Marcel Krug

„Manchmal zeigt das Fernsehen Dinge, Richtungseffekte bei die niemand auf dem Platz gesehen hat, aber manchmal zeigt das Fernsehen auch Dinge nicht, die man selbst schon gesehen hat.“ Schiedsrichterentscheidungen

pi er - lu i g i co lli n a im Fußball Marcel Krug Marcel

Fußballschiedsrichter können durch ihre Entscheidungen den Ausgang von Spielen beeinflussen. Sie haben eine große Machtbefugnis, die mit einer besonderen Verantwortung verbunden ist. Der Entscheidungsprozess eines Schiedsrichters kann durch unterschiedliche Faktoren, wie seine bisherigen Erfahrungen, die Zuschauer oder die Trikotfarben der Mannschaften, beeinflusst werden. Eine Reihe von Studien hat sich diesen Faktoren und ihrem möglichen Einfluss auf Schiedsrichterleistungen gewidmet. Demgegenüber wurde die Frage nach dem Einfluss der kulturellen Prägung von Schiedsrichtern auf ihre Entscheidungen bislang kaum beachtet. Diese Frage ist deshalb von Relevanz, da die in einer Kultur dominierende Lese- und Schreibrichtung scheinbar zu einer Bevorzugung von Bewegungen, die kongruent zu dieser Richtung ablaufen, führt. Dieser Arbeit liegen die folgenden Leitfragen im Hinblick auf Foulentscheidungen im Fußball zugrunde: Beeinflusst die Richtung des Foulspiels die Entscheidung eines Schiedsrichters und falls ja, in welcher Art und Weise? Wird ein Foulspiel, das kongruent zur gewohnten Lese- und Schreibrichtung erfolgt, weniger stark geahndet, als ein inhaltlich identisches Foulspiel, das aus Sicht eines Schiedsrichters entgegen der vertrauten Richtung abläuft? Variiert das vermutete Auftreten von Richtungseffekten bei Schiedsrichtern und Nicht-Schiedsrichtern? Ziel der Untersuchung ist es, durch die Bearbeitung dieser Fragen zu einem besseren Verständnis von Schiedsrichterleistungen im Fußball beizutragen.

ISBN 978-3-86219-704-0

9 783862 197040 Richtungseffekte im Fußball bei Schiedsrichterentscheidungen

Marcel Krug

Richtungseffekte bei Schiedsrichterentscheidungen im Fußball

kassel university press

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ISBN 978-3-86219-704-0 (print) ISBN 978-3-86219-705-7 (e-book) URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0002-37050

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Vorwort

Menschliche Urteile und Entscheidungen hängen nicht allein von den in einer Situa- tion verfügbaren und wahrgenommenen Reizen ab, sondern scheinen unter anderem auch von der kulturellen Prägung einer Person beeinflusst zu werden. So legen au- ßerhalb der Sportwissenschaft verortete Forschungsarbeiten beispielsweise nahe, dass Bewegungen als ästhetischer bewertet werden, wenn deren Ausführungsrich- tung mit der bevorzugten Lese- und Schreibrichtung eines Beobachters überein- stimmt (z.B. von links nach rechts bei westeuropäischen Beobachtern). Eine von Kranjec, Lehet, Bromberger und Chatterjee (2010) kürzlich in der Fachzeitschrift PLoS ONE publizierte Studie deutet demgegenüber an, dass Zweikampfsituationen im Fußball, die entgegen der präferierten Lese- oder Schreibrichtung ablaufen, eher als Foulsituationen eingestuft werden als inhaltlich identische Situationen, die kon- gruent zur präferierten Lese-/Schreibrichtung dargeboten werden. Eine weitere ein- gehende Überprüfung dieses vermeintlichen Zusammenhangs ist sowohl im Hinblick auf die Theoriebildung als auch die angestrebte Objektivierung von Kampf- und Schiedsrichterentscheidungen im Sport notwendig.

Herr Krug untersucht in seiner Masterarbeit den Einfluss von Richtungseffekten auf Foulentscheidungen von Schiedsrichtern im Fußball. Schiedsrichterentscheidungen werden hier als Produkt der sozialen Informationsverarbeitung verstanden. Die Ar- beit von Herrn Krug knüpft an die Studie von Kranjec et al. an, wobei er das metho- dische Vorgehen in wesentlichen Punkten erweitert. So präsentierte er in seinem vi- deobasierten Entscheidungsexperiment anstelle von Fotos Videos von Zweikampfsi- tuationen, er rekrutierte eine deutlich größere Stichprobe (N = 80 Versuchspersonen im Gegensatz zu N = 12) und er differenzierte das potentielle Auftreten von Rich- tungseffekten in Abhängigkeit vom Erfahrungsgrad der Testpersonen als Fußball- schiedsrichter, indem er je 40 Fußballschiedsrichter und Nicht-Schiedsrichter testete. Entgegen den Erwartungen konnten für keine der drei abhängigen Variablen (Anzahl Foulentscheidungen, Entscheidungszeit, Foulschwere), weder bei Schiedsrichtern noch bei Nicht-Schiedsrichtern, Richtungseffekte nachgewiesen werden. Es zeigte sich jedoch, dass Schiedsrichter in Abhängigkeit von der Bewegungsrichtung eines vermeintlich gefoulten Spielers insgesamt weniger inkonsistente Entscheidungen tra- fen als Nicht-Schiedsrichter.

Die von Herrn Krug vorgelegte Untersuchung liefert demnach keine Evidenz für Richtungseffekte bei Schiedsrichterentscheidungen im Fußball. Von Herrn Krug kri- tisch diskutierte methodische Limitierungen seiner Studie könnten das Ausbleiben dieser Effekte erklären. Ein anderer, in der experimentellen Psychologie zunehmend angeprangerter Punkt könnte jedoch auch sein, dass die bislang publizierten Effekte nicht so zuverlässig sind, wie es die derzeitige Publikationslage vermuten lässt. Die sowohl inhaltlich als auch sprachlich gelungene Arbeit von Herrn Krug bietet einen guten Ausgangspunkt für weitere kritische Überprüfungen des vermuteten Einflusses von (umweltbedingten) Top-Down-Prozessen auf Urteile und Entscheidungen im Sport.

Kassel, im Juli 2014

Florian Loffing & Norbert Hagemann

Danksagung

Ich bedanke mich bei Herrn Prof. Dr. Norbert Hagemann, dem Leiter des Fachbe- reichs Psychologie und Gesellschaft des Instituts für Sport und Sportwissenschaft der Universität Kassel, für die Ermöglichung, meine empirische Untersuchung in diesem Hause anfertigen zu dürfen.

Insbesondere möchte ich mich bei meinem Betreuer Herrn Dr. Florian Loffing für seine intensive Unterstützung und Betreuung bedanken. Auch in schwierigen Phasen war mir Dr. Florian Loffing in intensiven Fachgesprächen und Diskussionen immer auch ein moralischer Rückhalt.

Ganz besonderem Dank verpflichtet bin ich auch allen Probanden, die freiwillig an meiner empirischen Untersuchung teilgenommen haben. Neben der Unterstützung durch Willi Reinemann und Jörg Werner danke ich vor allem den teilnehmenden Schiedsrichtern aus den Schiedsrichtervereinigungen Schwalm-Eder, Kassel, Hers- feld-Rotenburg und Maintaunus.

Bedanken möchte ich mich auch bei André Krug, Kristina Biel, Elisabeth Krug und Katharina Truszkowska für deren große Bereitschaft für inhaltliche Diskussionen und Gespräche.

Nicht zuletzt geht ein sehr großer Dank an meine Familie, für ihre viele Geduld, mo- ralische Unterstützung und ihren Glaube an mich. Auf deren Fürsorge kann und konnte ich mich immer verlassen.

Neuental, im Juli 2014

Marcel Krug

I Inhaltsverzeichnis

I Inhaltsverzeichnis

I Inhaltsverzeichnis ...... I II Abbildungsverzeichnis ...... III III Tabellenverzeichnis ...... VI IV Abkürzungsverzeichnis ...... VII 1 Einleitung ...... 1 2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball ...... 3 2.1 Physische Anforderungen an Fußballschiedsrichter ...... 3 2.2 Psychische Anforderungen an Fußballschiedsrichter ...... 8 2.3 Regeltechnische Anforderungen an Fußballschiedsrichter ...... 13 2.4 Zusammenfassung ...... 17 3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung ... 18 3.1 Wahrnehmung ...... 20 3.2 Kategorisierung ...... 25 3.3 Gedächtnisorganisation ...... 31 3.4 Urteilen und Entscheiden ...... 33 3.5 Zusammenfassung ...... 39 4 Einfluss von Richtungseffekten auf den Entscheidungsprozess ...... 41 4.1 Richtungseffekte im Allgemeinen ...... 41 4.2 Richtungseffekte im Speziellen ...... 46 4.3 Zusammenfassung ...... 49 5 Fragestellung und Forschungshypothese ...... 50 6 Methode ...... 53 6.1 Versuchspersonen ...... 53 6.2 Material ...... 57 6.3 Versuchsplan ...... 58 6.4 Versuchsablauf ...... 61

I Inhaltsverzeichnis

7 Ergebnisse ...... 64 7.1 Anzahl der Foulspiele ...... 64 7.2 Entscheidungszeit ...... 66 7.3 Schwere des Foulspiels...... 67 7.4 Sonstige Ergebnisse ...... 68 8 Diskussion und Ausblick ...... 70 8.1 Hypothesen ...... 70 8.2 Methodenkritik ...... 74 8.2.1 Untersuchungsmaterial ...... 74 8.2.2 Probandenauswahl...... 76 8.2.3 Experimentelle Rahmenbedingungen ...... 76 8.3 Ausblick ...... 77 9 Zusammenfassung...... 79 10 Literaturverzeichnis ...... 80 A Anhang ...... 88 A 1 Allgemeine Teilnehmerinformationen über die Untersuchung...... 88 A 2 Einverständniserklärung ...... 89 A 3 Instruktionsblatt ...... 90 A 4 Fragebogen ...... 91

II Abbildungsverzeichnis

II Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Herzfrequenzverlauf des Schiedsrichters Anders Frisk während des Finals der Euro 2000 (Aus: Helsen & Bultynck, 2004, S. 183)...... 4 Abb. 2: Verteilung der Bewegungsaktivität der Schiedsrichter in Minuten (Nach: da Silva et al., 2008, S. 328)...... 6 Abb. 3: Konfliktmodell der Schiedsrichtersituation (Nach: Heisterkamp, 1977, S. 462)...... 9 Abb. 4: Das Verhältnis von Stress zu Leistung nach dem Yerkes-Dodson-Gesetz (Nach: Eissmann, 1996, S. 35)...... 11 Abb. 5: Dreistufige Entscheidungsfindung des Schiedsrichters (In Anlehnung an: Ebersberger, 2009, S. 277)...... 15 Abb. 6: Konzeptueller Rahmen der kognitiven Stufen der sozialen Informationsverarbeitung (Nach: Fiedler & Bless, 2003, S. 133).18 Abb. 7: Die kognitiven Stufen der sozialen Informationsverarbeitung eines Schiedsrichters im Sportspiel Fußball (Nach: Plessner & Haar, 2006, S. 558)...... 19 Abb. 8: Bewegungssehen im Sport und korrespondierende Beobachtungsaufgaben (Nach: Tidow, 1996, S. 248)...... 21 Abb. 9: Modell zu Einflussgrößen auf die Bewegungsbeurteilung (Nach: Neumaier, 1988, S. 387) ...... 22 Abb. 10: a) Der experimentelle Aufbau der Feldstudie mit den Angreifern (rote Dreiecke), Verteidigern (blaue Kreise) und dem Schiedsrichterassistenten (gelbe Fahne) b) Eine Spielsituation auf der fernen Seite des Spielfelds mit Abseits und kein Abseits c) Eine Spielsituation auf der nahen Seite des Spielfelds mit mehreren Angreifern und Verteidigern (Aus: Oudejans et al., 2000, S. 33)...... 24 Abb. 11: Stufe der Aggressivität der unterschiedlichen Mannschaften unterteilt nach Spielkleidungsbedingungen (Nach: Frank & Gilovich, 1988, S. 83)...... 27 Abb. 12: Beurteilungsergebnisse der Taekwondo-Kampfrichter vor und nach der Farbmanipulation (Aus: Hagemann et al., 2008, S. 770)...... 28

II Abbildungsverzeichnis

Abb. 13: Geschwindigkeitsveränderung von den ersten zwei Minuten zu den letzten zwei Minuten (in km/h) während der Fahrt im Fahrsimulator unterteilt nach Wortgruppen (Aus: Schmid-Mast et al., 2008, S. 841)...... 30 Abb. 14: Heimvorteil (meangD - goal differential) für jeden der 50 Schiedsrichter (referee) in Relation zum durchschnittlichen Heimvorteil (gestrichelte Linie) innerhalb der Analyse (Aus: Boyko et al., 2007, S. 1189).35 Abb. 15: Heimvorteil in Toren pro Spiel zwischen 1946 und 2010 in verschiedenen Ligen in Großbritannien (Aus: Nevill et al., 2013, S. 223)...... 36 Abb. 16: Absolute Häufigkeiten der gelben Karten aufgeteilt nach Spielzeiten der Fußballbundesliga in Deutschland (Nach: Memmert et al., 2008, S. 4)...... 37 Abb. 17: Das Ergebnis der Untersuchungen zeigt, dass beide Probandengruppen in Abhängigkeit ihrer Leserichtung schneller entschieden (Aus: Fuhrmann & Boroditsky, 2007, S. 1010)...... 42 Abb. 18: Eine Auswahl der Bilder der Kategorien dynamische Objekte (a), statische Objekte (b) und Landschaften (c) in der originalen und gespiegelten Version (Aus: Chokron & Agostini, 2000, S. 47). .. 43 Abb. 19: Die Ergebnisse der ästhetischen Präferenz der englischen und japanischen Probanden (Aus: Ishii et al., 2011, S. 245)...... 44 Abb. 20: Durchschnittliche Bewertungen der Kraft, Schnelligkeit und Schönheit der erzielten Tore in Abhängigkeit von Bewegungsrichtung und kulturellem Hintergrund (Aus: Maass et al., 2007, S. 847)...... 46 Abb. 21: Links (A): Anzahl der durchschnittlichen Fouls im Vergleich. Die Anzahl an Foulspielen für die Bewegungsrichtung von rechts nach links ist signifikant größer als die von links nach rechts. Rechts (B): Die Laufdiagonale des Schiedsrichters (REF), der Schiedsrichterassistenten (ASST1/ASST2) und die Bewegungsrichtung eines Angriffs (PLAY1/PLAY2) (Kranjec et al., 2010, S. 2)...... 47 Abb. 22: Die absolute Verteilung der Schiedsrichter auf ihre jeweils aktuellen Leistungsklassen...... 54

II Abbildungsverzeichnis

Abb. 23: Die Wettkampferfahrung der Schiedsrichter und der Nichtschiedsrichter verteilt auf die drei Kategorien im Vergleich...... 55 Abb. 24: Die nichtwettkampfmäßige Erfahrung der Schiedsrichter und der Nichtschiedsrichter verteilt auf die vier Kategorien im Vergleich (Mehrfachnennung möglich)...... 56 Abb. 25: Eine originale Spielszene des Spiels Hertha BSC Berlin gegen 1. FC St. Pauli vom 19.11.2012 aus der Saison 2012/2013 der 2. Fußballbundesliga...... 57 Abb. 26: Die gespiegelte originale Spielszene des Spiels Hertha BSC Berlin gegen 1. FC St. Pauli vom 19.11.2012 aus der Saison 2012/2013 der 2. Fußballbundesliga...... 58 Abb. 27: Die Probandenliste mit den Angaben zum vpn_code, der Version, der zu benutzenden Hand und den sonstigen Anmerkungen...... 59 Abb. 28: Die Eingabemaske zur Beurteilung der Schwere des Foulspiels mit der Beurteilungsskala eins (extrem leicht) bis zehn (extrem schwer).62 Abb. 29: Mittlere Anzahl der bewerteten Foulspiele der Schiedsrichter und Nichtschiedsrichter in Abhängigkeit von der Bewegungsrichtung.64 Abb. 30: Mittlere Anzahl der Entscheidungen der Zweikampfsituationen von Schiedsrichtern und Nichtschiedsrichtern in Abhängigkeit von konsistenten bzw. inkonsistenten Foulentscheidungen...... 65 Abb. 31: Durchschnittliche Entscheidungszeit der Schiedsrichter und Nichtschiedsrichter in Abhängigkeit von der Bewegungsrichtung eines „gefoulten“ Spielers bei konsistenten Foulentscheidungen...... 66 Abb. 32: Durchschnittliche Schwere des Foulspiels der Schiedsrichter und Nichtschiedsrichter bei konsistenten Foulentscheidungen...... 67 Abb. 33: Ergebnis der quadratischen Kurvenanpassung für Nichtschiedsrichter...... 69 Abb. 34: Ergebnis der quadratischen Kurvenanpassung für Schiedsrichter...... 69

III Tabellenverzeichnis

III Tabellenverzeichnis

Tab. 1: Die durchschnittliche Laufleistung der untersuchten Schiedsrichter aufgeschlüsselt nach Strecke und durchschnittlicher Geschwindigkeit (Nach: da Silva et al., 2008, S. 329)...... 5

IV Abkürzungsverzeichnis

IV Abkürzungsverzeichnis

bpm Beats per minute (Schläge pro Minute)

BSC Berliner Sport-Club

DFB Deutscher Fußball-Bund

EM Europameisterschaft

FC Fußballclub

FIFA Fédération Internationale de Football Association

FSV Fußball- und Sportverein km/h Kilometer pro Stunde

M Mittelwert m Meter ms Millisekunden

SD Standardabweichung

SR Schiedsrichter

SRA Schiedsrichterassistent

UEFA Union of European Football Association

WM Weltmeisterschaft

1 Einleitung

1 Einleitung

„Nicht die Laufdiagonale wechseln“ (Böning, 2010, S. 4)

In einem Wettkampf zwischen zwei Mannschaften müssen Personen über die Regel- einhaltung wachen und Regelverstöße ahnden. So hat sich im Verlaufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in fast allen Sportarten ein immer professionelleres Schiedsrichterwesen etabliert. Ein Schiedsrichter im Sportspiel Fußball ist sehr vie- len verschiedenen Einflüssen, aber auch unterschiedlichen Interessen ausgesetzt. Die Spieler, Trainer, Funktionäre und Zuschauer wollen innerhalb des Spiels jegliche Möglichkeit für ihre Mannschaft nutzen, das Spiel zu ihren Gunsten zu gestalten. In- nerhalb dieser gegensätzlichen Interessen muss der Schiedsrichter, als neutrale und unparteiische Instanz, seine Entscheidungen im Sinne der gültigen Regeln treffen.

In der wissenschaftlichen Diskussion wird der Schiedsrichter aufgrund der Neutrali- tät, die von ihm erwartet wird, immer wieder als Untersuchungsobjekt herangezogen. Hierzu wurden bereits die Einflüsse unterschiedlicher Faktoren wie Farben, Zus- chauern oder Körpergröße auf die Leistung von Schiedsrichtern im Sportspiel Fuß- ball untersucht.

Inwiefern sich die Bewegungsrichtung auf die Beurteilung von Foulspielen in Zwei- kampfsituationen auswirkt, untersuchten Kranjec, Lehet, Bromberger und Chatterjee (2010). In ihrer Untersuchung an universitären Fußballspielern zeigte sich, dass in Zweikampfsituationen mit einer Bewegungsrichtung von rechts nach links häufiger auf Foulspiel entschieden wurde als im umgekehrten Fall. Zielsetzung der vorliegen- den Arbeit soll es nun sein, diese Forschungsergebnisse an Schiedsrichtern und Nichtschiedsrichtern zu überprüfen. Für Schiedsrichter gehört die Beurteilung von Zweikampfsituationen zu ihren Hauptaufgaben. Inwieweit die Expertise der Schieds- richter dazu beiträgt, die Anfälligkeit für Richtungseffekte zu reduzieren, soll in die- ser Studie untersucht werden.

Bezug nehmend auf das gewählte Einstiegszitat soll in dieser Arbeit geklärt werden, ob Schiedsrichter im Hinblick auf ihr Stellungsspiel die Laufdiagonale wechseln sollten oder nicht.

Die Arbeit gliedert sich in einen theoretischen und einen empirischen Teil. Zu Be- ginn des theoretischen Teils werden die unterschiedlichen Anforderungen an einen

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1 Einleitung

Schiedsrichter im Sportspiel Fußball dargestellt und ausführlich erläutert. Neben den physischen und psychischen Anforderungen sind auch regeltechnische Anforderun- gen von Bedeutung. Diese werden in Kapitel 2 näher erläutert.

Im Hinblick auf die Tätigkeit des Schiedsrichters während seiner Spielleitung kann die Schiedsrichterentscheidung als Produkt der sozialen Informationsverarbeitung (Fiedler & Bless, 2003) interpretiert werden. In Kapitel 3 werden neben den allge- meinen Annahmen zu diesem Modell auch die einzelnen kognitiven Stufen ausführ- lich dargestellt.

Kapitel 4 befasst sich mit der Auswirkung unterschiedlicher Richtungseffekte auf den Entscheidungsprozess. Zunächst werden in diesem Kapitel allgemeine Aussagen und später spezifische Aussagen für das Sportspiel Fußball getroffen.

Zu Beginn des empirischen Teils werden zunächst in Kapitel 5 die Fragestellung und die Forschungshypothese vorgestellt, bevor anschließend in Kapitel 6 der methodi- sche Aufbau der durchgeführten Untersuchung beschrieben wird.

Nach der Darstellung der Untersuchungsergebnisse in Kapitel 7 folgt in Kapitel 8 die kritische Auseinandersetzung mit den formulierten Hypothesen und der verwendeten Methode. Ebenfalls wird hier ein Ausblick auf mögliche Folgestudien gewagt.

Die Arbeit wird in Kapitel 9 mit einer Zusammenfassung der durchgeführten Studie abgeschlossen.

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball

2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball

Der Schiedsrichter ist mit seiner neutralen Entscheidungsfunktion aus dem heutigen Wettkampfsystem des Sportspiels nicht mehr wegzudenken. In fast allen Sportarten, bei denen Wettkämpfe ausgetragen werden, sind Kampf- oder Schiedsrichter betei- ligt. Für Plessner (2009, S. 19) greift die Funktion des Schiedsrichters in manchen Bereichen noch weiter: „In einigen Sportarten wird die erbrachte sportliche Leistung sogar ausschließlich durch menschliche Urteile bestimmt.“ Dabei werden an Schiedsrichter unterschiedlichste Anforderungen gestellt, in die dieses Kapitel einen Einblick geben soll. Es werden die physischen und psychischen Anforderungen vor- gestellt und beleuchtet. Im Verlauf des Kapitels wird auf relevante Studien Bezug genommen, die im Zusammenhang mit Anforderungen an Schiedsrichter im Sports- piel Fußball sowie Problemen der Entscheidungsfindung stehen, um den aktuellen Stand der sportwissenschaftlichen Forschung darzulegen. Zum Abschluss werden explizit Probleme bei Schiedsrichterentscheidungen beschrieben. Dabei soll der Fra- ge nachgegangen werden, inwieweit der Schiedsrichter in der Situation seiner Ent- scheidungsfindung Ermessensspielräume hat.

2.1 Physische Anforderungen an Fußballschiedsrichter

Die physischen Anforderungen an den Schiedsrichter im Sportspiel Fußball sind heutzutage nicht zu unterschätzen, denn Schiedsrichter sind neben den einzelnen Spielern der beiden Mannschaften selbst Leistungssportler. Körperliche Fitness ist Grundvoraussetzung, um dem immer schneller werdenden Fußballspiel folgen zu können. Um in höhere Spielklassen aufzusteigen und dort auch bestehen zu können, ist regelmäßiges körperliches Training notwendig.

Betrachten wir ein Bundesligaspiel! Die Spielszenen wechseln außerordentlich rasch. Schnell verlagert sich das Spielgeschehen von einem Tor zum anderen Tor. Wenn sich der Schiedsrichter zu weit vom Geschehen entfernt aufhält, wird er die Vorgänge nicht genau beobachten können. Fehlentscheidungen sind die Folge (Ebersberger, Malka & Pohler, 1989, S. 10).

Diese Aussage bestätigt die enorme Bedeutung der physischen Voraussetzungen im Hinblick auf die Schiedsrichterleistung im Sportspiel Fußball. Ohne eine ausreichen- de Vorbereitung auf die psychophysiologischen Beanspruchungen im Fußballspiel wird es der Schiedsrichter sehr schwer haben, die Anerkennung der Spieler, Trainer

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball und Zuschauer zu gewinnen. Grundkenntnisse des sportlichen Trainings und der sportlichen Leistungsentwicklung sind für die individuelle Vorbereitung auf die Spielleitung als Fußballschiedsrichter im Rahmen eines Wettkampfs zwingend erfor- derlich. Auf die speziellen Anforderungen des Sportspiels Fußball als azyklische Sportart mit Intervallen und leistungsbegrenzenden Ausdauerkomponenten müssen sich neben den Spielern auch die Schiedsrichter einstellen (Teipel, Kemper & Hei- nemann, 1999). Die azyklischen Belastungen in Form von wechselnden Intervallen und leistungsbegrenzenden Ausdauerkomponenten spiegeln sich etwa auch in den Herzfrequenzen wider. Helsen und Bultynck (2004) haben in ihrer Studie das Final- turnier der Fußballeuropameisterschaft im Jahr 2000 in den Niederlanden und Bel- gien untersucht. Die Teilnehmer der Studie waren die besten Schiedsrichter und Schiedsrichterassistenten aus den unterschiedlichen Ländern Europas.

Abb. 1: Herzfrequenzverlauf des Schiedsrichters Anders Frisk während des Finals der EM 2000 (Aus: Helsen & Bultynck, 2004, S. 183).

