnahmen und in der Trotz einer längst überfälligen großen Reform des Untersuchungshaft weiterhin unzureichend ausgestaltet Untersuchungshaftrechts hinsichtlich dieser und anderer sind, sollen die Beschuldigten nun wenigstens in umfas- Forderungen hat sich Frau Zypries nicht einmal in der sender Weise über ihre unzureichenden Rechte informiert Lage gesehen, ein Reförmchen auf die Beine zu stellen. werden. Das liegt nicht nur am unzureichenden politischen Gestal- tungswillen der Ministerin, sondern auch daran, dass sie in der Vergangenheit dafür gesorgt hat, ein Juwel sozial- Anlage 7 demokratischer Rechtspolitik aus der Zuständigkeit des Bundes den Ländern zu überantworten. Im Rahmen der Zu Protokoll gegebene Reden Föderalismusreform hat sie das Strafvollzugsgesetz aus zur Beratung der Beschlussempfehlung und des dem Jahre 1976 gegen den heftigen Widerstand der Berichts: Kontraproduktive US-Operationen in Fachwelt aus rein opportunistischen Gründen in die Pakistan sofort einstellen – Umfassende Strate- Kompetenz der Länder gegeben. Hierbei hat man im gie zur Stabilisierung Pakistans entwickeln (Zu- Untersuchungshaftrecht den vollzugsrechtlichen Teil, satztagesordnungspunkt 5) der bisher immer Teil des Gerichtsverfahrens gewesen war, auch den Ländern übertragen. Holger Haibach (CDU/CSU): In einem trifft der Damit hat man sinnwidrig getrennt, was früher einheit- vorliegende Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen lich geregelt war und heute nicht mehr einheitlich geregelt den Kern der Sache: Es ist höchste Zeit, dass die interna- werden kann. Bisher lag gemäß § 119 StPO der gesamte tionale Gemeinschaft die Situation in Pakistan vertieft in Vollzug einheitlich in der Hand desselben Richters. Das den Blick nimmt und hilft, Lösungsansätze zu entwi- (B) (D) betraf nicht nur den Zweck der Untersuchungshaft, sondern ckeln. Das ergibt sich aus der Bedeutung Pakistans an auch den der Ordnung in der Vollzugsanstalt. Da nun der sich, aber auch aufgrund seiner geografischen Lage. Bund nicht mehr einheitlich zuständig ist, muss die bishe- Pakistan ist mit mehr als 150 Millionen Menschen ein rige Rechtsgrundlage in § 119 StPO geändert werden. sehr bevölkerungsreicher Staat. Er ist Atommacht, hat Die neuen Regelungen erfassen nur noch diejenigen An- sich aber nicht oder nur teilweise den entsprechenden in- ordnungen und Beschränkungen der Rechte, die dem ternationalen Kontrollregimen unterworfen. Pakistan be- Zweck der Untersuchungshaft zur Sicherung der Durch- findet sich durch vielfältige Interessenkollisionen seit führung des Strafverfahrens dienen. Die Länder dürfen nun seiner Gründung in einer ständigen Auseinandersetzung selbst darüber entscheiden, wie die Regelungen aussehen mit Indien, die bisweilen gewaltsame Züge annimmt. sollen, die den Vollzug als solchen betreffen, also alles, Und nicht zuletzt ist Pakistan Nachbar Afghanistans und was man für die Wahrung von Sicherheit und Ordnung in damit auch deshalb für Deutschland und die internatio- der Vollzugsanstalt regeln muss. Die Trennung hat sich in nale Staatengemeinschaft ein wichtiger Partner. Es ist als der Praxis bisher als völlig untauglich erwiesen. Das zeigen Transitland für Drogen, Rückzugsort für Terroristen, zum Beispiel die Erfahrungen mit dem niedersächsischen aber eben auch als wichtiger regionaler Akteur und mili- Justizvollzugsgesetz. Jetzt werden zwei verschiedene tärischer Verbündeter Teil des „Problems“ und Teil der Richter auf der Grundlage von zwei verschiedenen Ge- Lösung des Problems. setzen Entscheidungen treffen müssen, die durchaus denselben Gegenstand betreffen können. Denn für die Da sich die Lage aber als dermaßen komplex darstellt, Durchführung des Verfahrens ist auch die Sicherheit der greift der vorliegende Antrag meines Erachtens zu kurz. Haftanstalt maßgeblich, die wiederum durch Regelungen Im Wesentlichen auf die Militäroperationen der USA ab- zur Durchführung des Verfahrens betroffen sein kann. zustellen, die man kritisieren kann, wird nicht die Lö- sung des Problems bringen. Interessanterweise enthält Für diesen groben Unfug findet der Gesetzentwurf dann