Tesi, Vittoria

Vittoria Tesi Bezeichnung „La Moretta“, die sie ihrem Vater, der „Il Ehename: Vittoria Tesi-Tramontini Moretto“ genannt wurde, verdankte. Als Tochter von Alessandro di Antonio Tesi und Maria Antonia di Cosi- * 13. Februar 1700 in Florenz, Italien mo Rapacciuoli wurde sie am 15. Februar 1700 getauft † 9. Mai 1775 in Wien, Österreich (vgl. Ademollo 1889). Laut Ademollo arbeitete ihr Vater für den römischen Kas- Sängerin, Gesangspädagogin, Leiterin der traten Francesco „Checco“ De Castris (de’ Massimi), der Kostümabteilung der Wiener Hofoper wiederum zu den Lieblingen des toskanischen Großfürs- ten Ferdinando de‘ Medici (1663–1713) gehörte. Vittoria „Die Tesi war von der Natur mit einer männlich starcken stand somit früh in Kontakt mit dem Florentiner Hof Contraltstimme begabet. [...] Viele Passagien waren eben und der Gesangskunst der Kastraten, die für ihre Ausbil- nicht ihr Werk. Durch die Action aber die Zuschauer ein- dung von Bedeutung war. zunehmen, schien sie gebohren zu seyn; absonderlich in Mit dem Tod Ferdinandos scheint Checco de Castris Mannsrollen: als welche sie, zu ihrem Vortheile, fast am nach Rom zurückgekehrt zu sein; er ließ „Il Moretto“ natürlichsten ausführete.“ und dessen Tochter zurück. Tesi bekam wahrscheinlich in Florenz ersten Gesangsun- [Quantz, Johann Joachim: „Herrn Johann Joachim terricht, vermutlich bei Francesco Redi (Croll 2005). Der Quantzens Lebenslauf, von ihm selbst entworfen“., In: Chronist Nicolò Susier (vgl. Ademollo 1889) berichtet Historisch-Kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik über diese frühen Jahre, die vermutlich von Armut ge- Bd. 1,3. Stück. hg. von Friedrich Wilhelm Marpurg. Ber- kennzeichnet waren, die fantastische Geschichte einer lin 1755, S. 227.] Reise nach Polen, wo Tesi und ihr Vater zu Geld und Gunst gekommen wären, bevor sie aus nicht näher er- Profil wähnten Gründen nach reisten. Vittoria Tesi war die renommierteste italienische Altistin Bologna wiederum ist als nächste Station Vittoria Tesis der 1720er bis 1740er Jahre, mit Auftritten in Italien, verbürgt; es ist denkbar, dass der Vater seine Tochter Dresden, und Wien. Sie arbeitete u.a. mit Leonar- mit dem Ziel einer Gesangskarriere nach Bologna schick- do Vinci, und Christoph Willibald Gluck te. Sie nahm dort Gesangsunterricht beim Kastraten zusammen; nach ihren Rückzug von der Opernbühne Francesco Campeggi (Croll 2005). Laut Chrysander soll war sie auch als Gesangspädagogin tätig. Besonders ge- sie auch bei Antonio Bernacchi (1685-1756) – mit dem rühmt wurde ihr schauspielerisches Talent. sie später zusammen mit drei weiteren Solisten in einem Medaillonportrait verewigt wurde – Unterricht genom- Orte und Länder men haben (vgl. Chrysander 1858: S. 184). Da Bernacchi Vittoria Tesi debütierte in Norditalien ( und Bolog- aber ab 1712 hauptsächlich in Venedig, ab 1720 in Mün- na) und wurde zeitweise als Kammervirtuosin des Prin- chen und Ende der 1720er Jahre in London engagiert zen Antonio von Parma geführt. Zur Hochzeit des sächsi- war und seine bedeutende gesangspädagogische Arbeit schen Kurprinzen August Wilhelm II. war sie in Dresden in Bologna erst später aufnahm, bleibt fraglich, ob Tesi engagiert, kehrte dann nach Italien zurück und trat in in Bologna bei ihm studierte. Entscheidender dürfte ganz Nord- und Mittelitalien auf, besonders in Neapel, sein, dass Tesi überhaupt in Bologna Unterricht erhielt, Mailand und Venedig. Der Kastrat Carlo Broschi, ge- wo der Einfluss Bernacchis sehr groß war. Dieser hatte nannt , organisierte einen Aufenthalt Vittoria Te- seinerseits bei Antonio Pistocchi (1659-1726) studiert, sis in Spanien (Madrid). In den 1740er Jahren ließ sich dem Begründer der berühmten Bologneser Gesangsschu- Tesi dauerhaft in Wien nieder, wo sie bis zu ihrem Tod le. 1775 lebte. Eine Begegnung zwischen Vittoria Tesi und Antonio Ber- nacchi ist jedoch möglich; Bernacchi war ab 1714 als „vir- Biografie tuoso“ beim Prinzen Antonio von Parma engagiert, bei Familiärer Hintergrund und Ausbildung dem auch Tesi in der Saison 1718/1719 als „virtuosa di ca- mera“ geführt wurde. Auch wenn diese Art Ehrentitel Vittoria Tesi wurde in Florenz geboren (daher auch ihr häufig von sehr kurzen Engagements herrührten, gab es zweiter Bühnenname, „La Fiorentina“). Geläufiger ist die damit doch einen gemeinsamen Bezugspunkt.