Als Ergebnis der Studie konnte gezeigt werden, dass sich die durchschnittliche Herz- frequenzen bei Schiedsrichtern bei 155 bpm (SD = 16) und Schiedsrichterassistenten bei 140 bpm (SD = 14) in der Phase der Belastung unterscheiden. So bewegte sich die Herzfrequenz des Schiedsrichters Anders Frisk während des Finales der Europa- meisterschaft zwischen Italien und Frankreich im Wesentlichen zwischen 170 und 190 bpm. Nur in der Halbzeitpause, der Pause vor der Verlängerung und nach Spie- lende normalisierte sich die Herzfrequenz (vgl. Abb. 1). Bei Untersuchungen an Schiedsrichtern im Sportspiel Basketball von Schmidt, Zimmermann und Lange

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball

(1987) zeigte sich, dass die durchschnittliche Herzfrequenz noch 10 Minuten nach Spielschluss erhöht ist. Die azyklischen Belastungen in Form von wechselnden Intervallen stellen demnach auch enorme Anforderungen an das Herz-Kreislauf- System und müssen durch regelmäßiges körperliches Training vor- und nachbereitet werden. Die erhöhte Herzfrequenz ist das Ergebnis unterschiedlicher Belastungsin- tensitäten, die aufgrund der hohen Laufleistung mit unterschiedlichen Geschwindig- keiten zustande kommen. Diese unterschiedlichen Belastungsintensitäten untersuch- ten da Silva, Fernandes und Fernandez (2008) in ihrer Studie mit akkreditierten bra- silianischen Schiedsrichtern bei 29 Fußballspielen der Saison 2005 und 2006 in der Paraná Championship of professional Soccer (Series A und Series B). Dabei zeigten die Ergebnisse der Untersuchung eine durchschnittliche Laufleistung der Schieds- richter von insgesamt 9155,5 m (SD = 70,3) pro Spiel. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Untersuchungen, die sich mit der durchschnittlichen Laufleistung beschäfti- gen (Krustrup & Bangsbo, 2001; Mascarenhas, Button, O'Hara & Dicks, 2009; Wes- ton, Castagna, Impellizzeri, Rampinini & Breivik, 2010). Der Vergleich dieser ver- schiedenen Studien zeigt, wie stark die jeweiligen Laufleistungen von Schiedsrich- tern je nach Land und Leistungsklasse auseinanderliegen können. Rodekamp (2006, S. 129) führt dazu aus: „Dass ein Schiedsrichter in der 1. eine Strecke von knapp 2.500 Meter mehr bewältigte als ein Schiedsrichter in der , lag an seinen besseren konditionellen Fähigkeiten und an der schnelleren Spielweise der Spieler in der höheren Liga.“ Unter Berücksichtigung der Studienlage liegt die durchschnittliche Laufleistung der Schiedsrichter im Minimum bei rund 9000 m, was die Untersuchungen von da Silva et al. (2008) nachwiesen. Das Maximum liegt bei fast 13000 m, was Weston et al. (2010) zeigten. Wird die Laufleistung des Schieds- richters auf unterschiedliche Durchschnittsgeschwindigkeiten aufgeschlüsselt, ergibt sich folgendes Bild:

Tab. 1: Die durchschnittliche Laufleistung der untersuchten Schiedsrichter aufgeschlüsselt nach Strecke und durchschnittlicher Geschwindigkeit (Nach: da Silva et al., 2008, S. 329).

Strecke Durchschnittsgeschwindigkeit Prozentualer Anteil

4591,9 m (SD = 73,4) Gehen (5,83 km/h) 50,2 %

2577 m (SD = 127,2) Joggen (8,85 km/h) 28,1 %

1010,9 m (SD = 74,6) Laufen (11,37 km/h) 11,0 %

122,7 m (SD = 19,3) Sprinten (18,28 km/h) 1,4 %

852,6 m (SD = 48,7) Rückwärtslaufen (8,85 km/h) 9,3 %

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball

Allerdings fehlt bei dieser Aufschlüsselung eine Komponente, die nicht zur durch- schnittlichen Laufleistung beiträgt: das Stehen des Schiedsrichters. Hier zeigen die Untersuchungen von da Silva et al. (2008), dass das Stehen 13,59 Minuten einnimmt. Die restliche zeitliche Verteilung ist der Abbildung 2 zu entnehmen.

Verteilung der Bewegungsaktivität

Stehen 13,59

Gehen 47,06

Rückwärtslaufen 5,46

Joggen 17,26 Zeit in Minuten

Laufen 5,2

Sprinten 0,24

0 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50

Abb. 2: Verteilung der Bewegungsaktivität der Schiedsrichter in Minuten (Nach: da Silva et al., 2008, S. 328).

Wird die Laufleistung in der ersten und zweiten Halbzeit verglichen, zeigt sich, dass Schiedsrichter in der ersten Halbzeit eine höhere Laufleistung erzielen als in der zweiten Halbzeit (da Silva et al., 2008; Mascarenhas et al., 2009), allerdings ist diese Veränderung statistisch nicht bedeutsam. Jedoch verändert sich die Verteilung der durchschnittlichen Laufleistung signifikant (p < .05) für Gehen, Joggen und Rück- wärtslaufen. Auch Mascarenhas et al. (2009) kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Wes- ton et al. (2010) fanden in einer Untersuchung in Abhängigkeit vom Alter unter- schiedliche durchschnittliche Laufleistungen, so dass Schiedsrichter im Alter von 31 bis 36 Jahren mit 12209 m (SD = 713) deutlich mehr laufen als ältere Schiedsrichter mit einer durchschnittlichen Laufleistung von 11534 m (SD = 748) pro Spiel. Dass sich die physischen Anforderungen an Fußballschiedsrichter im Hinblick auf kondi- tionelle Fähigkeiten wie Ausdauer oder Schnelligkeit gewandelt haben, zeigen die Veränderungen der konditionellen Leistungstests für Schiedsrichter. Die FIFA, UE- FA und der DFB haben ihre Leistungskontrolle in der folgenden Form geändert:

 Bis zur Saison 2006/2007 mussten die männlichen Fußballschiedsrichter auf DFB-Ebene einen 50-Meter-Sprint in 7,5 Sekunden und einen 200-Meter-Lauf in 32 Sekunden absolvieren. Darüber hinaus musste der Cooper-Test mit einer

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball

Norm von 2700 m absolviert werden (vgl. Weineck, 2004). Nach Eissmann (1996) liegt der Optimalbereich für UEFA-Schiedsrichter-Lehrgänge zwischen 2900 m und 3200 m. Bei der Untersuchung des Lehrgangs im Jahr 1996 erreich- ten diesen Bereich 83 Prozent der Schiedsrichter. Lediglich ein Schiedsrichter er- reichte die Norm nicht.  Seit der Saison 2007/2008 müssen die Schiedsrichter auf DFB-Ebene zwei neue Tests absolvieren. Der erste Test (Kurzstrecke) umfasst sechs Sprints von jeweils 40 Metern mit fliegenden Starts und einer Erholungszeit von 90 Sekunden. Die Norm liegt hier für Schiedsrichter bei 6,2 Sekunden und für Schiedsrichterassis- tenten bei 6,0 Sekunden. Der zweite Test (Langstrecke) umfasst zehn Runden auf einer 400-m-Bahn. Die Schiedsrichter müssen vom Start aus 150 m in einer festgelegten Zeit von 30 Sekunden zurücklegen. Danach müssen 50 m in einer Zeit von 40 Sekunden zurückgelegt werden. Hiernach wiederholt sich der Vor- gang, so dass die Runde von 400 m vervollständigt wird. Diese Prozedur wird 20 Mal wiederholt (Weston & Helsen, 2013). Folglich werden insgesamt 3000 m im hochintensiven Belastungsbereich absolviert (Mallo, Navarro, Gracia-Aranda & Helsen, 2009).

Es wurde damit der Forderung von Teipel et al. (1999) nachgekommen, dass sich die Testverfahren für Schiedsrichter an den speziellen Anforderungen des Sportspiels Fußball als azyklische Sportart mit Intervallen und leistungsbegrenzenden Ausdauer- komponenten orientieren sollten. Um diese Anforderungen physisch zu bewältigen, trainieren Schiedsrichter vor Saisonstart etwa acht Stunden und Schiedsrichterassis- tenten etwa sieben Stunden in der Woche. In der laufenden Saison reduziert sich der Trainingsaufwand bei Schiedsrichtern auf etwa sechs und bei Schiedsrichterassisten- ten auf etwa fünf Trainingsstunden in der Woche (Kordi, Chitsaz, Rostami, Mostafa- vi & Ghadimi, 2013). Der zeitliche Trainingsaufwand (pro Woche) muss innerhalb der Saison jedoch noch um Wettkämpfe in Form von Spielleitungen ergänzt werden.

Es konnte gezeigt werden, dass an Schiedsrichter im Sportspiel Fußball hohe physi- sche Anforderungen gestellt werden. Die Belastung des Schiedsrichters gemessen an der Herzfrequenz (Helsen & Bultynck, 2004) kommt durch die Laufleistung zustan- de. Diese Laufleistung variiert im Hinblick auf die absolvierten Geschwindigkeiten (da Silva et al., 2008), die Leistung in der ersten und zweiten Halbzeit (Mascarenhas et al., 2009) und bei der absoluten Laufleistung (Weston et al., 2010).

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball

2.2 Psychische Anforderungen an Fußballschiedsrichter

Neben physischen Anforderungen werden auch psychische Anforderungen an Schiedsrichter im Sportspiel Fußball gestellt. In allen Handlungsphasen der Bewälti- gung sportmotorischer Anforderungen sind psychische Leistungsvoraussetzungen notwendig und werden beansprucht (Frester, 1999). Bei der Übertragung auf die Tä- tigkeit von Schiedsrichtern im Sportspiel Fußball kann dies beispielsweise von einer gewissen Grundanspannung während der eigenen Spielleitung über schwere Stresssi- tuationen im Spiel, wie bei einer Elfmeterentscheidung, bis hin zu massiven psychi- schen Problemen aufgrund von andauernder Kritik durch Medien und Öffentlichkeit reichen.

Woche für Woche stehen die Schiedsrichterleistungen in vielen Bereichen des Sports im Mittelpunkt der Diskussion von Wettkampfergebnissen und damit auf dem Prüf- stand. Die massive Kritik, sie überwiegt insgesamt die positiven Tendenzen der Diskus- sion, ist vorprogrammiert. Dabei machen es sich Trainer, Spieler, Funktionäre, Fans und Medien zu einfach, wenn die Schiedsrichter als Sündenböcke für mangelnde Wett- kampfleistungen herhalten sollen. Wie oft werden dabei die Eigenanteile an solchen Minusresultaten vergessen (Trosse, 2001, S. 36).

Für Schiedsrichter im Spitzenbereich von DFB oder FIFA bzw. UEFA sind öffentli- che Diskussionen über Fehlentscheidungen oder Fehlleistungen in Spielen sicherlich nicht förderlich und können in manchen Fällen bis hin zum Freitod führen. So ver- suchte etwa der frühere FIFA-Schiedsrichter Babak Rafati am 19. November 2011 sich das Leben zu nehmen. Rafati war an diesem Tag für das Bundesligaspiel zwi- schen dem 1. FC Köln und dem 1. FSV Mainz 05 eingesetzt, welches aufgrund des Suizidversuches abgesagt wurde. Als Auslöser für den versuchten Selbstmord gab Babak Rafati selbst öffentlichen Druck und Depressionen an (Rafati, 2013). Dieses Beispiel zeigt in einer sehr ausgeprägten Form, welche Konsequenzen die psychi- schen Belastungen und Anforderungen für Schiedsrichter im Sportspiel Fußball ha- ben können. Heisterkamp (1978) unterscheidet bei Schiedsrichtern funktions- und personenbezogene Belastungen. Die funktionsbezogenen Belastungen sind unabhän- gig von der individuellen Persönlichkeitsstruktur des Schiedsrichters, aber mit der Funktion der Spielleitung eng verbunden. Der Schiedsrichter steht im Spannungsfeld von Macht und Ohnmacht, denn er ist mit einer hohen Verfügungsgewalt ausgestat- tet, aber von der Mitwirkung am eigentlichen Wettkampfgeschehen ausgeschlossen. Mit seinen regulierenden Eingriffen durchlebt der Schiedsrichter im Kampfspiel Fußball, mit seinen dramatischen Formentwicklungen, die Konflikte des Bestimmens

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball und des Bestimmtwerdens, gerade auch in Anlehnung an lebensnahe Situationen des täglichen Seins. „So werden die Strukturierungsprobleme der Spielleitung ebenfalls zu einem Spielfeld seelischer Grundkomplexe“ (Heisterkamp, 1978, S. 163). Neben den funktionsbezogenen Belastungen spielen auch die personenbezogenen Belastun- gen für Heisterkamp (1978) eine wichtige Rolle. Persönliche Verhaltensmuster wie Ablehnungs-, Ohnmachts- und Misserfolgsängste erschweren demnach die situati- onsadäquate Entscheidungsfindung des Schiedsrichters. Somit weist die Situation des Schiedsrichters Analogien zur Grundsituation der Persönlichkeitsentwicklung auf.

Eingriff Protest

Abb. 3: Konfliktmodell der Schiedsrichtersituation (Nach: Heisterkamp, 1977, S. 462).

Eine bestimmte Spielsituation erfordert vom Schiedsrichter ein Eingreifen, welche eine Mannschaft als vornehmliche Benachteiligung wahrnimmt. Somit beginnt der Kreislauf aus Eingriff und Protest (vgl. Abb. 3). Die Mannschaft protestiert gegen die Entscheidung des Unparteiischen und provoziert eventuell einen direkten Eingriff des Schiedsrichters, etwa in Form einer Verwarnung. In der nächsten Spielsituation muss der Schiedsrichter erneut eine Entscheidung treffen, so dass sich Spieler, Trai- ner und Zuschauer in einen Machtkampf mit dem Schiedsrichter steigern, dessen En- de nur gewaltsam und heftig, etwa durch Platzverweis oder Spielabbruch, herbeige- führt werden kann (Heisterkamp, 1977). Für Störungen in der Spielleitung können auch Störungen der Identitätsentwicklung verantwortlich sein. Dies lässt sich eben- falls anhand des Konfliktmodells der Schiedsrichtersituation veranschaulichen. Durch Proteste der Spieler gegen eine getroffene Entscheidung werden beim Schiedsrichter Minderwertigkeitsgefühle, etwa in Form von Ablehnungs-, Unterle- genheits- oder Misserfolgsängsten, ausgelöst. Aufgrund der Angst vor Ablehnung ist

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball der Schiedsrichter sensibilisiert und empfindet den Protest als ungerechtfertigte Ab- lehnung und Zurückweisung. Diese Unterlegenheitsangst sensibilisiert ihn wiederum für die Fremdbestimmung, so dass der Schiedsrichter den Protest als Bedrohung sei- ner Machtposition empfindet. Aufgrund der Entwicklung von Misserfolgsängsten im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung ist die Empfindlichkeit für Kritik sehr stark ausgeprägt. Der Schiedsrichter wird daher den Protest der Spieler als Vorwurf der Unzulänglichkeit erleben (Heisterkamp, 1978). Heisterkamps (1978) angesprochenen funktions- und personenbezogenen Belastungen sind grundsätzliche Überlegungen, die im Hinblick auf das Konfliktmodell sicherlich von Relevanz für die Schiedsrich- tertätigkeit sind. Die angesprochene Auseinandersetzung von Spielern mit Mitspie- lern, Schiedsrichtern, Gegenspielern oder Trainern bzw. Betreuern wurde in einer Studie über Ärger im Fußball näher untersucht. Es zeigte sich, dass die Fußballspie- ler, welche aus den unteren Spielklassen des Amateurfußballs stammten, nicht den Schiedsrichter als primäres Ärgerobjekt angaben. Die eigenen Mitspieler nahmen mit 40,9 Prozent Platz eins ein, gefolgt von den Schiedsrichtern mit 30,5 Prozent, den Gegenspielern mit 23,8 Prozent und den Trainern/Betreuern mit 4,7 Prozent. Die Er- gebnisse änderten sich im Hinblick auf die Spielausgänge Niederlage und Unent- schieden nur geringfügig. Bei einem Sieg der eigenen Mannschaft rutschte jedoch der Schiedsrichter als Ärgerobjekt mit 12,5 Prozent auf den letzten Platz (Mees & Chassein, 1992). Wenn sich Erfolg einstellt, rückt demnach der Schiedsrichter mit seiner guten oder schlechten Leistung zumindest für eine Mannschaft in den Hinter- grund. Auseinandersetzungen mit Spielern, Trainern oder Zuschauern im Sinne des Konfliktmodells von Heisterkamp bedeuten für Schiedsrichter immer psychische Be- lastungen, etwa in Form von Stress. Zu dem Begriff „Stress“ gibt es sehr viele ver- schiedene Definitionen, eine davon lautet wie folgt:

Stress tritt aus, wenn vor oder während einer Handlung zwischen der Wahrnehmung der Umweltanforderung und der Beurteilung der zur Verfügung stehenden eigenen Fähig- keiten und Mittel ein Ungleichgewicht entsteht und das Handlungsergebnis von subjek- tiver Wichtigkeit ist (Baumann, 2009, S. 266).

Die Definition von Baumann lässt sich auf schiedsrichterspezifische Handlungssitua- tionen übertragen. Der Schiedsrichter muss etwa bei einem Zweikampf zwischen Verteidiger und Angreifer im Strafraum sehr aufmerksam auf jede Bewegung und Handlung der beiden Akteure achten, um einen eventuellen Regelverstoß ahnden zu können. Stellt der Schiedsrichter ein Foulspiel des Verteidigers fest, muss die Ent- scheidung auf Strafstoß fallen. Ein reklamierender Spieler könnte den Schiedsrichter

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball an seiner Entscheidung zweifeln lassen, weil die Situation eventuell aus einem un- glücklichen Blickwinkel beurteilt wurde. Das Handlungsergebnis, ein Strafstoß und eine persönliche Strafe in Form einer Verwarnung oder gar eines Platzverweises, kann das Spiel und somit die Arbeit des Schiedsrichters maßgeblich beeinflussen. So könnte sich im restlichen Spielverlauf der Teufelskreis aus Eingriff und Protest nach Heisterkamp (1977) deutlich heftiger weiterentwickeln. Für Eissmann (1996) reagie- ren Personen wie ein Schiedsrichter auf Reizeinwirkungen wie Belastungen oder Spannungen mit Anpassungsprozessen. Der Körper versucht die einwirkenden Be- lastungen auszuhalten und mobilisiert dafür sein Abwehrsystem. So schlägt das Herz schneller oder die Körpertemperatur steigt an. Die Leistungsfähigkeit nimmt zu, der Körper stellt seine Leistungsbereitschaft her. Unter Belastung ist die Leistungsfähig- keit höher als etwa im alltäglichen Leben. Insgesamt lässt sich sagen, dass Stress bei- spielsweise in Form von Belastungen nicht zwangsläufig negativ zu bewerten ist. Wenn jedoch die Stresseinwirkung durch die Überlastung des Körpers zu groß wird, erfolgt eine starke Leistungsverminderung. „The Yerkes-Dodson law is helpful be- cause it shows how stress can have both good and bad effects; good at moderate le- vels and bad at the extremes“ (Brewer & Williams, 2005, S. 237).

Abb. 4: Das Verhältnis von Stress zu Leistung nach dem Yerkes-Dodson-Gesetz (Nach: Eissmann, 1996, S. 35).

Anhand von Abbildung 4 lassen sich sowohl die Auffassung von Eissmann (1996) als auch die von Brewer und Williams (2005) auf die Schiedsrichtertätigkeit übertra- gen. Moderate Belastungen in Form von Stress sind förderlich für die Schiedsrichter-

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball leistung, aber ein Stressniveau in den Extremen ist hinderlich. „Das Geheimnis der guten Leistung ist es also, optimal belastet zu sein“ (Eissmann, 1996, S. 35). Die Studie von Brand (2002) im Sportspiel Basketball zeigte, dass Schiedsrichter etwa Beschimpfungen von Trainern oder das Treffen von umstrittenen Entscheidungen als mittleren bis sehr hohen emotionalen Stress empfinden. Dass sich psychische Belas- tungen in Form von Stresssituationen auch auf das physische System auswirken kön- nen, zeigte die Untersuchung von Schmidt, Zimmermann und Lange (1987). Die Studie im Sportspiel Basketball untersuchte bei 24 Basketballbundesligaspielen so- wohl physische als auch psychische Parameter. Die Ergebnisse der physischen Un- tersuchungen der Schiedsrichter zeigen für das Sportspiel Basketball viele Übereins- timmungen mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen aus Untersuchungen im Sportspiel Fußball. Bei der Untersuchung von Basketballschiedsrichtern durch Schmidt et al. (1987) zeigen sich wie bei Helsen und Bultynck (2004) ähnliche phy- siologische Parameter (vgl. Kap. 2.1). Aufgrund der Vergleichbarkeit der physiologi- schen Parameter sollen an dieser Stelle die psychologischen Ergebnisse der Studie vorgestellt werden. Auch hier ist durch ähnliche Anforderungen im Sportspiel Bas- ketball von einer Übertragbarkeit auszugehen. In der psychischen Untersuchung von Schmidt et al. (1987) wurden die Schiedsrichter in vier Motivationskategorien (Ans- trengungsbereitschaft, Kontaktbereitschaft, soziale Anerkennung und Selbstsicher- heit) und vier Beanspruchungskategorien (Stimmungslage, Spannungslage, Erhol- theit und Schläfrigkeit) vor und nach dem Spiel befragt. Es zeigte sich, dass in allen Kategorien die Werte vom Zeitpunkt vor dem Spiel hin zum Zeitpunkt nach dem Spiel sanken. Mit Ausnahme der Kategorie der „Kontaktbereitschaft“ war bei allen anderen Kategorien ein signifikantes Absinken der Werte zu beobachten. Zudem zeigte sich ein hoch signifikanter Abfall der Werte in der Motivationskategorie „Selbstsicherheit“ und der Beanspruchungskategorie „Stimmungslage“. Die Studie von Schmidt et al. (1987) zeigt somit exemplarisch, welche psychischen Anpassun- gen ein Schiedsrichter während eines Spiels erfährt. Die Untersuchungen liegen zwar schon über 25 Jahre zurück, jedoch lassen die Ergebnisse erahnen, was Schiedsrich- tern in physischer und psychischer Hinsicht bei ihrer Tätigkeit in den Belastungssi- tuationen widerfährt. In den Medien wird hauptsächlich negativ über Schiedsrichter und ihre Entscheidungen berichtet. Bereits Ende der 1970er Jahre beschäftigte sich Heisterkamp (1979) mit der Berichterstattung über Schiedsrichterleistungen in der Bildzeitung und dem Kicker-Magazin in der Fußballbundesligasaison 1976/1977. Als Ergebnis zeigte sich, dass nur zu 23 Prozent die Leistung des Schiedsrichters er- wähnt wird. Falls die Leistungen des Schiedsrichters überhaupt erwähnt werden, so

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball werden diese zu 70 Prozent negativ beurteilt. Diese Kritik bezieht sich beispielsweise auf Abwertung, Unentschiedenheit, Inkonsequenz oder Fehlentscheidungen. Zusätz- lich 7 Prozent betonen die Fragwürdigkeit der Entscheidungen. 16 Prozent der Be- richte der Bildzeitung und des Kicker-Magazins zeigen eine neutrale Berichterstat- tung und lediglich 7 Prozent sprechen von einer positiven Schiedsrichterleistung, et- wa in Form von Belobigung oder Rechtfertigung.

Die Kritik bleibt im sachlichen Sinne ineffektiv. Sie geschieht offenbar um ihrer selbst willen, also unsachlich. Das trifft besonders für die massiven Abwertungen zu, nach denen der Schiedsrichter der schwächste Mann auf dem Platz sei [...]. In diesen Fällen können wir darin lediglich eine affektive Abwertung des Schiedsrichters sehen, die im Dienste der Icherhöhung des Reporters steht (Heisterkamp, 1979, S. 392).

Es lässt sich abschließend sagen, dass Schiedsrichter im Sportspiel Fußball unter- schiedlichsten psychischen Anforderungen ausgesetzt sind. Diese können von Spie- lern (Heisterkamp, 1977; Mees & Chassein, 1992) oder Medien (Heisterkamp, 1979) ausgehen, aber auch stressbedingt (Brand, 2002; Brewer & Williams, 2005; Eiss- mann, 1996) sein. Daneben zeigt sich durch die Spielleitung an sich eine psychische Veränderung bei Schiedsrichtern (Schmidt et al., 1987). Vermutlich haben diese Fak- toren eine Wirkung auf den Entscheidungsprozess des Schiedsrichters im Sportspiel Fußball.

2.3 Regeltechnische Anforderungen an Fußballschiedsrichter

Schiedsrichter sind bei ihrer Tätigkeit der Spielleitung permanent gefordert, zu beo- bachten und zu entscheiden. Sie sehen sich aber nicht als Instanzen der Regelverwal- tung, sondern vielmehr als Game-Manager (Brand & Neß, 2004). Ihre Tätigkeit um- fasst Spielstrafen, beispielsweise in Form von direkten oder indirekten Freistößen, und persönliche Strafen, etwa in Form von Verwarnungen oder Platzverweisen. Probleme bei Entscheidungen von Schiedsrichtern können unterschiedlich gelagert sein. In der Vergangenheit gab es immer wieder Entscheidungen, die bis heute im Hinblick auf die Interpretation des Schiedsrichters diskutiert werden. Hierzu zählen etwa das Wembley-Tor im Finale der Fußballweltmeisterschaft 1966 oder das Hand- spiel („die Hand Gottes“) von Diego Armando Maradona bei der Fußballweltmeis- terschaft 1986 (Hilpert, 2010). Der ehemals Vorsitzende des Kontrollausschusses des Deutschen Fußball-Bunds (DFB), Horst Hilpert (2010), unterscheidet im Hinblick auf Varianten der Fehlentscheidungen grundsätzlich zwischen Regelverstößen und

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball fehlerhaften Tatsachenentscheidungen. Bei der Subsumtion eines festgestellten Sachverhalts können drei Formen von Regelverstößen unterschieden werden:

1. Bei der ersten Form wendet der Schiedsrichter auf den richtigen Sachverhalt die falsche Regel an, hierbei spricht man von einem Regelverstoß. 2. Bei der zweiten Form wendet der Schiedsrichter auf den falschen Sachverhalt die richtige Regel an, hierbei liegt kein Regelverstoß vor. 3. Bei der dritten und letzten Form wird auf den falschen Sachverhalt die falsche Regel vom Schiedsrichter angewendet. Hierbei ist theoretisch ein Regelver- stoß begangen worden, aber aufgrund des fehlerhaften Sachverhalts ist dieser für die Entscheidung nicht relevant, demnach auch nicht für das Ergebnis.

