action music Das Konzept der musik-theatralischen Kompositionen von Hans Werner Henze 1966 – 1976
Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin
vorgelegt von
Sang Myung Han aus Seoul, Korea
Seoul, September 2009
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1. Gutachter: Prof. Dr. Albrecht Riethmüller
2. Gutachter: Prof. Dr. Christa Brüstle
Tag der Promotion: 28. August 2009
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Inhalt
Vorwort 6
1. Einleitung 7
2. Auf dem Weg zur neuen Form 12
2.1 Henze und der geistige Wandel seit 1966 12 2.2 Henze und der musikalische Wandel 20 2.2.1 Das Komponieren unter neuem Aspekt 24 2.2.2.1 Instrumentalkompositionen und Sinfonia N.6 24 2.2.2.2 Versuch über Schweine 29 2.2.2.3 Das Floß der Medusa 31
3. action music als Konzept 34
3.1 Zum Begriff 34 3.2 Zu den Texten 36 3.3 Zur Formenübersicht 38 3.4 Merkmale des Konzepts 42 3.4.1 Die Vokalstimme 42 3.4.2 Die Instrumentalstimme und die neuen Klänge 44 3.4.3 Bühne und Aktionen der Spieler 47
3.5 Zu den Werken 49 3.5.1 El Cimarrón (1969 – 1970) 49 3.5.1.1 Die Entstehung 49 3.5.1.2 Instrumentarium und Bühnendisposition 51 3.5.1.3 Der Text und die Form 54 3.5.1.4 Ein Konzertstück für die Bühne 59 3.5.1.4.1 Das Musizieren und die Musik 60 3.5.1.4.2 Die Bühne und die Aktionen der Spieler 72 3.5.1.4.2.1 Die Flucht 76 3.5.1.4.2.2 Die Schlacht von Mal Tiempo 78
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3.5.2 Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer (1970 – 1971) 81 3.5.2.1 Die Entstehung 81 3.5.2.2 Instrumentarium und Bühnendisposition 83 3.5.2.3 Der Text und die Form 86 3.5.2.4 Ein konzertartiges Bühnenstück 92 3.5.2.4.1 Die Rolle der Musik 94 3.5.2.4.2 Die Rolle der Spieler 104 3.5.2.4.2.1 Die kleinen Aktionen der Spieler 104 3.5.2.4.2.2 Die Aktionen des Sängers und des Perkussionisten 108
3.5.3 Zweites Violinkonzert (1971 – 1972) 117 3.5.3.1 Die Entstehung 117 3.5.3.2 Instrumentarium und Bühnendisposition117 3.5.3.3 Das Gedicht und die Form 122 3.5.3.3 Das sichtbare Konzert 127 3.5.3.4.1 Der Instrumentalist als Schauspieler 128 3.5.3.4.1.1 Der Solo-Violinist 128 3.5.3.4.1.2 Der A-Klarinettist 141 3.5.3.4.2 Die Rolle des Orchesters 145
3.5.4 La Cubana oder ein Leben für die Kunst (1972 – 1973) 154 3.5.4.1 Die Entstehung 154 3.5.4.2 Der Aufbau des Werkes 156 3.5.4.2.1 Die Form 156 3.5.4.2.2 Die Handlungen und die Bühnenbilder 158 3.5.4.2.3 Die Rollen und das Instrumentarium 165 3.5.4.3 Die Rolle der Musik 167 3.5.4.3.1 Das Orchester als „realistischer“ Musikträger 167 3.5.4.3.2 Die Verwendungen der Klangkörper 173 3.5.4.3.3 Der Charakter der Musik 183 3.5.4.4 Die Aktionen der Spieler 190
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3.5.5 We come to the River (1974 – 1975) 194 3.5.5.1 Die Entstehung 194 3.5.5.2 Der Aufbau des Werkes 196 3.5.5.2.1 Die Handlung und die Einteilung der Szenen 195 3.5.5.2.2 Die Bühnen und das Instrumentarium 200 3.5.5.3 Die mehrdimensionale Bühnenstruktur 204 3.5.5.4 Der Charakter und die Rolle der Musik 211 3.5.5.4.1 Die Vokalstimme 211 3.5.5.4.2 Die Instrumentalstimme 217 3.5.5.5 Die Aktionen der Spieler 223
4. Schlussfolgerung 228
5. Anhang 233
5.1 Quellenverzeichnis 233 5.2 Benutzte Partituren 235 5.3 Literatur 236
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Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2009 durch den Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin als Dissertation angenommen.
Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Albrecht Riethmüller, bin ich zu tiefstem Dank verpflichtet für seine fundierte wissenschaftliche Anleitung und verständnisvolle mentale Unterstützung. Trotz der Schwierigkeiten der Fernbetreuung brachte er mir stets sein Wohlwollen entgegen und war immer flexibel und kurzfristig zu Rat und Tat bereit. Ohne solch herzliche Betreuung von ihm wäre diese Arbeit nie entstanden.
Herzlicher Dank gilt ebenfalls Frau Prof. Dr. Christa Brüstle, die das Zweitgutachten zur Dissertation erstellte. Mit Warmherzigkeit und Ermutigung begleitete sie den Fortgang meiner Arbeit, und ihre wertvollen wissen- schaftlichen Hinweise und Kritiken werden weiterhin wichtige Grundlagen meiner zukünftigen Forschungsarbeit sein.
Zudem möchte ich mich bei meiner liebevollen langjährigen Freundin, Karin Westphal, ganz herzlich bedanken, die mir bei der Erstellung dieser Arbeit geholfen hat. Engagiert und geduldig korrigierte sie mein Manuskript. Ihre Hilfsbereitschaft ermöglichte die Fertigstellung der Arbeit über einen längeren Zeitraum hinweg. An dieser Stelle darf ich nicht vergessen, meiner zweiten Korrektorin, Frau Stephanie Schulze, zu danken, die diese Dissertation nochmals verbesserte. Mit ihrer Hilfe konnte ich sie schließlich in dieser Form entstehen lassen.
Seoul, im September 2009 Sang Myung Han
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1. Einleitung
Der 1926 in Gütersloh geborene Komponist Hans Werner Henze trat im Alter von 20 Jahren mit seinen ersten Kompositionen an die Öffentlichkeit und war in den ersten Jahren hauptsächlich in den Darmstädter Ferienkursen präsent. Seit 1953 lebte er in Italien und konnte sich bis zur Mitte der 1960er Jahre als ein international gefeierter Komponist etablieren. Als eine der farbigsten Figuren in westlichen Musikkreisen gibt Henze aufschlussreiche Diskussionspunkte vor. Jede Auseinandersetzung mit seinem Werk ergibt einen wissenschaftlich notwendigen Beitrag zur Musikgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In den 1960er Jahren, in der Zeit der Umfunktionierung und des Umdenkens, erlebten viele Künstler einen Wandel, so auch Henze. Er begann 1966 die Gesellschaft anders zu betrachten und ging den Weg eines Künstlers, der auf seine Umgebung und deren Veränderung bewusst reagierte. Darüber hinaus übertrug er diese Reaktion künstlerisch in seine Musik, sodass sich seine Musiksprache änderte, die sich in eine politisch engagierte Richtung entwickelte. Seitdem wurde Henze von Musikwissenschaftlern als führender politischer Musiker bezeichnet und auch seine Werke stets auf Politik bezogen. Seine Politisierung war daher beinahe der einzige Untersuchungsgegenstand der Henze-Forschung. Über die bekannten gesellschaftlichen Aktivitäten und seine unveränderte künstlerische Produktivität wurde im Allgemeinen in mehreren Artikeln, Kurzanalysen und Interviews berichtet. Im Zentrum des Interesses stand häufig Henzes Meinung über Politik und die Aufgabe des Künstlers in der Gesellschaft. Der Skandal bei der Uraufführung des Oratoriums Das Floß der Medusa 1968 gilt als das bekannteste Beispiel für den schnellen Wandel Henzes zum Sozialisten. 1 Seitdem wurden Henzes politische Aktivitäten oft zum Schlagwort für das Feuilleton. Die damaligen Berichte helfen sicherlich, einen Überblick über Henzes politisches Engagement und dessen geistige Entwicklung zu erhalten. Die vorliegende Arbeit will das Thema des „politischen Musikers“