– 1 – Tesi, Vittoria

Sowohl Pistocchi als auch Bernacchi waren Altkastraten, 227) was für die Altistin Tesi in der Ausbildung von Vorteil ge- Nach den Hochzeitsfeierlichkeiten wurde die Truppe auf- wesen sein könnte. gelöst; Vittoria Tesi kehrte nach Italien zurück. Während Lotti allerdings bereits 1719 wieder in Venedig war, Debüt und Dresden stammt der nächste bekannte Eintrag von Vittoria Tesi aus Florenz, für den Karneval 1721, so dass Ademollo ver- Tesi debütierte sechzehnjährig in Parma, in einer Wieder- mutete, dass Tesi sich in der Zwischenzeit (1719/20) in aufnahme von Alessandro Scarlattis Pastoraloper („favo- Polen aufgehalten haben könnte. la boschereccia“) „Il Dafni“ (zuerst Neapel 1700) und trat ebenfalls 1716 zum ersten Mal im Teatro Formaglieri in Karriere in Italien Bologna auf (in „Il sogno avverato“). 1617 war sie erneut in Parma (wiederum mit „Il sogno av- Das Prestige des Dresdner Aufenthalts, vor allem aber verato“) und Bologna („Merope“ von Gasparini und Or- die hochkarätigen Kollegen, mit denen sie dort aufgetre- landini nach Zenos , zusammen mit Francesca ten war, hatten Vittoria Tesi in die erste Reihe italieni- Cuzzoni) zu hören. scher Gesangssolistinnen katapultiert. In der Saison 1718/1719 sang Tesi als „virtuosa di came- Sie sang von 1721 bis 1747 in einer Vielzahl italienischer ra“ des Prinzen Antonio von Parma in Venedig; Ademol- Städte, besonders häufig in Neapel, Mailand, Venedig lo merkt an, dass ihre Partien in „Amor di figlia“ (Giovan- und Florenz, aber auch in Parma, Genua, Bologna, Turin ni Porta), „Amalasunta“ (Fortunato Chelleri) und “Il pen- und Reggio (s. a. die detaillierte Auflistung in Ademollo timento generoso” (Stefano Andrea Fiore) jeweils Män- 1889). Ihre größten Erfolge feierte sie in Neapel; als ein nerrollen waren – ein Umstand, der in der Rezeptionsge- Höhepunkt ihrer Karriere kann ihre Interpretation der schichte oft betont worden ist. Rolle des Achill in der Oper „Achille in Sciro“ von Dome- Aus Venedig wird Tesi zusammen mit anderen Musikern nico Sarro gelten, die dort 1737 anlässlich der Einwei- – wie dem venezianischen Kapellmeister Antonio Lotti hung des Teatro San Carlo stattfand. Dieselbe Partie (1657-1740), dessen Frau, der Sängerin Santa Stella Lot- übernahm Tesi nochmal ein Dutzend Jahre später, in der ti, dem Kastraten (Francesco Bernardi) und Neuvertonung durch Niccolò Jommelli für die Wiener Margherita Durastanti – nach Dresden engagiert, wo sie Hofoper 1749. 1719 bei den Feierlichkeiten zur Hochzeit des Kurprinzen Mit dem fünf Jahre jüngeren Carlo Borschi, bekannt als Friedrich August II. von Sachsen auftrat. Sein Vater Au- Farinelli, sang sie 1725 in Hasses Serenade „Marc’Anto- gust der Starke hatte extra zu diesem Anlass ein italieni- nio e Cleopatra“ in Neapel – sie in der Rolle des sches Opernensemble engagiert. Marc‘Antonio, Farinelli in der der Cleopatra. Leonardo Tesi trat in Dresden u.a. in Lottis „Giove in Argo“ und Vinci schrieb für sie die Titelpartie der Ericlea in seiner „Teofane“ (als Matilda) auf und sang nicht nur mit so be- gleichnamigen Oper (Neapel 1724), im folgenden Jahr rühmten Kollegen wie Durastanti und Senesino, son- die Andromaca in seiner “Astianatte”. In Parma arbeite- dern begegnete auch Johann Joachim Quantz ten sie in Parma mit „Medo“ erneut zusammen (vgl. (1697-1773), dessen Beschreibung ihrer Fähigkeiten prä- Markstrom 2007: 124f.); Leonardo Vinci schrieb für sie gend für die gesamte Rezeptionsgeschichte der Sängerin auch eine seiner bekanntesten Kantaten, „Mesta, oh Dio, sein sollten: „Die Tesi war von der Natur mit einer männ- fra queste selve“ (vermutlich 1728, zur Entstehungszeit lich starcken Contraltstimme begabet. Im Jahre 1719 zu von „Medo“). Dresden sang sie mehrentheils solche Arien, als man für Bereits vor Tesis Aufenthalt in Dresden hatte Benedetto Baßisten zu setzen pfleget. Itzo aber hatte sie, über das Marcello 1718 die Kantate „Carissima figlia“ [Lettera di Prächtige und Ernsthafte auch eine angenehme Schmei- C. A. Benatti alle Sig.ra Vittoria Tesi“] komponiert, die chelei im Singen angenommen. Der Umfang ihrer Stim- die Gesangsstile verschiedener zeitgenössischer Sängerin- me war außerordentlich weitläuftig. Hoch oder tief zu sin- nen und Sänger (u.a. Faustina Bordoni) parodierte und gen, machte ihr beides keine Mühe. Viele Passagien wa- deshalb für die historische Stimmforschung von Bedeu- ren eben nicht ihr Werk. Durch die Action aber die Zu- tung ist (vgl. Ferrand 1958: S. 44). schauer einzunehmen, schien sie geboren zu sein; abson- derlich in Mannsrollen, als welche sie, zu ihrem Vorthei- Weitere Engagements le, fast am natürlichsten ausführete.“ (Quantz 1755: S.

