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Amor – Weg zur Tugend oder zur Hölle?

Das ,Secretum‘ von Francesco Petrarca und ,De amore‘ vom Hofkapellan Andreas

Von Fritz Peter Knapp, Heidelberg

I. Amor in Petrarcas ,Secretum‘

Petrarcas ‚Secretum‘ ist von der Forschung seit jeher als epochal im wahrsten Sinne des Wortes eingestuft worden. Dem entspricht die überreiche Zahl der Versuche, die relativ schmale lateinische Schrift des Frühhumanisten zu deu- ten, zu denen die folgende Studie natürlich nur ganz selektiv Stellung nehmen, ja überhaupt nur in einem Punkt in Konkurrenz treten kann und will. Ich beschränke mich, so weit dies bei der engen Verflechtung der aufgegriffenen Themen möglich ist, auf die im „Secretum“ ausgebreitete Liebestheorie, deren Einordnung in die literarhistorische Tradition trotz vieler Ansätze1 noch nicht ausreichend geleistet scheint. Die Liebe hat zusammen mit dem Streben nach literarischem Ruhm eine hervorgehobene Stellung. Sie wird aufgespart für das letzte Buch, nachdem die sieben Kardinalsünden bereits abgehandelt sind. Im ersten Buch2 stellen die beiden Gesprächspartner, Augustinus und Franciscus, in ihrem Dialog gemein- sam fest, daß das Leben des Menschen mit Blick auf den Tod geführt werden muß, differieren aber in der Schlußfolgerung. WährendAugustinus die vollständi- ge Konversion zur Weltverachtung fordert, hat dieselbe Einsicht bei Franciscus nur eine Seelenkrise ausgelöst, aus der er sich nicht befreien kann, was Augus- tinus als bloße Willensschwäche diagnostiziert. Im zweiten Buch inquiriert er dann den noch immer Widerstrebenden über superbia, invidia, avaritia, gula, ira, luxuria und accidia, von denen nur accidia ausführlich abgehandelt, einige Sünden als hier kaum bedeutsam gleich beiseitegeschoben, avaritia und luxuria schließlich sozusagen nur andiskutiert werden. Sie erhalten dann im dritten, bei weitem umfangreichsten Buch eine Ausweitung. Schon II,19 hat der Kirchen-

1 Alle Interpreten des Secretum gehen mehr oder minder intensiv auf diesen Punkt ein. Ausführlich analysiert natürlich Francisco Rico, Vida u obra de Petrarca I. Lectura del Secretum (Padova 1974) in seiner kommentierenden Lektüre auch diesen Teil des Textes,

weist die zahllosen Bezüge zur mittelalterlichen Liebeslyrik nach (bes. S. 262 ff.) und diskutiert sowohl den mittelalterlichen Streit um diese Liebeskonzeption wie ihre Beurtei- lung in der modernen Forschung. 2 Francesco Petrarca, Secretum meum. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit

einem Nachwort von Gerhard Regn / Bernhard Huss (Kempten 2004) (excerpta classica XXI).

119 vater die avaritia als jegliche Gier nach irdischen Gütern (rerum temporalium appetitus) definiert und so darunter auch den – dem Hochmut so eng verschwis- terten – Ehrgeiz subsumiert (II,26). Im Buch III identifiziert der Ankläger dann diesen Ehrgeiz im konkreten Fall als die Gier nach dem Dichterlorbeer. Diese tritt hier Hand in Hand mit der Liebe auf. Augustinus nennt amor et gloria (III,2) zwei adamantine cathene, „diamantene Ketten“ (III,2), welche den Willen fesseln und Franciscus von der Umkehr abhalten, da sie ihm zu schön erscheinen, um für ein Übel gehalten zu werden. Er behauptet, amor schon zuvor erwähnt zu haben (III,5). Doch im zweiten Buch wird das Wort amor gar nicht verwendet, sondern nur luxuria, libido, cupiditas, appetitus carnalis. In Buch II hat Franciscus sofort zugestimmt, daß diese Begierden verdammenswert seien. Er selbst habe sie sich immer wieder vom Leibe gewünscht. Einträchtig gedenken beide Gesprächspartner der edlen Warnung Platons vor der Ablenkung des menschlichen Geistes vom höchsten Ziel durch die Sinneslust (III,40–42), setzen die einzige Hoffnung jedoch in das Gebet, da nur Gott Enthaltsamkeit schenken könne (III,43). Wiederum schließt der Kirchenvater aus dem Mißerfolg des Gebets, Franciscus habe non satis humi- liter, non satis sobrie „nicht demütig genug, nicht maßvoll3 genug“ (III,43) gebetet, weil er sich dabei immer insgeheim einen gewissen Aufschub der Gebetserfüllung erhofft habe. Der Gerügte muß dies nach einigem Widerstre- ben zugeben und weitere innige Gebete versprechen. Dennoch schiebt der Beichtvater nochmals das Argument Platons nach, daß „dem Erkennen der Gottheit nichts so hinderlich ist wie die fleischlichen Begierden und der entflammte Geschlechtstrieb“ (II,45 ab agnitione divinitatis nil magis quam appetitus carnales et inflammatam obstare libidinem). Franciscus nimmt es geradezu begeistert auf, hat er es doch selbst bei ‚seinem‘ Vergil in verhüllter, allegorischer Form in der Beschreibung des Unterganges Trojas gefunden. Solange die Liebesgöttin Venus ihren Sohn Aeneas begleitete, habe dieser die erzürnten Götter nicht gesehen, sondern erst, als sie ihn verlassen hatte.4 Augustinus lobt dieses Verständnis, lehnt aber eine weitere Diskussion des

3 Die grundsätzlich mögliche Übersetzung „maßvoll“, welche Regn / Huss hier wählen, ist etwas mißverständlich, da hier nicht der Gegensatz zu maßlos, sondern zu ausschweifend gemeint ist. 4 Die Begeisterung, mit welcher Franciscus diesen Satz aufgreift, kommt einigen Interpreten verdächtig vor: Ut intelligas me hanc adamasse sententiam, non modo in atriis suis sedentem, sed peregrinis etiam nemoribus avidissime complexus sum, ac locum animo notavi ubi illa oculis meis occurrerat (II, 45). Dazu Karlheinz Stierle, Francesco Petrarca.

Ein Intellektueller im Europa des 14. Jahrhunderts (München / Wien 2003) 404: „[…] so formuliert er dies mit so verfänglichem Feuer, daß hinter der Absage an die geschlechtliche Lust diese selbst schon wieder wie ein verlockendes Trugbild erscheint.“ Hier ist aber m. E. nur das Feuer für die geliebte Aeneis zu spüren, die der Humanist auch sonst „begierig umarmt“. Er hat sich die Stelle sofort im Geist notiert, wo seiner Ansicht nach Vergil die philosophische Erkenntnis im allegorischen Wald versteckt hat.

120 scheinbar erledigten, weil beiderseits akzeptierten Anklagepunkts in diesem Moment ab und kündigt an, man werde später noch zur „zweiten jener fleisch- lichen Begierden“ (II,48) zurückkehren müssen, und zwar deshalb, weil die am Ende besprochenen Gegenstände sich dem Gedächtnis am meisten einprä- gen. Die erste Begierde ist offenkundig die zuvor kurz gestreifte gula, die zweite die eben besprochene. Damit ist die Wiederaufnahme im dritten Buch geschickt präludiert.5 Es muß dieselbe Sünde gemeint sein, wenn der antike Theologe, für den Ange- sprochenen scheinbar unerwartet, amor ins Spiel bringt. Für Augustinus ist das nur ein anderer Name für das, wovon schon die Rede war, so daß er im gespielten Vertrauen auf die schon erfolgte Verurteilung der Verfehlung auch durch den Gesprächspartner gleich die Suggestivfrage anschließen kann: non- ne hanc omnium extremam ducis insaniam? (III,5 „Hältst du sie [die Liebe] etwa nicht für den allerschlimmsten Wahnsinn?“). Franciscus aber unterschei- det plötzlich „je nach der Verschiedenheit des Gegenstandes“ (pro diversitate subiecti) zwei Arten der Liebe: „die häßlichste Leidenschaft“ (teterrimam animi passionem) und „die edelste Regung der Seele“ (nobilissimam [scil. animi] actionem) (III,5). Der Gegenstand der Liebe könne ja entweder ein moralisch wertloses Frauenzimmer oder ein „ein seltenes Beispiel der Tu- gend“ (rarum aliquod specimen virtutis) sein. Franciscus nimmt für sich, in prinzipieller Trennung von amor und luxuria, in Anspruch, „niemals etwas moralisch Verwerfliches und stets nur das Allerschönste geliebt zu haben“ (III,8 nichil umquam turpe, imo vero nichil nisi pulcerrimum amasse). Augustinus läßt diese philosophisch unhaltbare ausschließliche Bestim- mung der moralischen Qualität einer Handlung durch ihr Handlungsobjekt aber nicht gelten: „Natürlich kann man auch schöne Dinge auf verwerfliche Weise lieben“ (Etiam pulcra turpiter amari posse certum est). Franciscus gibt das zwar im Prinzip auch zu, nicht jedoch, turpiter geliebt zu haben. Er begründet sein übersinnliches, himmlisches Streben zuerst wiederum mit der überirdischen Schönheit der Geliebten, muß sich das Argument aber mit der erbarmungslosen Erinnerung an die Sterblichkeit der Geliebten aus der Hand schlagen lassen. Ja, hat er nicht selbst ihren Tod dichterisch angstvoll vorweg- genommen? Zeige sie nicht schon Anzeichen von Alterung aufgrund von Krankheiten und Schwangerschaften?6 So zieht er sich doch lieber darauf

5 So sieht dies auch Francisco Rico, Secretum meum di Francesco Petrarca, in: Letteratura

italiana. Le opere. Volume primo: Dalle Origini al Cinquecento (Mailand o. J. [1992]) 351– 378, hier 366, der auf dieser und der folgenden Seite auch die Amor-Diskussion im ‚Secretum‘ kurz, aber treffend zusammenfaßt.