der Forderungsteil viele richtige Ansätze, auch eine feine Sprache. Er nennt es eine „gewisse Über- wenn sie im einen oder anderen Fall zumindest sprach- schneidung der Kompetenzen“. Es bleibt aber ein grober lich extrem ambitioniert und überdimensioniert daher- Unfug. Es ist ein grober Unfug auf dem Rücken der kommen. Beschuldigten, der Richter und der Strafvollzugsanstalten. Es bleibt zu hoffen, dass sich in Zukunft verstärkt euro- Es hängt viel von der Frage ab, wie man die gegen- päische Organisationen dieses Problems annehmen. Denn wärtige Lage in Pakistan einschätzt. Es ist jedenfalls nahezu alles, was am vorgelegten Entwurf begrüßenswert richtig – das wird im Antrag auch betont –, dass das Mi- ist, stammt aus deren Initiativen. So enthält der Entwurf litärregime von General Pervez Musharraf durch eine in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22261

(A) Wahlen legitimierte Regierung ersetzt wurde. Ob man Bei aller Richtigkeit dieser Aussagen und bei aller (C) allerdings der leicht romantisierenden Vorstellung an- Notwendigkeit, diese Aussagen auch durch entspre- hängen sollte, damit sei sozusagen der Siegeszug der chende Maßnahmen in der Entwicklungszusammenar- Demokratie in Pakistan eingeläutet, wage ich dann doch beit zu flankieren, ist es notwendig – da enthält der An- zu bezweifeln. Zu sehr werden auch demokratische trag einen wichtigen Punkt –, die Krisen und Krisenherde Wahlen in diesem wie in vielen anderen Ländern entlang an den Grenzen Pakistans ebenfalls in Betracht zu zie- der Linien von ethnischer Verbundenheit und nicht im hen. Dies betrifft die von der Zentralregierung in Islama- Wettbewerb von Ideen entschieden, zu instabil ist die bad völlig unkontrollierten Tribal Areas an der Grenze zu Lage, zu wenig ausgebildet ist dabei noch das rechts- Afghanistan ebenso wie die Kaschmir-Region, die be- staatliche System, das unbedingte Voraussetzung für reits seit Jahrzehnten Streitpunkt zwischen Indien und eine funktionierende Demokratie ist. Pakistan sind. Sollte durch den Antrag allerdings der Ein- druck erweckt werden, Deutschland könne durch sein Allerdings ist es richtig, dass den Vereinigten Staaten Engagement diese zum Teil seit mehr als 50 Jahren wäh- als langjährigem wichtigen Partner bei der Stabilisierung renden Probleme lösen, wäre dies eine fatale Überschät- und weiteren Entwicklung Pakistans eine entscheidende zung unserer Möglichkeiten. Rolle zukommt. Ich will nicht in die aufgekommene Mode verfallen, die neue amerikanische Administration Viele Schwierigkeiten in internationalen Konflikten als omnipräsenten und omnipotenten Heilsbringer zu se- der vergangenen Jahre sind auch dadurch entstanden, hen, aber es bleibt jedenfalls zu hoffen, dass es eine grö- dass mancherorts – manchmal auch in Deutschland – der ßere Bereitschaft gibt als bisher, die eigene Politik auch Eindruck erweckt wurde, dass die Lösung dieser Kon- in diesem Fall mit der der anderen Verbündeten besser flikte eigentlich recht einfach sei, wenn man nur mit ge- zu koordinieren. Angesichts der Tatsache, dass die USA nügend Mitteln und einem in der Theorie gut funktionie- in Pakistan über lange Zeit durch verschiedenste Maß- renden Plan vorgehe. Auch hier beginnt gute Politik mit nahmen ihre Einflusssphäre ausgebaut haben, ist dies der richtigen Analyse der Lage und der nüchternen Be- dringend geboten. trachtung der eigenen Möglichkeiten. Wer diese einfache Weisheit nicht beherzigt, wird sich verheben und der Wenn auch die Rolle der USA nicht unterschätzt wer- Glaubwürdigkeit Deutschlands und der internationalen den darf, so gibt es keinen Grund anzunehmen, Deutsch- Gemeinschaft einen Bärendienst erweisen. land und die EU hätten hier keine Aufgabe oder keine Handlungsmöglichkeiten und auch -notwendigkeiten. Deshalb ist es richtig, dass im vorliegenden Antrag Die Tatsache alleine, dass in Afghanistan mehrere Tau- von uns Engagement, und zwar intensives Engagement, send Soldaten ihren Dienst versehen und dass es ohne in und für Pakistan eingefordert wird. Aber wir sollten (B) ein stabiles Pakistan ein stabiles Afghanistan nicht wird dieses Engagement