Um möglichst viele Fälle von Regelverstößen auszuschließen, werden die Schieds- richter im Sportspiel Fußball umfassend durch den Deutschen Fußball-Bund und sei- ne Landesverbände aus- und regelmäßig weitergebildet. Bei den monatlichen Schu- lungen durch den zuständigen Lehrwart in der heimischen Schiedsrichtergruppe werden Regelkenntnisse mit praktischen Hinweisen versehen (Strigel, 2009). Auch für den Aufstieg eines Schiedsrichters in seiner sportlichen Karriere sind umfassende Regelkenntnisse unerlässlich, denn: „Ohne fundierte theoretische Regelkenntnisse ist kein Weg nach oben möglich“ (Strigel, 2009, S. 26). Für Albrecht und Musahl (1979, S. 37) ist die gute Regelkenntnis eine zwingende Notwendigkeit für den eige- nen sportlichen Erfolg des Schiedsrichters:

Durch die zuständigen Schiedsrichterausschüsse werden alle Schiedsrichter in Leis- tungsklassen eingeteilt. Auf- und Abstieg innerhalb dieser Klassen richten sich nach den Leistungen bei der Leitung von Spielen und nach den Regelkenntnis- Überprüfungen während der regelmäßigen Schulungen.

Auch Ebersberger et al. (1989, S. 7) unterstützen die Bedeutung der Regeln für die Tätigkeit des Schiedsrichters im Sportspiel Fußball:

Für einen Fußball-Schiedsrichter ist die sichere Kenntnis der Spielregeln die erste Vor- aussetzung seiner Tätigkeit. Er muß sich immer und immer wieder mit den Regeln und ihrer Auslegung befassen, um die an ihn gestellten Anforderungen zu erfüllen.

Somit zeigt sich, dass der Deutsche Fußball-Bund ein hohes Interesse daran hat, die Anzahl von Fehlentscheidungen durch Schiedsrichter in Form von Regelverstößen zu minimieren. Dieses Interesse dient auch einem Selbstzweck, denn in der Rechts- und Verfahrensordnung (RuVO) des Deutschen Fußball-Bunds heißt es in § 17 Ab- satz 2 RuVO: „Einsprüche gegen die Spielwertung können unter anderem mit fol-

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball gender sachlicher Begründung erhoben werden“. Genauer definiert der Paragraph als Grund für den Einspruch gegen eine Spielwertung: „c) Regelverstoß des Schiedsrich- ters, wenn der Regelverstoß die Spielwertung als verloren oder unentschieden mit hoher Wahrscheinlichkeit beeinflusst hat.“ Regelverstöße durch Schiedsrichter im Sportspiel Fußball würden, bei Einspruch der benachteiligten Mannschaft, eine Spielannullierung und -wiederholung zur Folge haben. Anders ist die Situation bei der fehlerhaften Tatsachenentscheidung. Zu dieser Problematik äußert sich Rode- kamp (2006, S. 105) wie folgt:

Schiedsrichter versuchen die Regeln des Spiels umzusetzen. Sie interpretieren sie und wissen bei jedem Pfiff, dass hundertprozentige Eindeutigkeit jeder ihrer Entscheidun- gen nicht zu gewährleisten ist. Die meisten Einwurf- oder Abstoßpfiffe bieten keinen Deutungsspielraum, doch ganz anders sieht es aus, wenn ein Rempeln oder Stoßen im Strafraum auszulegen und wenn bei Abseitsentscheidungen zu prüfen ist, ob ein Akteur wirklich Einfluss auf das Spiel nimmt und somit strafwürdig positioniert ist. Die Ab- seitsregel lässt zwar zwangsläufig eine Grauzone der subjektiven Wahrnehmung zu, und je nach Einschätzung würden unterschiedliche Schiedsrichter unterschiedlich ent- scheiden.

Im Unterschied zu den Regelverstößen bieten somit die Tatsachenentscheidungen Ermessensspielräume für den Entscheidungsprozess des Schiedsrichters – eingeengt durch die gültigen Regeln. Hier sind durch die personale Disposition des Schieds- richters Auswirkungen auf die Leistung zu erwarten.

Wahrnehmen Feststellen Konsequenz

Abb. 5: Dreistufige Entscheidungsfindung des Schiedsrichters (In Anlehnung an: Ebersberger, 2009, S. 277).

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball

Bevor die individuellen Ermessensspielräume erfasst werden, scheint es notwendig zu sein, sich über die Entscheidungsfindung klar zu werden. Hier existieren ver- schiedene Modelle, wie eine Handlung zustande kommt (Heckhausen & Heckhau- sen, 2006). Für die Beschreibung von Handlungen von Schiedsrichtern hat Ebersber- ger (2009) ein Modell entworfen. Im Rahmen der dreistufigen Entscheidungsfindung (vgl. Abb. 5) ergeben sich Fehlerquellen beziehungsweise Ermessensspielräume, welche für die Schiedsrichterentscheidung von Bedeutung sein können. Als Beispiel soll hier das Handspiel eines Abwehrspielers im eigenen Strafraum dienen. Wenn der Schiedsrichter dieses Handspiel nicht wahrnimmt, kann er dieses folglich nicht fest- stellen und auch keine Entscheidung treffen. Wenn hingegen eine Wahrnehmung stattgefunden hat, kann auch eine Feststellung getroffen werden (Ebersberger, 2009). Das Regelwerk des Deutschen Fußball-Bunds (Deutscher Fußball Bund, 2013, S. 80) sieht in der Regel 12 (Verbotenes Spiel und unsportliches Betragen) Folgendes vor: „Dem gegnerischen Team wird ebenfalls ein direkter Freistoß zugesprochen, wenn ein Spieler [...] den Ball absichtlich mit der Hand spielt (gilt nicht für den Torwart im eigenen Strafraum).“ Der Schiedsrichter hat in dem Beispiel des Handspiels durch den Abwehrspieler die Situation wahrgenommen, dass der Ball in Kontakt mit der Hand gekommen ist. Er muss nun gemäß der Regel 12 feststellen, ob es sich um ein absichtliches oder ein unabsichtliches Handspiel gehandelt hat. An dieser Stelle wird der Ermessensspielraum für den Entscheidungsprozess des Schiedsrichters deutlich. Zum einen kann er argumentieren, dass es sich aus seiner Sicht um ein absichtliches oder ein unabsichtliches Handspiel handelt. Dieses Ermessen ist vermutlich von der Erfahrung des Schiedsrichters abhängig. Dass Vorwissen oder Erfahrungen einen Einfluss auf Leistungen haben, ist in verschiedenen Studien bereits nachgewiesen worden (Hagemann, Tietjens & Strauß, 2007). Daraus lässt sich ableiten: Je mehr Er- fahrung ein Schiedsrichter gesammelt hat, desto besser ist dieser in der Lage, zwi- schen absichtlichem und unabsichtlichem Handspiel zu differenzieren. Die Konse- quenzen für den Spielverlauf könnten unterschiedlicher nicht sein. Falls der Schieds- richter auf unabsichtliches Handspiel entscheidet, wird das Spiel fortgesetzt, ohne Pfiff oder Unterbrechung. Falls der Schiedsrichter aber auf absichtliches Handspiel entscheidet, bleibt ihm gemäß des Regelwerks keine andere Wahl als auf Strafstoß und Verwarnung für den Abwehrspieler zu entscheiden. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass es den Ermessensspielraum des Schiedsrichters nicht beim Wahrnehmen gibt, sondern lediglich bei der Feststellung (Ebersberger, 2009).

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2 Der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball

2.4 Zusammenfassung

Insgesamt zeigt sich, dass der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball den unterschied- lichsten Anforderungen gegenübersteht. An ihn werden physische Anforderungen im Fußball als azyklische Sportart mit Intervallen und leistungsbegrenzenden Ausdauer- komponenten gestellt (Teipel et al., 1999). Dies wirkt sich etwa auf seine Herzfre- quenz (Helsen & Bultynck, 2004; Schmidt et al., 1987) oder seine Laufleistung (da Silva et al., 2008; Krustrup & Bangsbo, 2001; Mascarenhas et al., 2009; Weston et al., 2010) aus. Bei der Laufleistung lassen sich im Hinblick auf verschiedene Krite- rien wie beispielsweise die absolvierte Geschwindigkeit Unterschiede feststellen (da Silva et al., 2008). Der Wandel des Sportspiels Fußball und der physischen Anforde- rungen für Schiedsrichter ist auch von Seiten der Verbände in die Konzipierung neuer Leistungstests eingeflossen (Eissmann, 1996; Mallo et al., 2009). Neben den physischen werden auch psychische Anforderungen an den Schiedsrichter im Sportspiel Fußball gestellt. Diese Anforderungen können von unterschiedlichen Sei- ten ausgehen. Die Spielleitung (Schmidt et al., 1987) stellt beispielsweise eine psy- chische Anforderung an den Schiedsrichter dar, die von Spielern (Mees & Chassein, 1992) oder Medien (Heisterkamp, 1979) ausgehen kann. Auch Stress bedeutet für den Schiedsrichter eine enorme psychische Belastung (Brand, 2002). Zusätzlich be- stehen regeltechnische Anforderungen an den Schiedsrichter als Game-Manager (Brand & Neß, 2004). Neben der Unterscheidung von Fehlentscheidungen und Re- gelverstößen (Hilpert, 2010) und deren Konsequenzen ist vor allem die Regelkenn- tnis von Bedeutung (Albrecht & Musahl, 1979; Strigel, 2009). Im Handeln ergeben sich für Schiedsrichter auch Ermessensspielräume (Rodekamp, 2006), die im Rah- men der Entscheidungsfindung jedoch gering sind.

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozia- ler Informationsverarbeitung

Die Verarbeitung von Informationen ist für den Entscheidungsprozess des Schieds- richters elementar. Spieler, Trainer, Zuschauer oder auch die Schiedsrichterassisten- ten sind potentielle Informationsquellen, welche auf den Entscheidungsprozess Ein- fluss nehmen. Schiedsrichterentscheidungen werden daher oft als Produkt der sozia- len Informationsverarbeitung interpretiert. So haben sich Fiedler und Bless (2003) mit dem kognitiven Prozess der sozialen Informationsverarbeitung beschäftigt. In ih- rem Modell werden vier verschiedene kognitive Verarbeitungsstufen unterschieden (vgl. Abb. 6).

Abb. 6: Konzeptueller Rahmen der kognitiven Stufen der sozialen Informationsverarbeitung (Nach: Fiedler & Bless, 2003, S. 133).

Zudem unterscheidet das Modell zwischen einem sichtbaren äußeren Bereich von Reizereignissen und Verhaltensreaktion und einem inneren Bereich, der intra- personal abläuft. Zunächst kommt es in diesem Modell im ersten Schritt zu Reiz- ereignissen, welche erst einmal wahrgenommen werden müssen. Die Beobachtung durch das Individuum wird dekodiert, kategorisiert und interpretiert. Das Gedächtnis und das dort gespeicherte Vorwissen beeinflussen den Prozess der Dekodierung, Ka- tegorisierung und Interpretation. Sowohl die eingehenden neuen Informationen als auch das vorhandene alte Wissen im Gedächtnis stellen den Ausgangspunkt für den Prozess der Urteils- und Entscheidungsbildung dar. Das Endergebnis des kognitiven

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

Prozesses der sozialen Informationsverarbeitung lässt sich anhand der Verhaltens- reaktion beobachten und analysieren. Die vier Verarbeitungsstufen können nicht alle trennscharf voneinander betrachtet werden, denn die unterschiedlichen Stufen sind voneinander abhängig und durch verschiedene Rückkopplungsschleifen gekenn- zeichnet. Der Ablauf der sozialen Informationsverarbeitung beruht auf einer logi- schen Grundlage, so dass die späteren Stufen auf den früheren Stufen aufbauen. So baut die Anfangskodierung bzw. Kategorisierung auf der Wahrnehmung und den Reizereignissen auf. Der umgekehrte Einfluss ist möglich, aber nicht notwendig (Fiedler & Bless, 2003). Das Modell der sozialen Informationsverarbeitung haben Plessner und Haar (Plessner & Haar, 2006) aus der Perspektive von sportlichen Kampf- und Schiedsrichterentscheidungen betrachtet. Nach außen ist das Foulspiel des Verteidigers als Reizereignis, die Verhaltensreaktion des Schiedsrichters mit dem Zeigen des Feldverweises als persönliche Strafe und der Strafstoß als Spielstrafe er- kennbar (vgl. Abb. 7).

Abb. 7: Die kognitiven Stufen der sozialen Informationsverarbeitung eines Schiedsrichters im Sportspiel Fußball (Nach: Plessner & Haar, 2006, S. 558).

Die vier kognitiven Stufen von Wahrnehmung, Kategorisierung, Gedächtnisorgani- sation und Urteilen/Entscheiden laufen nicht sichtbar ab. Gerade in dem nicht sich- tbaren Teil der sozialen Informationsverarbeitung kann es zu Fehlern kommen:

For example, a referee's erroneous decision to send off a player can be caused by his misperception that the player hit his opponent's leg instead of the ball, or by the false memory that the player has persistently infringed the rules of the game before this situa- tion (Plessner & Haar, 2006, S. 557).

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

In den folgenden Kapiteln werden die vier kognitiven Stufen des Modells der sozia- len Informationsverarbeitung einzeln näher vorgestellt und analysiert.

3.1 Wahrnehmung

Idealerweise werden alle Reize, die für die Entscheidungsfindung des Schiedsrichters relevant sind, verarbeitet. Nach Neisser (1979) ist jedoch die menschliche Fähigkeit der Informationsverarbeitung begrenzt. Dies bedeutet für einen Schiedsrichter im Sportspiel Fußball, dass er auswählen muss, welche Reize für ihn von Bedeutung sind. In der Forschung zeigt sich, dass Kampf- oder Schiedsrichter mit einem hohen Erfahrungsschatz in der Lage sind, effektive Strategien zur Entscheidungsfindung zu entwickeln (Plessner & Haar, 2006). Für Jendrusch (2002) stellen die visuelle Wahr- nehmung und Informationsaufnahme die wesentliche Voraussetzung für richtiges Entscheiden und Urteilen im Sport dar. Jedoch haben sich auch die Anforderungen an die Beobachtungs- und Beurteilungsleistung von Kampf- und Schiedsrichtern in den letzten Jahren gewandelt, etwa durch das immer schnellere und komplexere Spielgeschehen in Sportspielarten wie dem Fußball. Zudem werden Fehlentschei- dungen aufgrund von leistungsfähigen Bildaufzeichnungsverfahren immer häufiger erkannt und thematisiert. Im Zusammenhang mit der visuellen Wahrnehmung erge- ben sich für Neumaier (1988) zwei verschiedene Beurteilungssituationen. Zum einen gibt es die Bewegungsbeurteilung im Wettkampf mit dem Ziel der Leistungsermitt- lung, zum anderen die Bewegungsbeurteilung im motorischen Lernprozess und dem Techniktraining mit dem Zweck einer Bewegungsrückmeldung.

Die Leistungsbeurteilung im Wettkampf zeichnet sich dadurch aus, daß das komplexe Bewegungsgeschehen nur einmal beobachtet werden kann, wobei in der Regel mehrere leistungsrelevante Merkmale bzw. Beobachtungseinheiten zu berücksichtigen sind (Neumaier, 1988, S. 385).

Wird dies auf das Sportspiel Fußball und den Schiedsrichter übertragen, ergeben sich Parallelen, denn auch dieser kann das Geschehen nur einmal beobachten und muss mehrere unterschiedliche Beobachtungsmerkmale berücksichtigen. Für das Bewe- gungssehen unterscheidet Tidow (1996) verschiedene Einflussgrößen. Die Leis- tungsbeurteilung ist von der Beobachtungs- und der Beurteilungskompetenz abhän- gig. Unter die Beobachtungskompetenz fallen die Bewegungssehschärfe, die Blick- motorik und die Sehstrategie. Die Beurteilungskompetenz wird von der Sollwertprä- zision, dem Analogieschluss und der Bewegungserfahrung beeinflusst.

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

Abb. 8: Bewegungssehen im Sport und korrespondierende Beobachtungsaufgaben (Nach: Tidow, 1996, S. 248).

Neben der Beobachtungs- und Beurteilungskompetenz als Einflussgrößen für die Leistungsbeurteilung hat Tidow (1996) das Bewegungssehen noch grundlegender unterteilt. Im Hinblick auf die Wahrnehmung von Bewegungen sind die Bewegungs- entdeckung und -identifikation von elementarer Bedeutung. Der Fußballschiedsrich- ter muss beispielsweise in einer Zweikampfsituation die entscheidende Beinbewe- gung des Verteidigers entdecken und identifizieren, welcher entweder den Ball oder das gegnerische Bein trifft. Hierbei könnten beispielsweise Täuschungshandlungen wie eine Schwalbe (David, Condon, Bywater, Ortiz-Barrientos & Wilson, 2011) die Entscheidungsfindung des Schiedsrichters erschweren oder gar manipulieren. Dem Bewegungssehen im Sport sind sechs unterschiedliche Bewegungsaufgaben zu- geordnet (vgl. Abb. 8). Diese lassen sich auch auf das Sportspiel Fußball übertragen. Hierbei sollen als Bewegungsaufgaben die Regelüberwachung und die Treffererken- nung exemplarisch näher erläutert werden. Die Regelüberwachung umfasst Ent- scheidungen wie Foulspiel, Abseits oder Strafstoß. Diese Beobachtungsaufgabe wur- de im Wesentlichen bereits in Kapitel 2.3 dargestellt. Die Beobachtungsaufgabe der Treffererkennung umfasst im Kern die Torentscheidung und die Entscheidung, ob ein Ball die Außenlinien überschritten hat mit der Konsequenz von Einwurf, Eckstoß oder Abstoß. Im Hinblick auf die Bewegungsbeurteilung lassen sich laut Neumaier (1988) drei verschiedene Einflussgrößen unterscheiden: sehobjektabhängige, beurtei- lerabhängige und aufgabenabhängige (vgl. Abb. 9).

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

Abb. 9: Modell zu Einflussgrößen auf die Bewegungsbeurteilung (Nach: Neumaier, 1988, S. 387).

Das Modell der Bewegungsbeurteilung von Neumaier (1988) mit seinen verschiede- nen Einflussgrößen geht viel weiter als das Modell der Leistungsbeurteilung von Ti- dow (1996). Es ergeben sich jedoch in vielerlei Hinsicht Überschneidungen. So se- hen beide Modelle in der Sehstrategie ein wichtiges Element für die Leistungs- bzw. Bewegungsbeurteilung. Des Weiteren finden auch die Sehschärfe und die Blickmo- torik in beiden Modellen Berücksichtigung. Jedoch geht Neumaier (1988, S. 400) in seinem Modell auf einen wichtigen Aspekt ein: „Im Beurteilungsprozeß kann eine Vielzahl psychologisch bedingter Beurteilungsfehler auftreten, die sich negativ auf die Beurteilungsobjektivität auswirken.“ Des Weiteren kann auch die Perspektive ei- ne Fehlerquelle sein. Gerade bei Abseitsentscheidungen spielt dies eine wichtige Rolle. Helsen, Gilis und Matthew (2006) untersuchten im Rahmen ihrer Forschungen die Abseitsentscheidungen der Schiedsrichter und ihrer Assistenten während der FI- FA Fußballweltmeisterschaft 2002 in Japan und Südkorea. Bei den 64 Spielen gab es absolut 337 Abseitsentscheidungen, von denen rund 24 Prozent aufgrund von mögli- chen Abseitspositionen mehrerer Spieler zum Zeitpunkt der Ballabgabe nicht be- rücksichtigt wurden. Die übrigen 256 Abseitsentscheidungen wurden schließlich auf die Richtigkeit hin analysiert. Als Resultat zeigte sich, dass 73,8 Prozent der Ab- seitsentscheidungen durch die Schiedsrichter und ihre Assistenten richtig waren.

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

Weiter unterschieden die Forscher in ihren Untersuchungen zwischen zwei Unterka- tegorien:

 Bei „flag-decisions“ entscheiden die Schiedsrichterassistenten auf Abseits und heben ihre Assistentenfahne.  Bei „non-flag-decisions“ lassen die Schiedsrichterassistenten ihre Assistenten- fahne unten.

Bei beiden Kategorien kann es zu Fehlern kommen, so dass zum Beispiel der Ang- reifer nicht im Abseits stand, aber trotzdem die Assistentenfahne gehoben wurde, was eine falsche „flag-decision“ gewesen wäre. Von den „flag-decisions“ waren 26,1 Prozent und von den „non-flag-decisions“ 26,5 Prozent nicht korrekt. Zudem zeigte sich, dass die Fehlerrate der Abseitsentscheidungen in der ersten Viertelstun- de des Spiels mit 38,5 Prozent deutlich über dem durchschnittlichen Fehlerquotien- ten von 26,2 Prozent lag. Die Gesamtzahl der Abseitsentscheidungen war in der ers- ten Halbzeit größer als in der zweiten. Die Ergebnisse von Helsen, Gilis und Mat- thew (2006) haben gezeigt, dass trotz der hohen Qualität der Schiedsrichter und Schiedsrichterassistenten es zu einer hohen Anzahl an Fehlentscheidungen im Hinb- lick auf Abseits kommen kann. Der Aufklärung dieser Problematik haben sich auch Oudejans, Verheijen, Bakker, Gerrits, Steinbrücker und Beek (2000) in ihren Unter- suchungen gewidmet. In einem Feldexperiment mussten insgesamt drei Schiedsrich- terassistenten in einem Spiel zweier professioneller Jugendmannschaften über po- tentielle Abseitsstellungen entscheiden. Bei den durchgeführten 200 Abseitssituatio- nen wurden 40 Fehlentscheidungen getroffen. Als grundlegende Ursache ist die Po- sition der Schiedsrichterassistenten zu nennen, denn im Durchschnitt liegt diese 1,18 m hinter dem letzten Verteidiger. Daraus muss sich zwangsläufig eine fehlerhafte visuelle Wahrnehmung bei den Abseitsentscheidungen ergeben. Eine von der For- schergruppe durchgeführte Videoanalyse mit 200 Spielen von europäischen Ligen und der FIFA-Fußballweltmeisterschaft 1998 in Frankreich bestätigte diese Annah- me. In den Ergebnissen zeigten sich vor allem deutlich mehr falsche „flag- decisions“ auf der fernen Seite des Schiedsrichterassistenten. Hingegen trat auf der nahen Seite der umgekehrte Fall ein, denn dort wurden deutlich mehr „non-flag- decisions“ verzeichnet. Für Schiedsrichterassistenten ergeben sich aufgrund ihrer wechselnden Positionen zum Spielgeschehen sehr unterschiedliche Blickwinkel, welche für den Prozess der Abseitsentscheidung von zentraler Bedeutung sind (vgl. Abb. 10).

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

Abb. 10: a) Der experimentelle Aufbau der Feldstudie mit den Angreifern (rote Dreiecke), Verteidi- gern (blaue Kreise) und dem Schiedsrichterassistenten (gelbe Fahne) b) Eine Spielsituation auf der fernen Seite des Spielfelds mit Abseits und kein Abseits c) Eine Spielsituation auf der nahen Seite des Spielfelds mit mehreren Angreifern und Verteidigern (Aus: Oudejans et al., 2000, S. 33).

Es zeigte sich bei Oudejans et al. (2000), dass insgesamt 9,3 Prozent aller Abseits- entscheidungen von Schiedsrichterassistenten in der durchgeführten Videoanalyse falsch waren. Anhand dieser Studienergebnisse wird deutlich, wie sehr die Wahr- nehmung von Spielsituationen auf den Beurteilungsprozess und die Beurteilungsent- scheidung Einfluss nehmen kann. Allerdings ergänzen Baldo, Ranvaud und Morya (2002) den Beobachterstandort des Schiedsrichterassistenten als Ursache für Fehler- quellen durch den „Flash-Lag-Effekt“. Nach ihrer Ansicht kommt es bei der Wahr- nehmung der beweglichen Objekte (Spieler) zu einer Übertragungsverzögerung in der sensorischen Verarbeitung. Durch einen schnellen und abrupten Pass unterliegt die Wahrnehmung des Schiedsrichterassistenten während des Extrapolierens der be- weglichen Objekte einer zeitlichen Verzögerung, welche für die Fehler bei Abseits- entscheidungen mitverantwortlich ist.

Hinzu kommt ein interessanter optischer Effekt, der immer dann auftritt, wenn Men- schen die Lage eines sich bewegenden Objekts zu einem bestimmten Zeitpunkt be- stimmen sollen: Der Flash-Lag-Effekt. Unser Auge gaukelt uns dann vor, das Objekt sei bereits ein Stück weiter, als es in Wirklichkeit ist. Bei einem flink vorangetragenen

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

Angriff kann diese Wahrnehmungsgenauigkeit mehr als 70 Zentimeter betragen (Metz- ger, 2010, S. 80).

Die Untersuchungen von Jendrusch, Gralla und Heck (2001) im Tennissport haben gezeigt, dass Linienrichter bei räumlich voneinander getrennten Vorgängen von Auf- schlag und Fußstellung Probleme haben, diese richtig wahrzunehmen und zu beurtei- len. Für eine mögliche Lösung dieser Problematik im Tennis sollte nach Jendrusch, Gralla und Heck (2001, S. 214) „auf Verbandsebene generell über mögliche Konse- quenzen auch für das Regelwerk und Veränderungen bei der Schiedsrichterpositio- nierung nachgedacht werden“. Jendrusch, Schmidt, Wilke und Marées (1993, S. 85) unterstützen dies auch für den Schiedsrichter im Handball:

Daneben sollte – in Anbetracht der hohen schiedsrichterspezifischen (visuellen) Anfor- derungen [...] über mögliche Konsequenzen für das Regelwerk und Veränderungen bei der Schiedsrichterpositionierung nachgedacht werden.

Die ausgewählte Studienlage zeigt, dass die menschliche Fähigkeit der Informations- verarbeitung in vielen Bereichen begrenzt ist und dies auch zum Teil als Ursache für Probleme im Beurteilungsprozess zu sehen ist (Neumaier & Mester, 1988). Jedoch stellt die Wahrnehmung im kognitiven Prozess der sozialen Informationsverarbei- tung nur einen Teil des Modells dar.