– 2 – Tesi, Vittoria

Im September 1739 nahm Tesi eine Einladung ihres Kol- zusammen. legen Farinelli nach Madrid an, der außer ihr auch Fausti- na Bordoni und (Gaetano Majorano) folgten. Wiener Jahre Da die venezianische Familie Grimani, bei der sie zu die- sem Zeitpunkt unter Vertrag stand, sie nicht ziehen las- Nach ihrer Rückkehr aus Madrid wurde Tesi, laut Ditters- sen wollte, reiste Vittoria Tesi ohne Erlaubnis ab und dorf, unter Kaiser Karl VI. „endlich mit einem angemes- wurde damit vertragsbrüchig. Es scheint ein wohlkalku- senen Gehalt nach Wien verschrieben“ (vgl. Ditterdorf liertes Risiko gewesen zu sein, da sie – vermutlich Ende 1801: S. 17). Trotzdem blieb Tesi auch nach ihrer Ernen- 1740 – erheblich vermögender zurückkehrte (vgl. Ditters- nung zur kaiserlichen Kammervirtuosin in Italien und dorf 1801: S. 17). zog erst 1748 endgültig nach Wien um. Im Mai 1748 wur- Von ihrem Spanienaufenthalt stammt außerdem die An- de sie in Glucks Vertonung von Metastasios „La Semira- ekdote um einen Papagei, die Carl Ditters von Ditters- mide riconosciuta“ auf den Theaterzetteln als „virtuosa dorf berichtet (vgl. Dittersdorf 1801: S. 17–20): Tesi sei di camera della Sacra Cesarea Reale Maestà” („Kammer- mit einem in Neapel erworbenen Papagei nach Spanien sängerin Ihrer Heiligen Kaiserlich-Königlichen Majes- gereist, der so gut habe sprechen können, dass er dort tät“; vgl. Croll 2005) angekündigt. von der Inquisition unter Verdacht auf Teufelswerk ver- Gluck, der mit seinen Reformopern und dem program- haftet worden sei. Die exzentrische Tournee mit Papagei matischen Vorwort zu „Alceste“ (1767) eine Hinwen- macht deutlich, wie erfolgreich und berühmt Tesi zu die- dung zu einem natürlicheren, wahrhaftigeren Darstel- sem Zeitpunkt gewesen sein muss, um sich solche Eska- lungsstil forderte, fand in der schauspielerisch begabten paden erlauben zu können. Tesi vermutlich eine Protagonistin, die seinen Vorstellun- gen entgegenkam. Nicht gesichert ist ein Aufenthalt Vittoria Tesis in Frank- Neben ihrer Rolle als Semiramide, von der sogar der furt 1741/42 anlässlich der Kaiserkrönung Karls VII. skeptische Metastasio begeistert war (vgl. den Brief Meta- (vgl. Croll 2005), der angesichts des Mäzenatentums der stasios an Giovanni Claudio Paquini in Dresden, in Meta- Habsburger gegenüber Tesi (sowohl Karl VI. als auch Ma- stasio 1954: S. 166), war