mit Blick auf unseren tatsächlichen (D) geben können, ist schon Grund genug, sich in und für Einfluss und unsere tatsächlichen Möglichkeiten erbrin- Pakistan zu engagieren. Der Vorwurf, Deutschland und gen. Dann kann unser Beitrag für Pakistan und seine die EU seien hier ohne eigenen Ansatz, ist allerdings Menschen ein substanzieller sein. falsch. Gerade die Bundesregierung hat durch entspre- chende Initiativen des Außenministers gezeigt, dass sie Johannes Pflug (SPD): Pakistan hat seit dem bereit und in der Lage ist, einen eigenen substanziellen 9. September 2008 unter dem neuen Präsidenten Asif Beitrag zu leisten. Zardari wieder eine Zivilregierung. Trotzdem bleibt die Situation an der 1 600 Kilometer langen Grenze zu Af- In einem weiteren Punkt geht der Antrag ebenfalls ghanistan – Durant-Linie – weitgehend unkontrollierbar. fehl. Zwar ist es sicherlich richtig, Pakistan in seinem re- Insbesondere die FATAS, Federally Administrative Tri- gionalen Umfeld zu sehen, aber es ist meines Erachtens bal Areas, im Nordwesten werden zunehmend zum nicht richtig, Pakistan hauptsächlich in seiner Funktion Rückzugs-, Ausbildungs- und Versorgungsraum der Ta- als Nachbar Afghanistans zu betrachten. Deshalb ist die liban. Die Stabilität der Atommacht Pakistan spielt des- zum Teil etwas mühsam hergestellte Verbindung zwi- halb eine zentrale Rolle für den Erfolg der ISAF-Mission schen Militäraktionen in Afghanistan und Pakistan pro- in Afghanistan. blematisch. Dass sich militärische Aktionen nach Ansicht des Deutschen Bundestages auf das absolute Minimum Präsident Zardari erklärte bei seiner Amtseinführung, beschränken und dabei die sogenannten Kollateralschä- der Bekämpfung des Terrorismus oberste Priorität einzu- den möglichst niedrig gehalten werden müssen, versteht räumen; aufgrund des Terroranschlags auf das Mariott- sich zumindest aus der Sicht meiner Fraktion von selbst. Hotel in Islamabad würden diese Anstrengungen ver- stärkt. Pakistan hat bereits rund 120 000 Soldaten in der Dass die Forderung, Deutschland möge sich nicht Grenzregion, die ein Eindringen von Taliban und Al- weiter an OEF beteiligen, inzwischen faktisch erfüllt ist, Qaida-Kämpfern nach Afghanistan verhindern sollen. dürfte sich inzwischen auch herumgesprochen haben. Im Rahmen der Triparite-Kommission haben Pakistan, Einigkeit besteht aus meiner Sicht darin, dass Deutsch- Afghanistan und die ISAF-Truppen ihre militärische Zu- land mit seiner Expertise wichtige Beiträge leisten kann sammenarbeit verstärkt und wollen sechs gemeinsame zum Aufbau einer funktionierenden Justiz und einer wa- Grenzpunkte errichten. Im März 2008 eröffneten sie das chen Zivilgesellschaft, zu demokratischen Institutionen erste Border Coordination Centre, BCC. und damit zu einem Pakistan, das als stabiler und wichti- ger regionaler Akteur zur Befriedung der gesamten Re- Die Talibanisierung ist in den vergangenen Monaten gion beiträgt. trotzdem weiter vorangeschritten. In den Stammesgebie- 22262 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) ten haben die Taliban und mit ihnen paktierende Banden Von einer Stabilisierung Pakistans kann insbesondere in (C) viele Familienoberhäupter – Maliks – umgebracht. Bei den teilautonomen Stammesgebieten im Nordwesten des vielen Beobachtern gilt es als wahrscheinlich, dass auch Landes leider keine Rede sein. Der zunehmende Verlust Teile des pakistanischen Geheimdienstes ISI und des der Kontrolle im Swat-Tal, die Angriffe auf Nachschub- Militärs afghanische Taliban unterstützen. Sie hoffen, lager und Nachschubwege der ISAF am Khyber-Pass dass die Taliban nach dem Abzug der ausländischen und die große Zahl ziviler Verluste bei Gefechten zwi- Truppen aus Afghanistan wieder die Macht übernehmen schen Extremisten und den pakistanischen Sicherheits- und sich als Verbündete an die Seite Pakistans stellen in kräften machen wenig Mut. der Frage des Kaschmir-Konfliktes und im Falle von Pakistan ist sich allerdings zunehmend bewusst, dass Auseinandersetzungen mit Indien. es einen eigenen Beitrag zur Bekämpfung des internatio- Bei den andauernden Kämpfen wurden bereits mehr nalen Terrorismus