6 Regn / Huss, Secretum-Edition (wie Anm. 2), S. 451, schreiben dazu: „Daß Laura Kinder geboren haben, also offensichtlich verheiratet gewesen sein soll, schreibt die Konvention der provenzalischen Minnedichtung fort, wonach die im Gedicht besungene Herrin sozial hochstehend, verheiratet und dadurch vom Liebenden getrennt zu sein hatte.“ Um Laura als

121 zurück, daß er „nicht so sehr einen Körper als eine Seele geliebt habe und entzückt war von ihren Sitten, die das Menschliche übersteigen“ (III,13 nec me tam […] corpus amasse quam animam, moribus humana transcedentibus delectatum). Nun aber folgen die Hauptargumente des Dichters. Was er sei, sei er nur durch die Geliebte. Sie habe ihn vor allen Schändlichkeiten durch ihren tadellosen Ruf zurückgehalten und in ihm alle Tugenden gestärkt. Nur ihr habe er zu gefallen gesucht, so stets nach Höherem gestrebt und nur so

Bekanntheit und Ruhm erreicht (III,16 f.). Der Kirchenvater kontert. Was er sei, habe ihm die nature bonitas gegeben, was daraus aber hätte werden können, sei gerade durch die Geliebte, die ihn nur auf sich, die Frau, fixiert habe, vernichtet und damit schließlich die wahre Ordnung der Dinge verkehrt worden: Ab amore celestium elongavit animum et a Creatore ad creaturam desiderium inclinavit (III,20 „Sie hat deinen Geist von der Liebe zu den himmlischen Dingen abgebracht und dein Verlangen vom Schöpfer auf das Geschöpf gelenkt“). Auch habe der Dichter zwar ihre schöne Seele geliebt, aber doch nur, weil sie in einem so schönen Körper wohnt. Nun sieht sich Franciscus gezwungen, offen zu bekennen, er habe in seiner Jugend einmal an der entscheidenden Weggabelung gestanden, sei dort aber nicht auf den rechten Weg zum Himmel, sondern auf den linken Weg zur Hölle eingebogen. Just zur selben Zeit sei er aber erstmals vor der stupenden Schönheit jener Frau staunend erstarrt. Sie habe ihn aber doch nicht vom falschen Weg abzubringen vermocht, obwohl sie sich seinem damaligen eroti- schen Werben – das er nun doch zugeben muß – sittsam entzog und schließlich ganz mit ihm brach, als er nicht aufgab (III,22–26). Die Abweisung aber war von Anfang an Anlaß für des Dichters unendliche Qualen und Tränen, Lebens- haß und Todessehnsucht, Schlaflosigkeit und Auszehrung. Alle seine Seelen- zustände waren von der An- oder Abwesenheit sowie der Stimmung der Geliebten abhängig. Er habe sich sogar ein Bild von ihr malen lassen, um sie stets um sich zu haben – als Anlaß zur Trauer. Als Gipfel des Wahnsinns brandmarkt Augustinus jedoch die Idolatrie, die Franciscus schließlich sogar dem Namen der Geliebten entgegenbrachte, so daß er keine Mühen scheute, den gleichklingenden Dichterlorbeer (laurea poetica III,32) zu erlangen. Kein Wunder also, daß eine solche Liebe „eine Gottes- und zugleich Selbstverges- senheit bedingt“ (III,34 Dei suique pariter oblivionem parit). Schon

reinen Mythos zu retten, wird hier ein ganz einseitiges Bild der Trobadorlyrik gezeichnet. Es dominiert höchstens in den Vidas und Razos. In den lyrischen Texten selbst bleibt die soziale Stellung der Dame meist unausgesprochen. Von Schwangerschaften ist überhaupt nie die Rede. Rico (Anm. 1) 278 Anm. 104, weist dagegen mit Recht auf den biblischen

Topos vom Elend des Weibes hin (Gn 3,16), der eine reiche Exegese erfuhr, z. B. bei Ambrosius und Innozenz III.

122 habe erkannt, daß „von allen seelischen Leidenschaften tatsächlich keine heftiger ist als die Liebe“ (III,29 omnibus ex animi passionibus profecto nulla est amore vehementior, vgl. Tusculanae disputationes IV,35,75). Jetzt erklärt sich Franciscus für besiegt (III,35 Victus sum, fateor) und fragt beklommen, ob er nun verzweifeln müsse. Darauf reicht ihm mit seinem Einverständnis Augustinus die üblichen remedia amoris, wie sie die Antike schon angeboten hatte, Überdruß, Scham, Ortsveränderung, Meidung alles dessen, was an die Geliebte erinnert, Ablenkung, neue Aufgaben, Erkenntnis des Menschenseins im allgemeinen und des eigenen Alterns im besonderen. Doch all das reicht nur aus, das Eingeständnis zu entlocken: Pudet, piget et penitet, sed ultra non valeo (III,66 „Ich schäme mich, ich ärgere mich und ich bereue es, aber mehr kann ich nicht“). Wirkt schon dies ein bißchen billig, so verwundert es noch mehr, daß der Kirchenvater nun gar in eine Art Frauenschelte ausbricht, obschon er doch zuvor nichts gegen die Behauptung des Dichters eingewendet hatte, die Ge- liebte sei immer tugendhaft und aus eben diesem Grunde unnahbar gewesen.

Denke darüber nach, wie jene Frau dir an Geist, Körper und Vermögen geschadet hat. Denke darüber nach, wie viele Dinge du ohne irgendeinen Nutzen um ihretwegen erduldet hast. Denke darüber nach, wie oft du getäuscht, wie oft du verachtet, wie oft du übergangen wurdest. Denke darüber nach, wie viele Schmei- chelworte du in den Wind gesagt hast, wie viele Klagen, wie viele Tränen. Denke nach über ihre bei all dem oft hochmütige und undankbare Art – und war sie einmal freundlich, wie kurz das war, flüchtiger als ein Sommerlüftchen. Denke aber nach, wie sehr du ihren Ruhm gemehrt hast und wie sehr sie dein Leben geschmälert hat, wie eifrig besorgt du um ihren Namen warst und wie gleichgültig sie immer gegen deinen Zustand war. Denke darüber nach, wie sehr sie dich von der Liebe zu Gott abgebracht hat und in welch großes Unglück du dadurch gestürzt bist […].7

Zuletzt versucht Augustinus, den Dichter bei seinem künstlerischen Ehrgeiz zu packen und die Liebe, weil sie die Zeit zur Vollendung begonnener Werke raubt (III,70), geradezu als Beeinträchtigung der Kunst erscheinen zu lassen. Doch dies steht in klarem Widerspruch zu dem nunmehr folgenden ausführli- chen Tadel der unendlichen Mühen, welche der Schriftsteller überhaupt auf

7 III,69 cogita quantum illa tibi nocuerit animo, corpori, fortune; cogita quam multa propter illam nulla utilitate perpessus es. Cogita quotiens elusus, quotiens contemptus, quotiens neglectus sis; cogita quot blanditias in ventum effuderis, quot lamenta, quot lacrimas; cogita illius inter hec altum sepe ingratumque supercilium, et siquid humanius, quam id breve auraque estiva mobilius. Cogita quantum tu fame illius addideris, quantum vite tue illa subtraxerit, quantum ve tu de illius nomine sollicitus, quantum illa de statu tuo semper negligens fuerit. Cogita quantum per illam ab amore Dei elongatus in quantas miserias corruisti […].

123 seine irdischen Werke, insbesondere sein Geschichtswerk und sein Epos, verwendet, statt sich allein in Tugend auf den baldigen Tod vorzubereiten, um so die ewige Seligkeit zu erwerben. Franciscus muß zugeben, wieviel ihm gloria und immortalitas nominis bedeuten, obwohl er weiß, wie kurz und nichtig sie im Vergleich zur Ewigkeit sind. Diese Einsicht bleibt jedoch für den Augenblick ohne jede praktische Konsequenz, während sich Franciscus, wie er sagt, von allen übrigen erwähnten Leiden zumindest einigermaßen erleichtert fühlt (III,71). So wie er in seiner Jugend die Bekämpfung seines sinnlichen Begehrens immer wieder aufgeschoben hat, weil er es noch nicht zu zügeln vermochte, so erklärt er jetzt, die tödliche Gefährlichkeit seines Tuns klar vor Augen: Sed desiderium frenare non valeo (III,104 „Aber ich kann mein Verlangen nicht zügeln“). Noch sieht er sich unbändig getrieben, literarisch tätig zu sein. Umso eifriger nimmt er jetzt seine Arbeiten wieder auf, um angeblich nach ihrer Erledigung endlich nur noch den Pfad des Heils einzuschlagen, im Vertrauen auf Gott, daß er ihm noch Zeit und Ruhe dafür gönnen möge. Die meisten Interpreten sehen in dieser Verweigerung augenblicklicher Umkehr und in der unmittelbaren Rückkehr zur schriftstellerischen Arbeit ein Signum radikaler Modernität. „Die Willensschwäche ist nicht Selbstverlust, sie ist Bekenntnis zum eigenen Selbst und seiner Bestimmung. Der um das eine kreisenden religiösen Existenz steht die ästhetische Existenz unter Bedin- gung der Vielheit entgegen“, schreibt etwa Stierle und sieht darin das Ergebnis der „Bewußtseinsarbeit des hellsten Geistes, den die früheuropäische Neuzeit hervorgebracht hat.“8 Gleichfalls eindeutig der neuzeitlichen Renaissance schlägt Joachim Küpper die Schrift zu, wenngleich unter anderen Vorzeichen: „Dieser Dichter ist essentiell rinascimental und in gewisser Weise auch mo- dern, gerade weil er fundamental christlich denkt.“ Ist er doch für Küpper geradezu ein „Kronzeuge“ für die These Hans Blumenbergs, „daß die Moder- ne sich nicht konstituiert in einem kontinuierlichen Prozeß der Säkularisie- rung, sondern in Konsequenz eines theologischen Absolutismus, der die Auto- nomie des Mundanen nicht nur ermöglicht, sondern sie nachgerade erzwingt.“9 Alle Interpreten treffen ihre Entscheidung im vollen Bewußtsein des Verwirr- spiels, welches Petrarca mit den Aussageperspektiven treibt. Schon die reale Abfassungszeit des Textes (vermutlich zwischen 1347 und 1353) entspricht nicht der im Text selbst prätendierten Datierung des Gesprächs auf 1342/43. Und ‚Augustinus‘ spricht nicht einfach das aus, was aus seinen überlieferten Schriften Petrarca (und uns) bekannt ist. ‚Franciscus‘ ist nicht mit dem Verfas-

8 Stierle (Anm. 4) 422 f. 9 Joachim Küpper, Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance (Überlegungen zum Secretum), in: Joachim Küpper, Das Schweigen

der Veritas und die Worte des Dichters (Berlin / New York 2002) 1–53, hier 2.