Tesi in Wien vor allem in den Ti- ria Theresia) unwahrscheinlich erscheint. Belegt hinge- telpartien von Niccolò Jomellis „Achille in Sciro“ (1749) gen ist ihr Auftritt 1743 in Florenz, wo sie auf den Thea- und „Didone abbandonata“ (Wiederaufnahme, zuerst terzetteln als „Virtuosa di Camera della Granduchessa di Rom 1747) erfolgreich. Toscana” angekündigt wurde; die Großherzogin war zu Aus der Korrespondenz Metastasios lässt sich Tesis Wie- diesem Zeitpunkt niemand anderes als Maria Theresia, ner Zeit teilweise rekonstruieren. Sie war Ende der zu deren Gegenkaiser Karl VII. 1742 gekrönt worden 1740er Jahre im Wiener Opernbetrieb noch so einfluss- war. reich, dass Metastasio ihr die Bitte um Empfehlungssch- Das Renommee der Sängerin zeigte sich nochmals in reiben nicht abzuschlagen wagte (vgl. Metastasio 1954: Neapel, wo sie 1747 in der hochkarätig besetzten Serena- S. 183, S. 223). de „Il sogno d’ Olimpia“ in der Vertonung von Giuseppe de Majo sang, die König Carlo IV. anlässlich der Taufe Rückzug von der Bühne zu Beginn der 1750er Jahre seines Stammhalters aufführen ließ. Trotzdem begann ihr Stern in Neapel bereits zu sinken: Seit ihrer Rück- Ob Tesis Bühnenabschied selbstgewählt war oder auf- kehr aus Spanien hatte sie kein Engagement in Neapel grund ausbleibender Engagements geschah, ist unklar. mehr gehabt und die Theaterleitung entschied sich 1744, Im Jahr 1751 wurde sie als Kostümdirektorin der Wiener als Tesi erneut Interesse an einem Engagement zeigte, Hofoper aufgelistet (vgl. Metastasio 1954: S. 336). an ihrer Stelle für Giovanna Astrua. Für den Karneval Sie lebte, zusammen mit ihrem Mann, am Hof des Musik- 1744 wich Vittoria Tesi nach Florenz aus, wo sie die Rolle mäzenen Prinz Joseph Friedrich von Sachsen-Hildburg- der Cleofide in einer Vertonung von Metastasio „Allesan- hausen, wo sie weiterhin bei den „Akademien“ im Wie- dro nell‘Indie“ sang. Im selben Jahr traf sie in Venedig ner Palais Rofrano (heute Palais Auersperg) sang. Dort zum ersten Mal auf Christoph Willibald Gluck, in dessen trat sie 1754 in Glucks Oper „“, die anlässlich „Ipermestra“ – erneut auf ein Metastasio-Libretto – sie des Besuchs der Kaiserin Maria Theresia aufgeführt wur- die Titelrolle übernahm. de, in der Partie der Lisinga auf. Dittersdorf erwähnt, Mit Gluck und Metastasio arbeitete Tesi in Folge in Wien dass , in den 1750er Jahren Kapellmeis-