1 Die Uraufführung in Hamburg wurde wegen des studentischen Protests am Aufführungsort verhindert. Die Studenten brachten das Poster von Ernesto Che Guevara (1928 – 1967), dem dieses Werk gewidmet wurde, und die rote kommunistische Fahne auf die Bühne. Daraufhin weigerten sich die Chorsänger das Konzert aufzuführen. Es entstand ein heftiger Tumult im Saal und die Polizei wurde gerufen. Das bei der Generalprobe aufgezeichnete Konzert wurde ersatzweise als Radiosendung übertragen. 8 nicht widerlegen, sondern präzisieren, dabei interessiert sie sich vorerst für den Beweggrund seiner veränderten Einstellungen gegenüber der westlichen Gesellschaft. Als Wendepunkte sind das Jahr 1966 und das neunte Bühnenwerk Henzes, das Musikdrama The Bassarids , das er im gleichen Jahr während der Salzburger Festspiele zur Uraufführung brachte. Der Erfolg dieses Musikdramas machte Henze schließlich zum wichtigsten zeitgenössischen Opernkomponisten. So wie er selbst seine Theaterarbeiten als „Vorwände, Beweggründe, um sich solche Wunschträume zu erfüllen“ 2, bezeichnete, setzte er sich bereits seit den Anfangsjahren außergewöhnlich intensiv mit den traditionellen Opernformen und dem Schönheitsbegriff auseinander. Henzes Beziehung zum Theater ist genauso alt wie sein Leben als Musiker. Nach dem Abschluss eines dreijährigen Musikstudiums 1948 bei Wolfgang Fortner (1907 – 1987), arbeitete Henze an verschiedenen Theatern. Die Tätigkeit von 1945 bis 1950 als Korrepetitor und künstlerischer Leiter in Bielefeld, Konstanz und Wiesbaden ließ Henze zu einem großen Bühnenkomponisten wachsen, obwohl seine Produktivität nicht dabei stehen blieb, sondern in alle Bereiche der Musikgattungen hineinreichte. 3 In seinem umfangreichen Œuvre arbeitete er intensiv an den theatralischen Ausdrucksmöglichkeiten und setzte sowohl in den Bühnen-, als auch Instrumentalwerken fortschrittliche Theaterelemente ein. Dass Henze sich vor allem als Bühnenkomponist einen Namen machte, liegt nicht nur an der großen Anzahl der Bühnenwerke, sondern auch an seiner erwähnten intensiven Auseinandersetzung mit dem Theater. Mit seinen Werken unterschied er sich musikästhetisch von seinen Zeitgenossen, die eher musikalische Materialsysteme verstärkten und insbesondere der Gattung Oper skeptisch gegenüber standen. Man bezeichnete ihn oft als Einzelgänger, da er sich mit einer eigenen charakteristischen Sprache fest in der Musikwelt verankert hat. Eigentlich genoss Henze dieses Einzelgängerturm und gab sich mit dem Ansehen in engen Kennerkreisen zufrieden. Er war auch auf den eigenen künstlerischen Fortschritt stolz. Doch mit dem Erfolg des Werkes The Bassarids änderte sich das allmählich. Zweifelnd betrachtete Henze sich selbst, seine künstlerische Arbeit und seinen Erfolg. Eine Schaffenskrise kündigte sich an, die er bereits beim Komponieren von The Bassarids bemerkte. Sein Gefühl, all seine Ausdrucksmittel „bis zum
2 Hans Werner Henze: Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen , Frankfurt am Main 1996, S. 343. 3 Die lange Werkliste umfasst sowohl Opern und Ballette sowie Orchesterwerke inklusive der zehn Sinfonien, über 20 Solokonzerte, Vokalwerke und zahlreiche Kammermusiken, darunter fünf Streichquartette. 9