leisten muss. Es besteht auch die Be- als 2 000 Menschen getötet, mehr als 200 000 sind aus reitschaft Pakistans, dabei militärische Mittel einzuset- den Stammesgebieten im Grenzland geflohen. Dabei su- zen. Damit dies aber in der Praxis auch Erfolg haben chen aber andererseits viele afghanische Flüchtlinge kann, muss die pakistanische Bevölkerung diesen Schutz in Flüchtlingslagern auf pakistanischer Seite. An- Kampf gegen Extremisten und Terroristen als ein ureige- fang 2007 lebten bereits 2,2 Millionen afghanische nes Anliegen begreifen. In der Vergangenheit war dies Flüchtlinge in Pakistan, die bis Ende 2009 auf Drängen leider nicht der Fall. Die Wahrnehmung innerhalb der Pakistans zurückgeführt werden sollten. Die Sicherheits- pakistanischen Bevölkerung, dass das Vorgehen der pa- lage in Afghanistan hat dies aber unmöglich gemacht. kistanischen Regierung und der Sicherheitskräfte ledig- Der Plan wurde im August 2008 wieder verworfen, und lich stellvertretend und im Auftrag der US-Amerikaner das Problem verschlimmert sich rasend schnell. In Kara- erfolge, ist fatal. chi leben mittlerweile 700 000 Flüchtlinge aus den Diese Wahrnehmung kann nur überwunden werden, Stammesgebieten, die dort auf andere große Bevölke- wenn unabgestimmte militärische Operationen der USA rungsgruppen treffen. Dies birgt permanentes zusätzli- in Pakistan unterbleiben. Die nationale Souveränität Pa- ches Konfliktpotenzial. kistans ist zu achten. Auf der anderen Seite wäre es aber Die internationale Gemeinschaft muss von Pakistan auch hilfreich, wenn die pakistanische Regierung gegen- auch weiterhin harte Anstrengungen im Kampf gegen über der eigenen Bevölkerung offener kommunizieren den Terrorismus verlangen, aber Pakistan auch stabili- würde, dass sie mitunter auf die militärische Koopera- sieren helfen. Nur ein stabiles Pakistan kann ein guter tion mit den USA und anderen Partnern im Kampf gegen Nachbar für Afghanistan sein. Dafür müssen auch die re- Extremisten und Terroristen im eigenen Land angewie- sen ist. (B) gionalen Player Indien und China einbezogen werden. (D) Dazu zählt aber auch ein maßvolles und völkerrechts- Daher sollte die Gunst der Stunde genutzt werden, die konformes Vorgehen der USA im Grenzgebiet zu Afgha- der Wechsel der Administration in Washington mit sich nistan. Die Stimmung der Pakistani gegenüber den Ame- bringt. Ich finde es ermutigend, dass US-Vizepräsident rikanern ist bestenfalls reserviert, häufig auch feindselig. Joe Biden am Wochenende auf der Münchner Sicher- Das ist nicht nur Reaktion auf die amerikanischen An- heitskonferenz angekündigt hat, dass die Regierung von griffe auf pakistanisches Territorium. Man fühlt sich ver- Barack Obama die Politik für Afghanistan und Pakistan raten durch die amerikanische Annäherung an Indien. überprüfen wird und über Anregungen der Partner dank- Bündnis 90/Die Grünen fordern in ihrem Antrag al- bar ist. Auch der Umstand, dass die neue US-amerikani- lerdings zu viel und das zu schnell. Wir würden uns sche Regierung mit Richard Holbrooke einen Sonderge- übernehmen. Deshalb lehnen wir diesen Antrag ab. sandten für Afghanistan und Pakistan benannt hat, ist ein gutes Signal. So banal die Wiederholung dieser simplen Erkenntnis klingt: Ohne Pakistan wird es keine Lösung Elke Hoff (FDP): Wir behandeln heute einen Antrag, in Afghanistan geben und umgekehrt. der in einigen Teilen seines Forderungskatalogs überholt ist, da eine deutsche Beteiligung an der Operation Endu- Deshalb ist es auch alternativlos, eine internationale ring Freedom in Afghanistan nicht mehr mandatiert ist. Strategie zur Stabilisierung und Entwicklung der pakis- Darüber hinaus vermischt der Antrag leider Dinge, die tanischen und zugleich der afghanischen Wirtschaft nicht zielführend sind. Dies hat uns auch bereits in den kurzfristig auf den Weg zu bringen. Dies bedeutet neben Ausschüssen bewogen, ihn abzulehnen, obwohl er viele der Entwicklung von lokalen und regionalen Märkten Punkte enthält, die wir unterstützen. auch die Öffnung westlicher Märkte für Produkte aus beiden Ländern. Die Rekrutierungswelle von immer Eine Pakistan-Strategie