– 3 – Tesi, Vittoria ter beim Prinzen Hildburghausen, Arien für Tesi schrieb len die Sopranistinnen Anna Lucia De Amicis (vgl. Dittersdorf 1801: S. 12). Dittersdorf selbst, der sie (1733-1816), Elisabeth Teyber (1744-1816) und Caterina 1751 als Zwölfjähriger zum ersten Mal hörte, war von der Gabrielli (1736-1796). Stimme der über Fünfzigjährigen begeistert: „Sie hatte In ihrer Wiener Zeit beim Prinzen von Sachsen-Hildburg- ein runde helle Contre-Altstimme, und ihr majestäti- hausen begegnete sie Carl Ditters von Dittersdorf, der scher Vortrag entzückte mich bis zur Betäubung.“ (vgl. beim Prinzen ausgebildet wurde. Sie empfing Besuch Dittersdorf 1801: S. 12f.) u.a. 1753 von (vgl. Croll 2005), im Mit Hildburghausens Berufung zum Prinzregenten Sa- Jahr 1762 von Leopold und chen-Hildburghausens 1769 endeten die „Akademien“ (Richter 1999: 70f.) und 1772 von (Chry- im Palais Rofrano. Vittoria Tesi, die laut Dittersdorf zu sander 1858: 185). diesem Zeitpunkt schon zu gebrechlich war für einen Um- Zu Lebzeiten erhielt sie den Ehrentitel der „virtuosa da zug (Dittersdorf 1801: 24), blieb in Wien und starb dort camera“ des Prinzen Antonio Farnese von Parma am 9. Mai 1775. (1718/19 in Venedig), der „virtuosa di camera della Gran- duchessa di Toscana“ (1743 in Florenz) und der „virtuo- Privatleben sa della Cesarea Altezza Reale“ in Wien, den (offenbar späten) Ehrentitel einer “virtuosa della corte imperiale” Vittoria Tesi war in einer von ihr selbst arrangierten trug sie bis an ihr Lebensende. 1769 wurde ihr vom däni- Zweckehe verheiratet mit Giacomo Tramontini, der vor schen König Christian VII. der Orden für „Treue und Bes- der Heirat als Theaterfriseur arbeitete; ein Umstand, der tändigkeit“ verliehen. zu vielen Anekdoten Anlass gab (vgl. Dittersdorf 1801: S. Würdigung 22ff; Ademollo 1889, Chrysander 1858: S. 185f.): Um den Anträgen eines Aristokraten zu entgehen, bot Vitto- Vittoria Tesi ist eine der bekanntesten italienischen Sän- ria Tesi – so die Darstellung Dittersdorfs – Tramontini gerschauspielerinnen in der ersten Hälfte des 18. Jahr- ein Auskommen, unter der Bedingung, dass er sie umge- hunderts. Ihre Ausbildung bei Francesco Redi und im hend heiratete und keine Ansprüche als Ehemann stellen Kreis der berühmten Bologneser Gesangsschule ver- würde. knüpft sie mit der Florentiner Musikkultur und der Ges- Das Arrangement dauerte bis zu Tesis Tod. Tramontini, angsästhetik der Kastraten. Sie arbeitete in Italien und in ehrenhalber zum „consigliere del commercio“ (Kommer- ganz Europa mit den bedeutendsten Musikern und Musi- zialrat) ernannt (Croll 2005), erbte ein Drittel ihres be- kerinnen ihrer Zeit zusammen und ist von zentraler Be- trächtlichen Vermögens. deutung für die italienische Opernkultur insbesondere Beide Partner gingen darüber hinaus ihre eigenen Wege; der 1720er und 1730er Jahre. Ihre Zeitgenossen lobten Ademollo zitiert Akten aus dem Staatsarchiv Neapel, um ihre Stimme, häufiger aber noch ihren Ausdruck und ihr zu belegen, dass Tramontini seine Frau 1738 verlassen schauspielerisches Talent, das auch ihre Rezeption maß- wollte (Ademollo 1889). Bei der Auseinandersetzung geblich bestimmt. Der französische Literat Ange Goudar ging es hauptsächlich um die Veruntreuung von Geldern (1708-1791) beschreibt Vittoria Tesi 1773 rückblickend und Eigentum der Tesi, die Tramontini einer Dritten als „la première actrice qui ait récité bien en chantant schenkte. mal. Quoique la nature l’eut privé de la beautè, elle in- Vittoria Tesi selbst unterhielt von 1736 bis1742 eine Be- téressa beaucoup.“ (die erste Schauspielerin, die gut de- ziehung mit dem neun Jahre jüngeren Prälaten und spä- klamierte, während sie schlecht sang. Obwohl die Natur teren Kardinal Aenea Silvio Piccolomini (vgl. Ferrand ihr Schönheit vorenthalten hatte, fesselte sie ungemein) 1958: S. 44); ihre Briefe aus dieser Zeit geben weiteren (vgl. Ademollo 1889) Quantz bemerkt, dass „viele Passa- Aufschluss über den italienischen Opernbetrieb des 18. gien [...] eben nicht ihr Werk“ seien, lobt aber ihr Timbre Jahrhunderts (s.a. Croce 1946). und ihren Tonumfang. Goudars Ausspruch, dass die Na- tur Tesi Schönheit vorenthalten hätte, findet sich bei Be- nedetto Croce wieder, der in seiner Ausgabe der Briefe Schüler, Gäste und Auszeichnungen Tesis an Piccolomini schreibt „Non era bella, e anzi c’era chi la giudicava addiritura brutta“ (Sie war nicht schön Nach ihrem Rückzug von der Opernbühne war Vittoria und es gab sogar solche, die sie gradheraus hässlich fan- Tesi als Gesangspädagogin tätig; zu ihren Schülern zäh- den.) (Croce 1946: S. 29). Aber, so fährt Croce fort, „Era