Letzten erschöpft“ 4 zu haben, führte zu einer inneren Veränderung und er begann anfangs unbewusst, dann merklich bewusster, einen geistigen und musikalischen Wandel zu vollziehen. So wurde dieser große Erfolg zu einem konkreten Wendepunkt in seiner ersten künstlerischen Schaffensphase. In der neuen Schaffensphase ragt vor allem die radikale Veränderung der musikalischen Sprache und der musik-theatralischen Formen heraus, besonders intensiv in den darauf folgenden zehn Jahren, also von 1966 bis 1976. In diesen Jahren brachte Henze über 40 neue Musikstücke heraus. Dass er ein sehr produktiver Komponist war (und ist), änderte nichts an seiner Politisierung. Er komponierte nach wie vor Konzerte, Sinfonien und Bühnenwerke, doch suchte er jetzt nach neuen ästhetischen Grundlagen. Gefangen in der Schaffenskrise, äußerte er sich 1966 über seine Skepsis sowohl der „Befähigung zur abstrakten Instrumentalmusik“, als auch seinen bisherigen Opern-Erfolgen gegenüber. 5 In dieser innerlich unruhigen Situation entschloss sich Henze, eine Auszeit vom Komponieren konventioneller bühnentheatralischer Werke zu nehmen, weil die Form der „traditionellen“ Oper und des Musiktheaters nach der Fertigstellung des Musikdramas The Bassarids nicht mehr passend zu sein schien. Er versuchte die Krise zu bewältigen, indem er sich mit den Problemen des Ausdrucks, der Klänge, der spieltechnischen Seite und der Bühnenhandlung auseinandersetze. Er verband die Frage nach dieser neuen Musikästhetik mit der Idee, dass Musik eine Sprache sei. Das Publikum solle die Botschaften durch die musikalisch gebildeten klaren Zeichen erkennen können. Diese Versuche wurden seit seinem geistigen und musikalischen Wandel immer deutlicher. Es stellt sich die Frage, wie Henze in seinen Werken die beständige Zuneigung zum Theater mit der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit der Musik kombiniert hat. Die Suche nach einer neuen Ausdrucksform für Bühnenwerke führt zu dem auffälligen Musikkonzept der action music , mit dem Henze seine neue musik- theatralische Idee verwirklichte. Diesen neuen Begriff kann man für die neuen musik-theatralischen Kompositionen am treffendsten verwenden. Die nennenswerten gemeinsamen Charakteristika einiger Werke verdeutlichen den neuen Aspekt in Henzes Arbeit. Insbesondere kommen fünf Werke in Frage, die aus über 40 Werken der Zeit von 1966 bis 1976 für die Analyse ausgewählt worden sind: El Cimarrón (1969 – 1970)
4 Henze: Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955 1984 , erw. Neuausgabe, München 1984, S. 255. 5 Reiselieder , S. 270. 10
Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer (1970 – 1971) Zweites Violinkonzert (1971 – 1972) La Cubana oder ein Leben für die Kunst (1972 – 1973) We come to the River (1974 – 1975). 6
Mit dem konzertartigen Bühnenwerk El Cimarrón realisierte Henze erstmals seine Ideen und erreichte in der Bühnenkomposition We come to the River einen entwickelten und komplizierten Abschluss seiner Konzeption. Entscheidende Auswahlkriterien sind dabei der dem Werk zugrunde liegende Text, die Behandlung konkreter theatralischer und spielerischer Aktionen als Mittel der Komposition, gleichzeitig verknüpft mit der Analyse der Aktionen von Instrumentalisten und Sängern sowie der Einsatz der Bühne als obligatorisches Element. Eigentlich beschränken sich die von Cimarrón bis River verwendeten musikalischen Neuerungsversuche nicht nur auf diese fünf Werke, sondern wurden bereits für die Werken vor Cimarrón gebraucht. Tristan