3.2 Kategorisierung

Nachdem der Schiedsrichter die Reizereignisse wahrgenommen hat, werden diese enkodiert und kategorisiert. Dazu definieren Fiedler und Bless (2003, S. 138): „Die Enkodierung besteht aus verschiedenen Prozessen, die vor sich gehen, wenn ein ex- terner Stimulus in eine interne Repräsentation umgewandelt wird.“ Dabei müssen Individuen nach Bless, Fiedler und Strack (2003) ihre Ziele in soziale Kategorien ei- nordnen, ob es sich zum Beispiel um eine Frau oder einen Mann handelt oder um ei- nen Studenten oder einen Professor. Neben Personen oder Objekten muss auch das Verhalten kategorisiert werden. So ist die Kategorisierung von Verhalten bereits vorhandenem Wissen zugeordnet, wie etwa der Kategorie „aggressiv“. Diese Vor- kenntnisse haben Auswirkungen auf die weitere Speicherung und Abfrage sowie die nachgelagerten folgernden und wertenden Prozesse. Neben Plessner und Haar (2006) stellt für Plessner und Raab (2000) die Kategorisierung ebenfalls einen kognitiven Verarbeitungsschritt für die Bewertung einer Spielsituation dar. Für Schiedsrichter im Sportspiel Fußball bedeutet dies, etwa zwischen alternativen Foulspielvarianten

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung oder keinem Foulspiel unterscheiden zu müssen. Mitte der 1960er Jahre haben Ro- senthal und Jacobson (1974) gezeigt, dass die Erwartung der Lehrer an das Verhalten der Schüler dieses tatsächlich beeinflusst. Bei dem Experiment mit Lehrern an der Oak-School, einer Volksschule in einer größeren Stadt, führte die Erwartung bezüg- lich der Intelligenzentwicklung ihrer Schüler dazu, dass bei den Schülern mit einer erwarteten günstigen Intelligenzentwicklung diese auch tatsächlich festgestellt wer- den konnte, im Gegensatz zu den anderen Schülern.

Teachers may have treated their children in a more pleasant, friendly, and encouraging fashion when they expected greater intellectual gains of them. Such behavior has been shown to improve intellectual performance, probably by its favorable effect on pupil motivation (Rosenthal & Jacobson, 1968, S. 180).

Die Ergebnisse von Rosenthal und Jacobson (1974) belegen, dass Erwartungen im Rahmen der Kategorisierung einen Einfluss auf das Verhalten von Individuen haben können. Welche Auswirkungen der Vorgang der Kategorisierung auf Schiedsrichter haben könnte, zeigen Frank und Gilovich (1988, S. 74) im Forschungsfeld von Far- ben und Aggression:

Black is viewed as the color of evil and death in virtually all cultures. With this associa- tion in mind, we were interested in whether a cue as subtle as the color of a person's clothing might have a significant impact on his or her behavior.

Die Studie von Frank und Gilovich (1988) untersuchte in den USA bei Mannschaften in der National Football League (NFL) und der National Hockey League (NHL), ob durch das Tragen schwarzer Kleidung das Verhalten einer Mannschaft von Schieds- richtern eher als aggressiv interpretiert und bewertet wird, als wenn die Mannschaft etwa weiße Spielkleidung trägt. Als Indiz dafür wurden die Strafminuten (NHL) und Strafyards (NFL) der Jahre 1970 bis 1986 analysiert. In beiden Analysen waren die Teams mit schwarzer Spielkleidung signifikant häufiger bestraft worden als Teams mit nicht schwarzer Spielkleidung. Um im Rahmen dieser Forschungsfrage den Ein- fluss der Mannschaft an sich auszuschließen, wurden erfahrenen Football- Schiedsrichtern und College-Studenten Videoaufnahmen von fast identischen Spiel- szenen gezeigt, in denen die angreifende und verteidigende Mannschaft in unter- schiedlicher Konstellation weiße und schwarze Spielkleidung trugen. Die Aufgabe bestand nun darin, die gezeigten Spielsituationen im Hinblick auf das Verhalten der verteidigenden Mannschaft zu bewerten. Als Ergebnis zeigte sich, dass die Verteidi- gung mit schwarzer Spielkleidung deutlich häufiger bestraft wurde, als wenn diese

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung weiße Spielkleidung trug. Dieser Trend zeigte sich sowohl bei den Football- Schiedsrichtern als auch bei den College-Studenten.

135

130

125

120 Schwarz Weiß

115 Mittleres Niveauder Mittleres Aggressivität 110

105 Ohne Spielkleidung Mit Spielkleidung

Abb. 11: Stufe der Aggressivität der unterschiedlichen Mannschaften unterteilt nach Spielkleidungs- bedingungen (Nach: Frank & Gilovich, 1988, S. 83).

Zudem untersuchte die Studie, inwieweit den beiden Mannschaften aggressives Ver- halten zugeordnet wurde. Es zeigte sich in den Ergebnissen bei der Beurteilung bei- der Mannschaften ohne Spielkleidung kein Unterschied (vgl. Abb. 11). Jedoch wurde die Mannschaft mit der schwarzen Spielkleidung als aggressiver eingestuft als die mit der weißen Spielkleidung. In einem ähnlichen Forschungsfeld haben sich Jones, Paull und Erskine (2002) in ihrer Studie mit den Themen Aggression und Reputation auseinandergesetzt. Als Ergebnis der Untersuchung zeigt sich, dass Fußballschieds- richter, die über den aggressiven Ruf eines Teams informiert waren, anders auf iden- tische Vorfälle reagierten und eher rote und gelbe Karten zogen als Fußballschieds- richter, die diese Information nicht erhalten haben. Dass Farben nicht nur mit „böse“ und „Tod“ assoziiert werden können, sondern auch Einfluss auf Schiedsrichterent- scheidungen haben können, zeigten Hagemann, Strauss und Leißing (2008) in ihrer Untersuchung mit rot- und blaugekleideten Athleten im Taekwondo-Sport. In der Studie mussten erfahrene Taekwondo-Kampfrichter Videosequenzen mit Wett- kampfszenen beurteilen und Punkte vergeben. Diese Videosequenzen wurden an- schließend manipuliert, indem die Farben der Taekwondo-Kämpfer vertauscht wur-

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung den. Der rote Kämpfer war nun in Blau gekleidet und umgekehrt. Die Taekwondo- Kampfrichter änderten ihre Punkteverteilung zugunsten des roten Kämpfers (vgl. Abb. 12).

Abb. 12: Beurteilungsergebnisse der Taekwondo-Kampfrichter vor und nach der Farbmanipulation (Aus: Hagemann et al., 2008, S. 770).

Aber auch auf Sportler hat die Farbe Rot eine direkte Wirkung, so dass sich physi- sche Parameter dadurch verändern können (Dreiskaemper, Strauss, Hagemann & Büsch, 2013). Sowohl die Studien von Frank und Gilovich (1988), Hagemann, Strauss et al. (2008) als auch von Jones, Paull und Erskine (2002) zeigen, welche Einflüsse auf den Kategorisierungsprozess innerhalb der sozialen Informationsverar- beitung wirken können. Neben der Einordnung in soziale Kategorien wie „aggressiv“ und „nicht aggressiv“ hilft die Stereotypisierung dem Schiedsrichter in verwirrenden oder komplexen Situationen, die Welt kognitiv zu vereinfachen und schließlich zu entscheiden. Ein Stereotyp ist eine mentale Abkürzung von etwa Personengruppen mit Attribution gewisser Eigenschaften und Charakteristika. Jedoch können diese Stereotype auch zu völlig falschen Schlüssen führen (Brown, 1990).

Freeman (1988) untersuchte das Vorhandensein und Fortbestehen von Stereotypen bei männlichen und weiblichen Bodybuildern und deren geschlechtsspezifische Persönlichkeitsmerkmale. Als Ergebnis zeigten sich einige wichtige Erkenntnisse. So

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung sollten sich Frauen im Bodybuilding bewusst sein, dass diese sportliche Aktivität ei- nen Einfluss auf die Wahrnehmung ihrer Person hat. Bodybuilderinnen wurden als relativ unattraktiv eingestuft und mit weniger wünschenswerten Persönlichkeits- merkmalen attribuiert als Nichtbodybuilderinnen. Außerdem zeigte sich, dass weibli- che Bodybuilder deutlich häufiger in ihrer sexuellen Orientierung als homosexuell eingestuft wurden als Bodybuilder und Nichtbodybuilder unabhängig vom Ge- schlecht. Die physische Erscheinung ist ein wichtiges sichtbares Merkmal einer Per- son, welches häufig als Anhaltspunkt für die menschliche Beurteilung herangezogen wird. Wenn Bodybuilderinnen ihren Körper unter Kleidung verstecken, werden kei- ne attribuierten Unterschiede zwischen Bodybuildern und Nichtbodybuildern fest- gestellt. Nichtsdestotrotz werden weibliche Bodybuilder stereotypisiert wahrgenom- men und oft negativ oder ablehnend beurteilt.

Zum Themenbereich der Kategorisierung sollen die Ergebnisse von Greenlees, Bus- combe, Thelwell, Holder und Rimmer (2005) dargelegt werden, welche sich in ihrer Untersuchung mit den Einflüssen von Kleidung und Körpersprache in der Sportart Tennis beschäftigen. Die Merkmale negativer oder positiver Körpersprache wurden mit den Merkmalen genereller Sportkleidung oder tennisspezifischer Kleidung zu vier Kombinationen verknüpft. Die Ergebnisse zeigten, dass im Allgemeinen Klei- dung und auch Körpersprache einen beeinflussenden Faktor darstellen können. So schätzten die Probanden ihre Chancen bei einem hypothetischen Tennisspiel bei den Gegnern mit negativer Körpersprache deutlich höher ein als bei denen mit positiver Körpersprache. Zudem zeigte sich, dass die generelle Sportkleidung leicht höher be- wertet wurde als tennisspezifische Kleidung, unabhängig von der Körpersprache. Dieser Effekt kehrte sich nur im Hinblick auf die Chancen bei einem hypothetischen Tennisspiel um. Als Vorletztes soll kurz eine Studie zum Einfluss von Wörtern auf das Verhalten von Individuen vorgestellt werden. In der Untersuchung von Schmid- Mast, Sieverding, Esslen, Graber und Jäncke (2008) fuhren männliche Studenten in einem Fahrsimulator und mussten während der Fahrt auf bestimmte Wörter achten, die aus dem Radio kamen. Sobald sie eines dieser Wörter hörten, musste die Hupe betätigt werden. Es gab neutrale, feminin (z.B. Mutter oder Lippenstift) und masku- lin (z.B. Vater oder Anzug) konnotierte Wörter. Untersucht wurde der Zusammen- hang zwischen den Wörtern und dem Fahrverhalten in Form der Fahrgeschwindig- keit.

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

Abb. 13: Geschwindigkeitsveränderung von den ersten zwei Minuten zu den letzten zwei Minuten (in km/h) während der Fahrt im Fahrsimulator unterteilt nach Wortgruppen (Aus: Schmid-Mast et al., 2008, S. 841).

Im Ergebnis veränderte sich die Fahrgeschwindigkeit bei den maskulinen Wörtern signifikant im Vergleich zu den neutralen und femininen Wörtern (vgl. Abb. 13). Da die Begriffe nicht vor dem Autofahren, sondern während des Fahrens abgespielt wurden, zeigt diese Studie deutlich, welchen Einfluss auch Wörter auf den Entschei- dungsprozess einer Person nehmen können. Im Sportspiel Fußball sind Schiedsrich- ter immer wieder auch Schimpfwörtern durch Spieler der beiden Mannschaften aus- gesetzt. Praschinger, Pomikal und Stieger (2011) untersuchten die Wirkung dieser Wörter in verschiedenen Kategorien im Hinblick auf die Reaktion des Schiedsrich- ters, etwa in Form von einer gelben oder roten Karte. Im Durchschnitt reagierten die Probanden auf die Schimpfwörter in 55,7 Prozent der Fälle mit der roten Karte und zu 25,2 Prozent mit einer gelben Karte. Bei Schimpfwörtern aus der Kategorie „Ge- nitalbereich“ und „sexuelle Orientierung“ lag der Anteil der roten Karte mit 80,7 bzw. 73,7 Prozent deutlich über dem Durchschnittswert für alle Schimpfwörter.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sehr unterschiedliche Faktoren gibt, die die Einordnung in soziale Kategorien beeinflussen können. Damit beeinflussen diese

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung auch die Entscheidungen von Schiedsrichtern im Sport allgemein und speziell im Sportspiel Fußball.

3.3 Gedächtnisorganisation

Von den vier kognitiven Stufen des Modells der sozialen Informationsverarbeitung stellt die Gedächtnisorganisation einen späteren Verarbeitungsschritt dar. Nach Fied- ler und Bless (2003) müssen Individuen nach der Wahrnehmung und Kategorisie- rung die Informationen im Gedächtnis organisieren. Diese Gedächtnisorganisation dient als Grundlage für das Verhalten in späteren Situationen. Hat ein Schiedsrichter beispielsweise einen Fußballspieler als unsportlich interpretiert, könnte diese Inter- pretation nicht nur für das Verhalten in der aktuellen Situation, sondern auch für spä- tere Situationen mit diesem Spieler von Bedeutung sein.

Es ist weitgehend akzeptiert, dass Teile des Gedächtnisses sich mit Informationen be- fassen, die erst seit kurzem im Gedächtnis sind, während andere Teile sich mit dem Ab- ruf von Informationen befassen, die schon sehr lange im Gedächtnis vorhanden sind (Raab & Magill, 2003, S. 232).

Während gezeigt wurde, dass die bisher dargelegten Verarbeitungsschritte von Wahrnehmung und Kategorisierung auf die Beurteilungsleistung Einfluss nehmen können, gibt es für Plessner und Haar (2006) auch Hinweise für den direkten Ein- fluss der Gedächtnisorganisation auf das Urteilsverhalten. Bless et al. (2003) haben diese wechselseitige Einflussnahme auch in ihrem Modell der sozialen Informations- verarbeitung berücksichtigt. Als Grundlage dafür ist unser Gedächtnis der Schlüssel für eine effiziente Informationsverarbeitung. Genauso wie ein Bibliothekar fordert das Gedächtnis eine interne Organisation, die für eine effiziente Lagerung von In- formationen auch einen effektiven Such- und Abrufspeicher benötigt. Demgegenüber kann das Gehirn nach Beilock und Hohmann (2010) nicht nur als abstrakter Informa- tionsprozessor gesehen werden, sondern vielmehr gibt es einen Zusammenhang von Objekten und Ereignissen und den damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten. Pritzel, Brand und Markowitsch (2009) unterscheiden bei dem Gedächtnis entlang der Zeitachse zwischen Ultrakurzzeitgedächtnis, Kurzzeitspeicher (Arbeitsgedäch- tnis) und Langzeitspeicher. Das Ultrakurzzeitgedächtnis umfasst eine Zeitspanne von Millisekunden und das Kurzzeitgedächtnis Informationen von Sekunden bis maximal wenige Minuten. Es können nur etwa sieben (± 2) Informationseinheiten aufgenom- men und behalten werden. Vom Kurzzeitgedächtnis kommen die Informationen ent-

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung weder in das Langzeitgedächtnis oder werden nicht weiter verarbeitet. Das Langzeit- gedächtnis ist theoretisch hinsichtlich der Kapazität und der Aufnahmedauer unbeg- renzt.

Jedoch kann es innerhalb von Entscheidungen auch zu Problemen im Zusammen- hang mit der Gedächtnisorganisation kommen, so etwa bei Schiedsrichtern im Fuß- ball. Auf der Ebene der Gedächtnisorganisation unterscheidet Parkin (1996) zwi- schen Speicher- und Abrufversagen. Beim Speicherversagen ist das Gedächtnissys- tem nicht in der Lage, eine dauerhafte Gedächtnisspur für ein gegebenes Ereignis oder eine vorliegende Information anzulegen. Gründe hierfür liegen in Problemen beim Transfer vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis oder im Zerfall gebildeter Ge- dächtnisspuren. Hingegen ist das Abrufversagen darin begründet, dass eine vorhan- dene Gedächtnisspur durch das Gedächtnissystem nicht lokalisiert werden kann. In ihrer Studie im College Football untersuchten Yarnell und Lynch (1973) bei 18 Spie- len über zwei Saisons die Gedächtnisleistung von Football-Spielern. Im American Football werden die Spielzüge vom Quarterback als eine Art kodierte Botschaft im Spielerkreis („huddle“) angesagt und dann von den Spielern umgesetzt. Es kommt oftmals vor, dass Spieler nach Zweikämpfen mit Kopfverletzungen wie Gehirner- schütterungen längere Zeit verwirrt bleiben. Die Forscher fanden in der Studie he- raus, dass die Spieler kurz nach Zusammenstößen mit Gegenspielern noch ein sehr gutes Erinnerungsvermögen über den angesagten Spielzug und den Zweikampf hat- ten. Waren die Spieler jedoch an der Seitenlinie, konnten sie sich nicht mehr erin- nern.

All players recalled the play signal or concussive impact, or both, when initially queried seconds after injury but lost this information permanently within minutes. All the play- ers had momentary confusion on the field immediately after injury, which was mani- fested usually by difficulty in returning to the huddle or in leaving the playing field (Yarnell & Lynch, 1973, S. 196f.).

Der Verlust der Erinnerungsfähigkeit innerhalb einer Zeitspanne in der Größenord- nung von mehreren Minuten bedeutet, dass die Arbeit des Gedächtnisses als laufen- der Prozess von körperlichen Auswirkungen, zum Beispiel durch Zweikämpfe mit Kopfverletzungen, gestört werden kann. Die Studie von Yarnell und Lynch (1973) zeigt, dass es im Gedächtnissystem auch zu Störungen kommen kann, wenn externe Faktoren den Abruf- und Speicherprozess im Gedächtnis beeinflussen. Jedoch muss bei den Studienergebnissen das methodische Vorgehen der beiden Forscher berück- sichtigt werden.

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

Für Schiedsrichter im Fußball könnten Probleme bei Regelverstößen und fehlerhaf- ten Tatsachenentscheidungen (vgl. Kap. 2.3) auch auf Fehler bei der Gedächtnisor- ganisation zurückgeführt werden. Gerade bei wiederholten Foulspielen kommt der Gedächtnisleistung eine wichtige Rolle zu. Im Zusammenhang mit dem Kurzzeitge- dächtnis führt eine Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf ein Objekt (z.B. Wort, Zahl oder Silbe) nach Knitsch (1982) zu einer Wahrscheinlichkeit von nahezu eins im Hinblick auf die Reproduzierung. In der Studie von Reitmann (1974) mussten Pro- banden fünf Wörter laut vorlesen, die entweder unmittelbar oder nach einem Zeit- intervall von 15 Sekunden abgefragt wurden. Jedoch standen die Probanden noch ei- ner anderen Aufgabe gegenüber, indem diese aus einem monotonen Rauschen leise Töne heraushören und das Erkennen mit zwei Reaktionstasten (Ton- und Silbener- kennung) bestätigten mussten. Die Ergebnisse von Reitmann (1974, S. 375) zeigten, dass:

when subjects are presented with more than they can recall immediately, they exhibit significant forgetting in 15 sec: 12% when the engage in a tonal detection task, and 56% when they engage in a syllabic detection task.

Diese Studie belegt, dass der Zerfall von gebildeten Gedächtnisspuren zu Fehlleis- tungen beim Reproduzieren führt und bei Ablenkung der Aufmerksamkeit die von Kintsch (1982) angesprochene Wahrscheinlichkeit von eins verfehlt wird. Die Feh- lerquellen lassen sich theoretisch im Hinblick auf Gedächtnisleistung beim Transfer von Informationen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis oder in Form von Spei- cher- und Abrufversagen ausmachen. Diese können lediglich theoretisch skizziert werden.

3.4 Urteilen und Entscheiden

Im Rahmen der sozialen Informationsverarbeitung wird für Fiedler und Bless (2003) nach der Wahrnehmung und Kategorisierung von Informationen und dem wechsel- seitigen Zusammenwirken mit der Gedächtnisorganisation im letzten und finalen kognitiven Schritt über diese Informationen geurteilt und entschieden. Bevor dieser Verarbeitungsschritt genauer dargestellt wird, soll zunächst das Modell der entge- gengesetzten Wirkungsrichtung von Bottom-up- und Top-down-Prozessen kurz er- läutert werden.

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

Für Zimbardo und Gerrig (2008) ist die Bottom-up-Verarbeitung in der empirischen Realität verankert, so dass Informationsbestandteile und die Transformation von konkreten und physikalischen Reizmerkmalen in eine abstrakte Repräsentation im Zentrum dieses Prozesses stehen. Bei dieser datengesteuerten Verarbeitung erhält der Reizempfänger seine Daten bzw. Informationen aus der Umwelt über seine Sinnes- organe. Die Top-down-Verarbeitung wird durch mentale Prozesse, wie etwa Objekte oder Ereignisse zu verstehen sind, beeinflusst. Für die Top-down-Verarbeitung gilt: „Je geringer die Informationsverarbeitungskapazitäten und die individuelle Motivati- on, desto stärker beeinflussen normalerweise das Vorwissen die Informationsverar- beitungsprozesse“ (Buddeberg & Abel, 2004, S. 75). Die Bottom-up-Verarbeitung demgegenüber „ist umso wahrscheinlicher, je mehr individuelle Informationsverar- beitungskapazitäten zur Verfügung stehen und umso höher die Motivation, d.h. emo- tionale Involviertheit ist“ (ebd., S. 75). Die Verwendung einer theorie- oder datenge- steuerten Verarbeitung kann in Urteilssituationen eine wichtige Rolle spielen. Dessen ungeachtet ergeben sich forschungsrelevante Faktoren im Rahmen des Schiedsrich- terhandelns im Sportspiel Fußball, die Einfluss auf den Urteils- und Entscheidungs- prozess nehmen. So untersuchten Nevill, Balmer und Williams (2002) die Auswir- kung der Geräusche im Fußballstadion auf Schiedsrichterentscheidungen. Als me- thodisches Design wurden den Probanden Foulsituationen mit abwechselnden Ge- räuschintensitäten durch die Zuschauer (Crowd-Noise) vorgespielt. Die Ergebnisse zeigten, dass die Probanden bei Hintergrundgeräuschen durch die Zuschauer auf sig- nifikant weniger Foulspiele (15,5 Prozent) gegen die Heimmannschaft entschieden, als wenn während der gleichen Situation keine Geräusche zu vernehmen waren. Als Interpretation dieser Ergebnisse wirkt sich der Crowd-Noise-Effekt derart aus, dass Zuschauergeräusche den Urteils- und Entscheidungsprozess als Reizhinweis im Hinblick auf das Strafmaß des Schiedsrichters zugunsten der Heimmannschaft be- einflussen können. Für Metzger (2010, S. 80) erklärt sich dies anhand einer einfa- chen Faustregel: „Je lauter die Empörung, desto schlimmer das Foul.“ Pettersson- Lidbom und Priks (2010) zeigten in ihren Untersuchungen anhand von Spielen in der italienischen Serie A und Serie B ohne Zuschauer, welche aufgrund von Ausschrei- tungen durch Hooligans ausgeschlossen wurden, dass sozialer Druck durch Zus- chauer ausgeübt wird. Die Studienergebnisse belegen, dass sich ohne Zuschauer die Anzahl der Foulspiele sowie der gelben und roten Karten zwischen der Heim- und Auswärtsmannschaft nivellierte. Ohne die Zuschauer könnte es neben der Verhal- tensänderung bei den Schiedsrichtern auch zu einer Verhaltensänderung bei den

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

Spielern beider Mannschaften kommen. Jedoch konnten hierfür keine Anzeichen ge- funden werden.

Ähnliche Ergebnisse wie von Nevill et al. (2002) und Pettersson-Lidbom et al. (2010) zeigten sich bei den Untersuchungen von Myers, Nevill und Al-Nakeeb (2012) in der Kampfsportart Muay Thai. Hier konnte nachgewiesen werden, dass sich der Crowd-Noise-Effekt auf die Höhe der Punktevergabe durch die Kampfrich- ter auswirkt. Die bereits angesprochene Bevorteilung der Heimmannschaft durch den Schiedsrichter untersuchten Boyko, Boyko und Boyko (2007) bei 5244 Spielen der englischen Premier League. Es zeigte sich, dass es einen Heimvorteil gibt, der jedoch von Schiedsrichter zu Schiedsrichter stark schwanken kann (vgl. Abb. 14).

Abb. 14: Heimvorteil (mean gD - goal differential) für jeden der 50 Schiedsrichter (referee) in Rela- tion zum durchschnittlichen Heimvorteil (gestrichelte Linie) innerhalb der Analyse (Aus: Boyko et al., 2007, S. 1189).

Somit lässt sich sagen, dass Schiedsrichter innerhalb ihres Urteils- und Entschei- dungsprozesses von externen Faktoren wie etwa Zuschauern beeinflusst werden. Dieser Effekt ist auch vom Schiedsrichter abhängig, was die Ergebnisse von Boyko et al. (2007) belegen. Jedoch ist das Phänomen des Heimvorteils auch einem Wandel unterworfen, was Nevill, Webb und Watts (2013) zeigen. Der durchschnittliche Heimvorteil ist in Toren pro Spiel von 1946 bis 2010 tendenziell schwächer gewor- den (vgl. Abb. 15). Die Gründe hierfür sehen Nevill et al. (2013, S. 225) verschiede- nartig gelagert:

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

As outlined in the chronology of referee training, the ability of referees to make more objective decisions will have steadily improved since WW2, but we propose that the smaller crowds in the lower divisions will have exerted less pressure on the referees to favour the home team compared with matches played in leagues with larger crowds.

Die Forschergruppe von Rocha, Sanches, Souza und da Silva (2013) zeigte, dass Schiedsrichter bei knappen Rückständen der Heimmannschaft tendenziell auf mehr Nachspielzeit entschieden, als wenn die Heimmannschaft deutlich in Führung oder deutlich in Rückstand lag.

Abb. 15: Heimvorteil in Toren pro Spiel zwischen 1946 und 2010 in verschiedenen Ligen in Großb- ritannien (Aus: Nevill et al., 2013, S. 223).