– 4 – Tesi, Vittoria di alta e imponente persona e tutti concordamente la cele- 1721 Florenz (Karnevalssaison), Bologna brano attrice geniale e sapiente nella dizione e nel gesto” (Sie war eine große und beeindruckende Gestalt und alle 1722 Venedig (Karnevalssaison), Genua, Mailand, Vene- feierten sie übereinstimmend als geniale Schauspielerin dig (Herbst) und Meisterin der Diktion und der Geste). (Croce 1946: S. 30). 1723 Venedig (Karnevalssaison), Florenz (Sommer), Nea- pel (Herbst) Rezeption

Die Musikwelt des ausgehenden 18. und beginnenden 1724 Mailand (Karnevalssaison), Neapel (Herbst): Eric- 19. Jahrhunderts verklärte Vittoria Tesi als ideale Sänge- lea in “Ericlea”; Leonardo Vinci rin und Schauspielerin. In der historischen Rückschau zu Beginn seiner „Anweisung zum musikalisch-zierlichen 1725 Neapel (Karnevalssaison, Frühjahr und Herbst): Gesange“ erklärt Johann Adam Hiller, „der erste Platz ge- u.a. Marc’Antonio in „Marc’Antonio e Cleopatra“ (Jo- bühret, ohne Zweifel, der Vittoria Tesi Tramontini“ (Hil- hann Adolph Hasse), Andromaca in “Astianatte” (Leonar- ler 1780: S. XXII). Antonio Fedi verewigt sie in einem do Vinci) Stich neben Pistocchi, Bernacchi, Farinelli und Bulgarelli an der Spitze eines von ihm entworfenen Sänger-Olymps 1726 Neapel (Karnevalssaison), Venedig (Frühjahr) (vgl. Bianconi 1990: S. 350). Von ihren Biografen haben nur Dittersdorf und Quantz 1727 Mailand (Karnevalssaison) sie tatsächlich gehört. Charles Burney, Giambattista Man- cini, Ernst Ludwig Gerber oder Friedrich Chrysander 1728 Mailand (Karnevalssaison), Parma (Frühjahr): “Me- übernahmen zu großen Teilen deren Aussagen über die do” (Leonardo Vinci) Sängerin; vor allen Dingen jene von Quantz über die Te- si, die „absonderlich in Mannsrollen“ erfolgreich und 1729 Mailand (Karnevalssaison) „zur Action geboren“ ist (vgl. Quantz 1755: S. 227). 1730 Neapel (Karnevalssaison) Repertoire