der Bundesregierung ist über- neuen Extremisten ist nur durch eine positive ökonomi- fällig und immer noch nicht erkennbar. Es genügt nicht, sche Entwicklung, durch Zukunftsperspektiven für junge immer wieder Pakistan als einen Schlüssel zur Lösung Menschen zu stoppen. der Probleme in der Region zu benennen, wenn dann nur sehr wenige gemeinsame Anstrengungen tatsächlich un- Ein weiterer gravierender Konfliktherd Pakistans ist ternommen werden. Nach meinen Beobachtungen sind die mangelhafte Versorgung mit Energie und Elektrizi- die Impulse, die nach der Reise des Bundesaußenminis- tät. Die Gasversorgung über eine neue Pipeline aus dem ters im Herbst letzten Jahres gesetzt werden sollten, Iran wird von der internationalen Gemeinschaft nicht ge- weitgehend verpufft. Von der pakistanischen Freund- rade unterstützt, sodass die pakistanische Regierung schaftsgruppe hört man seit geraumer Zeit nichts mehr. kaum eine Alternative zu chinesischer Atomenergie hat, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22263

(A) um seine 170 Millionen Bürger mit Energie zu versor- beteiligung verloren. Die Bewegung der Rechtsanwälte (C) gen. Gerade in diesem Bereich könnte Deutschland ei- hat in den letzten Monaten gezeigt, dass es auch außer- nen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung Pakistans leis- halb der Parteien ein großes zivilgesellschaftliches Po- ten. Hilfe bei der konzeptionellen Entwicklung und beim tenzial in Pakistan gibt. technologischen Ausbau erneuerbarer Energien wären auf pakistanischer Seite hochwillkommen. Der Bau und Wenn Deutschland einen Beitrag zur Stabilisierung die Wartung dieser Anlagen vor Ort würden mittelfristig Pakistans leisten will, muss es auch möglich sein, die pa- neue Arbeitsplätze generieren und knappe Ressourcen kistanischen Sicherheitskräfte, insbesondere die Grenz- schonen. polizei sowohl bei deren Ausbildung als auch bei der Ausstattung zu unterstützen. Pakistan muss vor allem Ein weiterer Bereich, der eine Stabilisierung des Lan- auch durch die internationale Unterstützung in die Lage des gefährdet, ist das hohe Ausmaß an Analphabetismus versetzt werden, gegen die Proliferation von sensiblem sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Eine breit Wissen und Technologien nichtstaatlicher Akteure bes- angelegte, gut strukturierte Alphabetisierungskampagne, ser gerüstet zu sein. Hier war Pakistan in der Vergangen- verbunden mit der Unterstützung zum Aufbau funktio- heit zu anfällig, wie der Erfolg des Khan-Netzwerkes ge- nierender staatlicher Schulen und entsprechender Curri- zeigt hat. Ich möchte die Bundesregierung ermuntern, cula unter Berücksichtigung religiöser Befindlichkeiten, die Anstrengungen beim Ausbau der bilateralen Bezie- könnte ein äußerst sinnvoller Beitrag der internationalen hungen deutlich zu verstärken und die in Pakistan bisher Gemeinschaft sein. Diese Anstrengungen müssten je- gemachten Erfahrungen dafür zu nutzen. doch weit über einen Projektcharakter hinausgehen und langfristig angelegt sein. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Der Antrag von Pakistan hofft gerade nach der überraschend fair und Bündnis 90/Die Grünen hat in den vergangenen Wochen demokratisch verlaufenen Parlamentswahl vor einem eine neue Aktualität erhalten. Die Entscheidung des Jahr auf deutsche Unterstützung bei der weiteren Stabili- neuen US-Präsidenten Obama, das militärische Engage- sierung und Demokratisierung des Landes. Deutschland ment in Afghanistan zu verstärken, ist der Mühlstein, der ist als ehrlicher Makler hochwillkommen. die gesamte außenpolitische Konzeption Obamas in den Uns sollte Mut machen, dass Pakistan trotz des ver- Abgrund reißen kann. Die Beendigung des Krieges in breiteten Analphabetismus auch über ein großes Reser- Afghanistan ist ohne eine intensivere Einbeziehung Pa- voir an gut ausgebildeten jungen Menschen verfügt, die kistans nicht möglich. Das heißt auch, dass die USA so- Teil einer zukünftigen politischen und wirtschaftlichen fort und bedingungslos ihre völkerrechtswidrigen An- Elite sein können. Mit diesen Hoffnungsträgern muss ein griffe auf pakistanisches