Neben den bereits genannten Einflussbereichen auf den Urteils- und Entscheidungs- prozess von Schiedsrichtern im Sportspiel Fußball ergeben sich noch weitere for- schungs- und wissenschaftsrelevante Ergebnisse, welche für den letzten kognitiven Verarbeitungsschritt der sozialen Informationsverarbeitung von Relevanz sind. Plessner und Betsch (2001) belegten in ihrer Untersuchung, dass die Wahrschein- lichkeit für eine Strafstoßentscheidung größer ist, wenn bereits ein Strafstoß durch den Schiedsrichter verhängt worden ist. In ihrer Untersuchung mussten Schiedsrich- ter eine Reihe von Videoszenen beurteilen. Bei der Beurteilung von Strafraumszenen zeigte sich bei den Probanden, dass wenn die Mannschaft A bereits einen Strafstoß

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung erhalten hatte, die Wahrscheinlichkeit für eine Strafstoßentscheidung für Mannschaft B bei 41,5 Prozent gegenüber 22,6 Prozent für keine Strafstoßentscheidung lag. Die Ergebnisse von Plessner und Betsch (2001) ließen sich aber bei Freistoßentscheidun- gen nicht nachweisen. Dennoch sind die Ergebnisse dahin gehend interessant, dass Schiedsrichter immer versuchen, stark am Regelwerk orientiert ihre Entscheidungen zu treffen. Im Rahmen des Urteilens und Entscheidens scheinen daher Prozesse ab- zulaufen, welche im Rahmen der Wissensaktivierung kaum kontrollierbar sind.

Welche kognitiven Prozesse sich nun aber genau für den Effekt des Konzessionselfme- ters verantwortlich zeigen, ist nach dem derzeitigen Forschungsstand noch nicht eindeu- tig zu beantworten. Jedenfalls scheint es auch hier unwahrscheinlich, dass er ein Pro- dukt bewussten Abwägens verschiedener Handlungsalternativen ist oder durch Aus- gleichüberlegungen motiviert wird (Plessner & Raab, 2000, S. 109).

Einen weiteren Bereich mit wissenschaftlicher Relevanz entdeckten Memmert, Un- kelbach, Ertmer und Rechner (2008) in ihrer Untersuchung über die Verteilung von persönlichen Strafen in Form von gelben Karten. Es zeigte sich, dass innerhalb der ersten Viertelstunde signifikant weniger persönliche Strafen in Form von gelben Kar- ten verteilt werden als im restlichen Spiel (vgl. Abb. 16).

300

250

200 1.-15. Spielminute 16.-30. Spielminute 150 31.-45. Spielminute 46.-60. Spielminute 100

61.-75. Spielminute Anzahl der Anzahl gelben Karten 76.-90. Spielminute 50 90.+ Spielminute

0

Abb. 16: Absolute Häufigkeiten der gelben Karten aufgeteilt nach Spielzeiten der Fußballbundesliga in Deutschland (Nach: Memmert et al., 2008, S. 4).

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung

Die Gründe für dieses Phänomen sind unterschiedlich gelagert, weil es zu Beginn des Spiels keine Kumulation im Sinne von wiederholten Foulspielen gibt. Als Hauptursache hingegen sehen die Forscher ein Kalibrierungsproblem des Schieds- richters im Hinblick auf seine Urteils- und Entscheidungsfindung. Zu Beginn des Spiels muss der Schiedsrichter in der Urteilssituation eine Urteilsskala entwickeln, welche er konsistent über die gesamte Spielzeit verwendet. Erfolgt diese innere Kali- brierung in der ersten Viertelstunde zu früh mit gelben Karten, kann dies gegen Mitte oder Ende des Spiels zu Problemen führen. Exemplarisch ist zum einen das Achtelfi- nalspiel der FIFA Fußballweltmeisterschaft 2006 zwischen den Niederlanden und Portugal zu nennen, unter Leitung des russischen Schiedsrichters Valentin Ivanov. Zur Spielzusammenfassung führt Lisi (2011, S. 341) an: „By the end of the game, Ivanov had handed out a record-tying sixteen yellow cards and a record-setting four red cards.“ Zum anderen kann das Gruppenspiel der FIFA Fußballweltmeisterschaft 2002 zwischen Deutschland und Kamerun herangezogen werden. Dazu schreiben Schulze-Marmeling et al. (2008, S. 487): „Mit 16 gelben einschließlich zwei gelb- roten Karten stellte Schiedsrichter López Nieto in einer nicht sonderlich harten und nickligen Partie einen neuen WM-Rekord auf.“ In beiden Begegnungen wurden be- reits sehr früh im Spiel viele gelbe Karten durch die Schiedsrichter vergeben, was im weiteren Spielverlauf zu Problemen führte.

Im Zusammenhang mit persönlichen Strafen in Form von gelben und roten Karten sollen die Studienergebnisse von Dawson und Dobson (2010) vorgestellt werden. In ihrer Untersuchung wurden Champions-League- und UEFA-Cup-Spiele im Hinblick auf die persönlichen Strafen analysiert. Bei 4,63 Prozent der Champions-League- und 3,78 Prozent der UEFA-Cup-Spiele wurden keine Karten für Heim- und Gast- mannschaft gezeigt. Weiterhin wurde herausgefunden, dass bei lediglich 24,3 Pro- zent der Champions-League- und 26,7 Prozent der UEFA-Cup-Spiele die Heim- mannschaft mehr gelbe Karten bekommen hat als die Gastmannschaft. Somit lässt sich auf Grundlage der Studienergebnisse von Dawson und Dobson (2010) sagen, dass Schiedsrichter bei persönlichen Strafen dazu neigen, die Heimmannschaft bei der Disziplinierung von Spielern zu bevorteilen (vgl. Crowd-Noise-Effekt). Als wei- teren Einflussbereich im Rahmen des Urteilens und Entscheidens von Schiedsrich- tern deckten van Quaquebeke und Giessner (2010) auf, dass sich die Körpergröße von Spielern auf den Entscheidungsprozess auswirken kann. Es zeigt sich, „that as- sumed foul perpetrators were on average taller than their assumed victims“ (van Quaquebeke & Giessner, 2010, S. 14). Dass Schiedsrichter Fußballmannschaften aus

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung ihrem eigenen Kulturkreis bevorzugen, zeigten Messner und Schmid (2007) in ihrer Untersuchung der höchsten Schweizer Fußballliga der Männer. Die kulturelle Ähn- lichkeit einer Mannschaft und des Schiedsrichters zeigt sich als Vorteil in Form der Höhe des Sieges und der Anzahl der Punkte sowie der gelben und roten Karten. Al- lerdings lassen die Ergebnisse von Messner und Schmid (2007) keine Rückschlüsse zu, welche Prozesse und Mechanismen der Bevorteilung zugrunde liegen.

3.5 Zusammenfassung

Der kognitive Prozess der sozialen Informationsverarbeitung nach Fiedler und Bless (2003) umfasst vier Stufen (Wahrnehmung, Kategorisierung, Gedächtnisorganisation und Urteilen/Entscheiden), welche sich auch auf die Tätigkeit des Schiedsrichters im Sportspiel Fußball übertragen lassen (Plessner & Haar, 2006). Jedoch ergeben sich bei den vier kognitiven Stufen im Rahmen des Entscheidungsprozesses auch Fehler- und Problembereiche. Im Rahmen der Wahrnehmung sind das Bewegungssehen (Ti- dow, 1996) und die Bewegungsbeurteilung (Neumaier, 1988) von zentraler Bedeu- tung. Als mögliche Fehlerquelle innerhalb der Wahrnehmung kann der Beobachter- standort (Helsen et al., 2006; Jendrusch et al., 2001), aber auch der „Flash-Lag- Effekt“ (Baldo et al., 2002) ausgemacht werden. Zudem ist die menschliche Fähig- keit der Informationsverarbeitung in vielen Bereich begrenzt, so dass auch hier mög- liche Fehlerquellen zu verorten sind (Neumaier & Mester, 1988). Im Rahmen der Kategorisierung können beispielsweise Farben (Frank & Gilovich, 1988; Hagemann et al., 2008), Kleidung und Körpersprache (Greenlees et al., 2005), Aggression und Reputation (Jones et al., 2002), Aussehen (Freeman, 1988), Akustik (Schmid-Mast et al., 2008), Erwartungen (Rosenthal & Jacobson, 1968) oder auch spezielle Wörter (Praschinger et al., 2011) Einfluss auf die soziale Informationsverarbeitung nehmen. Somit lassen sich hier ebenfalls mögliche Fehlerquellen für den Entscheidungspro- zess ausmachen.

Bei der Gedächtnisorganisation ist die Leistungsfähigkeit von Kurzzeit- und Lang- zeitgedächtnis (Pritzel et al., 2009) zu unterscheiden. In Form von Speicher- und Ab- rufversagen (Parkin, 1996) kann es im Rahmen der Gedächtnisorganisation zu Prob- lemen kommen. Das Speicherversagen kann beispielsweise aufgrund von Ablenkung (Kintsch, 1982; Reitmann, 1974) passieren. Das Abrufversagen kann etwa durch physische Einwirkung von außen (Yarnell & Lynch, 1973) begründet sein. Im letzten Schritt der sozialen Informationsverarbeitung, dem Urteilen und Entscheiden, lassen

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3 Die Schiedsrichterentscheidung als Produkt sozialer Informationsverarbeitung sich sehr viele unterschiedliche Einflussfaktoren ausmachen. So werden Schiedsrich- ter bei ihren Entscheidungen durch die Umgebungsgeräusche im Stadion (Myers et al., 2012; Nevill et al., 2002; Pettersson-Lidbom & Priks, 2010) beeinflusst. Zudem zeigen sich unterschiedliche Entscheidungen von Schiedsrichtern gegenüber Heim- und Gastmannschaft (Nevill et al., 2013). Dies wirkt sich auf die Entscheidung über die Nachspielzeit (Rocha et al., 2013) aus, ist aber auch von Schiedsrichter zu Schiedsrichter unterschiedlich (Boyko et al., 2007). Ungeachtet dieses Phänomens gibt es im Zusammenhang der Entscheidungsfindung von Schiedsrichtern den Effekt des Konzessionselfmeters (Plessner & Betsch, 2001). Außerdem besteht bei Schieds- richtern ein Kalibrierungsproblem im Hinblick auf gelbe Karten in der ersten Vier- telstunde des Spiels (Memmert et al., 2008). Weiterhin zeigen sich Effekte bei Schiedsrichtern in Entscheidungssituationen über persönliche Strafen zu Gunsten der Heimmannschaft (Dawson & Dobson, 2010). Auch die Körpergröße der Spieler nimmt Einfluss auf das Urteil des Schiedsrichters (van Quaquebeke & Giessner, 2010). Außerdem bevorzugen Schiedsrichter Mannschaften aus ihrem eigenen Kul- turkreis (Messner & Schmid, 2007).

Insgesamt zeigt sich eine Vielzahl von möglichen Einflussfaktoren auf die Entschei- dungsfindung im Allgemeinen und im Speziellen des Schiedsrichters im Sportspiel Fußball. In dieser Arbeit wird das Rahmenmodell von Plessner und Haar (2006) zur Erklärung der Entscheidungsfindung des Schiedsrichters im Sportspiel Fußball ge- nutzt.

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4 Einfluss von Richtungseffekten auf den Entscheidungsprozess

4 Einfluss von Richtungseffekten auf den Entschei- dungsprozess

Der Einfluss von Effekten auf den Entscheidungsprozess im Allgemeinen und Spe- ziellen wurde bereits betrachtet. In diesem Kapitel soll es um einen weiteren mögli- chen Einflussfaktor auf die Entscheidung des Schiedsrichters gehen: den Richtungs- effekt. Ziel soll es sein, den aktuellen Forschungsstand im Bereich der Richtungsef- fekte zu skizzieren und die Überleitung und Verknüpfung mit der Tätigkeit des Schiedsrichters im Sportspiel Fußball herzustellen.

4.1 Richtungseffekte im Allgemeinen

Weltweit gibt es über 500 Millionen Menschen, die von rechts nach links lesen und schreiben, wie etwa Araber oder Israeliten (Kazandjian & Chokron, 2008). Von wis- senschaftlicher Bedeutung sind beispielsweise die Unterschiede im Hinblick auf das Verhalten in Handlungssituationen in Gegenüberstellung zu Menschen, die von links nach rechts lesen und schreiben. Chokron und Imbert (1993) untersuchten an männ- lichen und weiblichen Probanden aus Frankreich und Israel, inwieweit die kulturel- len Lesegewohnheiten die Lösung visuell-motorischer Aufgaben beeinflussen. Die hebräischen Muttersprachler lesen von rechts nach links (RL) und die französischen Muttersprachler, wie auch im Deutschen oder Englischen, von links nach rechts (LR). Als visuell-motorische Aufgabe mussten die Probanden auf einem weißen Blatt Papier bei jeweils 6 Linien mit den unterschiedlichen Längen von 5 cm, 15 cm und 20 cm die Mitte markieren. Bei den israelischen Probanden wurde eine signifi- kante Abweichung von dem tatsächlichen Mittelpunkt nach rechts und bei den fran- zösischen Probanden eine signifikante Abweichung nach links festgestellt. Chokron und Imbert (1993, S. 222) interpretieren dies wie folgt: „These findings confirm that scanning direction and moreover reading habits may play a role in space utilization.“ Fuhrmann und Boroditsky (2007) untersuchten hingegen bei Studenten der Universi- tät Stanford und Tel-Aviv, ob es zwischen hebräischen und englischen Muttersprach- lern einen Unterschied im Hinblick auf die Entscheidung und die Schnelligkeit der Entscheidung gibt. Die Probanden mussten bei dem Experiment drei Bilder oder Il- lustrationen von zeitlichen Abläufen (kurze und lange Zeitspannen) chronologisch anordnen. Beispielsweise wurde den Probanden je ein Bild mit einer ganzen Banane, einer fast geschälten Banane und einer Bananenschale gezeigt. Nun mussten die Pro-

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4 Einfluss von Richtungseffekten auf den Entscheidungsprozess banden diese drei Bilder in die zeitlich richtige Reihenfolge bringen. Es zeigten sich Hinweise, dass die Anordnung der Bilder nach dem zeitlichen Ablauf der entspre- chenden kulturellen Lese- und Schreibrichtung folgt (vgl. Abb. 17).

Abb. 17: Das Ergebnis der Untersuchungen zeigt, dass beide Probandengruppen in Abhängigkeit ih- rer Leserichtung schneller entschieden (Aus: Fuhrmann & Boroditsky, 2007, S. 1010).

Somit zeigen die beiden Untersuchungen, dass die kulturell bedingte Leserichtung Einfluss auf die visuell-motorische Aufgabenlösung (Chokron & Imbert, 1993), aber auch auf die Entscheidungsschnelligkeit nehmen kann (Fuhrmann & Boroditsky, 2007).

Mit den Auswirkungen des IOR-Effekts (Inhibition of return effect) beschäftigten sich Spalek und Hammad (2004). Der IOR-Effekt beschreibt den Umstand, dass In- dividuen mit ihrer Aufmerksamkeit langsamer auf ein Ziel reagieren, das einen zuvor betrachteten bzw. bekannten Ort darstellt. Die Aufmerksamkeit wird demnach auf neue Standorte gerichtet, während die Neuausrichtung hin zu zuvor besuchten Orten beeinträchtigt abläuft. Die beiden Forscher konnten in ihrer Studie nachweisen, dass der IOR-Effekt größer ist, wenn die Aufmerksamkeit sich von links nach rechts be- wegt. Wie die kulturelle Lese- und Schreibrichtung, der IOR-Effekt und die damit verbundene Entscheidungszeit sich gegenseitig bedingen, haben Spalek und Ham-

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4 Einfluss von Richtungseffekten auf den Entscheidungsprozess mad (2005) weitergehend untersucht. In ihrer Untersuchung mussten kanadische und ägyptische Probanden bei visuellen Aufgaben am PC durch das Betätigen der Leer- taste reagieren. Im Ergebnis konnte gezeigt werden, dass der IOR-Effekt sich sowohl bei den kanadischen als auch den ägyptischen Probanden nachweisen lässt.

Die Auswirkung der Leserichtung auf die ästhetische Präferenz in Bezug auf Bilder in den Kategorien dynamische und statische Objekte sowie Landschaften untersuch- ten Chokron und Agostini (2000) bei Schulkindern und Erwachsenen aus Frankreich und Israel. Den Probanden wurden die Bilder in zwei Versionen zur Bewertung ge- zeigt, eine Version zeigte das Originalbild und bei der anderen Version wurde das Bild horizontal gespiegelt (vgl. Abb. 18).

Abb. 18: Eine Auswahl der Bilder der Kategorien dynamische Objekte (a), statische Objekte (b) und Landschaften (c) in der originalen und gespiegelten Version (Aus: Chokron & Agostini, 2000, S. 47).

Die Ergebnisse zeigten, dass die Probanden aus Frankreich die Bilder der dynami- schen und statischen Objekte mit der Bewegungsrichtung von links nach rechts sig- nifikant präferierten. Demgegenüber bevorzugten die Probanden aus Israel die Bilder der dynamischen und statischen Objekte mit der Bewegungsrichtung von rechts nach links. Lediglich bei den Landschaftsbildern zeigten sich nur bei den erwachsenen Probanden aus Israel signifikante Ergebnisse. Zusammenfassend zeigt sich:

The main finding of the present experiment is an effect of reading habits on aesthetic preference, with subjects preferring the pictures possessing the same directionality as their reading habits (Chokron & Agostini, 2000, S. 48).

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4 Einfluss von Richtungseffekten auf den Entscheidungsprozess

Ähnlich wie Chokron und Agostini (2000) haben sich Ishii, Okubo, Nicholls und Im- ai (2011) in ihrer Studie mit der ästhetischen Beurteilung von dynamischen sowie statischen Objekten und Landschaften beschäftigt. Jedoch untersuchte die Forscher- gruppe dies an englischen und japanischen Probanden. Die gezeigten Bilder der drei Kategorien mussten auf einer Skala von -10 (sehr unattraktiv) bis +10 (sehr attraktiv) eingestuft werden. Die Ergebnisse von Ishii et al. (2011) bestätigten die Ergebnisse von Chokron und Agostini (2000). Die englischen Probanden präferierten die Bilder der dynamischen und statischen Objekte mit der Bewegungsrichtung von links nach rechts signifikant. Demgegenüber bevorzugten die japanischen Probanden die Bilder der dynamischen und statischen Objekte mit der Bewegungsrichtung von rechts nach links. Lediglich bei den Landschaftsbildern zeigten sich nur bei den Probanden aus Japan signifikante Ergebnisse (vgl. Abb. 19).

Abb. 19: Die Ergebnisse der ästhetischen Präferenz der englischen und japanischen Probanden (Aus: Ishii et al., 2011, S. 245).

Somit wirkt die kulturell geprägte Lese- und Schreibrichtung sich auf die Präferenz von Bildern aus. Román, El Fathi und Santiago (2013) haben in ihren Untersuchun- gen herausgefunden, dass die Lese- und Schreibrichtung Auswirkungen auf Aufga- ben der auditiven Sprachwahrnehmung und mentalen Modellkonstruktion hat. Heath, Mahmasanni, Rouhana und Nassif (2005) wiesen in ihrer Untersuchung nach, dass sich die kulturell bedingte Lese- und Schreibrichtung neben der ästhetischen Präfe- renz bei geometrischen Elementen auch innerhalb eines „asymmetric chimeric faces test“ auswirkt. Die Probanden mit der Lese- und Schreibrichtung von links nach rechts kamen aus den Vereinigten Staaten von Amerika, mit der Lese- und Schreib-

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4 Einfluss von Richtungseffekten auf den Entscheidungsprozess richtung von rechts nach links aus dem Libanon und mit einer beidseitigen Lese- und Schreibrichtung aus Syrien. Außerdem wurden Analphabeten in die Studie einge- bunden. Bei beiden Untersuchungen zeigten sich überwiegend statistisch bedeutsame Ergebnisse für die Probanden mit der Lese- und Schreibrichtung von links nach rechts und der beidseitigen Lese- und Schreibrichtung. Heath et al. (2005) zeigten mit ihren Ergebnissen, dass die kulturell geprägte Lese- und Schreibrichtung die ästhetische Präferenz und die Beurteilung von Gesichtern beeinflussen kann. Die bisher vorgestellten Studien werfen die Frage auf, ob nicht das Leben und Wir- ken in einem anderen Kulturkreis auch Anpassungsprozesse im Hinblick auf die kul- turell geprägte Lese- und Schreibrichtung hervorruft. Maass und Russo (2003) unter- suchten unter anderem dies an italienischen und arabischen Studenten anhand eines Experiments, bei dem die Studenten vorgegebene Sätze wie etwa „The girl pushes the boy“ als Bild zeichnen sollten. Es zeigte sich in den Ergebnissen, dass die italie- nischen Studenten in dem obigen Fall das Mädchen (als Subjekt des Beispielsatzes) auf der linken Seite positionierten. Die arabischen Studenten wählten hingegen die rechte Seite für das Mädchen aus. Des Weiteren deckte die Forschergruppe Fol- gendes auf: „The more time they had spent in countries where the dominant language is written from left to right, the smaller the right-positioning bias tended to be“ (Maass & Russo, 2003, S. 297). Es konnte somit gezeigt werden, dass je länger bei- spielsweise Araber Erfahrung mit anderen Sprachen sammeln, die von links nach rechts geschrieben und gelesen werden, desto stärker nimmt der Effekt der Verzer- rung bzw. Verschiebung nach rechts ab. Jedoch geben Maass und Russo (2003, S. 300) kritisch zu bedenken:

The fact that the vast majority of (neuro-)psychological research is carried out in the culturally homogeneous context of North America and Europe may bias theorizing in an unknown fashion. In the absence of cross-cultural comparisons, one may easily overestimate the power of (intuitively appealing) biological causes. Unfortunately, in a world of increasing globalization and rapidly reduced cultural variability, researchers may find it increasingly difficult to uncover cultural influences.

Diese Studienergebnisse sind aufgrund von zwei Aspekten interessant. Zum einen scheint es Unterschiede von Kulturkreis zu Kulturkreis bei den räumlichen Positio- nen von Personen im Hinblick auf ihre zugeschriebenen Attribute und Eigenschaften zu geben. Zum anderen nimmt dieser Effekt mit den Erfahrungen einer Sprache aus einem anderen Kulturkreis ab. Es lässt sich vermuten, dass die Ergebnisse von Maass und Russo (2003) oder Román et al. (2013) auch auf Schiedsrichter im Sportspiel

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4 Einfluss von Richtungseffekten auf den Entscheidungsprozess

Fußball übertragbar sind. Das heißt, es gibt Effekte aufgrund von Präferenzen der kulturell bedingten Lese- und Schreibrichtung.

4.2 Richtungseffekte im Speziellen

Welche Zusammenhänge zwischen Schreib- und Leserichtung und beispielsweise der ästhetischen Beurteilung einer sportlichen Bewegung wie etwa der Torerzielung im Fußball bestehen, untersuchten Maass, Pagani und Berta (2007). Die arabischen und italienischen Probanden hatten in der Studie die Aufgabe, die „Schönheit“ von Fußballtoren zu beurteilen. Die Videosequenzen mit den erzielten Toren zeigten entweder eine klar ersichtliche Flugbahn des Balls von links nach rechts oder von rechts nach links. Die Ergebnisse ließen erkennen, dass die italienischen Probanden hinsichtlich der Bewertungskriterien Kraft, Schnelligkeit und Schönheit eine klare Präferenz für Tore hatten, die von links nach rechts erzielt wurden (vgl. Abb. 20). Bei den arabischen Probanden zeigte sich der umgekehrte Effekt, so dass diese Tore präferierten, die von rechts nach links erzielt wurden.

Abb. 20: Durchschnittliche Bewertungen der Kraft, Schnelligkeit und Schönheit der erzielten Tore in Abhängigkeit von Bewegungsrichtung und kulturellem Hintergrund (Aus: Maass et al., 2007, S. 847).

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4 Einfluss von Richtungseffekten auf den Entscheidungsprozess

Die Autoren dieser Studie erklären diese Effekte mit den Unterschieden in der je- weils ursprünglich gelernten Schreib- und Leserichtung. Maass et al. (2007, S. 850) dazu: „Our studies suggest a deeply ingrained tendency to perceive or imagine ac- tions to involve in the direction imposed by one’s native language.“ Damit einher geht eine positivere Bewertung von Bewegungen, die der gelernten Leserichtung entsprechen. Zusammenfassend scheint es auch einen Einfluss von Richtungseffek- ten auf den Entscheidungsprozess im Fußball zu geben. Kranjec et al. (2010) haben den Zusammenhang der Bewegungsrichtung in Zweikampfsituationen und der Be- wertung dieser Situationen erforscht. Für die Untersuchung konnten zwölf eng- lischsprachige Probanden (vier Männer und acht Frauen) mit einem Durchschnittsal- ter von 19,3 Jahren aus der Fußballmannschaft der Universität Pennsylvania gewon- nen werden. Bei den Versuchspersonen handelte es sich um Experten. Jeder Proband musste vor Teilnahme an der Studie einen Fragebogen mit Angaben zur eigenen Spiel- und Beobachtungserfahrung im Fußball und dem Wissen über Fußballregeln, Profimannschaften und Spieler ausfüllen. In dem Experiment wurden den Probanden insgesamt 268 Bilder, 134 Originalbilder und 134 gespiegelte Versionen, von Zwei- kampfszenen gezeigt.

Abb. 21: Links (A): Anzahl der durchschnittlichen Fouls im Vergleich. Die Anzahl an Foulspielen für die Bewegungsrichtung von rechts nach links ist signifikant größer als die von links nach rechts. Rechts (B): Die Laufdiagonale des Schiedsrichters (REF), der Schiedsrichterassistenten (ASST1/ASST2) und die Bewegungsrichtung eines Angriffs (PLAY1/PLAY2) (Kranjec et al., 2010, S. 2).