Die Angaben sind größtenteils Ademollo entnommen 1731 Bologna (Frühjahr), Mailand (Herbst) und in weiterer Archivarbeit vor allem in Neapel, Vene- dig, Mailand und Bologna zu ergänzen. 1732 Turin (Karnevalssaison), Piacenza, Mailand (Som- mer) 1716 Parma: „La Dafni“. Bologna: „Il sogno avverato“ 1733 Mailand (Karnevalssaison), Bologna (Mai/Juni) 1717 Bologna: „Merope“ (Francesco Gasparini und Giu- seppe Maria Orlandini) 1734 Mailand (Karnevalssaison), Florenz (Sommer)

1718 Venedig: “Amor di Figlia” (Giovanni di Porta) 1735 Mailand (Karnevalssaison), Venedig (Herbst)

1719 Venedig: “Amalasunta” (Fortunato Chelleri) 1736 Venedig (Karnevalssaison), Neapel (Herbst)

1719 Venedig: „Il pentimento generoso“(Andrea Fiori) 1737 Neapel: Achille in “Achille in Sciro” (Domenico Sar- ro), zur Eröffnung des Teatro San Carlo 1719 Dresden: “Giove in Argo” (Antonio Lotti) Matilda in “Teofane” (Antonio Lotti) 1738 Neapel (Karnevalssaison, Herbst)

Von 1721 bis 1747 gibt Ademollo folgende Aufenthalte 1739 Neapel (Karnevalssaison) an, Werke/Partien und Komponisten sind in Archivar- beit noch weiter zu ergänzen: 1741 Reggio (Frühjahr, Eröffnung des Teatro della Citta- della di Reggio Emilia): Berenice in “Vologeso, re de’ par-

– 5 – Tesi, Vittoria ti” (Pietro Pulli) Croce, Benedetto (Hg.). Un prelato e una cantante del se- 1742 Venedig (Karnevalssaison, Herbst) colo decimottavo. Lettere d’ amore. Enea Silvio Piccolo- mini e Vittoria Tesi. Bari: Laterza 1946. 1743 Venedig (Karnevalssaison), Florenz (Herbst) Croll, Gerhard. „Tesi, Vittoria“. In: Grove Music Online. ( 1744 Florenz (Karnevalssaison): Cleofide in “Alessandro http://www.oxfordmusiconline.com/subscriber/artic- nelle Indie”. Venedig (Herbst): Ipermestra in “Ipermes- le/grove/music/27735 - letzter Zugriff 15.12.2010). tra” (Christoph Willibald Gluck) Dittersdorf, Carl Ditters von (Hg.). Karl von Dittersdorfs 1745 Venedig (Karnevalssaison) Lebensbeschreibung. Seinem Sohne in die Feder diktirt. Leipzig: Breitkopf & Härtel, 1801. 1747 Florenz (Karnevalssaison): Achille in “Trionfo della gloria” (=”Achille in Sciro”). Neapel (Herbst): im Novem- Ferand, Ernest T. „Embellished ’Parody Cantatas’ in the ber “Il Sogno d’Olimpia” (Giuseppe di Majo) Early 18th Century“. In: The Musical Quarterly. Vol. 44. Nr. 1, Jan. 1958. S. 40-64. 1748 Wien: Semiramide in “Semiramide riconosciuta” (Christoph Willibald Gluck) Gerber, Ernst Ludwig (Hg.). Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler, welches Nachrichten von dem 1749 Wien: Achille in “Achille in Sciro” (Niccolò Jommel- Leben und Wirken musikalischer Schriftsteller, berühm- li). Didone in “Didone abbandonata” (Niccolò Jommelli) ter Componisten, Sänger, Meister auf Instrumenten, Di- lettanten, Orgel- und Instrumentenmacher enthält. 2 1754 Wien: Lisinga in “Le cinesi” (Christoph Willibald Bde. Leipzig: Breitkopf, 1790 und 1792. Gluck) Hiller, Johann Adam (Hg.). Anweisung zum musikalisch- Quellen zierlichen Gesange. Leipzig: Johann Friedrich Junius, Sekundärliteratur: 1780.