Territorium einstellen müssen. (B) intensiver Dialog aufgenommen werden. (D) Wenn diese Forderung Zustimmung im Deutschen Ohne Frage ist Pakistan auch ein Jahr nach den Wah- Bundestag fände, wäre es auch ein Argument, dass len weiterhin von stabilen demokratischen Verhältnis- Deutschland seine Waffenlieferungen an Pakistan ein- sen, wie wir sie uns vorstellen, entfernt. Daher brauchen stellen muss. Es ist schlichtweg inakzeptabel, dass wir Geduld und sollten unsere Erwartungen an die Ge- Deutschland an Pakistan unter anderem U-Boote liefert. schwindigkeit von Modernisierungsprozessen auf ein re- Diese U-Boote könnten technisch auch auf den Ab- alistisches Maß reduzieren. Nur wenn wir die gesell- schuss atomar bestückter Raketen umgerüstet werden. schaftlichen und kulturellen Besonderheiten Pakistans Wir alle wissen: Pakistan und Indien sind Atommächte, verstehen, wird ein Dialog mit Pakistan Erfolg haben deren gegenseitige Beziehungen höchst angespannt sind. können. Wer Waffen an Pakistan liefert, verschärft den Konflikt. Bei aller angebrachten Skepsis teile ich die düstere Verschärfend für diesen Konflikt ist auch der Atom- Einschätzung der Lage in Pakistan der Grünen nicht und deal zwischen den USA und Indien. Zu Recht werden im halte die Zustandsbeschreibung auch für keine sinnvolle Grundlage, die Rolle Deutschlands im Stabilisierungs- vorliegenden Antrag diese Probleme angesprochen; das prozess Pakistans zu definieren. Pakistan steht nicht an begrüßt die Linke. Er verweigert sich aber der notwendi- der Grenze zum Staatszerfall, und die Nuklearwaffen gen Konsequenz, den Krieg in Afghanistan sofort zu be- drohen derzeit auch nicht in die Hände von Extremisten enden. Deswegen können wir nicht zustimmen. zu fallen. Auch wenn sich die Rolle des Militärs in Pa- Wir haben es mit einem Übergreifen des afghanischen kistan mit unseren Vorstellungen von Streitkräften inner- Widerstandes auf die paschtunischen und belutschischen halb einer Demokratie nicht vereinbaren lässt, so muss Stammesgebiete Pakistans zu tun. Diese Stammesge- man aber konstatieren, dass es auch in den Zeiten größ- biete kennen keine Grenzen zwischen Staaten und keine ter Instabilität die Kontrolle über die pakistanischen Nu- wirkliche Kontrolle durch den pakistanischen Staat. Dies klearwaffen sichergestellt hat. ist so seit der kolonialen Staatsbildung. Alle staatlichen Die Wahlen haben gezeigt, dass die Masse der pakis- Versuche seit dem Ende der Militärdiktatur Musharrafs, tanischen Bevölkerung die Islamisten nicht will und po- die westlichen Stammesgebiete zu befrieden, scheiterten litisch nicht unterstützt. Sie haben nur einen Sitz im Par- an der zunehmenden Intensität des Krieges in Afghanis- lament errungen und haben darüber hinaus in den tan. Deshalb ist eine Lösung des pakistanischen Pro- paschtunischen Stammesgebieten an der Grenze zu Af- blems immer mit der Beendigung des Krieges in Afgha- ghanistan und in der Nordwestprovinz ihre Regierungs- nistan verbunden. 22264 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009

(A) Krieg als Mittel zur Befriedung Afghanistans ist ge- gionalen Stabilisierung zu gewinnen. Auch die USA (C) scheitert. Die jüngste Umfrage der ARD zu Afghanistan sind sich darüber im Klaren, dass ein Prozess der regio- zeigt deutlich, dass immer größere Teile der afghani- nalen Stabilisierung nicht ohne Einbeziehung des Iran schen Bevölkerung die westliche Präsenz als Besatzung auf den Weg gebracht werden kann. Solange aber die empfinden. Aus der Umfrage geht auch hervor, dass im- Drohungen gegen den Iran auch vonseiten der USA, mer mehr Menschen in Afghanistan es als legitim emp- nicht vom Tisch sind, ist dieser Weg nur sehr schwer zu finden, sich gegen die ausländische Besatzung zur Wehr beschreiten. Es bleibt unverständlich, warum die vielen zu setzen. Bereitschaftserklärungen des Iran, zur Lösung des Af- ghanistan-Konfliktes vermittelnd zur Verfügung zu ste- Mittlerweile sind aber die afghanischen Erschütterun- hen, nie ernsthaft geprüft und aufgegriffen worden sind. gen nicht nur in Pakistan, sondern auch in Indien zu spü- Das kann und muss sich ändern. ren und tragen zu einer Verschärfung der Lage zwischen den beiden Atommächten bei. Die Frage ist: Was ist zu Neben Themen der Demokratisierung und der Ver- tun? Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, den wir besserung der sozialen Lage der Menschen in der Region hier behandeln, zeigt ein Maß an selbstkritischer Refle- müssen auch die Grenzstreitigkeiten zwischen Pakistan xion. Wir können vielen der Detailforderungen zustim- und Afghanistan sowie zwischen Pakistan und Indien men. Ebenso wie wir fordern die Grünen einen zivilge- behandelt werden. Ohne Beteiligung des Volkes der sellschaftlichen Ansatz in Pakistan, mit dem Demokratie Paschtunen wird es nicht gehen. Eine solche Konferenz und die Achtung der Menschenrechte gestärkt, aber auch würde einem Waffenstillstand Dauerhaftigkeit verleihen wirtschaftliche und soziale Reformen eingeleitet werden können und wäre der Weg zu Frieden und Stabilität in sollen. Pakistan gehört zu den Ländern mit den krasses- der Region. ten sozialen Unterschieden. Neben einer reichen Elite lebt eine Mehrheit der Bevölkerung unter unbeschreibli- Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen sozialen Verhältnissen. Dies ist Nahrung für den NEN): Den Antrag, den wir heute hier diskutieren, haben militanten Islamismus. Große Teile der Bevölkerung wir eingebracht, als in Washington noch die Bush-Admi- sind Analphabeten. nistration regierte. Mittlerweile haben wir mit Barack Ebenso wichtig ist, das Wettrüsten zwischen den Obama einen neuen US-Präsidenten, der sich dem Staaten in der Region zu beenden. Die Bundesrepublik Thema Afghanistan und Pakistan von Anbeginn mit ho- kann dazu einen Beitrag leisten, indem sie nicht weiter her Aufmerksamkeit zuwendet. Er hat mit Richard deutsche Rüstungsgüter in die Region liefert. Holbrooke einen Sonderbeauftragten für Afghanistan und Pakistan eingesetzt, der gerade beide Staaten be- Wir benötigen einen ernsthaften Neuanfang in Ko- sucht. Er hat damit von Anfang an klar gemacht, dass die (B) operation mit den Anrainerstaaten und unter Verantwor- (D) Stabilisierung der Region hohe Priorität hat. tung der Vereinten Nationen. Die NATO sollte umge- hend ihre Bereitschaft deutlich machen, in Verbindung Auf seiner Reise wurde Holbrooke unmittelbar mit mit einem Waffenstillstand in Afghanistan ihre Truppen der Instabilität und dem Eskalationspotenzial in der Re- aus dem Land abzuziehen. Die USA ihrerseits dürfen gion konfrontiert: Bei einem extremistischen Anschlag keine weiteren Angriffe auf pakistanisches Territorium in Peschawar kam ein Politiker ums Leben, mehrere ausführen, und die pakistanische Regierung sollte ihre Menschen wurden verletzt. Zeitgleich machten die bluti- militärischen Operationen in den Stammesgebieten be- gen Angriffe der Taliban in Kabul deutlich, wie groß die enden. Schwierigkeiten für die Stabilisierungsbemühungen in In Afghanistan und in Pakistan bilden sich immer Afghanistan weiter sein werden. Wir wissen: Der logisti- mehr „Friedens-Jirgas“, das heißt, der Weg einer natio- sche Nachschub für diese Gewalttaten läuft über Pakis- nalen Versöhnung ist nicht mehr ausgeschlossen. Die tan. Auch die Anschläge in Mumbai im November 2008 Arbeit der „Friedens-Jirgas“ sollte durch die Vereinten mit über 170 Toten zeigen, dass das Thema einer regio- Nationen und auch von Deutschland intensiv gefördert nalen Stabilisierung dringend auf die internationale werden. Nationale Versöhnung, Rechtssicherheit und der Agenda rücken muss. Insofern bleibt unser Antrag zum Aufbau ziviler Strukturen sind der Weg, um Stabilität in Thema Pakistan hochaktuell. Afghanistan und in Pakistan zu erreichen. Dieser Weg ist Mit dem neuen US-Präsidenten besteht grundsätzlich versperrt, solange in Afghanistan und Pakistan der Ein- die große Chance zu einer Überprüfung der Strategie in druck besteht, militärisch besetzt und politisch fremdbe- Afghanistan, aber auch des diplomatischen Konzepts für stimmt zu sein. Selbstbestimmung ist die entscheidende die ganze Region. Auf der Münchner Sicherheitskonfe- Voraussetzung, Gewalt und Krieg zu beenden. renz wurde bereits eine große 