124 ser identisch, ist bestenfalls ein Teil desselben, nicht anders als ‚Augustinus‘ auch. Petrarca behält den Dialog mit sich selbst im Proömium ausdrücklich sich selbst vor, will ihn vor der „Gesellschaft der Menschen“ (conventus hominum) als ein persönliches „Geheimnis“ verbergen, stilisiert ihn aber in gleicher brillianter humanistisch-rhetorischer, unzählige Lesefrüchte zitieren- der Manier wie seine anderen lateinischen Werke, so daß vielfach Zweifel an der Ehrlichkeit der behaupteten Privatheit geäußert wurden. Tatsächlich wuß- ten ein paar Freunde um den Text. Ob sie ihn tatsächlich im Wortlaut ganz oder teilweise gekannt haben, ist aber unklar.10 Jedenfalls kam der Text erst durch eine posthume Abschrift von Petrarcas (inzwischen verlorenem) Originalma- nuskript an die Öffentlichkeit. Dieser sollte also schwerlich eine Komödie vorgespielt werden. So tut man auch kaum gut daran, den Grad der Selbststili- sierung zu hoch zu veranschlagen. Insbesondere: Kann der Autor die Spiegel- fechterei mit sich selbst so weit getrieben haben, daß er die für ihn so unendlich beglückende und zerstörerische Liebe zu seiner Laura hier so selbstquälerisch analysiert, wenn es diese eine Minnedame in Wirklichkeit (unter welchem realen Namen auch immer) gar nicht gegeben haben sollte, wie viele Forscher meinen?11 Warum sollte er die enge Verflechtung von Laura auf der einen Seite, der Seite Amors, und laurea (poetica) auf der anderen Seite, der Seite des Ruhms, emphatisch bekennen, wenn die beiden ohnehin de facto identisch wären? Sei dem, wie ihm wolle – die Diskussionen um amor und um gloria haben ein unterschiedliches Ende. Bei amor erklärt Franciscus sich für be- siegt, bei gloria sucht er weiter Ausflüchte. Stellvertretend für die dominante

Forschungsmeinung kann man Regn / Huss zitieren, wenn sie meinen: „Der Dialog zwischen Franciscus und ‚Augustinus‘ endet offen“ (S. 508). Das stimmt zweifellos angesichts der angekündigten praktischen ethischen Konse- quenzen. Anderseits gilt auch generell: „Franciscus erkennt die theoretische Stichhaltigkeit der Argumente seines Gegenübers ja ausdrücklich an“ (S. 516). Richtig ist daher: „Nicht die Figur der Negation gibt dem ,Secretum‘ seine Struktur, sondern die des Aufschubs“ (S. 535). Besser nicht von „Unsagbar- keit“ der Wahrheit (S. 512) sollte man also hier reden, sondern von der Unmöglichkeit ihrer Umsetzung in die ethische Praxis. Und selbst diese Verweigerung trifft nur auf den schriftstellerischen Ehrgeiz Petrarcas zu, nicht

10 Rico (Anm 1) 33 nennt Boccaccio, und Brabato da Sulmona. Die beiden letzten bitten in ihren Briefen 1354 bzw. 1361 darum, ein Exemplar des Dialogs zu Gesicht zu bekommen. Boccaccio vermerkt im ‚Notamentum‘ und in seiner Petrarca-Biographie die Verfasserschaft des Werkes und in der Biographie zugleich den an Cicero geschulten rhetorischen Glanz des Dialogs. Das könnte, muß aber nicht auf persönliche Kenntnis weisen. 11 Besonders starke Zweifel an der realen Existenz Lauras äußert zuletzt Stierle (Anm. 4)

506 ff., 657 ff. und passim. Dort Verweis auf weitere Vertreter dieser Ansicht.

125 auf seine Liebe – jedenfalls soweit wir seinem Schuldgeständnis im ,Secre- tum‘ III,35 trauen können. In die ‚Remedia utriusque fortunae‘ (entstanden spätestens seit 1354, erstmals veröffentlicht 1366) wollte Petrarca jedenfalls dann die Trennung von amor und luxuria nicht mehr übernehmen.12 Nun hat dieser Traktat auch Dialogform, so daß die objektive Gültigkeit der Worte der Ratio, welche hier im wesentlichen der Instanz Augustins im ,Secretum‘ entspricht, wiederum in Frage steht. Sie erklärt, nicht das sichtbare Irdische, sondern das unsichtbare Ewige sei begehrenswert, die irdische Liebe (amor) keine wahre Liebe, son- dern in Wahrheit nur bloße sexuelle Lust (libido). Dennoch errichten die Liebenden ihr Altäre, vergöttlichen sie. Diese irdische Liebe sogar zu besin- gen sei eine selbst bei den Gebildetsten verbreitete wundersame Unvernunft der Liebenden. Unter den Griechen seien sogar Stoiker und Platon dem Irrtum der irdischen Liebe verfallen – eine Kritik, die so im ,Secretum‘ nicht er- scheint. Eine besonders wichtige Quelle sind aber hier wie dort

Tusculanae disputationes, denen z. B. die Heilmittel gegen die Liebe (teilweise) entnommen werden. So wie hier ein Zweifel bleibt, ob für Petrarca dies der Weisheit letzter Schluß gewesen sei, so im ,Secretum‘ angesichts der Absage an die Laura- Liebe. Immerhin setzt ja der Dichter seine Arbeit am ‚Canzoniere‘ bis in sein Todesjahr 1374 fort, und nur die letzten sechs Gedichte darin vollziehen wirklich eine Hinwendung zu Gott und Maria. Zwar steht schon fast der ganze zweite Teil des ‚Canzoniere‘ im Zeichen der angeblich 1348 der Pest zum Opfer gefallenen Geliebten. Doch der Beteuerung des Dichters im ‚Brief an die Nachwelt‘ (‚Epistola Posteritati‘), die Liebesflamme sei durch diesen Tod erloschen,13 steht nicht nur die im 270. Gedicht des ‚Canzoniere‘ direkt entgegen: la soave fiamma / ch’anchora, lasso, m’infiamma / esso spenta (V. 17–19). Der nunmehr ständig zelebrierte Schmerz kann vorerst kaum weniger als Hindernis auf dem Weg zu Gott gelten als die vorhergehende Liebe. Wie fiktiv das alles sein mag, so sehr straft es doch die Absage an diese so inspirierende, weil so wahnsinnige Liebe im ,Secretum‘ Lügen. Ist sie so einfach zu besiegen?

12 Zum folgenden vgl. Fritz Peter Knapp, Die älteste deutsche Übersetzung von Petrarcas De remediis utriusque fortunae im Kontext der Tiroler Literatur zu Anfang des 15. Jahr- hunderts, in: Francesco Petrarca in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik, hg. v. Achim Aurnhammer (Tübingen 2006) 25–37. Meine dortigen Angaben zum Secretum muß ich leider in ein paar Punkten korrigieren.

13 Vgl. Francesco Petrarca, Prose, hg. v. Guido Martellotti u. a. (Milano / Napoli 1955) 4.

126 II. Amor beim Hofkapellan Andreas

In vier Handschriften des 15. Jahrhunderts ist zusammen mit Werken Petrar- cas, zweimal mit der ‚Griseldis‘, einmal mit den ‚Remedia utriusque fortunae‘ und einmal auch mit dem ,Secretum‘, das ebenso berühmte wie rätselhafte große Buch ‚Von der Liebe‘ (,De amore‘) überliefert,14 welches der Hofkapel- lan Andreas im nördlichen Frankreich wohl am Ende des 12. Jahrhunderts, also etwa 150 Jahre vor dem ,Secretum‘ geschaffen hat. Wenn Petrarca es gekannt hat, wofür wir keinen sicheren Anhaltspunkt haben, so hat er es seiner unklassischen Sprache und scholastischen Argumentationsweise wegen sicher abgelehnt. Aber für sein Thema hätte er darin eine Menge finden können. Die Meinungen der Forschung gehen bei der Deutung dieses Buches vielleicht noch mehr auseinander als beim ,Secretum‘. Den Grund kann die Gegenüberstellung zweier Textzitate schlagartig deutlich machen. Da lesen wir zum Beispiel:

Keiner […] könnte Gott durch irgendwelche gute Taten gefallen, solange er Liebesdiensten nachgehen will. Gott haßt nämlich […] diejenigen, welche er außerhalb der ehelichen Handlungen den Werken der Venus ergeben […] sieht. […] Oh wie erbärmlich und wahnsinnig und schlimmer als ein Tier einzuschätzen ist derjenige, welcher für das momentane Entzücken des Fleisches die ewigen Freuden aufgibt und sich darum müht, sich den Flammen der ewigen Hölle zu überantworten!15

Dem steht andernorts folgende Aussage gegenüber:

Die Wirkung der Liebe ist diese, daß der wahrhafte Liebhaber durch keine Habsucht verdorben werden kann. […] Sie kann auch die von Geburt her Niedrigsten durch den Tugendadel reich machen. Sie pflegt auch die Stolzen mit Demut zu beglücken. Der Verliebte pflegt allen mit Anstand viele Dienste zu erweisen. Oh, welch wunderbare Sache ist die Liebe, die den Menschen mit so

14 Vgl. Alfred Karnein, De Amore in volkssprachlicher Literatur (Heidelberg 1985) (Germa- nisch-romanische Monatsschrift Beiheft 4) 276. 15 Andreas aulae regiae capellanus, De amore libri tres. Text nach der Ausgabe von E. Trojel. Übersetzt und mit Anmerkungen und einem Nachwort versehen von Fritz Peter Knapp,

Berlin / New York 2006, III,3–5: Nullus enim posset per aliqua benefacta Deo placere, quousque voluerit amoris inservire ministeriis. Odit namque Deus […], quos extra nuptia- les actus agnoscit Veneris operibus obligari vel quocunque voluptatis genere detineri. […] O miser et insanus ille ac plus quam bestia reputandus, qui pro momentanea carnis delectatione gaudia derelinquit aeterna et perpetuae gehennae flammis se mancipare laborat! – Die folgenden von mir zum Text angestellten Überlegungen stammen weitestge- hend und oft wörtlich aus dem Nachwort zu dieser Ausgabe. Dort findet sich aus die ausführliche Auseinandersetzung mit der Forschung, die hier meist nur summarisch ge- nannt wird.