Die Spielszenen stammten aus Spielen der English Northern League und der Premier Reserve League. Die Bilder wurden so ausgewählt, dass nur zwei Spieler auf jedem Bild zu sehen waren, wovon einer deutlich den Ball spielte. Jegliche Rückennum-

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4 Einfluss von Richtungseffekten auf den Entscheidungsprozess mern oder Beschriftungen wurden von den Trikots durch Spezialprogramme entfernt. Die Probanden sollten die ihnen gezeigten Bilder hinsichtlich eines möglichen Foul- spiels beurteilen und entscheiden. In den Ergebnissen zeigte sich, dass die Zwei- kampfsituationen mit einer Bewegungsrichtung nach links signifikant häufiger als Foul beurteilt wurden als solche mit einer Bewegungsrichtung nach rechts (vgl. Abb. 21). Es konnte nachgewiesen werden, dass die Probanden bei den gezeigten Spiel- szenen bei keiner der beiden Bewegungsrichtungen schneller reagiert haben. Die Wissenschaftler begründen die Forschungsresultate damit, dass die Einflüsse der kul- turellen Schreib- und Lesegewohnheiten sich, ähnlich wie bei Chokron und Agostini (2000) oder Maass et al. (2007) gezeigt, auf die Beurteilung von Bewegungen von links nach rechts und von rechts nach links auswirken. Die Ergebnisse der Studie von Kranjec et al. (2010) haben weiter auch eine Konsequenz für die Beurteilung von Foulspielsituationen im Hinblick auf die Spielleitung des Schiedsrichters. So gilt für den Schiedsrichter im Sportspiel Fußball: „Der Schiedsrichter hat bei seiner Lauf- richtung darauf zu achten, dass das Geschehen stets zwischen sich und seinem jewei- ligen Assistenten abläuft und er diesen an seiner rechten Seite hat“ (Deutscher Fuß- ball-Bund, 2009, S. 241). Der Schiedsrichter hat sich bei seinen Laufwegen an der flexiblen Diagonalen (vgl. Abb. 21) zu orientieren. Für Kranjec et al. (2010) entste- hen durch die Richtungseffekte im Hinblick auf die beiden Mannschaften keine Ver- zerrungen, wenn der Schiedsrichter diese Diagonale konsequent in beiden Halbzeiten abläuft. In Bezug auf die räumlichen Verzerrungen ist das Diagonale System besser als das alte Linearsystem, bei dem die Schiedsrichter verpflichtet waren, einen gera- den Weg entlang einer einzigen Seite abzulaufen. Jedoch bevorteilt das System der flexiblen Diagonalen in Spielsituationen stets die Verteidigung beider Mannschaften, denn diese muss in Bewegungsrichtung nach links, vom Schiedsrichter aus, die ang- reifende Mannschaft aufhalten. Kranjec et al. (2010, S. 3) führen in ihrer Studie dazu an:

Conversely, a right diagonal system of control should favor the defense for both teams, as the referee will generally observe attacks on goal unfold from left-to-right and there- fore be expected to call fewer fouls.

Somit können das gewählte Einstiegszitat und damit die Forderung von Böning (2010) an dieser Stelle aufgrund der theoretischen Erkenntnisse bestätigt werden. Ein Wechseln der Laufdiagonale könnte zu Verzerrungen in der Entscheidungsfindung des Schiedsrichters führen und somit Einfluss auf den Spielausgang nehmen.

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4 Einfluss von Richtungseffekten auf den Entscheidungsprozess

4.3 Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich im Hinblick auf den Einfluss von Richtungseffekten auf den Entscheidungsprozess sagen, dass diese sehr stark von der kulturellen Lese- und Schreibrichtung abhängig sind. Chokron und Imbert (1993) belegten dies für visuell- motorische Aufgaben und Fuhrmann und Boroditsky (2007) im Hinblick auf die Schnelligkeit der Entscheidungsfindung. Außerdem konnte durch Studien gezeigt werden, dass sich die kulturelle Lese- und Schreibrichtung auf die ästhetische Präfe- renz (Chokron & Agostini, 2000; Heath et al., 2005; Ishii et al., 2011), die Beurtei- lung von Gesichtern (Heath et al., 2005) und die auditive Sprachwahrnehmung (Román et al., 2013) auswirkt. Auch scheint sich der IOR-Effekt in Abhängigkeit von der kulturellen Lese- und Schreibrichtung zu zeigen (Spalek & Hammad, 2004, 2005). Die Effekte durch die kulturell bedingte Lese- und Schreibrichtung nehmen mit steigendem Erfahrungsgrad des gegensätzlichen Kulturkreises ab (Maass & Rus- so, 2003). Außerdem gibt es bei der Beurteilung der Schönheit, Kraft und Schnellig- keit von erzielten Toren im Fußball Unterschiede zwischen verschiedenen Kultur- kreisen (Maass et al., 2007). Bei Zweikampfsituationen im Fußball werden diese bei der Bewegungsrichtung von links nach rechts signifikant häufiger als Foulspiel beur- teilt als bei der umgekehrten Bewegungsrichtung (Kranjec et al., 2010). Insgesamt konnte der aktuelle Forschungsstand im Bereich der Richtungseffekte skizziert wer- den, jedoch ergeben sich im Hinblick auf die Tätigkeit von Schiedsrichtern im Sportspiel Fußball noch diverse Fragestellungen, welche im folgenden Kapitel zu den Forschungshypothesen überleiten sollen.

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5 Fragestellung und Forschungshypothese

5 Fragestellung und Forschungshypothese

In der vorliegenden Untersuchung wurden zwei Ziele verfolgt: Zum einen sollte der Richtungseffekt bei der Beurteilung von Zweikampfsituationen im Fußball genauer analysiert werden. Zum anderen sollte geklärt werden, inwieweit sich im Prozess der sozialen Informationsverarbeitung die Erfahrung von Schiedsrichtern und Nicht- schiedsrichtern auswirkt. Die gesamten bisherigen theoretischen Überlegungen rund um den Schiedsrichter im Sportspiel Fußball haben gezeigt, dass es sehr viele Fakto- ren gibt, welche auf die Schiedsrichterentscheidung als Produkt der sozialen Infor- mationsverarbeitung Einfluss nehmen können (vgl. Kap 3). Diese Entscheidung ist jedoch immer vor dem Hintergrund der physischen, psychischen und regeltechni- schen Anforderungen zu betrachten (vgl. Kap. 2). Der Schiedsrichter hat in vielen Sportspielen die alleinige Entscheidungsgewalt und ist aufgrund seiner Neutralität von wissenschaftlichem Forschungsinteresse im Hinblick auf die Anfälligkeit für ex- terne Einflüsse. Dies belegt auch die gute Studienlage beispielsweise zu dem Ein- fluss von Farben (Dreiskaemper et al., 2013; Frank & Gilovich, 1988; Hagemann et al., 2008) oder der Umgebungsgeräusche im Stadion (Myers et al., 2012; Nevill et al., 2002; Pettersson-Lidbom & Priks, 2010). Insbesondere im letzten Kapitel rund um den Einfluss der Richtungseffekte auf den Entscheidungsprozess wurden einige Forschungslücken deutlich, welche mit dieser Untersuchung geschlossen werden sol- len. In der Studie von Kranjec et al. (2010) wurden den Probanden Bilder von Zwei- kampfsituationen gezeigt. Solche Bilder können den Probanden aber nur einen sehr geringen Teil der Dynamik eines Zweikampfs vermitteln, Videoaufnahmen können dies hingegen deutlich besser. Zudem würden Zweikampfsituationen im Videofor- mat näher die Realität wiedergeben als unbewegte Bildaufnahmen, zumal Schieds- richter bei ihren Entscheidungen auch immer die Zweikampfsituation in das Gesche- hen vor der eigentlichen Aktion einbetten müssen. Kranjec et al. (2010) merken bei ihrer Studie kritisch an, dass statische Bilder keine realistischen Rahmenbedingungen zur Beurteilung bieten, wie sie etwa professionelle Schiedsrichter im normalen Spielgeschehen vorfinden. Über den Effekt, der von realen Spielbedingungen aus- geht, lassen sich daher nur Vermutungen anstellen. Jedoch könnte sich aus diesen Erkenntnissen ableiten lassen, dass die Bewertung beispielsweise einer Zweikampf- situation anhand bewegter Bilder viel näher an der Tätigkeit des Schiedsrichters im Fußball liegt als die Bewertung von statischen Bildern. Außerdem muss sich die zeit- liche Dauer der Entscheidungsfindung an der Realität der Tätigkeit des Schiedsrich- ters im Sportspiel Fußball orientierten, denn:

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5 Fragestellung und Forschungshypothese

Ein Schiedsrichter entscheidet in Sekundenbruchteilen über eine Situation [...]. Er kann die Spielszene nur direkt in dem Moment bewerten und darüber entscheiden, wenn sie live passiert – in Echtzeit (Herzog, 2010, S. 133).

Kranjec et al. (2010) sind dieser Anforderung in ihrer Untersuchung nachgekommen, indem die Probanden innerhalb von 3000 ms ihre Entscheidung treffen mussten. Die- ses Zeitfenster scheint für die Beurteilung einer Zweikampfsituation angemessen, zumal sich der Spielverlauf im Anschluss dynamisch weiterentwickelt und nicht viel Zeit bleibt, um zu entscheiden. Die große Anzahl von insgesamt 268 gezeigten Bil- dern von Kranjec et al. (2010) könnte sich als ein Schwachpunkt der Studie heraus- stellen. Der Mensch ist nicht in der Lage, seine Konzentration über einen langen Zeitraum aufrechtzuerhalten, diese fängt bereits ab etwa 10 Minuten an leicht und ab 45 Minuten deutlich abzufallen (Hering & Draeger, 1999). Bei einer Untersuchung mit Videos wäre darauf zu achten, dass die Gesamtlänge des Experiments ein hohes Maß an Konzentration ermöglicht. Bei Kranjec et al. (2010) dürfte aufgrund der gro- ßen Zahl der zu beurteilenden Bilder von einer Studienlänge von etwa 30 Minuten auszugehen sein, wenn 5500 ms pro Versuch als Kalkulationsbasis zugrunde gelegt werden.

Einen weiteren Schwachpunkt der Studie von Kranjec et al. (2010) stellt die Aus- wahl der Probanden dar. Diese ist aufgrund der Verteilung des Geschlechts, des Al- ters und der Händigkeit der Probanden kritisch zu betrachten. Die getestete Gruppe bestand zu einem Drittel aus männlichen und zu zwei Dritteln aus weiblichen Pro- banden. Dieser hohe Anteil an Frauen ist weder im Hinblick auf das Sportspiel Fuß- ball allgemein noch die Schiedsrichter in dieser Sportart repräsentativ. So gab es laut der Schiedsrichterstatistik zum 01. Januar 2014 insgesamt 72.292 Schiedsrichter in Deutschland, von denen lediglich rund 3,3 Prozent weiblich waren (Deutscher Fuß- ball Bund, 2014). Ob die zwölf Probanden der Studie mit Absicht oder durch Zufall alle Rechtshänder und Rechtsfüßer waren, kann hier nicht abschließend geklärt wer- den. So könnten Kranjec et al. (2010) beispielsweise versucht haben, den Faktor Händigkeit bei der kleinen Stichprobe konstant zu halten, um eine zusätzliche Varia- tion zu vermeiden. Jedoch kann hierbei angemerkt werden, dass Perelle und Ehrman (1994) herausfanden, dass der Anteil der Linkshänder bezogen auf die von ihnen un- tersuchten 17 Länder im Durchschnitt bei 9,5 Prozent liegt. In den USA ist dieser Wert mit 12,2 Prozent sogar noch höher. Bei der Konzipierung einer Studie und der Auswahl der Probanden sollte darauf geachtet werden, dass die Stichprobe hinrei- chend groß ist, um als einigermaßen repräsentativ zu gelten.

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5 Fragestellung und Forschungshypothese

Die Studie von Kranjec et al. (2010) scheint sehr gute Ansätze zu haben, jedoch soll- te diese bei der Situierung auf eine Probandengruppe von Schiedsrichtern abzielen. Hierbei könnten die aufgezeigten Richtungseffekte bedingt durch die kulturelle Lese- und Schreibrichtung näher untersucht werden. Um diesen Effekt bei der Beurteilung von Zweikampfsituationen im Hinblick auf Foulspiel oder kein Foulspiel näher ana- lysieren zu können, müsste dieser auch an einer Gruppe von Nichtschiedsrichtern un- tersucht werden. Dies würde dabei helfen, zu untersuchen, ob die Richtungseffekte, bedingt durch die kulturelle Lese- und Schreibrichtung, bei der Beurteilung von Foulspielen von links nach rechts bzw. rechts nach links unabhängig oder abhängig von Erfahrung im Sportspiel Fußball vorherrschen. Denn die über Jahre hinweg ge- sammelte Erfahrung der Schiedsrichter könnte dafür sorgen, dass sich der Rich- tungseffekt in Abhängigkeit vom Erfahrungsniveau abschwächt.

Als weitere zentrale Studie wird die Untersuchung von Maass et al. (2007) zum Ein- fluss der Bewegungsrichtung auf die Beurteilung von erzielten Toren im Fußball he- rangezogen (vgl. Kap. 4.2). Jedoch sollte eine eigene Untersuchung nicht auf die Schönheit eines Tores abzielen, sondern vielmehr darauf, die Schwere eines Foul- spiels in Zweikampfsituationen zu beurteilen. Von der Einschätzung der Schwere ei- nes Foulspiels kann der Richtungseffekt bedingt durch die kulturelle Lese- und Schreibrichtung abgeleitet werden. Neben der Schwere eines Foulspiels sollte bei ei- ner eigenen Untersuchung auch die Entscheidungszeit bei Foulentscheidungen be- trachtet werden. Die Ergebnisse von Kranjec et al. (2010) zeigten, dass es im Hinb- lick auf die Reaktionszeiten keine Unterschiede gab, die Untersuchungen von Maass und Russo (2003) ließen jedoch Unterschiede erkennen. Daher ergibt sich hier eine unklare Forschungslage. Dieses Forschungsdefizit im Hinblick auf die Beurteilung von Zweikampfsituationen soll in der Untersuchung zum Einfluss von Richtungsef- fekten auf Schiedsrichterentscheidungen ebenfalls beseitigt werden. Um dies inner- halb der Untersuchung zu vereinfachen, nahmen nur Probanden mit einer Lese- und Schreibrichtung von links nach rechts teil. Zusammenfassend können aus den bereits vorliegenden wissenschaftlichen Theorien, dem aktuellen Stand der Forschung, aber auch aus den aufgezeigten Schwachstellen der bisherigen Erkenntnisse sowie dem daraus entstehenden Forschungsdefizit eigene Forschungshypothesen für die Unter- suchung abgeleitet werden. Die Forschungshypothesen H1 bis H3 sind vor dem theo- retischen Hintergrund allgemeiner gehalten und die Forschungshypothesen H4 bis H6 zielen spezieller auf den Forschungsgegenstand des Schiedsrichters im Sportspiel

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6 Methode

Fußball, im Vergleich zu Nichtschiedsrichtern, ab. Daher ergeben sich folgende sechs Forschungshypothesen H1 bis H6:

(H1) Die Probanden bewerten Zweikampfsituationen mit einer Bewe- gungsrichtung von rechts nach links häufiger als Foulspiel, als wenn die gleiche Zweikampfsituation von links nach rechts ab- läuft.

(H2) Die Probanden bewerten Foulspiele in Zweikampfsituationen mit einer Bewegungsrichtung von rechts nach links strenger, als wenn das gleiche Foulspiel in der Zweikampfsituation von links nach rechts abläuft.

(H3) Die Probanden entscheiden in Zweikampfsituationen mit einer Bewegungsrichtung von links nach rechts schneller auf Foul- spiel als bei einer Bewegungsrichtung von rechts nach links.

(H4) Schiedsrichter bewerten gezeigte Zweikampfsituationen mit ei- ner Bewegungsrichtung von rechts nach links und von links nach rechts konsistenter als Nichtschiedsrichter.

(H5) Nichtschiedsrichter entscheiden bei den gezeigten Zweikampfsi- tuationen häufiger auf Foulspiel als die Schiedsrichter.

(H6) Schiedsrichter entscheiden sich bei gezeigten Zweikämpfen in- sgesamt schneller für ein Foulspiel als Nichtschiedsrichter.

6 Methode

In diesem Kapitel wird das methodische Vorgehen der Untersuchung dargestellt. Neben den Versuchspersonen und dem Untersuchungsmaterial werden dabei auch der Versuchsplan und der Versuchsablauf näher erläutert.

6.1 Versuchspersonen

Die Basis für die Untersuchung zum Richtungseffekt bei der Beurteilung von Zwei- kampfsituationen im Fußball bildet eine Stichprobe von insgesamt 80 männlichen Probanden im Alter zwischen 18 und 36 Jahren, verteilt auf 40 Schiedsrichter und 40 Nichtschiedsrichter. Die Nichtschiedsrichter waren durchschnittlich 25,48 Jahre (SD = 4,18) und die Schiedsrichter 24,20 Jahre (SD = 5,43) alt. Bei den Schiedsrichtern waren fünf Probanden (12,5 Prozent) und bei den Nichtschiedsrichtern acht Proban-

53

6 Methode den (20 Prozent) Linkshänder. Bei der Präferierung eines Fußes zum Torschuss ga- ben bei den Schiedsrichtern vier Probanden den linken Fuß an. Ein Schiedsrichter bevorzugte keinen und der restliche Teil den rechten Fuß. Bei den Nichtschiedsrich- tern bevorzugten 36 Probanden den rechten Fuß. Ein Proband präferierte keinen Fuß und drei den linken Fuß. Bei den Nichtschiedsrichtern hatten 62,5 Prozent und bei den Schiedsrichtern 50 Prozent keine Seheinschränkung. Alle 80 Probanden gaben an, die Schreib- und Leserichtung von links nach rechts zu beherrschen. Zusätzlich zeigte sich, dass ein Schiedsrichter die Fähigkeit besaß, von rechts nach links zu le- sen, und ein Nichtschiedsrichter die Fähigkeit, von oben nach unten zu lesen.

Die teilnehmenden Schiedsrichter führten ihre Tätigkeit bereits durchschnittlich 8,18 Jahre (SD = 4,73) aus und leiteten dabei 38,64 Fußballspiele (SD = 18,88). Es zeigte sich, dass die Probanden am zahlreichsten in der (30 Prozent) tätig sind. Jedoch waren insgesamt 45 Prozent der Probanden in den höheren Klassen von Gruppen-, Verbands- und aktiv (vgl. Abb. 22).

13 12 11 10 9 8 7 6

5 Anzahl der Anzahl Schiedsrichter 4 3 2 Jugend Kreisliga Kreisoberliga Gruppenliga Hessenliga Leistungsklasse der Schiedsrichter

Abb. 22: Die absolute Verteilung der Schiedsrichter auf ihre jeweils aktuellen Leistungsklassen.

Daneben waren 90 Prozent der Schiedsrichter auch noch als Schiedsrichterassistent tätig. Die Schiedsrichter assistierten durchschnittlich bei 17 Spielen (SD = 12,51) und führten diese Tätigkeit bereits 6,06 Jahre (SD = 4,35) aus. In der Gruppenliga as- sistierten 36,1 Prozent, in der Verbandsliga 19,4 Prozent und in der Hessenliga 36,1 Prozent. Zwei Schiedsrichter waren in der (5,56 Prozent) und ein

54

6 Methode

Schiedsrichter in der Jugend-Bundesliga (2,78 Prozent) als Schiedsrichterassistent aktiv. Für ihre Tätigkeit als Schiedsrichter absolvierten die Probanden durchschnitt- lich pro Woche 2,49 Trainingseinheiten (SD = 1,40), bei 4,47 Trainingsstunden (SD = 3,05). Für ihre Tätigkeit als Schiedsrichterassistent absolvierten die Probanden durchschnittlich pro Woche 1,6 Trainingseinheiten (SD = 1,47), bei 2,75 Trainings- stunden (SD = 2,54). Die teilnehmenden Nichtschiedsrichter hatten alle keinerlei Er- fahrung als Schiedsrichter oder Schiedsrichterassistent im Sportspiel Fußball.

25

20

15

Schiedsrichter

10 Nicht-Schiedsrichter Anzahl der Anzahl Nennungen

5

0 Aktive Erfahrung Ehemals aktive Keine Erfahrung Erfahrung

Abb. 23: Die Wettkampferfahrung der Schiedsrichter und der Nichtschiedsrichter verteilt auf die drei Kategorien im Vergleich.

Lediglich zwei Nichtschiedsrichter hatten Erfahrung als Schiedsrichter in einer ande- ren Sportart (Fechten und Handball). Bei den Nichtschiedsrichtern verfügten 42,5 Prozent über ehemals aktive Fußballerfahrung und bei den Schiedsrichtern 57,5 Pro- zent. Bei den Nichtschiedsrichtern lag der Anteil von Probanden ohne wettkampf- mäßige Fußballerfahrung bei 45 Prozent (vgl. Abb. 23). Die aktive und ehemals ak- tive Erfahrung im Wettkampfsport Fußball der Nichtschiedsrichter verteilt sich größ- tenteils auf die Spielklassen der Jugend (40,9 Prozent), Kreisliga (22,2 Prozent) und Kreisoberliga (27,2 Prozent). Ein Proband verfügte über ein Jahr Erfahrungen in der Gruppenliga. Ein anderer Proband gab an, über ein Jahr Erfahrungen in der Ver- bandsliga gesammelt zu haben. Von den aktiven Fußballern in der Probandengruppe der Nichtschiedsrichter spielten in der höchsten angegebenen Spielklasse zwei Pro-

55

6 Methode banden in der Kreisoberliga. Für ihre Sportart absolvierten die Probanden durch- schnittlich pro Woche 1,86 Trainingseinheiten (SD = 0,62), bei 2,95 Trainingsstun- den (SD = 1,25) und 0,88 Wettkämpfe (SD = 0,31). Im Jahr absolvierten die Nicht- schiedsrichter durchschnittlich 27,66 Wettkämpfe (SD = 8,11). Die gesammelte wettkampfmäßige Erfahrung der Nichtschiedsrichter im Hinblick auf die Sportart Fußball lag durchschnittlich bei 9,05 Jahren (SD = 5,86).

30

25

20

15 Schiedsrichter Nicht-Schiedsrichter

10 Anzahl der Anzahl Nennungen

5

0 Freizeit Schule Studium Beruf Erfahrungskategorie

Abb. 24: Die nichtwettkampfmäßige Erfahrung der Schiedsrichter und der Nichtschiedsrichter ver- teilt auf die vier Kategorien im Vergleich (Mehrfachnennung möglich).

Neben der wettkampfmäßigen Erfahrung soll auch die nichtwettkampfmäßige Erfah- rung beider Probandengruppen dargestellt werden. Insgesamt gaben 90 Prozent der Nichtschiedsrichter an, über nichtwettkampfmäßige Fußballerfahrung zu verfügen. Bei den Schiedsrichtern lag dieser Wert mit 80 Prozent niedriger. Neben den Erfah- rungen in der Freizeit und Schule zeigte sich bei den Nichtschiedsrichtern ein erhöh- ter Anteil von Erfahrungen im Studium (vgl. Abb. 24). Von den Nichtschiedsrichtern haben insgesamt 19 Probanden (47,5 Prozent) Sport studiert bzw. studieren Sport, wovon 18 Probanden einen Fußballkurs absolviert haben. Von diesen 18 Probanden haben alle den Grundkurs Fußball und zusätzlich noch 11 Probanden den Aufbau- kurs Fußball absolviert. Von den beiden Probandengruppen gaben 90 Prozent an, noch weitere Erfahrungen in anderen Sportarten gesammelt zu haben. Am häufigsten

56

6 Methode wurden die Sportarten Triathlon (22,2 Prozent), Laufen (20,3 Prozent), Schwimmen (18,1 Prozent) und Tischtennis (15,3 Prozent) genannt (Mehrfachnennung möglich).

6.2 Material

Das Untersuchungsmaterial wurde aus Videoaufzeichnungen des Pay-TV-Senders „Sky“ zusammengestellt, der über den eigenen Kanal „Sky Sports HD“ auf der Vi- deoplattform www.youtube.com zusammengefasstes Videomaterial aus den unter- schiedlichsten Sportarten online zur Verfügung stellt. Die relevanten Spielszenen wurden von dort aus in HD-Qualität heruntergeladen. Es wurden dabei Spielszenen mit Zweikampfsituationen aus der 1. Fußballbundesliga, der 2. Fußballbundesliga, des DFB-Pokals, der Champions League und der Europa League aus der Saison 2012/2013 ausgewählt. Die ausgewählten Spielszenen wurden mithilfe der beiden Programme „Adobe Premiere Pro CS4“ und „Adobe After Effects CS4“ bearbeitet und geschnitten. Die bearbeiteten Videos hatten danach eine Abspieldauer von 2,84 bis 7,6 Sekunden mit einer Framerate von 25 Bildern pro Sekunde und einer Auflö- sung von 1280 x 720 Pixel.

Abb. 25: Eine originale Spielszene des Spiels Hertha BSC Berlin gegen 1. FC St. Pauli vom 19.11.2012 aus der Saison 2012/2013 der 2. Fußballbundesliga.

Als Dateiformat wurde „Audio Video Interleave“ gewählt. Insgesamt wurden für die Untersuchung 36 Originalspielszenen (vgl. Abb. 25) verwendet, die jeweils noch ho-

57

6 Methode rizontal gespiegelt (vgl. Abb. 26) worden sind, so dass insgesamt 72 Zweikampfsze- nen innerhalb des Experiments zum Einsatz kamen.

Abb. 26: Die gespiegelte originale Spielszene des Spiels Hertha BSC Berlin gegen 1. FC St. Pauli vom 19.11.2012 aus der Saison 2012/2013 der 2. Fußballbundesliga.

Es wurde bei der Auswahl der Videoszenen darauf geachtet, dass es keine Hinweise auf eine Schiedsrichterentscheidung, beispielsweise in Form von Handzeichen oder Pfiff, gab. Zudem wurden Videoszenen ausgewählt, bei denen nicht die aktuelle Spielpaarung, Spielzeit oder der Spielstand eingeblendet wurden. Als Software zur Erstellung und Durchführung des Experiments wurde das Programm „Experiment Builder“ der Firma „SR Research“ verwendet. Das Abspielgerät für die Spielszenen mit Zweikampfsituationen war ein Fujitsu Lifebook E782 mit einem 15.6" Monitor.