60-tägige Revision der Af- Die Linke wirbt seit Monaten für die Idee einer regio- ghanistan-Strategie angekündigt. Vor allem aber bieten nalen Sicherheitskonferenz. Wir freuen uns darüber, dass sich große Chancen für eine regionale Strategie, weil die sich die Bundesregierung offensichtlich ebenfalls von neue Administration hier einen bedeutsamen Wechsel der Sinnhaftigkeit eines solchen Vorschlages überzeugt angekündigt hat. So soll mehr Diplomatie möglich wer- hat. Die Staaten der Schanghai-Gruppe haben dieses den, insbesondere auch im direkten Kontakt mit Iran. Thema zum Mittelpunkt ihrer nächsten Konferenz ge- Eine Einbeziehung Irans in die regionale Diplomatie macht. Insbesondere gilt es, Pakistan, seine Nachbarn kann eine Verbesserung bei der Zusammenarbeit und die China, Indien, Iran und Afghanistan sowie Russland und Suche nach gemeinsamen Interessen erleichtern. Die die zentralasiatischen Nachbarn für einen Prozess der re- Nachbarländer teilen durchaus das gemeinsame Interesse Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 205. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 12. Februar 2009 22265

(A) an Stabilität in der Region – das gilt auch für Russland gen – distanziert; entsprechend muss der militärische (C) und China, die auch einen beachtlichen muslimischen Ansatz geändert werden. Bevölkerungsanteil haben. Die seit längerem diskutierte Die Bemühungen der neuen Administration in Rich- „Kontaktgruppe Afghanistan/Pakistan“ einzurichten und tung Abrüstung müssen ebenfalls – mit Bezug auf diese entsprechende Konferenzen zu planen, wäre deshalb ein Region – ernst genommen werden: Es darf kein Wettrüs- wichtiger Fortschritt. ten zwischen Pakistan, Indien, China und anderen Staa- ten der Region einsetzen, und dieses darf nicht mit deut- Ungeachtet dieser Chancen möchte ich hier ausdrück- schen Rüstungslieferungen angeheizt werden. Es muss lich unterstreichen, dass die Gefahren, auf die wir in un- alles getan werden, damit Pakistan nicht weiter eine serem Antrag hinweisen, keinesfalls vom Tisch sind: In Quelle der Weiterverbreitung von Massenvernichtungs- den letzten Wochen kam es wieder zu Bombardements waffen und deren Trägerwaffen bleibt, sondern sich den im Grenzgebiet, bei denen mehrfach erneut Zivilisten internationalen Rüstungskontrollregimen anschließt. starben. Gerade der Anstieg der Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung in Afghanistan – 2008 kamen in Af- Um Pakistan zu stabilisieren, gilt darüber hinaus vie- ghanistan 40 Prozent mehr Zivilisten ums Leben als les, was auch für Afghanistan richtig ist: Notwendig sind 2007 – ist Besorgnis erregend und trägt zur Vertrauens- eine Sicherheitssektorreform, eine Stärkung des Justiz- krise in der Region bei. Es ist deshalb dringend erforder- wesens und der Aufbau einer effektiven rechtsstaatli- chen Polizei. Die Entwicklungszusammenarbeit muss lich, dass die Bundesregierung sich nachdrücklich für ei- nachhaltig gestärkt werden. Investitionen in die Grund- nen militärischen Strategiewechsel der NATO einsetzt. bildung, Basisgesundheit und ländliche Entwicklung so- OEF muss endlich beendet werden. Wir müssen zu einer wie die Förderung der unabhängigen Justiz und Presse einheitlichen Rechtsgrundlage für die militärische Prä- sowie der Rechte der Frauen sind unerlässlich für eine senz in Afghanistan zurückkehren und endlich die Al- langfristige Stabilisierung. Die pakistanische Regierung leingänge der USA im pakistanischen Grenzgebiet been- muss dabei ihrerseits in die Pflicht genommen werden, den, die destabilisierend wirken. Bei der neuen US- die notwendigen Beiträge entschlossen umzusetzen. Administration wird sie dafür zweifelsohne offenere Oh- Ohne Stabilität in Pakistan wird es keine Stabilität in Af- ren finden als bei der Bush-Regierung. Joe Biden hat ghanistan und der ganzen Region geben. Lassen Sie uns sich in seiner Rede in München deutlich von der „Bush- die Chancen ergreifen, die sich mit der neuen US-Admi- Doktrin“ – also von Präventivschlägen und Alleingän- nistration für einen Neustart ergeben.

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