127 vielen Vorzügen glänzen läßt und jeden beliebigen lehrt, so viele gute Sitten im Überfluß zu haben! […] Die Liebe schmückt den Mann gleichsam mit der Tugend der Keuschheit, weil er, der vom Strahl der Liebe der einen erleuchtet ist, kaum an die Umarmung einer anderen noch so Schönen denken könnte.16

Kaum glaublich, daß beide zitierten Ansichten aus ein und demselben Werk stammen. Doch scheint dessen drittes Buch geradezu darauf angelegt, die beiden vorangehenden zu widerlegen. Nach dem antiken Vorbild von ‚Ars amatoria‘ aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert handelt auch das erste Buch von ,De amore‘ von der Gewinnung, das zweite von der Erhaltung der Liebe. Das dritte entspricht Ovids Buch von den ‚Heilmitteln gegen die Liebe‘. In der Füllung des Rahmens ist das antike Vorbild allerdings nur noch selten spürbar. Das erste Kapitel definiert die Frauenliebe scholastisch und schildert die Ängste und Nöte vor und nach Erreichen des Zieles. Das zweite Kapitel beschreibt die Liebe als das höchste irdische Gut für den Liebenden, der dafür auf alles andere zu verzichten bereit ist. Kap. III bringt die antike Etymologie des Wortes amor. Wird hier und zuvor das Zwanghafte und auch Sexuelle dieser Liebe nicht verschwiegen, so kehrt das vierte Kapitel die veredelnde Seite hervor. Ich habe eben daraus zitiert. Leider mißt jedoch, heißt es weiter, die Liebe mit ungleichen Gewichten, d. h. Gegenliebe ist alles andere als die Regel. Kap. V benennt die natürlichen Voraussetzungen der Liebesfähigkeit, Kap. VI die Wege des Liebeserwerbs: schönes Äußeres, Redegewandtheit, Reichtum, weibliche Nachgiebigkeit und inneren sittlichen Wert: morum probitas. Nur diesen Weg kann Andreas aber wirklich billigen. Acht Dialoge bilden den weiteren, überwiegenden Teil desselben, sechs- ten, bei weitem längsten Kapitels aller drei Bücher. Jeweils werben darin Männer um die Liebe der weiblichen Gesprächspartnerin, die einem gleichen, niedrigeren oder höheren Stande angehört. Die vorher als Mittel der Liebesge- winnung genannte Redekunst kommt hier zu vollem Einsatz, verhilft jedoch nie zum vollen Erfolg. Auf jedes noch so gefinkelte Argument folgt ein Gegenargument, wobei sich die Gesprächspartner meist als rhetorisch-dialek- tisch ebenbürtig erweisen – ein für jene Zeit erstaunliches Zugeständnis an das weibliche Geschlecht! Die besprochenen Themen sind überaus vielfältig, Liebe und Tugend, Liebe und Geld, Ehe, Eifersucht, Lüge, Verführung, Un- treue usw. Etwa in der Mitte des ersten Buches verkündet Amor zwölf Liebes- vorschriften, die teilweise am Ende des Zweiten Buches wiederkehren.

16 Ebenda, I,iv,1–2: Effectus autem amoris hic est, quia verus amator nulla posset avaritia offuscari […], infimos natu etiam morum novit nobilitate ditare, superbos quoque solet humilitate beare, obsequia cunctis amorosus multa consvevit decenter parare. O, quam mira res est amor, qui tantis facit hominem fulgere virtutibus tantisque docet quemlibet bonis moribus abundare! […] amor reddit hominem castitatis quasi virtute decoratum, quia vix posset de alterius etiam formosae cogitare amplexu, qui unius radio fulget amoris.

128 Das zweite Buch fragt zuerst in Ovids Manier nach den Kriterien, mit deren Hilfe sich Bewahrung, Steigerung, Abnahme, Ende und Gegenseitigkeit der Liebe feststellen lassen. Kap. VII bringt 21 Liebesurteile, gefällt von den Damenkonsortien der französischen Liebeshöfe unter Vorsitz der Gräfin der Champagne und anderer Fürstinnen, also ausschließlich vom weiblichen Ge- schlecht. Sie behandeln erotische Streitfälle, die vielfach in volkssprachigen Liedern, Streitgedichten, Romanen und Novellen wiederkehren, aber auch etliche Parallelen im gelehrten Eherecht haben. Kap. VIII erzählt schließlich die Geschichte von einem bretonischen Ritter, der einen Schönheitspreis erringt und 31 Liebesregeln, eine Art Codex iuris amatorii, vom Hof des Königs Artus zurückbringt. Während die Bücher I und II mit der Säkularisierung des christlichen Liebesbegriffs spielen, wendet umgekehrt und völlig unerwartet das dritte Buch die ovidischen ‚Heilmittel gegen die Liebe‘ ins Geistliche. Als Heilmit- tel gegen die Anfechtungen der Welt empfiehlt es die Erkenntnis der Vergäng- lichkeit und Verfänglichkeit alles Irdischen, der weiblichen Schönheit, alles Sinnlichen und Geschlechtlichen. 16 Argumente werden gegen die Liebe vorgebracht. Als qualitativ gewichtigstes erscheint die angebliche Unfähigkeit aller Frauen zur wahren Liebe. Hier öffnet sich das reiche Repertoire des klassisch-antiken, biblischen und klerikalen frauenfeindlichen Schrifttums, um die Frau als Ausgeburt aller Laster zu brandmarken. Mit einer letzten Warnung vor dem tödlichen Übel der Liebe und dem Aufruf zur Vorbereitung auf die himmlische Hochzeit schließt das dritte Buch, aus dessen Anfang das oben gegebene erste Zitat stammt. Im Gegensatz zu Petrarca ist hier der Wille zur imitatio auctorum anti- quorum recht gering, in der Form der Abstand zu den leichtfüßigen, plaudern- den Versen des antiken Liebesdichters sogar enorm. Andreas schreibt eine mittellateinische Prosa im schwerfälligen, überladenen Kanzleistil, und er zielt nicht auf witzig-laszive Unterhaltung, sondern auf eine Art Enzyklopä- die der irdisch-geschlechtlichen Liebe und spricht dabei abwechselnd oder manchmal sogar zugleich als Physiologe, Pathologe, Psychologe, Soziologe, Dialektiker, Philosoph, Jurist oder Moraltheologe, bisweilen in eigener Per- son, meist aber durch den Mund eines vorgeschobenen Dialogpartners, der jeweils einen Parteistandpunkt vertritt. Hierin liegt eine weitere, wenn auch bloß partielle Gemeinsamkeit mit dem ,Secretum‘. Die erste und entscheidende inhaltliche Anregung für das Werk ging gewiß von der Liebeslehre Ovids und seiner mittelalterlichen Nachahmer, darunter der sogenannten Vagantenpoeten, aus. Aber obwohl diese ihren klerikalen Stand mit Andreas teilten, sieht dieser in den ersten beiden Büchern ‚Von der Liebe‘ die Frauen und die Liebe zu ihnen in wesentlichen Punkten anders. Bei jenen dominiert die männliche Perspektive völlig. Das Frauenbild ist nicht von Hochachtung, schon gar nicht von Anbetung geprägt. Der ver-