Ademollo, Alessandro. „Le cantanti italiane celebri del se- Korsmeier, Claudia Maria (Hg.). Der Sänger Giovanni Ca- colo decimottavo: Vittoria Tesi“. In: Nuova Antologia. restini (1700-1760) und ‚seine‘ Komponisten. Die Karrie- Vol. XXII. Terza Serie. Fasc. XIV. Jul. 1889. S. 308-327. re eines Kastraten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhun- derts. Eisenach: Wagner, 2000. Bianconi, Lorenzo & Pestelli, Giorgio (Hg.). Geschichte der italienischen Oper. Die Produktion: Struktur und Ar- Mancini, Giambattista (Hg.). Riflessioni pratiche sul can- beitsbereiche. Bd. 4. Laaber: Laaber, 1990. to figurato. Mailand: Galeazzi, 1777.

Burney, Charles (Hg.). The present state of music in Ger- Mancini, Giambattista (Hg.). Practical reflections on the many, the Netherlands and United Provinces. London: figurative art of singing. Übersetzt von Pietro Buzzi. Bos- Becket, 1775. ton: R. G. Badger, 1912.

Burney, Charles (Hg.). Carl Burney's der Musik Doctors Markstrom, Kurt Sven (Hg.). The operas of Leonardo Tagebuch einer Musikalischen Reise. Durch Flandern, Vinci, Napoletano. Hillsdale: Pendragon Press, 2007. die Niederlande und am Rhein bis Wien. Bd. 2. Ham- burg: Bode, 1773. [Nachdruck: Charles Burney. Tage- Metastasio, Pietro. Lettere. In: Tutte le opere di Pietro buch einer musikalischen Reise. Kassel: Bärenreiter Ver- Metastasio. Bruno Brunelli (Hg.). Vol. 3-5 Verona: Mon- lag, 2003]. dadori, 1954.

Chrysander, Friedrich. G. F. Händel. Bd. 1. Leipzig: Breit- Quantz, Johann Joachim. „Herrn Johann Joachim kopf & Härtel, 1858. Quantzens Lebenslauf, von ihm selbst entworfen“. In:

– 6 – Tesi, Vittoria

Historisch-Kritische Beyträge zur Aufnahme der Musik. Friedrich Wilhelm Marpurg (Hg.). Bd. 1. 3. Stück, 1755. S. 197-250.

Richter, Friederika; Lippert, Thomas. Ein Wiener Palais erzählt. Das Rosenkavalierpalais Auersperg. hg. von Hart- lieb-Wallthor, Artur, Wien: Böhlau, 1999.

Forschung

Benedetto Croce und Alessandro Ademollo haben länge- re Texte über Vittoria Tesi vorgelegt.

Forschungsbedarf

Es liegt bis heute keine Monografie über Vittoria Tesi vor; Forschungsbedarf gibt es vor allen Dingen in Bezug auf ihre Position und ihre Vernetzung im italienischen Musikleben der 1720er und 1730er Jahre. Auch die Re- zeption Vittoria Tesis im späten 18. und frühen 19. Jahr- hundert als idealtypischer Sängerin und Darstellerin ist noch nicht ausreichende untersucht, ebenso wenig ihre Einordnung in den sich wandelnden Kontext des Schau- spielverständnisses des 18. Jahrhunderts. Archivrecher- chen in den Opernhäusern Italiens könnten weitere Auf- schlüsse über ihre zahlreichen Engagements geben.

Normdaten

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Autor/innen

Anke Charton

Bearbeitungsstand

Redaktion: Ellen Freyberg Zuerst eingegeben am 17.03.2011 Zuletzt bearbeitet am 17.05.2018

mugi.hfmt-hamburg.de Forschungsprojekt an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg Projektleitung: Prof. Dr. Beatrix Borchard Harvestehuder Weg 12 D – 20148 Hamburg

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