6.3 Versuchsplan

Innerhalb des Versuchsplans sollten die beiden Probandengruppen (vgl. Kap. 5.2.1) insgesamt 72 Zweikampfszenen, aufgeteilt in zwei Blöcke, im Hinblick auf das Vor- liegen eines Foulspiels beurteilen. Wenn ein Proband der Meinung war, dass ein Foulspiel vorlag, sollte er innerhalb von drei Sekunden nach Ende der Zweikampf- szene die Leertaste drücken. Anschließend erfolgte eine Beurteilung der Foulintensi- tät (vgl. Kap. 6.4). Falls der Proband der Meinung war, dass kein Foulspiel vorlag, wurde nach Ende der gezeigten Zweikampfszene, nach Ablauf des Zeitfensters von drei Sekunden, die nächste Zweikampfszene gezeigt. Aufgrund des verwendeten Ma-

58

6 Methode terials (vgl. Kap. 5.2.2) der Originalspielszenen (vgl. Abb. 25) und manipulierten Originalspielszenen (vgl. Abb. 26) sowie der Reaktionsmöglichkeiten der Probanden ergeben sich innerhalb der vorliegenden Untersuchung die unabhängige und abhän- gige Variable (Bortz, Bortz-Döring & Döring, 2006). Die experimentelle Untersu- chung wurde als zweifaktorielles Mixed-Design konzipiert. Als unabhängige Variab- le (UV) wurden zum einen die originalen sowie die manipulierten Zweikampfszenen mit den Bewegungsrichtungen von links nach rechts bzw. von rechts nach links aus- gewählt (UV1: Bewegungsrichtung; within-subject). Zum anderen wurden als zweite UV die Probandengruppen von Schiedsrichtern und Nichtschiedsrichtern ausgewählt

(UV2: Gruppe; between-subject). Mit der Operationalisierung der abhängigen Va- riablen (AV) wurde festgelegt, wie die Wirkung der Faktoren erfasst werden sollte.

Neben der Anzahl der als Foulspiel bewerteten Zweikampfszenen (AV1) wurden die

Entscheidungszeit (AV2) und die Foulintensität (AV3) gemessen. Beide Probanden- gruppen (Schiedsrichter und Nichtschiedsrichter) werden der UV ausgesetzt, so dass dabei die Ausprägungen der AV bei jedem einzelnen Probanden gemessen werden können. Zunächst wird auf die Kontrolle der personengebundenen Störvariablen und anschließend auf die Kontrolle von Störvariablen in der Versuchssituation eingegan- gen.

Abb. 27: Die Probandenliste mit den Angaben zum vpn_code, der Version, der zu benutzenden Hand und den sonstigen Anmerkungen.

59

6 Methode

Um die Kontrolle der personengebundenen Störvariablen (Sedlmeier & Renkewitz, 2008) zu gewährleisten, wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen. Jedem Schieds- richter und jedem Nichtschiedsrichter wurde zunächst eine Versuchspersonennum- mer (vpn_code) in fortlaufender Reihenfolge zugeteilt. Jedem vpn_code war bei der Konzipierung der Untersuchung vorab eine Version (A oder B) und zu benutzende Hand vorgeben. Der erste getestete Schiedsrichter (SR_01) bekam Version A zu se- hen und musste zum Betätigen der Leertaste seine rechte Hand nutzen. Der zweite Schiedsrichter (SR_02) bekam Version B und nutzte dabei seine rechte Hand. Der dritte Schiedsrichter (SR_03) bekam erneut Version A und musste seine linke Hand nutzen (vgl. Abb. 27). Dieses Procedere setzte sich fort und wurde für die Nicht- schiedsrichter ebenfalls so verwendet. Durch die gleichmäßige Verteilung der origi- nalen und gespiegelten Zweikampfszenen auf zwei Versionen (A und B) konnten Ef- fekte durch die Anordnung der einzelnen Videos ausgeschlossen werden. Zudem wurden die gezeigten Zweikampfszenen innerhalb der Blöcke zufällig angeordnet, so dass diese personengebundenen Störvariablen durch die Randomisierung ausbalan- ciert wurden. Auch die Verwendung der Reaktionshand zum Betätigen der Leertaste als personengebundene Störvariable wurde durch Randomisierung ausbalanciert. In- sgesamt bestand für jeden Teilnehmer, Schiedsrichter oder Nichtschiedsrichter, die gleiche Chance, einer bestimmten Bedingung (z.B. Version B und linke Hand) zu- geordnet zu werden. Zudem hilft die Wahl des experimentellen Designs als „Mixed- Design“ dabei, die personengebundenen Störvariablen zu parallelisieren (Sedlmeier & Renkewitz, 2008).

Um die Kontrolle von Störvariablen in der Versuchssituation (ebd., 2008) zu ge- währleisten, wurden verschiedene Maßnahmen ergriffen. Es wurde darauf geachtet, alle Störquellen, wie beispielsweise Lärm, zu eliminieren. Zudem wurden das Ver- halten des Versuchsleiters und die Beleuchtung des Raums konstant gehalten. So wurde der Versuchsablauf (vgl. Kap. 5.2.4) bei allen Probanden immer gleich gehal- ten. Im Rahmen der Kontrolle von Erwartungseffekten konnte es passieren, dass:

Versuchsteilnehmer nicht nur passiv auf die Geschehnisse in der jeweiligen Versuchs- bedingung reagieren, sondern oftmals auch aktiv nach dem Sinn und Zweck des Expe- riments suchen, Vermutungen über die Hypothesen anstellen und Erwartungen über die Wirkung der Behandlung, die ihnen im Experiment widerfährt, entwickeln (Sedlmeier & Renkewitz, 2008, S. 141).

Die Versuchsteilnehmer wurden daher weder vor noch während des Experiments über die experimentelle Manipulation und die Hypothesen informiert.

60

6 Methode

6.4 Versuchsablauf

Beim Ablauf der Untersuchung wurde Wert darauf gelegt, dass eine möglichst über- einstimmende und wettkampfnahe Entscheidungssituation geschaffen wurde. Nach dem Eintreffen eines jeden Probanden wurden nach der Begrüßung zunächst kurz mündlich die Rahmenbedingungen der Untersuchung erläutert. Die Probanden wur- den anschließend auf einem Stuhl an einen Tisch vor den Fujitsu Lifebook E782 Laptop gesetzt. Zuerst erhielten sie eine einseitige allgemeine Teilnehmerinformati- on im DIN-A4-Format über die Untersuchung (vgl. Anhang A 1), beispielsweise mit Hinweisen zum Inhalt der Studie und zum Datenschutz. Nachdem die Probanden al- les gelesen und verstanden hatten, wurde jedem Probanden eine Einverständniserklä- rung (vgl. Anhang A 2) schriftlich zum Lesen vorgelegt. In der Einverständniserklä- rung wurden beispielsweise die Risiken und Vorteile, die Vertraulichkeit der perso- nenbezogenen Daten und die Möglichkeit des Abbruchs der Studie schriftlich fixiert dargestellt. Nach dem Lesen der Einverständniserklärung wurden sowohl vom Ver- suchsleiter als auch vom Probanden zwei Exemplare, eines mit Verbleib beim Pro- banden und eines beim Versuchsleiter, unterschrieben. Im Anschluss wurde dem Probanden eine Seite mit Instruktionen zum Ablauf der Untersuchung (vgl. Anhang A 3) schriftlich zum Lesen vorgelegt. Die Seite mit den Instruktionen beinhaltete all- gemeine Informationen zum Ablauf und die an den Probanden gestellte Aufgabe. Nachdem der Proband das Lesen beendet hatte, konnten Nachfragen gestellt werden, so dass durch den Versuchsleiter alle möglichen Unklarheiten beseitigt wurden. Da- nach wurde das Experiment auf dem Laptop gestartet. Zunächst erschien auf dem Bildschirm eine Begrüßungsmaske:

„Herzlich Willkommen und vielen Dank für Ihre Bereitschaft zur Teilnahme an dieser Studie!“

Als Nächstes wurde auf dem Bildschirm folgende Anweisung gezeigt:

„Im Folgenden absolvieren Sie bitte 4 Probeversuche. Die Antworten, die Sie hier geben, gehen nicht in die spätere Datenauswertung ein. Haben Sie noch Fragen zum Ablauf oder zu Ihrer Aufgabe? Um die Probeversuche zu starten, drücken Sie bitte nun die Leertaste ...“

Zunächst sah der Proband eine Spielszene mit einer Zweikampfsituation (vgl. Kap. 5.2.2) und musste sich innerhalb von drei Sekunden nach Ende der Spielszene ent- scheiden, ob ein Foulspiel vorlag oder nicht. Wenn ein Foulspiel vorlag, musste er

61

6 Methode die Leertaste drücken, so dass eine Eingabemaske mit der Foulintensität erschien (vgl. Abb. 28). Nun konnte der Proband entscheiden, ob es sich um eine niedrige oder eine hohe Intensität bei dem Foulspiel handelte. Hierzu konnte er eine Intensität zwischen eins und zehn auswählen, wobei eins ein extrem leichtes und zehn ein ex- trem schweres Foul bedeutete. Die Auswahl der jeweiligen Intensitätsstufe erfolgte mit dem Cursor in Form eines Punktes über das Touchpad am Laptop. Die Bestäti- gung erfolgte über ein nochmaliges Antippen der Auswahl auf dem Touchpad. Für die Entscheidungsfindung der Foulintensität gab es keinerlei Zeitbegrenzung für den Probanden.

Abb. 28: Die Eingabemaske zur Beurteilung der Schwere des Foulspiels mit der Beurteilungsskala eins (extrem leicht) bis zehn (extrem schwer).

Nachdem die vier Probeversuche absolviert worden waren, folgte auf dem Bild- schirm des Laptops eine Anweisung:

„Ende der Probeversuche. Haben Sie noch Rückfragen zum Ablauf der Un- tersuchung oder zu Ihrer Aufgabe? Falls nicht, dann drücken Sie bitte nun die Leertaste, um mit dem Experiment zu beginnen ...“

Nun begann für den Probanden der erste Block von insgesamt 36 Spielszenen mit Zweikampfsituationen. Diese mussten angesehen und bewertet werden. Nach der letzten Spielszene auf dem Bildschirm erschien folgende Meldung:

„Kurze Pause - In einer Minute können Sie mit dem Test fortfahren ...“

62

6 Methode

Nach einer Minute zeigte der Bildschirm folgende Anweisung:

„Drücken Sie nun die Leertaste, um mit dem Test fortzufahren ...“

Nun folgte für den Probanden der zweite Block von 36 Spielszenen mit Zweikampf- situationen, welche nach dem Ansehen wieder bewertet werden mussten. Im An- schluss an den zweiten Block wurde auf dem Bildschirm folgende Meldung gezeigt:

„Testende. Vielen Dank für Ihre Teilnahme!“

Im Anschluss an die Eingaben am Laptop wurde den Probanden noch ein Fragebo- gen (vgl. Anhang A 4) von vier Seiten Länge mit folgenden inhaltlichen Schwer- punkten gegeben:

 persönliche Angaben  Angaben zum Experiment  Angaben zur Tätigkeit als Schiedsrichter bzw. Schiedsrichterassistent  Angaben zur Wettkampferfahrung im Fußball  Angaben zu sonstiger Erfahrung im Fußball  weitere Angaben zur eigenen Sportgeschichte

Nachdem der Fragebogen ausgefüllt worden war, endete das Experiment.

63

7 Ergebnisse

7 Ergebnisse

Im folgenden Kapitel werden die Ergebnisse der durchgeführten Untersuchung dar- gestellt und erläutert. Die Auswertung der Daten erfolgte mittels der Statistik- Software SPSS (Version 22). Für die Auswertungen wurde für die Irrtumswahr- scheinlichkeit die Grenze von α = 5 Prozent vor Durchführung der Datenanalyse festgelegt.

7.1 Anzahl der Foulspiele

Die Nichtschiedsrichter trafen im Mittel 21,35 Foulentscheidungen (SD = 5,52), wenn der vermeintlich gefoulte Spieler sich von links nach rechts bewegte, und M = 21,22 Foulentscheidungen (SD = 5,01) in Situationen, in denen er sich von rechts nach links bewegte. Die Schiedsrichter entschieden bei einer Bewegungsrichtung von links nach rechts bei 22,32 Zweikampfsituationen (SD = 3,52) und bei einer Be- wegungsrichtung von rechts nach links bei 22,28 Zweikampfsituationen (SD = 3,88) auf Foulspiel (vgl. Abb. 29).

25 24 23 22 21 20 Schiedsrichter 19 Nicht-Schiedsrichter 18

Mittlere Anzahl der Anzahl MittlereFoulspiele 17 16 15 LR RL Bewegungsrichtung

Abb. 29: Mittlere Anzahl der bewerteten Foulspiele der Schiedsrichter und Nichtschiedsrichter in Abhängigkeit von der Bewegungsrichtung.

Eine Überprüfung der mittleren Foulhäufigkeiten mit Hilfe einer 2 (Gruppe) x 2 (Bewegungsrichtung)-Varianzanalyse mit Messwiederholung auf dem letzten Faktor

64

7 Ergebnisse ergab weder für den Faktor „Bewegungsrichtung“ (p = .768) noch für den Faktor „Gruppe“ signifikante Haupteffekte (p = .302). Ebenso war die Interaktion zwischen den beiden Faktoren nicht signifikant (p = .899). Im Hinblick auf die getroffenen Foulentscheidungen der Schiedsrichter und Nichtschiedsrichter lässt sich zwischen konsistenten (Foul/kein Foul) und inkonsistenten Foulentscheidungen differenzieren. Bei einer konsistenten Entscheidung hat der jeweilige Proband sowohl bei dem ge- zeigten Zweikampf von links nach rechts als auch von rechts nach links (vgl. Kap. 6.2) auf Foulspiel bzw. kein Foulspiel entschieden. Bei einer inkonsistenten Foul- spielentscheidung entschied beispielsweise ein Proband bei einer Zweikampfsituati- on von rechts nach links auf Foulspiel und bei der gespiegelten Zweikampfsituation nicht auf Foulspiel. Die Kategorien bezüglich aller Entscheidungen sind disjunkt.

25

20

15

Schiedsrichter 10 Nicht-Schiedsrichter

5 Mittlere Anzahl der Anzahl MittlereEntscheidungen 0 konsistent (Foulspiel) konsistent (Kein inkonsistent Foulspiel)

Abb. 30: Mittlere Anzahl der Entscheidungen der Zweikampfsituationen von Schiedsrichtern und Nichtschiedsrichtern in Abhängigkeit von konsistenten bzw. inkonsistenten Foulentscheidungen.

Die Überprüfung der konsistenten und inkonsistenten Foulentscheidungen wurde mittels eines T-Tests für unabhängige Stichproben durchgeführt. Die Schiedsrichter trafen im Mittel bei 19,10 Zweikämpfen (SD = 3,71) und die Nichtschiedsrichter bei 16,68 Zweikämpfen (SD = 6,17) eine konsistente Entscheidung auf Foulspiel (vgl. Abb. 30). Dieser Unterschied zwischen Schiedsrichtern und Nichtschiedsrichtern ist signifikant, t(78) = -2.152, p = .036. Die Die Nichtschiedsrichter entschieden im Mit- tel bei 10,10 Zweikampfsituationen (SD = 4,53) nicht auf Foulspiel und damit weni- ger als die Schiedsrichter mit 10,50 Zweikampfsituationen (SD = 3,98), die Unter- schiede verfehlten jedoch das vorgegebene Signifikanzniveau, t(78) = -0.420, p =

65

7 Ergebnisse

.676. Bei inkonsistenten Foulentscheidungen trafen die Schiedsrichter im Mittel mit 6,40 Foulspielen (SD = 3,01) weniger Entscheidungen als die Nichtschiedsrichter mit 9,23 Foulspielen (SD = 3,89). Dieser Unterschied konnte als signifikant, t(78) = 3.634, p< .001, nachgewiesen werden.

7.2 Entscheidungszeit

Bei der Darstellung der Ergebnisse zur Entscheidungszeit wurden nur konsistente Foulentscheidungen berücksichtigt. Dies ist bei der Auswertung der Untersuchungs- daten notwendig, um eine Vergleichbarkeit der Entscheidungszeit bei den Videopaa- ren mit den bewerteten Zweikämpfen sowohl von links nach rechts als auch von rechts nach links zu erhalten. Die Nichtschiedsrichter benötigten bei Zweikampfsi- tuationen mit einer Bewegungsrichtung von links nach rechts 0,687 Sekunden (SD = 0,270) zur Entscheidungsfindung. Bei der Bewegungsrichtung von rechts nach links benötigte die Probandengruppe 0,697 Sekunden (SD = 0,304) für ihre Entscheidung. Die Gruppe der Schiedsrichter brauchte bei einer Bewegungsrichtung von links nach rechts 0,662 Sekunden (SD = 0,211) und von rechts nach links 0,683 Sekunden (SD = 0,299) für ihre Foulentscheidungen (vgl. Abb. 31).

0,8

0,75

0,7

0,65 Schiedsrichter 0,6 Nicht-Schiedsrichter

Entscheidungszeit in Sekunden 0,55

0,5 LR RL Bewegungsrichtung

Abb. 31: Durchschnittliche Entscheidungszeit der Schiedsrichter und Nichtschiedsrichter in Abhän- gigkeit von der Bewegungsrichtung eines „gefoulten“ Spielers bei konsistenten Foulentscheidungen.

Eine Überprüfung der mittleren Entscheidungszeiten mit Hilfe einer 2 (Gruppe) x 2 (Bewegungsrichtung)-Varianzanalyse mit Messwiederholung auf dem letzten Faktor

66

7 Ergebnisse ergab keine signifikanten Effekte. Weder die beiden Haupteffekte „Gruppe“ (p = .716) und „Bewegungsrichtung“ (p = .596) noch die Wechselwirkung zwischen den Faktoren (p = .857) ergeben einen Zusammenhang.

7.3 Schwere des Foulspiels

Bei der Auswertung der Schwere des Foulspiels wurden analog zur Entscheidungs- zeit (vgl. Kap. 7.2) bei der Auswertung nur konsistente Foulentscheidungen berück- sichtigt. Die Schiedsrichter schätzten bei Zweikampfsituationen mit einer Bewe- gungsrichtung von links nach rechts im Mittel die Schwere der Foulspiele mit 4,57 Punkten (SD = 1,10) ein. Bei der Bewegungsrichtung von rechts nach links vergaben die Schiedsrichter 4,59 Punkte (SD = 1,11) und lagen damit leicht über dem Wert der Bewegungsrichtung von links nach rechts. Die Nichtschiedsrichter schätzten bei Zweikampfsituationen mit einer Bewegungsrichtung von links nach rechts im Mittel die Schwere der Foulspiele mit 5,00 Punkten (SD = 1,19) ein. Bei der Bewegungs- richtung von rechts nach links vergaben die Nichtschiedsrichter 5,12 Punkte (SD = 1,27) und lagen damit wie auch die Schiedsrichter leicht über dem Wert der Bewe- gungsrichtung von links nach rechts (vgl. Abb. 32).

6

5,5

5

4,5 Schiedsrichter Nicht-Schiedsrichter

4 Schwere desFoulspiels Schwere

3,5

3 LR RL Bewegungsrichtung

Abb. 32: Durchschnittliche Schwere des Foulspiels der Schiedsrichter und Nichtschiedsrichter bei konsistenten Foulentscheidungen.

67

7 Ergebnisse

Eine Überprüfung der Daten mit einer 2 (Gruppe) x 2 (Bewegungsrichtung) - Varianzanalyse mit Messwiederholung auf dem letzten Faktor ergab keinen signifi- kanten Haupteffekt für den Faktor „Bewegungsrichtung“ (p = .172). Die Nicht- schiedsrichter stuften Foulspiele im Mittel schwerer ein als die Schiedsrichter; die Unterschiede verfehlten jedoch das vorgegebene Signifikanzniveau knapp, 2 F(1, 78) = 3.526, p = .064, ŋp = .043. Schließlich zeigte sich keine Wechselwirkung zwischen den Faktoren (p = .334).

7.4 Sonstige Ergebnisse

In den Ergebnissen zu den Foulhäufigkeiten für die Schiedsrichter und Nichtschieds- richter (vgl. Kap. 7.1) zeigten sich keine signifikanten Unterschiede. Dies könnte an den Mittelwerten der eineindeutigen Zweikampf- bzw. Foulspielsituationen liegen. Da Richtungseffekte eventuell bei eindeutigen Situationen von Foulspiel oder kein Foulspiel nicht zu erwarten sind, wären für eine Untersuchung Zweikämpfe von Interesse, in denen idealerweise die Entscheidungswahrscheinlichkeit für Foulspiel bzw. kein Foulspiel bei 50 Prozent liegt. Für das weitere Vorgehen wurde eine quad- ratische Kurvenanpassung vorgenommen, um einen quadratischen Zusammenhang zwischen dem Anteil der Foulspielentscheidungen und dem Einfluss der Bewegungs- richtung, gemessen als Differenz des Anteils der Foulspielentscheidung von rechts nach links und des Anteils der Foulspielentscheidung von links nach rechts (positive Werte zeigen an, dass mehr Fouls für die Bewegungsrichtung „rechts nach links“ als „links nach rechts“ vergeben wurden), zu beschreiben. Das Signifikanzniveau des Modells wurde bei den Nichtschiedsrichtern verfehlt, F(2, 35) = 0.161, p = .852. Das Modell erklärt hierbei 9,8 Prozent der aufgetretenen Varianz. Wird das gleiche Vor- gehen bei der Gruppe der Schiedsrichter genutzt, so zeigt sich, dass hier 42,7 Prozent erklärt werden können. Dabei ist sowohl die Regression statistisch bedeutsam, F(2, 35) = 3.669, p = .036, als auch die Beta-Koeffizienten. Jedoch zeigen sich so- wohl bei den Nichtschiedsrichtern (vgl. Abb. 33) als auch bei den Schiedsrichtern (vgl. Abb. 34) Foulspielpaare, welche vom Gesamttrend abweichen (z.B. negative RL-LR-Differenzen für Schiedsrichter bei Situationen mit einem Foulanteil von rund 60 Prozent).

68

7 Ergebnisse

Abb. 33: Ergebnis der quadratischen Kurvenanpassung für Nichtschiedsrichter.

Abb. 34: Ergebnis der quadratischen Kurvenanpassung für Schiedsrichter.

69

8 Diskussion und Ausblick

8 Diskussion und Ausblick

Im folgenden Kapitel werden zunächst die Ergebnisse der Untersuchung hinsichtlich der aufgestellten Hypothesen betrachtet. Im nächsten Schritt wird die verwendete Methodik unter dem Aspekt der Stärken und Schwächen der durchgeführten Unter- suchung kritisch betrachtet. Zuletzt folgt ein Ausblick auf mögliche Anschlussstu- dien unter Berücksichtigung der Ergebnisse der Untersuchung und der aktuellen For- schungslage. Es werden dazu weitere mögliche Fragestellungen bezüglich Rich- tungseffekten bei Schiedsrichterentscheidungen im Fußball aufgegriffen.

8.1 Hypothesen

Im Folgenden werden alle aufgestellten Hypothesen von H1 bis H6 (vgl. Kap. 5) ein- zeln im Hinblick auf die Ergebnisse der Untersuchung (vgl. Kap. 7) analysiert und vor dem theoretischen Hintergrund (vgl. Kap. 2 bis Kap. 4) diskutiert.

Die Forschungshypothesen H1 bis H3 sind vor dem theoretischen Hintergrund allge- meiner gerichtet. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigten zum einen, dass es kei- nen signifikanten Unterschied in der Häufigkeit der Bewertung einer Zweikampfsi- tuation als Foulspiel hinsichtlich der Bewegungsrichtung von rechts nach links bzw. links nach rechts gab. Demnach konnten die Ergebnisse von Kranjec et al. (2010) für die Probanden dieser Untersuchung nicht nachgewiesen bzw. bestätigt werden. Da- her muss die aufgestellte Hypothese H1 verworfen werden.

Die Ergebnisse der Untersuchung zeigten ebenfalls keine Bestätigung für die zweite

Hypothese (H2), dass Probanden Foulspiele in Zweikampfsituationen mit einer Be- wegungsrichtung von rechts nach links strenger bewerten, als wenn das gleiche Foul- spiel in der Zweikampfsituation von links nach rechts abläuft. Es zeigten sich im

Hinblick auf Hypothese H2 keine signifikanten Unterschiede, so dass diese verworfen werden muss. Die Ergebnisse der Untersuchung konnten auf der Arbeit von Maass et al. (2007) beruhenden Annahmen nicht bestätigen.

Die dritte Hypothese (H3), dass Probanden in Zweikampfsituationen mit einer Bewe- gungsrichtung von links nach rechts schneller auf Foulspiel entscheiden, als wenn das gleiche Foulspiel mit einer Bewegungsrichtung von links nach rechts erfolgt, konnten die Ergebnisse der Untersuchung nicht bestätigen. Es zeigten sich keine sig- nifikanten Unterschiede in den Reaktionszeiten im Hinblick auf die Bewegungsrich-

70

8 Diskussion und Ausblick tung. Es konnten damit die Ergebnisse von Kranjec et al. (2010) nachgewiesen bzw. bestätigt werden. Jedoch lassen sich die Ergebnisse zu dieser Hypothese (H3) als ge- gensätzlich zu den Ergebnissen der Untersuchungen von Maass et al. (2007) interpre- tieren. Jedoch hatten die Probanden eine andere Aufgabenstellung erhalten und zu bewältigen. Die aufgestellte Hypothese H3 muss aufgrund der Untersuchungsergeb- nisse verworfen werden.

Die Forschungshypothesen H4 bis H6 wurden spezieller auf die Tätigkeit des Schiedsrichters im Sportspiel Fußball gerichtet.

In der vierten Hypothese (H4) wurde vermutet, dass Schiedsrichter gezeigte Zwei- kampfsituationen mit einer Bewegungsrichtung von rechts nach links und von links nach rechts konsistenter bewerten als Nichtschiedsrichter. Die Untersuchungsergeb- nisse bestätigten, dass Schiedsrichter im Vergleich zu Nichtschiedsrichtern bei Foul- spielen in Zweikampfsituationen konsistenter entscheiden. Dieser Unterschied wurde als signifikant nachgewiesen. Bei Zweikampfsituationen, in denen nicht auf Foul- spiel entschieden wurde, zeigten sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Probandengruppen. Eine Signifikanz zeigte sich jedoch bei den inkonsisten- ten Foulentscheidungen in Zweikampfsituationen. Die Gruppe der Nichtschiedsrich- ter entschieden signifikant inkonsistenter als die Gruppe der Schiedsrichter. Die vier- te Hypothese (H4) kann demnach beibehalten werden.

In der fünften Hypothese (H5) wurde vermutet, dass die Nichtschiedsrichter bei den gezeigten Zweikampfsituationen häufiger auf Foulspiel entscheiden würden als die

Schiedsrichter. Ähnlich wie bei den Ergebnissen zur aufgestellten Hypothese H2 zeigten sich im Vergleich der beiden Probandengruppen von Nichtschiedsrichtern und Schiedsrichtern keinerlei signifikante Unterschiede. Somit kann auf Grundlage der Untersuchungsergebnisse die aufgestellte Hypothese H5 nicht aufrechterhalten werden.