129 liebte Kleriker näherte sich den Frauen ja doch stets in Mißachtung eines Verbots, daher häufig mit schlechtem Gewissen und dem Vorsatz, sich möglichst bald wieder dieser Versuchung zu entziehen. Schnelle Befriedigung der Sin- nenlust, nicht dauernde Bindung mußte daher sein Ziel sein. Schon Ovid war von der grundsätzlichen Lüsternheit und bloß scheinbaren Schamhaftigkeit der Frau überzeugt gewesen, der daher sanfte Gewalt willkommen sein mußte. Obschon auch bei Andreas manches von dieser Auffassung da und dort hervorlugt, hat schon unser zweites Zitat aus ,De amore‘ gezeigt, daß die Liebesauffassung im ersten und zweiten Βuch von ganz anderer Art ist. Sie zeigt so große Ähnlichkeiten mit der Lyrik der südfranzösisch-okzitanischen Trobadors, daß man in ,De amore‘ – in einseitiger Übersteigerung – sogar so etwas wie eine Kodifizierung der höfischen Liebe, des amour courtois, hat sehen wollen. Schon der bedingungslose, keineswegs bloß gespielte Gehorsam gegenüber der Dame, der der lateinischen Liebeslyrik fremd ist, bildet einen der wichtigsten ethischen Grundpfeiler der Trobadorliebe. Die ausschließliche Bindung an eine einzige Geliebte ist ein weiterer Kernpunkt der Minneideolo- gie der okzitanischen (dann auch der französischen, italienischen und deut- schen) Dichtung, die sie ebensosehr von der Realität wie von der lateinischen Dichtung trennt. Schließlich genießt der innere Wert, der Tugendadel, bei Andreas dieselbe höchste Wertschätzung wie bei den Trobadors. Und dieser Tugendadel kann hier wie dort gar nicht ohne die hohe Minne existieren. Was Andreas über die Entstehung der Liebe und ihre natürlichen Voraus- setzungen sagt, erweitert jedoch die Anregungen aus der Liebesdichtung noch beträchtlich durch wissenschaftliche und pseudowissenschaftliche Erkennt- nisse seiner Zeit, die er auch noch eigenständig ergänzt. So bestimmt er die Liebe, amor, zu Anfang psychologisch-philosophisch als „ein im Inneren geborenes Erleiden (passio), welches aus dem Anblick und der unmäßigen gedanklichen Beschäftigung mit der Wohlgestalt des anderen Geschlechts hervorgeht“ (I,i,1 Amor est passio quaedam innata procedens ex visione et immoderata cogitatione formae alterius sexus), also, wie er präzisierend hinzusetzt, „aus keiner Handlung“ (I,i,8 ex nulla oritur actione). Wie Don Monson nachgewiesen hat,17 faßt Andreas die Liebe somit nicht, wie fast die gesamte Forschung gemeint hat, als Krankheit auf, sondern als passives Erleiden (passio) im Gegensatz zum aktiven Handeln (actio) im Sinne der kategorialen Unterscheidung des Aristoteles. Hier scheint Andreas ganz origi- nell zu sein. Daß die Liebenden dann auch an ihrer Liebe leiden, ist erst die Folge der erwachten Leidenschaft. Ist schon hier der Einfluß des Aristoteles zu spüren, so auch in der psychophysiologischen Ansicht, daß optische Reize geistige Aufmerksamkeit und diese wieder körperliche Erregung auslösen, die

17 Don A. Monson, Andreas Capellanus’s Scholastic Definition of Love, in: Viator 25 (1994) 187–214.

130 nun tatsächlich Formen einer Krankheit, Schlaf- und Appetitlosigkeit usw., annehmen können. Dabei mischen sich auf merkwürdige, mitunter unlogische Weise physio- logisch-naturrechtliche mit ethisch-präskriptiven Argumenten. Für uns von besonderem Interesse ist der Ausschluß des Erotomanen, des Don Juan, vom Hof der Liebe: „Allzu hohes Übermaß an Fleischeslust verhindert die Liebe“ (I,v,7 Nimia voluptatis abundantia impedit amorem). Diesen idealistischen Zug teilt Andreas vollinhaltlich mit der Liebeslyrik der südfranzösischen Trobadors, der nordfranzösischen Trouvères und der italienischen Stilnovis- ten. Die pure Fleischeslust gilt ihnen allen als etwas Tierisches, das mit der von ihnen propagierten Liebe, der Liebe zu einer einzigen, ebenfalls ideali- sierten Geliebten, nichts zu tun hat. Nichts mit dieser Liebe zu tun haben soll aber überraschenderweise auch die eheliche Liebe. Wenn es nach Andreas geht, bedeutet das Wort amor, Liebe, in beiden Fällen etwas ganz Verschiedenes, wird hier also, wie er es selbst linguistisch ausdrückt, bloß homonym gebraucht. Der Gräfin der Cham- pagne als Liebesrichterin legt der Autor folgenden Entscheid in den Mund:

Wir sagen nämlich und bekräftigen eindeutig, daß die Liebe ihre Kräfte nicht zwischen zwei Ehegatten entfalten kann. Denn Liebende schenken einander wechselseitig alles umsonst ohne Zwang durch eine begründete Notwendigkeit. Eheleute aber sind schuldig und verpflichtet, den gegenseitigen Wünschen zu gehorchen und sich in nichts gegenseitig zu verweigern.18

Aber der Streit um solche Fragen wäre natürlich nicht im geringsten ernst zu nehmen, wenn bei Andreas alles ohnehin nur auf den Beweis hinauslaufen sollte, daß die Frauenliebe für Leib und Seele verderblich, im schlimmsten Falle tödlich ist, wie es Buch III des Traktats sagt. Daß diese Schlußfolgerung das erste und letzte Ziel des gesamten Traktats gewesen sei, scheint sich in der neueren Forschung als dominante Ansicht herauszustellen. Doch Beweise dafür sind aus dem Text nicht wirklich zu erbringen, wie ich meine. Weder ist der Text, wie etliche annehmen, nachweisbar für ein klerikal- gelehrtes Publikum in der königlichen Kanzlei von Frankreich noch insgesamt als Warnung vor der Krankheit der Liebe verfaßt worden. Daß der passive Affekt der Liebe schweren Leidensdruck zur Folge hat, sagt Andreas deutlich. Doch folgt dies nicht notwendig aus dem Erleiden. Wieweit man den unfrei- willig empfangenen Affekt in die Bahnen der vernünftigen Liebe lenken kann, darauf kommt es an. Andreas hält es also nicht, wie einige Interpreten behaup-

18 Andreas, De amore I,vi,397 Dicimus enim et stabilito tenore firmamus, amorem non posse suas inter duos iugales extendere vires. Nam amantes sibi invicem gratis omnia largiuntur nullius necessitatis ratione cogente. Iugales vero mutuis tenentur ex debito voluntatibus obedire et in nullo se ipsos sibi invicem denegare.

131 ten, für unmöglich, daß eine irrationale, willens-unabhängige Kraft zugleich Ausgangs- und Zielpunkt inneren moralischen Wertes sein könne, obwohl dieser natürlich der rationalen Lenkung bedarf. Es ist daher auch kein bewuß- ter Zirkelschluß, den der Leser durchschauen sollte, wenn die Liebe einerseits Bedingung, andererseits zugleich Ziel allen guten Handelns ist. Wie dies funktionieren kann, zeigt der dreizehnte Liebeskasus. Hier wird demonstriert, wie der Schlechte durch Liebe gut werden und dadurch wiederum die Liebe einer anderen Dame gewinnen kann. Die Herausstellung der bessernden Kraft der Liebe ist auch sonst durchaus nicht nur ein rhetorischer Trick der werben- den Männer. Der Verfasser selbst ergreift schon im 4. Kap. des ersten Buchs in diesem Sinne das Wort und preist die Liebe als „wunderbare Sache…, die den

Menschen mit so vielen Vorzügen glänzen läßt“ (s. o.). Das muß notgedrungen von den Vertretern der herrschenden neueren Forschungsmeinung zur Ironie erklärt werden. Doch eine solche Annahme ist eine ebenso wohlfeile wie unbeweisbare Lösung des Problems, wenn es an direkten Ironie-Signalen im Text fehlt. Wirklich wenig Glauben verdient der Autor dagegen, wenn er behauptet, er habe mit der Abfassung dieses Buches nur dem Drängen seines Freundes, des Adressaten, eines gewissen Walther, nachgegeben. Denn hier haben wir einen der seit der Antike beliebtesten Gemeinplätze zur Verbrämung eigenen schriftstellerischen Ehrgeizes vor uns. Der weitere Text des Traktats zeigt denn auch durchaus sowohl den Wunsch des Verfassers, nicht nur den einen Adressaten, sondern ein größeres Publikum anzusprechen, als auch, sich selbst als Betroffenen, als Liebenden, zu erkennen zu geben. Vor allem das an einer Stelle (II,vi,22) abgegebene Bekenntnis des Autors zu seiner eigenen, unzerstörbaren, aber unerhörbaren und daher lebensbedrohenden Liebe sollte endlich in der Forschung die Aufmerksamkeit finden, die sie verdient. Natür- lich gehört auch diese Aussage zu dem literarischen Spiel, das Andreas mit seiner Leserschaft treibt. Innerhalb dieses Spiels ist sie aber mindestens so ‚ernst‘ zu nehmen wie die Verurteilung der Liebe in Buch III. Gewiß nicht ernst nehmen sollte dagegen der Leser die Behauptung in Buch III, die ersten beiden Bücher seien nur dazu bestimmt, zur Sünde zu reizen, damit deren Vermeidung vor Gott desto verdienstvoller sei. Eine solche Absicht wird nicht nur schon durch die Vaterunserbitte „Führe uns nicht in Versuchung!“ für jeden Christen höchst bedenklich, sondern auch kurz darauf im selben Buch entlarvt, wenn der Leser seriös ermahnt wird, unter allen Umständen „Ort, Zeit und Personen, die eine Ursache für Wollust herbeiführen […] könnten, immer gänzlich zu meiden“ (III,49 loca etiam, tempora et personas, quae causam valeant inducere voluptatis […] semper penitus evitare memento). Die Versuche, die innere Widersprüchlichkeit des Textes wegzudiskutie- ren, sind inzwischen Legion. Es ist in der Forschung auch durchaus, wenngleich

132 keineswegs immer deutlich genug gesehen worden, daß sich das nahezu gleiche Problem schon für die Beurteilung der scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüche innerhalb des Liebesideals der Trobadors und Trouvères selbst stellt. Paolo Cherchi konstatiert einen vergleichbaren Antagonismus von eroti- schem Begehren und Streben nach sittlicher Vervollkommnung in der Troba- dorlyrik und bei Andreas. Während aber Andreas die Harmonisierung der beiden Antriebe, wie oben angedeutet, nicht für möglich halte und die diesbe- zügliche angeblich erfolgreiche Intention der werbenden Männer als bloßes Täuschungsmanöver zu entlarven versuche, habe die Trobadorlyrik sie tat- sächlich zuwege gebracht und zwar durch das bei Andreas fehlende oberste Prinzip der mezura, der mäßigenden Selbstbeherrschung, dies allerdings um den Preis einer Beschränkung des Ideals auf den esoterischen Bereich der Kunst. In der Liebeslyrik werde die erotische Liebe zugleich zelebriert und domestiziert. Sie bleibe ebenso leidenschaftlich wie permanent unerfüllbar und führe gerade dadurch den Liebenden zur Treue, Beständigkeit, Demut, Weisheit, also gerade im Verzicht zu sittlichem Wert. Damit erfülle sich zugleich das gesellschaftliche Ideal der cortezia, des höfischen Wesens, je- doch in abstrakter Distanz zur konkreten Lebenswirklichkeit. Für Cherchi ist diese Lyrik „the first extensive phenomenon of art for art’s sake“.19 Daß wir es hier zuerst einmal mit Kunst zu tun haben, wird heute kaum noch jemand bezweifeln, wohl jedoch, daß es schlichtweg l’art pour l’art sei. Nicht als bewiesen kann es auch gelten, daß die Trobadorlyrik nur das Ideal der uner- füllten Liebe kennt. Für die Trouvères und die Minnesänger hat diese Sicht sich längst als zu einseitig herausgestellt.20 Einseitigkeit beeinträchtigt auch sonst die überaus kenntnisreiche und in vielem durchaus weiterführende Argumentation Cherchis, aber auch anderer Okzitanisten.21 Einen absoluten Gegensatz zwischen dem rein sinnlichen Charakter der Liebe bei Andreas und ihrem geistigen, ‚literarischen‘ Wesen bei den Trobadors zu konstruieren geht nicht an. Einerseits klagt etwa auch Bernart de Ventadorn, der wohl repräsen- tativ genannt werden kann, in Lied XVI,31: qui en amor quer sen, Cel non a sen ni mezura (Wer in der Liebe Verstand sucht, hat weder Verstand noch Maß). Andererseits predigt Andreas allenthalben gerade angesichts der Zwän- ge der Liebe das sapienter amare.

19 Paolo Cherchi, Andreas and the Ambiguity of Courtly Love (Toronto etc. 1994) 71.

20 Zum gesamten Komplex vgl. u. a. Ingrid Kasten, Frauendienst bei Trobadors und Minne- sängern im 12. Jahrhundert (Heidelberg 1986). 21 Ich maße mir nicht an, die uferlose Forschung zur Trobadorlyrik auch nur einigermaßen zu

überblicken. Auch von Rico (Anm. 1) 263 ff. wird sie nur sehr selektiv rezipiert. Wir sind jedenfalls gezwungen, uns nach wie vor mit den teilweise sehr kontroversen Ansichten der ‚großen Alten‘ wie Alfred Jeanroy, Moshé Lazar, René Nelli, Jean Frappier, Erich Köhler

u. a. auseinanderzusetzen.

133 Darüber hat besonders ausführlich Felix Schlösser gehandelt.22 Gegen ihn schreiben Cherchi und andere vor allem an, ohne seine Hauptthesen alle widerlegen zu können. Am leichtesten war dies bei der Annahme, Andreas liefere ein vollgültiges Abbild des amour courtois. Daß Andreas diesen aber auch nicht bloß ad absurdum führen wollte, hätte man Schlösser ruhig glauben können. Zweifellos richtig hat dieser im Gegensatz zu Cherchi auch gesehen, daß Andreas die Liebe nicht zum absoluten summum bonum – das auch für ihn nur Gott sein kann – hochstilisiert, sondern nur zum höchsten Gut in der diesseitigen Welt.23 Allerdings, meint Schlösser, habe Andreas einen unehrli- chen Kompromiß geschlossen, nämlich zwar im letzten Buch die irdische Liebe scheinbar insgesamt verdammt, dabei aber alle in den ersten beiden Büchern emphatisch herausgestellten höfischen, domestizierenden und ver- geistigenden Züge, unterschlagen, so daß diese spezielle Liebe von der Ver- dammung gar nicht getroffen werde. Nun unterscheidet Andreas zwar streng zwischen amor und affectus/affectio/dilectio maritalis, die eben keine ‚richti- ge‘ Liebe und daher wirklich von der reprobatio nicht berührt ist. Aber amor bleibt amor, sinnliche Liebe, ob nun bis zur vorletzten oder letzten Stufe der Erfüllung, getrieben,24 und verfällt so tatsächlich insgesamt dem Verdikt des letzten Buches. Schlösser spricht von der „Koexistenz zweier Ordnungen“. Daß es jedoch zwischen diesen „weder Ansatzpunkte einer Versöhnung noch Angriffsflächen“ gebe,25 ist schon mit Blick auf die Trobadorlyrik zweifelhaft. Auf unseren Traktat trifft es gewiß nicht zu. Wie der vieldiskutierte „zweifa- che Sinn“ (III,117 duplex sententia) des Traktats, wie ihn Andreas am Ende seinem Adressaten anbietet, zu verstehen sei, sagt er nur zu deutlich: Die erfolgreiche Anwendung der Lehren von Buch I und II garantiert Erlangung sinnlicher Lust, aber ebenso den Verlust des Seelenheils. Wenn hier aber hier nicht zwei Werteordnungen unabhängig und rei- bungslos nebeneinander bestehen, sozusagen koexistieren, gibt es dann viel-

22 Felix Schlösser, Andreas Capellanus, seine Minnelehre und das christliche Weltbild des 12. Jahrhunderts (Bonn 1962) 101–113. 23 Vgl. De amore I,ii,2; I,ix,20; II,vi,4; III,6. Hinzu kommen die grundsätzlich als parteiisch verdächtigen Aussagen in den Dialogen I,vi,162; 217, 247, 305, 418. 24 Der Autor erklärt II,vi,24 ex cathedra: „So wird dennoch aus dem richtigen Blickwinkel die reine Liebe [ohne vollzogene Kopulation], was ihre Substanz betrifft, als identisch mit der gemischten Liebe [mit vollzogener Kopulation] beurteilt, und sie geht mit dieser aus demselben Gefühl des Herzens hervor. Die Substanz der Liebe ist bei ihnen [den Lieben- den] dieselbe, aber Art und Zielrichtung des Liebens sind verschieden“ (recte tamen intuentibus purus amor quo ad sui substantiam idem cum mixto iudicatur amore et ex eadem cum ipso cordis affectione procedit. Eadem est in illis amoris substantia, sed varius est modus atque respectus amandi). – Sicher in die Irre geht Schlösser mit der Annahme, fin’amor der Trobadors und amor purus seien wesensgleich. Dazu die obengenannten Feststellungen Cherchis. 25 Schlösser (Anm. 22) 383.

134 leicht eine gradualistische Lösung des Widerspruchs? Auch dafür fehlt es an ausreichenden Ansätzen im Text. Natürlich können auch die anderen, meist älteren Versuche, diesen Gegensatz zu erklären, nicht wirklich befriedigen. Könnte der Widerruf im letzten Buch auf einen Sinneswandel im Laufe des Lebens des Verfassers zurückgehen? Könnte Gönnerwechsel eine Rolle spie- len? Könnte kirchliche Zensur den mehr oder weniger ernst gemeinten Wider- ruf erzwungen haben? Biographische Anhaltspunkte haben wir dafür keine, aber auch keine eindeutigen Hinweise, daß der Widerruf von Anfang an geplant war. Erst die Einleitung zu Buch III verweist korrigierend auf das Vorhergehende zurück. Warum hat der Autor die beiden ersten Bücher aber nicht einfach unterdrückt? Waren Buch I und II schon extra erschienen? Nichts als unbeantwortbare Fragen. Feministische Lektüre betont schließlich „den spielerisch-subversiven Charakter“ des Traktats, der auf keine dogmatische Sinnstruktur ziele, die Phantasie des mitdenkenden Lesers aber doch in eine bestimmte Richtung lenke, nämlich auf „die Utopie einer herrschaftsfreien Liebe“ mit Mann und Frau als gleichberechtigten Partnern.26 Nach dieser Lesart dient dann der Auftritt eines liebeslüsternen Klerikers im letzten Dialog des ersten Buches im wesentlichen zur Entlarvung jener Doppelmoral, die im letzten Buch alle sexuellen Begierden und Handlungen verteufelt und die Frau zur Wurzel alles Bösen macht. Auch diese Sicht ist gewiß weit überzogen, stellt aber doch ein wichtiges Korrektiv zu einer Auffassung vom dritten Buch als der Weisheit letztem Schluß dar. Denn in ihm setzt sich die innere Inkonsequenz der vorangehenden Bücher durchaus fort. Zwar erscheint hier amor als Quelle nicht alles Guten, sondern alles Bösen in der Welt, die Frau nicht mehr als Antrieb zur sittlichen Vervollkommnung und zum Erwerb von Lob und Ruhm, sondern als Verderberin des Mannes, seines Werts und seiner Reputation, und zwar sowohl vor Gott wie den Menschen. Angeblich ist jede Frau ein Bündel von Lastern. Doch die Haßtirade gegen das seinem Wesen nach angeblich böse Weib mündet in das letzte Argument gegen die Liebe: Sie werde zu selten erwidert. Was soll aber die Erwartung von Gegenliebe in einer geistlichen Verurteilung der Frauenliebe? Wird Liebe nicht erwidert, würde dies doch die Bewahrung der so gepriesenen Keuschheit nur erleichtern. Macht aber nicht schon die immer wiederkehrende Behauptung, alle Frauen seien allen genann- ten Lastern ohne Ausnahme verfallen, diese radikale Position unglaubwürdig? Soll sie es nicht vielleicht sogar? Selbst die bittersten Frauensatiren – etwa im berühmt-berüchtigtes lateinischen klösterlichen Weltverachtungsgedicht ‚De contemptu mundi‘ des rigoristischen Mönchs Bernhard von Morlas aus der

26 Ursula Liebertz-Grün, Satire und Utopie in Andreas Capellanus’ Traktat ‚De amore‘, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 111 (1989) 210–225, hier 220 u. 224.