Die sechste und letzte Hypothese (H6) besagte, dass die Schiedsrichter sich bei ge- zeigten Zweikämpfen insgesamt schneller für ein Foulspiel entscheiden als die Nichtschiedsrichter. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigten keine signifikanten Effekte zur Bestätigung dieser Hypothese. Somit muss auf Grundlage der Untersu- chungsergebnisse die aufgestellte Hypothese H6 verworfen werden.

Auf Basis der Ergebnisse der Untersuchungen lässt sich damit von den aufgestellten

Hypothesen lediglich Hypothese H4 aufrechterhalten. Die Nichtbestätigung der ande-

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8 Diskussion und Ausblick ren fünf Hypothesen hat unterschiedliche Gründe. Die Ergebnisse von Kranjec et al. (2010) stellten für die Untersuchung eine wichtige und zentrale Forschungsgrundlage dar, so dass auch von dieser Studie aus das Scheitern der fünf Hypothesen diskutiert werden muss. Auf der einen Seite zeigten sich bei Kranjec et al. (2010) mehr bewer- tete Foulspiele für die Bewegungsrichtung von rechts nach links als von links nach rechts. Das Verwerfen der ersten Hypothese (H1) könnte darin begründet sein, dass die Ergebnisse der Untersuchung von Kranjec et al. (2010), auch aufgrund der bereits aufgeführten Kritik (vgl. Kap. 5), wissenschaftlich nicht haltbar sind. Eventuell lässt sich der Effekt von statischen Bildern nicht bei dynamischen Bildern nachweisen, was jedoch weiterer Untersuchungen bedarf (vgl. Kap. 8.3). So scheint beispielswei- se die hier gewählte Probandenanzahl von 40 Schiedsrichtern und 40 Nichtschieds- richtern im Vergleich zu den zwölf ausgewählten Probanden von Kranjec et al. (2010) aussagekräftiger, um statistische Analysen zu betreiben. Aufgrund dessen, dass es bisher lediglich einen wissenschaftlichen Befund mit signifikanten Ergebnis- sen gibt, greift eine Interpretation ohne weiteren Vergleich zu kurz. Hier könnte die Lese- und Schreibrichtung als Erklärungsansatz zur Interpretation herangezogen werden. So zeigten sich beispielsweise bei Chokron und Imbert (1993), Chokron und Agostini (2000), Maass und Russo (2003), Heath et al. (2005) und Ishii et al. (2011) Hinweise auf Erklärungsansätze für Richtungseffekte anhand der jeweiligen Lese- und Schreibrichtung. Jedoch wird der Richtungseffekt innerhalb dieser Studien zu- meist zwischen zwei Probandengruppen mit gegenläufiger Lese- und Schreibrich- tung untersucht und erklärt. Dabei kann die Auswirkung der Lese- und Schreibrich- tung auch nur an einer Probandengruppe erforscht werden (Spalek & Hammad,

2004). Das Verwerfen der ersten Hypothese (H1) muss kritisch vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Kranjec et al. (2010), aber auch der Studienlage zur Lese- und Schreibrichtung (u. a. Ishii et al., 2011) hinterfragt werden.

Das Ablehnen der aufgestellten Hypothese H2 sollte vor allem vor dem Hintergrund der Studienergebnisse von Maass et al. (2007) diskutiert werden. Die Richtungsef- fekte bei der Beurteilung der Schönheit von erzielten Toren hätten sich, der Annah- me nach, auch bei Beurteilung der Intensität von Foulspielen in Zweikampfsituatio- nen zeigen sollen. Dies war jedoch nicht der Fall. Die Ursachen können sehr unter- schiedlich gelagert sein. Zum einen lässt sich eventuell die Ästhetik eines Tores, bei dem schwerpunktmäßig der Ball mit seiner Flugbahn im Mittelpunkt steht, nicht auf Zweikämpfe zwischen zwei Fußballspielern übertragen. Jedoch liefern auch Chokron und Agostini (2000) und Ishii et al. (2011) in Bezug auf die Beurteilung von dynami-

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8 Diskussion und Ausblick

schen Objekten Hinweise für eine Bestätigung der aufgestellten Hypothese H2. Ne- ben einem Ausbleiben der getroffenen theoretischen Annahmen könnten auch me- thodische Gründe (vgl. Kap. 8.2) als Ursache für das Ablehnen der aufgestellten Hy- pothese H2 in Betracht gezogen werden.

Wie sich bereits bei Kranjec et al. (2010) andeutete, zeigten sich bei den Schiedsrich- tern und Nichtschiedsrichtern in Hinblick auf die Reaktions- bzw. Entscheidungszei- ten keinerlei signifikante Unterschiede, so dass die aufgestellte Hypothese H3 wider- legt wurde. Zwar zeigten sich bei Fuhrmann und Boroditsky (2007) gegenläufige Er- gebnisse bzw. Hinweise, die jedoch nicht in einem sportspezifischen Kontext er- forscht worden sind. Es deutet sich an, dass die Ansätze aus Hypothese H3 im Sinne der Ergebnisse von Kranjec et al. (2010) wissenschaftlich gefestigt scheinen. Mögli- che Folgestudien (vgl. Kap. 8.3) sollten diese Thematik nochmals aufgreifen.

Die vierte Hypothese (H4) konnte durch die Untersuchungsergebnisse bestätigt wer- den. In Anlehnung an Hagemann et al. (2007) lässt die Expertise der Probanden- gruppe Schiedsrichter diese anscheinend bei Foulspielen in Zweikampfsituationen konsistenter bzw. weniger inkonsistent entscheiden. Im Vergleich zur Probanden- gruppe der Nichtschiedsrichter scheinen Schiedsrichter auch durch ihre regeltechni- sche Erfahrung (vgl. Kap. 2.3) weniger anfällig für inkonsistente Foulentscheidungen bei der Zweikampfbeurteilung zu sein.

Die fünfte Hypothese (H5) und sechste Hypothese (H6) mussten trotz der getroffenen Annahmen zur Expertise (Hagemann et al., 2007) der Schiedsrichter im Sportspiel Fußball im Vergleich zu den Nichtschiedsrichtern abgelehnt werden. Diese Ergeb- nisse lassen sehr unterschiedliche Interpretationen zu. Es könnte sich sogar vermuten lassen, dass die Expertise bei der Beurteilung von Foulspielen in Zweikampfsituatio- nen nur eine untergeordnete Rolle spielt. Bei Kranjec et al. (2010) gab es keinen Vergleich der Ergebnisse mit einer zweiten Probandengruppe, da dies in dem Stu- diendesign nicht vorgesehen war. Somit lassen sich die Ergebnisse zur fünften Hypo- these (H5) und sechsten Hypothese (H6) nur isoliert betrachten und interpretieren. Das Ablehnen der beiden Hypothesen kann jedoch auch methodische Gründe (vgl. Kap. 8.2) haben.

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8 Diskussion und Ausblick

8.2 Methodenkritik

Die Methodenkritik ist strukturell so aufgebaut, dass zunächst das Untersuchungsma- terial, dann die Probandenauswahl und anschließend die experimentellen Rahmenbe- dingungen kritisch reflektiert werden.

8.2.1 Untersuchungsmaterial Für die Untersuchung wurde eine Auswahl von Videoaufzeichnungen des Pay-TV- Senders „Sky“ zusammengestellt. Im Wesentlichen beschränkt sich die Methoden- kritik auf die Eigenschaften der Auswahl an Videoaufzeichnungen. Es wurden etwa Spielszenen aus unterschiedlichen Jahreszeiten verwendet, so dass bei einigen der Spieluntergrund sehr braun und matschig war oder Schnee lag und ein roter Ball verwendet wurde. Sowohl bei den Schiedsrichtern als auch bei den Nichtschiedsrich- tern könnte dies im Verlauf des zweiten Teils des Experiments sehr schnell zu einem Wiedererkennen der Spielszene geführt haben. Dieser Effekt könnte auch bei der wiederholten Einblendung von Großaufnahmen, beispielsweise von einem Kopfball- duell zweier Spieler, während des Experiments eingetreten sein. Durch das Wiede- rerkennen von Spielszenen könnten Probanden ihr Verhalten während des Experi- ments geändert haben, wodurch die Ergebnisse möglicherweise verzerrt wurden. Der einheitliche Einsatz von Spielszenen etwa eines Spieltags zu Beginn der Saison (Au- gust oder September) oder gegen Ende der Saison (April oder Mai) mit ähnlichen Witterungsverhältnissen würde diese Problematik auf ein Minimum reduzieren.

Neben dem Spieluntergrund der Spielszenen oder den Großaufnahmen einzelner Spieler könnten den Probandengruppen eventuell die gespiegelten Laufwege der Schiedsrichter bzw. Schiedsrichterassistenten aufgefallen sein. Diese lassen sich bei der Auswahl von Spielszenen zumeist nicht komplett aus dem Spielgeschehen ent- fernen. Jedoch dürfen in den Spielszenen beispielsweise die Schiedsrichterassisten- ten keine anderen Laufwege haben als vom Regelwerk vorgegeben (vgl. Abb. 21). Solche Umstände könnten gerade bei der Probandengruppe der Schiedsrichter bereits zu einem frühen Zeitpunkt des Experiments zu Problemen führen.

Die ausgewählten Spielszenen zeigen zum Teil auch Werbematten oder Werbeban- den (vgl. Abb. 25), so dass hier durch die Spiegelung (vgl. Abb. 26) die beiden Pro- bandengruppen die Manipulation der Spielszenen erahnen oder erkennen konnten. Eine weitere Schwachstelle stellte das Logo „50 Jahre Bundesliga“ dar, das bei den Spielszenen zum Teil rechts unten (vgl. Abb. 25) oder links unten (vgl. Abb. 26)

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8 Diskussion und Ausblick permanent zu sehen war. Zwar wurden bei den Spielszenen die aktuelle Spielzeit und der Spielstand sowie die Spielpaarung nicht angezeigt, jedoch konnte das Logo „50 Jahre Bundesliga“ als Schwachstelle den Probandengruppen einen Hinweis auf die Manipulation der Spielszenen liefern. So wurden bei der Untersuchung von Kranjec et al. (2010) alle Hinweise auf eine mögliche Spiegelung der Zweikampfszenen durch Spezialprogramme entfernt (vgl. Kap. 4.2). Die Entfernung von Hinweisen bei statischen Bildern ist weniger aufwendig und kostengünstiger, als bei dynamischen Bildern in Form von Videosequenzen.

Neben den Kritikpunkten im Hinblick auf ein mögliches Aufdecken der Manipulati- on muss auch die Qualität der verwendeten Spielszenen kritisch reflektiert werden. Eine Verwendung von Videosequenzen in HD-Qualität würde es den Probanden er- leichtern, die gesehenen Szenen besser zu beurteilen. Zum Teil wurden Spielszenen verwendet, die qualitativ den Ansprüchen einer wissenschaftlichen Untersuchung nur ausreichend genügen. Gerade bei Zweikampfsituationen, in denen kleine Körperbe- wegungen großen Einfluss auf die Entscheidung Foulspiel oder kein Foulspiel neh- men können, ist die Verwendung von qualitativ hochwertigem Videomaterial von zentraler Bedeutung.

Die Position der Spieler bzw. die Richtung der Foulspiele in den Zweikampfsituatio- nen sollten außerdem einheitlich sein. Es ist als problematisch anzusehen, wenn in einer Szene das Foulspiel durch einen Verteidiger von vorne und in einer anderen Szene von hinten erfolgt. Dies könnte sich möglicherweise auf den untersuchten Richtungseffekt auswirken.

Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf den Ort der Zweikampfsituationen in den Spielszenen. Neben Strafraumszenen und Szenen kurz vor dem Strafraum wurden auch Spielszenen im Mittelfeld verwendet. Eine Problematik könnte darin bestehen, dass Foulspielszenen im Strafraum strenger beurteilt werden als solche im Mittelfeld. Da sich die Videoaufzeichnungen des Pay-TV-Senders „Sky“ an ein breites Publi- kum richten und zumeist publikumsrelevante Spielszenen beinhalten, welche bei- spielsweise im Strafraum oder unmittelbar vor dem Strafraum stattfinden, war die Auswahl an Spielszenen im Mittelfeldbereich eingeschränkt.

Bei der Suche nach besserem Untersuchungsmaterial könnte eventuell auf das Vi- deoarchiv der DFL Sports Enterprises GmbH bzw. der DFL Digital Sports GmbH zurückgegriffen werden. Die DFL Sports Enterprises GmbH und DFL Digital Sports GmbH sind zuständig für die TV-Produktion der 1. und 2. Fußballbundesliga und

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8 Diskussion und Ausblick des DFB-Pokals. Hierdurch wäre es eventuell möglich, Untersuchungsmaterial hin- sichtlich der benötigten Qualität und Eigenschaften (z. B. Örtlichkeit des Foulspiels) zu erhalten. Diese Option könnte als Lösungsansatz der aufgezeigten Schwachstellen dienen.

8.2.2 Probandenauswahl Neben den verwendeten Spielszenen muss auch die Probandenauswahl kritisch be- trachtet werden. Zum einen scheint die gewählte Probandengröße auch im Hinblick auf die Altersverteilung gelungen (vgl. Kap. 6.1). Da nur männliche Versuchsteil- nehmer an dem Experiment teilnahmen, können folglich auch alle Aussagen nur auf dieses Geschlecht bezogen werden. Die Aussagekraft der Untersuchung wäre größer, wenn die Studie auch an weiblichen Versuchsteilnehmern durchgeführt worden wä- re. Jedoch müsste hierfür die Gesamtzahl der Probanden erhöht werden. Die Proble- matik des Anteils von Frauen im Schiedsrichterwesen in der Sportart Fußball wurde bereits angesprochen (vgl. Kap. 5). Neben diesem Aspekt könnte bei der Probanden- auswahl die Erfahrung mit ähnlichen Studien von Relevanz sein. Die Probanden- gruppe der Nichtschiedsrichter bestand zum Teil aus Studenten der Sportwissen- schaft. Somit ist nicht auszuschließen, dass bereits Vorkenntnisse aus Experimenten mit ähnlichem Studiendesign vorlagen. Dies könnte sich zum Teil auf die Untersu- chungsergebnisse der Probandengruppe der Nichtschiedsrichter ausgewirkt haben.

8.2.3 Experimentelle Rahmenbedingungen Nach der Kritik am Untersuchungsmaterial und der Zusammenstellung der teilneh- menden Probanden sollen nun zum Schluss noch kurz die experimentellen Rahmen- bedingungen kritisch reflektiert werden. Eine mögliche Schwachstelle könnte sein, dass die Probanden während des Experimentes erst nach dem Ende des Videos mit der Leertaste auf Foulspiel entscheiden konnten. Gerade bei Spielsituationen, in de- nen das Foulspiel schnell erkannt werden konnte, wussten Probanden eventuell nicht genau, ab wann sie die Möglichkeit hatten, auf Foulspiel zu entscheiden. Einige Pro- banden reagierten unmittelbar nach dem Erkennen des Foulspiels mit dem Drücken der Leertaste, obwohl die Videosequenz mit der Zweikampfsituation noch nicht zu Ende war. In diesem Fall wurde die Bewertung der Zweikampfsituation nicht als Foulspiel vom Computerprogramm erkannt, so dass bei nicht nochmaligem Drücken der Leertaste nach Ende der Videosequenz dieses Foulspiel auch nicht gewertet wur- de. Somit wurden weder Foulspiel noch Entscheidungszeit oder Schwere des Foul- spiels für diese Zweikampfsituation des Probanden aufgezeichnet. Wenn das Expe-

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8 Diskussion und Ausblick riment auch bei vorzeitigem Drücken der Leertaste den Bildschirm mit der Bewer- tung der Schwere des Foulspiels (vgl. Abb. 28) anzeigen würde, wäre diese Form auch realitätsnaher in Bezug auf die Tätigkeit eines Schiedsrichters im Sportspiel Fußball.

8.3 Ausblick

Im folgenden Abschnitt wird ein Ausblick auf mögliche Folgestudien gegeben, in- dem hinsichtlich der Thematik der Richtungseffekte bei Schiedsrichterentscheidun- gen im Fußball weitergehende Forschungsfragen formuliert werden. Die Ausführun- gen konzentrieren sich auf drei mögliche Forschungsansätze.

Der erste Ansatz bezieht sich im Wesentlichen auf die physischen Anforderungen an Schiedsrichter im Sportspiel Fußball (vgl. Kap. 2.1). Bei Helsen und Bultynck (2004) oder Schmidt et al. (1987) zeigte sich, dass Schiedsrichter hohen körperlichen Belastungen ausgesetzt sind. Inwiefern physische Anforderungen des Schiedsrichters und die Richtungseffekte bei der Beurteilung von Zweikampfsituationen im Zusam- menhang stehen, wäre von wissenschaftlicher Relevanz. Das Studiendesign der vor- liegenden Untersuchung sowie der Studie von Kranjec et al. (2010) lässt die Proban- den in einem ausgeruhten und entspannten Zustand über Zweikampfsituationen ent- scheiden. Ein anders gestaltetes Untersuchungsdesign könnte den Zusammenhang zwischen körperlicher Belastung und Richtungseffekt bei Probanden auf dem Lauf- band oder alternativ dem Fahrradergometer untersuchen. Eine Vermutung könnte dahin gehen, dass sich Richtungseffekte bei stärkerer körperlicher Belastung, auf- grund einer verringerten kognitiven Leistungsfähigkeit deutlicher zum Vorschein kommen. Im Hinblick auf das Untersuchungsmaterial müssten für eine Folgestudie jedoch die aufgezeigten Schwachstellen (vgl. Kap. 8.2) beseitigt werden. Als Ziel- gruppe könnte sich eine solche Untersuchung an Schiedsrichter und Nichtschieds- richter richten.

Der zweite Ansatz betrifft größtenteils die vorliegende Untersuchung. Insgesamt scheint das verwendete Forschungsdesign der Studie strukturiert und logisch konzi- piert zu sein. Jedoch ergaben sich beispielsweise hinsichtlich des Untersuchungsma- terials (vgl. Kap. 8.2) Schwachstellen, die bei einer möglichen Wiederholung der Studie beseitigt werden müssen. Vor allem sollten die ausgewählten Videosequenzen beispielsweise im Hinblick auf die Position der Spieler und den Ort und die Richtung des Foulspiels einheitlich sein. Außerdem sollten die technischen Rahmenbedingun-

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8 Diskussion und Ausblick gen so verändert werden, dass ein Betätigen der Leertaste jederzeit möglich ist. Schiedsrichter und Nichtschiedsrichter könnten ohne technische Restriktionen im Hinblick auf die Entscheidungszeit miteinander verglichen werden. Die Auswahl der Videosequenzen sollte innerhalb einer erneuten Studie nicht nur aus Originalsequen- zen und deren Spiegelung bestehen. Die gezeigten zwei Blöcke von je 36 Zwei- kampfsituationen könnten beispielsweise durch Videosequenzen (nicht gespiegelt) ergänzt werden, die in dem gesamten Experiment nur einmal vorkommen. Dies könnte dabei helfen, die Wahrscheinlichkeit eines Erkennens des Studiendesigns zu reduzieren. Eine insgesamt optimierte Untersuchung könnte die Vermutungen von Kranjec et al. (2010) erneut überprüfen.

Der dritte Ansatz betrifft eine etwas anders strukturierte Untersuchung und stützt sich im Wesentlichen auf die Untersuchungsergebnisse der quadratischen Kurvenan- passung (vgl. Kap. 7.4). Da sich für die Probandengruppe der Schiedsrichter signifi- kante Ergebnisse zeigten, wäre hierzu eine Folgestudie von wissenschaftlicher Rele- vanz. Es könnte sein, dass sich Richtungseffekte bei Schiedsrichterentscheidungen im Fußball nur zeigen, wenn es sich bei den Zweikampfsituationen um keine klaren Foulspiele handelt. Eine Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines Foulspiels zwi- schen 40 und 60 Prozent scheint, den eigenen Ergebnissen nach, für eine Untersu- chung ideal zu sein. Somit müsste das Untersuchungsmaterial auf diese Anforderung zugeschnitten sein. Außerdem sollten die Videoszenen im Hinblick auf die aufge- zeigten Schwachstellen (vgl. Kap. 8.2) optimiert werden. Eine Folgestudie würde sich, den Ergebnissen nach, auch nicht an Schiedsrichter und Nichtschiedsrichter richten, sondern nur die Probandengruppe der Schiedsrichter betreffen. Ähnlich wie bei Chokron und Agostini (2000) oder Ishii et al. (2011) könnte sich die Studie an zwei Probandengruppen mit unterschiedlicher kultureller Lese- und Schreibrichtung richten. So könnte eine Untersuchung mit Schiedsrichtern aus den höchsten Spiel- klassen Deutschlands und Israels untersuchen, ob Richtungseffekte bei knappen bzw. unklaren Foulspielen in Zweikampfsituationen auftreten. Außerdem könnten sich die Richtungseffekte abhängig von der jeweiligen kulturellen Lese- und Schreibrichtung bei den beiden Probandengruppen zeigen.

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9 Zusammenfassung

9 Zusammenfassung

Dass die kulturelle Lese- und Schreibrichtung Einfluss auf die ästhetische Präferenz (Chokron & Agostini, 2000; Heath et al., 2005; Ishii et al., 2011), die Beurteilung von Gesichtern (Heath et al., 2005) und die auditive Sprachwahrnehmung (Román et al., 2013) nimmt, ist wissenschaftlich bereits belegt. Im Zusammenhang mit der kul- turellen Lese- und Schreibrichtung haben sich Maass et al. (2007) spezifischer mit dem Sportspiel Fußball auseinandergesetzt. In ihrer Untersuchung zeigte sich bei der Beurteilung der Schönheit eines Tores, dass die Bewegungsrichtung von links nach rechts von den Probanden mit der gleichen Lese- und Schreibrichtung bevorzugt wurde. Bei Kranjec et al. (2010) wurde deutlich, dass bei Bildern mit Zweikampfsi- tuationen, die von rechts nach links abliefen, häufiger auf Foulspiel entschieden wurde, als wenn die Bewegungsrichtung von links nach rechts verlief. Ausgehend von den Studienergebnissen von Kranjec et al. (2010) und den Ansätzen von Maass et al. (2007) sollten in der vorliegenden Untersuchung die teilnehmenden 40 Schiedsrichter und 40 Nichtschiedsrichter in insgesamt 72 Videosequenzen von Zweikampfsituationen im Fußball über Foulspiele entscheiden. Davon wurden 36 Videosequenzen in der Originalversion und 36 horizontal gespiegelte Versionen der Originale randomisiert auf zwei Blöcke verteilt gezeigt. In den Ergebnissen ließen sich keine Unterschiede bei den Schiedsrichtern und Nichtschiedsrichtern im Zusammenhang mit der Bewegungsrichtung im Hinblick auf die Anzahl der Foulspiele, die Entscheidungszeit oder die beurteilte Schwere des Foulspiels feststellen. Jedoch zeigten sich bei den Nichtschiedsrichtern signifikant mehr inkonsistente Foulspielentscheidungen. Schiedsrichter können aufgrund ihrer Expertise (Hagemann et al., 2007) bei Zweikampfsituationen konsistenter auf Foul- spiel entscheiden und sind weniger anfällig für inkonsistente Foulspielentscheidun- gen. Außerdem scheinen Schiedsrichter bei Zweikämpfen mit uneindeutigen Foul- spielsituationen anfälliger für eine Bewegungsrichtung von rechts nach links zu sein. Diese Befunde wurden vor dem Hintergrund der theoretischen Erkenntnisse zur Le- se- und Schreibrichtung sowie der Richtungseffekte erörtert. Außerdem wurde an- hand der Erkenntnisse dargestellt, wie mögliche Folgestudien aussehen könnten.

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A Anhang

A Anhang

A 1 Allgemeine Teilnehmerinformationen über die Untersu- chung

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A Anhang

A 2 Einverständniserklärung

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A Anhang

A 3 Instruktionsblatt

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A Anhang

A 4 Fragebogen

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A Anhang

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A Anhang

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A Anhang

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Marcel Krug

„Manchmal zeigt das Fernsehen Dinge, Richtungseffekte bei die niemand auf dem Platz gesehen hat, aber manchmal zeigt das Fernsehen auch Dinge nicht, die man selbst schon gesehen hat.“ Schiedsrichterentscheidungen

pi er - lu i g i co lli n a im Fußball Marcel Krug Marcel

Fußballschiedsrichter können durch ihre Entscheidungen den Ausgang von Spielen beeinflussen. Sie haben eine große Machtbefugnis, die mit einer besonderen Verantwortung verbunden ist. Der Entscheidungsprozess eines Schiedsrichters kann durch unterschiedliche Faktoren, wie seine bisherigen Erfahrungen, die Zuschauer oder die Trikotfarben der Mannschaften, beeinflusst werden. Eine Reihe von Studien hat sich diesen Faktoren und ihrem möglichen Einfluss auf Schiedsrichterleistungen gewidmet. Demgegenüber wurde die Frage nach dem Einfluss der kulturellen Prägung von Schiedsrichtern auf ihre Entscheidungen bislang kaum beachtet. Diese Frage ist deshalb von Relevanz, da die in einer Kultur dominierende Lese- und Schreibrichtung scheinbar zu einer Bevorzugung von Bewegungen, die kongruent zu dieser Richtung ablaufen, führt. Dieser Arbeit liegen die folgenden Leitfragen im Hinblick auf Foulentscheidungen im Fußball zugrunde: Beeinflusst die Richtung des Foulspiels die Entscheidung eines Schiedsrichters und falls ja, in welcher Art und Weise? Wird ein Foulspiel, das kongruent zur gewohnten Lese- und Schreibrichtung erfolgt, weniger stark geahndet, als ein inhaltlich identisches Foulspiel, das aus Sicht eines Schiedsrichters entgegen der vertrauten Richtung abläuft? Variiert das vermutete Auftreten von Richtungseffekten bei Schiedsrichtern und Nicht-Schiedsrichtern? Ziel der Untersuchung ist es, durch die Bearbeitung dieser Fragen zu einem besseren Verständnis von Schiedsrichterleistungen im Fußball beizutragen.

ISBN 978-3-86219-704-0

9 783862 197040 Richtungseffekte im Fußball bei Schiedsrichterentscheidungen