135 ersten Hälfte des 12. Jh. oder in der Hofkritik ‚De nugis curialium‘ von Walter Map – machen stets die Einschränkung, es seien nur beinahe alle Frauen mit all den genannten Lastern behaftet und die wenigen guten sollten hier nicht verunglimpft werden.27 Wie letztgültig sind also die Aussagen des dritten Buches einzuschätzen? Die Lasterhaftigkeit der Frau entspringt angeblich ihrer Natur. Die Natur muß in den drei Büchern ‚Von der Liebe‘ insgesamt zur Erklärung und Rechtferti- gung von vielem herhalten. Daraus kann auch der liebesverfallene Kleriker sein verführungstechnisches Glaubensbekenntnis ableiten, „daß in der Liebe Gott nicht schwer gekränkt werden kann; denn was aufgrund natürlichen Dranges ausgeführt wird, kann mit leichter Buße gesühnt werden“ (I,vi,417 in amore Deum graviter offendi non posse; nam quod natura cogente perficitur, facili potest expiatione mundari). Allerdings unterschlägt er dabei den Sün- denfall, der die menschliche Natur moralisch schwer geschädigt hatte. Aber selbst aus der erbsündenbedingten Übermacht der Versuchung ließ sich zur Not eine gewisse Toleranz sogar gegenüber der Frauenliebe von Geistlichen ableiten – bei allem schlechten Gewissen. Buch III kennt freilich offiziell keine solche Toleranz mehr, führt sie aber über die Hintertür doch wieder ein, indem die berühmten biblischen Warnbeispiele der Könige David und Salomo beschworen werden. Beide waren Gesalbte des Herrn, von Gott erwählt und begnadet. Und doch ließ David den Gatten der von ihm begehrten Frau meuchlerisch ermorden, und Salomo wurde seiner zahllosen Frauen wegen zeitweise sogar zum Götzenanbeter. Angesichts solcher Verfehlungen ruft der Verfasser im dritten Buch aus:

Welcher Liebhaber von Frauen also wüßte seine Begierde zu mäßigen, wenn (sogar) bei solchen von so hoher Weisheitslehre gestärkten Männern die Weisheit in Anbetracht der Frauenliebe ihre Pflicht nicht kannte und der Ausschweifung kein Maß auferlegen konnte?28

III. Amor als mittelalterliches Erbe im ,Secretum‘

Der Widerspruch in ,De amore‘ ist und bleibt unaufhebbar. Die irdische Liebe mag so edel sein, wie sie will, als irdische setzt sie das letzte Ziel falsch, lenkt vom absolut höchsten Ziel, von Gott, ab. Wenden wir nun den Blick zurück – oder chronologisch voraus – auf das ,Secretum‘, so fallen, sofern die zu

27 Nachweise in: Andreas, De amore (Anm. 15), Nachwort 629 f. 28 De amore III,64: Quis ergo mulierum amator suam sciret cupidinem moderari, si in viris tanto sapientiae dogmate fultis pro mulierum amore sapientia suum non novit officium nec modum potuit luxuriando servare.

136 Anfang gemachten Beobachtungen zutreffen, die Übereinstimmungen in der Sicht der Liebe viel stärker ins Auge als die Differenzen. Was bei Andreas aber auf Bücher verteilt unverbunden nebeneinander stehenzubleiben scheint, wird bei Petrarca erbarmungslos gegeneinander gestellt – bis zur Aufgabe der einen Position. Küpper – der das Amor-Problem nur am Rande behandelt – erklärt:

Selbst was amor angeht, scheint Franciscus schließlich bereit, den vorgeschla- genen Weg zu gehen, nachdem sein Dialogpartner ihm mit schlagenden Worten nachgewiesen hat, daß es Selbsttäuschung sei, die Laura-Liebe für etwas Geis- tiges zu halten, und sich hinter dem schillernden Konzept nichts anderes ver- berge als die geläufige luxuria.29

Stierle, der sonst durchaus teilweise gegen Küpper argumentiert, sieht das Eingeständnis der Verfehlung grundsätzlich genauso.30 Wenn für Küpper aber Franciscus nicht einfach bereit „ist“ nachzugeben, sondern bloß „scheint“, wenn es für Stierle gemäß seiner Hauptthese „scheint, daß die Liebe zu Laura ganz in der Liebe zur laurea aufgegangen ist“31 und wenn Franciscus dieser zweiten Liebe zum Dichterlorbeer sogleich abzuschwören nicht bereit ist, so tun sich wieder Zweifel auf. Auch wenn man Stierles Auffassung nicht bis zur letzten Konsequenz beistimmen will, wirkt die Auflösung der engen Zusam- menbindung von amor und gloria in der Entscheidung des Franciscus nicht ganz glaubwürdig, selbst wenn man die biographische Tatsache, daß der Dichter seine Laura-Lyrik danach fortgesetzt hat, nicht ins Treffen führen will. Noch mehr zu denken gibt aber die Inkonsequenz der Argumentationsli- nie des Anklägers, die den Angeklagten zur Resignation zwingt. Wie wir gesehen haben, holt Augustinus zuerst Laura als sterbliche, dem natürlichen Verfall preisgegebene Frau von dem himmlischen Sockel, auf den Franciscus sie gestellt hat, herunter, ringt dem Liebenden mühsam das Geständnis ab, sie doch nicht nur platonisch begehrt zu haben und von ihr trotz ihrer Sittsamkeit im entscheidenden Augenblick nicht vom falschen Lebenspfad, sondern viel- mehr von Gott abgehalten worden zu sein. Die namenlosen Qualen, welche ihm diese Liebe bereitet hat, stellt Augustinus dem Dichter auch schon hier vor Augen, ohne der Geliebten aber eine mehr als objektive Schuld dafür zuzuweisen. Auch den inspirativen Impetus dieser Liebe für den Erwerb dichterischen Ruhmes leugnet er hier vorerst nicht, wertet er doch amor und gloria als gemeinsame Bedrohung der Seele. Dann aber eröffnet er plötzlich ein – oben S. 123 wörtlich zitiertes – Schuldenregister der Frau (III,69), das ganz deutlich an ‚Liber III. de amore‘ gemahnt. Bei Andreas erscheinen hier als Folgen der Frauenliebe nicht nur

29 Küpper (Anm. 9) 24. 30 Stierle (Anm. 4) 413. 31 Stierle (Anm. 4) 412.

137 unendliche leibliche und seelische Qualen (III,14–16), sondern auch Verschwen- dung und Verarmung (III,19 f.), Verlust des guten Rufes (III,24 f.), Vernach- lässigung aller anderen Geschäfte und Interessen (III,36 f.), Schwächung der

Körperkraft (III,57 f.), Verlust der Weisheit (III,62–64). Vor allem wird die mangelnde Bereitschaft der Frauen zur Gegenliebe angeprangert (III,65). All das wird im ,Secretum‘ an der zitierten Stelle zumindest angedeutet. Selbst der bei Andreas getadelte weibliche Hochmut (III,92 f.) klingt hier an. Selbstver- ständlich unterscheidet sich das dritte Buch des Traktats ,Von der Liebe‘ in seiner durchgehend misogynen Haltung und redseligen Scheltlust radikal vom ,Secretum‘. Doch daß sich Franciscus diese Anwürfe, die sich immerhin bis zur Schmähung der „Abscheulichkeit des weiblichen Körpers“ (III,70 feminei corporis feditas) versteigen, überhaupt anhört, ohne gegen die Verunglimpfung der Geliebten zu protestieren, sondern sich sogar von seinen Leiden teilweise erleichtert fühlt (III,71), verrät eine engere Verhaftung des Autors in den traditionellen Minnereflexionen, als sie der Bekenntnisdialog sonst zuzulassen scheint. Die Demütigungen des unerhörten Liebeswerbers kommen unvermit- telt als Traumata hoch und trüben das makellose Bild der vergöttlichten Laura. Was davon Leben oder Werk sein mag – ‚Vida u obra de Petrarca‘ nennt Rico programmatisch sein Buch –, bleibe dahingestellt. WennAugustinus dann noch den Rat erteilt, die verbleibende Lebenszeit doch eher den noch unvollendeten Schriften statt dieser Liebe zu widmen (III,71), durchbricht die antike Venus- schelte sogar die Argumentationslinie wider den eitlen Dichterruhm. Da Andreas die Argumente gegen die Liebe heidnisch-antiken, patristi- schen und mittelalterlichen klerikalen Schriften, dagegen die Verherrlichung der Liebe der Trobadorlyrik entnommen hat, läßt sich eine direkte Abhängig- keit Petrarcas von ,De amore‘ nicht nachweisen, denn Petrarca hat die genann- ten Traditionen nicht weniger gut gekannt als Andreas. Nur signifikante wörtliche Entsprechungen zu ,De amore‘ könnten einen Beweis liefern. Sol- che scheinen nicht auffindbar. Doch schon sein Sprachgefühl mag Petrarca von Zitaten abgeschreckt haben. Wie groß mitunter die gedankliche Nähe ist, hoffe ich gezeigt zu haben. Wenn Andreas etwa die Liebe als passio definiert, als Erleiden, das nicht aus einer actio, einer Handlung entsteht, jedoch nach Ausbruch der Leidenschaft in vernünftige Bahnen (sapienter amare) gelenkt werden soll, ohne daß diese Handlung aber je abschließend zu gelingen scheint, so versucht Petrarca seine Liebe zu Laura dadurch als totalen Gegen- satz zu einer bloß wollüstigen Leidenschaft erscheinen zu lassen, daß er diese als teterrimam animi passionem abqualifiziert, jenen reinen amor dagegen als nobilissimam [animi] actionem (III,5 – s. o.) preist – ein offenbar letztlich erfolgloses logisch-rhetorisches Manöver. Da Andreas in dem Punkt originell sein dürfte, wäre er, auch wenn sein Argument natürlich wiederum stark verändert erscheint, als Gewährsmann Petrarcas durchaus erwägenswert. Aber beweisbar ist nichts.

138 Daß die logische Begrifflichkeit an dem Phänomen Liebe scheitert, kann kaum wundernehmen. Andreas treibt den Widerspruch aber so weit, daß er die Liebe zuerst als Weg zu Tugend und dann als Weg zu Hölle reklamiert. Wenn Petrarca die ‚augustinische‘ Überwindung dieser Aporie zeigen wollte, so erwiese er sich in diesem Punkt sogar als ‚mittelalterlicher‘ als sein viel älterer Vorgänger – wenn er es denn wirklich wollte. Darf man dem ,Secretum‘ überhaupt als ganzem wie im einzelnen einen moralphilosophisch stringenten lösungsorientierten Beweisgang unterstellen? Es sind gute Argumente dafür ins Treffen geführt worden, ‚Augustinus‘ in Wahrheit als paganen Stoiker32 oder als scholastischen Thomisten zu entlarven,33 auch wenn jeweils ein unaufgelöster, nicht zuteilbarer Rest verbleibt.34 Schwieriger ist die Position des ‚Franciscus‘ zu bestimmen. Küpper sieht in ihm einen Vertreter der augustinischen Gnaden- und Rechtfertigungslehre und rückt ihn zugleich nahe an die Theologie Wilhelms von Ockham heran, denn für ihn „verbleiben Ockhamismus und Augustinismus für die Zeit der Auseinandersetzung [mit dem Thomismus] in einer stabilen ‚Allianz‘“.35 Eine sachgerechte theologiegeschichtliche Würdigung dieser Annahme kann in unserem Rahmen natürlich nicht geleistet werden. Mit Stierle darf man aber wohl eine eindeutige Festlegung der ideologischen Position der beiden Figuren des Dialogs oder gar der realen Person Petrarcas, die sich sozusagen aus den beiden zusammensetzt, in Frage stellen.36 Derselbe Zweifel 32 Klaus Heitmann, Augustins Lehre in Petrarcas Secretum (1960), in: Petrarca, hg. v. August Buck (Darmstadt 1976) 282–307.

33 Küpper (Anm. 9) 13–17, 41–44 u. ö. 34 Bedenken gegen Küppers Methode muß man schon anmelden, wenn dieser (Anm. 9) zweimal (14 u. 41) als zentrale scholastische Position des Aquinaten den Satz aus der ‚Summa theologiae‘ I, II, q. 109, a. 6 zitiert: si homo facit quod in se est, Deus ei non denegat gratiam. Der Satz steht aber gar nicht in der Responsio des Artikels, sondern unter den vorausgeschickten, jedoch zurechtzurückenden autoritativen Meinungen als Nr. 2. Die Korrektur steht dementsprechend auch im Artikel ad 2: Ad secundum dicendum quod nihil homo potest facere nisi a Deo moveatur; secundum illud Io 15,5 ‚Sine me nihil potestis facere‘. Et ideo cum dicitur homo facere quod in se est, dicitur hoc esse in potestate hominis secundum quod est motus a Deo. Wenn Küpper des weiteren auf die These verweist, Gott verwehre die gratia sanans ohnehin keinem Getauften (S. 43 – der Verweis Anm. 157 auf S. T. I, II q. 2 a 5 ad 1 führt allerdings in die Irre), so ist ebenso richtig, daß diese anfängliche Gnade, welche nur eine der fünf Gnadenwirkungen mit sich bringt (S. T. I, II q. 111 a. 3 resp.), durch jede schwere Sünde verloren geht und nur durch neuerliche göttliche infusio gratiae restituiert werden kann (S. T. III q. 87 a. 2 ad 3). Daß nach Thomas das Neue Testament ausreichende Hilfe gewährt, um nicht in Sünde zu fallen (S. T. I, II q. 106 a. 2 ad 2), ist auch richtig. Aber die Gläubigen verfallen eben doch in Sünde. Gemeint ist selbstver- ständlich nur, daß die Befolgung der Lehren des Neuen Testaments ausreichen würde. 35 Küpper (Anm. 9) 18 (mit Berufung auf Etienne Gilson). Dagegen Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter von Augustin zu Machiavelli (Stuttgart 1986) 500: „Augustin, den Petrarca […] mehr als Weggefährten eines sensiblen Intellektuellen denn als Garanten einer theologischen Gnadenkonzeption las […].“ 36 Stierle (Anm. 4) 395.

139 müßte dann aber auch auf Stierles eigene Bestimmung Petrarcas als eines ockhamistischen Nominalisten zurückfallen. Nicht nur kann von einer absolu- ten Dominanz des Nominalismus im 14. Jahrhundert, wie sie viele Forscher und so offenbar auch Stierle annehmen,37 schwerlich die Rede sein. Die Realisten behalten an vielen Universitäten die Oberhand.38 In dieser Richtung übt hier neben Thomas auch der Franziskaner Duns Scotus eine bedeutende Wirkung aus, der jedoch, anders als Thomas und durchaus ähnlich wie Augus- tinus und Ockham, Gottes freie Gnadenwahl besonders herausstellt.39 Von dem erbitterten Universalienstreit der Scholastik will Petrarca aber überhaupt nichts wissen. So steht er der ganz strengen, primär auf Erkenntnistheorie ausgerichteten Wissenschaftlichkeit Ockhams auch durchaus ferne. Für ihn ist die Dialektik, und nicht nur die aristotelisch-thomistische, nur als Propädeutik für die Moralphilosophie, die nach seiner Ansicht einzig lohnende Form der Philosophie, brauchbar.40 Es ist daher gewiß nichts als amikale, leicht ironi- sche Panegyrik, wenn Boccaccio in einem Brief an den Freund Petrarca diesen als Meister aller freien Künste, daher auch der Dialektik und hier ausgerechnet als zweiten Ockham rühmt.41 Man darf diese Gleichsetzung gewiß nicht ernster nehmen als die mit Euklid, Archimedes oder Ptolemaios.42 Kann denn, fragen wir nochmals, überhaupt ein solcher intimer selbstbe- zogener Dialog, den man, wenn auch wieder zu marktschreierisch, als „das erste wirkliche Therapiegespräch der Weltliteratur“ bezeichnen konnte,43 im Kern auf die theologische Ablehnung einer bestimmten Gnadenlehre ausge- richtet gewesen sein? Petrarca als Vorläufer Luthers? Wenn Franciscus im

37 Bei Stierle (Anm. 4) 156 f. u. ö. 38 Vgl. Ulrich G. Leinsle, Einführung in die scholastische Theologie (Paderborn etc. 1995) 175–181. 39 Ebenda 198. 40 Vgl. Flasch (Anm. 33) 498. 41 , Opere latine minori, hg. v. Aldo F. Massèra (Bari 1928) 113: estque in artibus per excellentiam hiis monarcha: in grammatica Aristarcus, Occam in logica, in recthorica Tullius et Ulixes, in arismetica iordanizans, in geometria similis Euclidi sive syragusanum sequitur Archimedum, in musica boetizans, in astrologia suscitat egyptium Ptolomeum. Das „Jordanisieren“ bezieht sich sicher auf den Mathematiker Jordanus de Nemore (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts). Mehr Glaubwürdigkeit verdient das folgende Lob des Moralphilosophen Petrarca: Quid plura? Ut Seneca moralizat, in opere Socratem moraliter insectando, geringeres schon wiederum das des Historikers: ac in ystoriis scho- lasticis optimum Commestorem. Denn Petrarca interessiert sich kaum für die biblische, sondern für die Profangeschichte, so daß ein Vergleich mit Petrus Comestor wiederum ironischen Klang erhält. 42 Als Zeugnis für Petrarcas Nähe zum Ockhamismus führt die Stelle dagegen Küpper (Anm. 9) 19, an. 43 So Horst Günther in: Francesco Petrarca, Über den geheimen Widerstreit meiner Sorgen, in der Übersetzung von Hermann Hefele herausgegeben und mit einem Nachwort versehen

von Horst Günther (Frankfurt a. M. u. Leipzig 2004) 217.

140 letzten Satz des ,Secretum‘ nicht nur die Führung Gottes durch alle Wirren, sondern auch das Schweigen der Welt und der Fortuna erbittet, weist dies in eine ganz andere Richtung. Hier artikuliert sich die Sehnsucht, alle weltlichen Interessen endlich doch, wie es Tausende mittelalterliche Eremiten und Mön- che vermochten, von sich abtun zu können. Aber zuvor soll dem Schriftsteller noch Zeit bleiben für ein literarisches Schaffen ohne direkte spirituelle Aus- richtung auf das Seelenheil. Dazu wird bei Petrarca auch noch Liebeslyrik gehören, auch wenn sie hier nicht im entferntesten anklingt. Denn am Ende des ,Secretum‘ lautet die Hoffnung ja gerade, „daß sich die Wogen der Seele glätten sollen“ (III,105 subsidantque fluctus animi). Wenn sich die Gnadenlehre nicht als das zentrale Thema im ‚Secretum‘ erweisen läßt, so auch nicht die Liebestheorie. Aber ein Randphänomen der Weltanschauung kann sie für einen solchen leidenschaft- lichen Liebeslyriker kaum jemals gewesen sein. Sie darf dann auch eine entsprechende Relevanz für die Epochendiskussion44 beanspruchen. Wie re- naissancehaft auch immer man Petrarcas intellektuelle und ästhetische Frei- heit einschätzen mag, die im ‚Secretum‘ (und in den ‚Remedia utriusque fortunae‘) formulierte Liebestheorie trägt eindeutig mittelalterliche Züge. Wenn dann im Leben Petrarcas die Absage an Amor zumindest in der poeti- schen Praxis nicht das letzte Wort behält, so ist Petrarca zwar moderner als Andreas. Aber er ist es offenbar mit schlechtem Gewissen und damit selbst als Wegbereiter der Renaissance in dieser noch nicht wirklich angelangt.

44 Stierle (Anm. 4) 146 hält den „Epochenbruch zwischen Mittelalter und Renaissance“ für „eine ideologisch aufgeladene Fiktion“. Natürlich gibt es hier nur einen Übergang mit vielen Vor- und Rückverweisen. Aber zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert ist doch ein großer ideengeschichtlicher Wandel unverkennbar, zu dem gewiß (gegen Küpper und andere) auch ein gewisser Säkularisierungsschub gehört.

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