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Klaus Harpprecht Die Glosse: Befreit uns von dem »Knitter-Brandt«

Klaus Harpprecht Wand!« stand damals auf Mauern ge- (*1927) ist Mit-Herausgeber der Neuen schrieben, nicht nur in Bayern.) Gesellschaft/Frankfurter Hefte, war u.a.Berater von .Bei S. Fischer erschien Doch in der Herbstwahl 1972 war es zuletzt: Arletty und ihr deutscher Offizier. ihm gelungen, das junge, offene Bürger- 2011 erhielt er nach 1966 zum zweiten Mal den tum für die Ostpolitik und die dringend- Theodor-Wolff-Preis,nun für sein Lebenswerk. sten der Reformen zu gewinnen.Durch die Eroberung der Mitte – dort, wo Wahlen entschieden werden – bescherte er der SPD den eindrucksvollsten Sieg ihrer Geschich- ey, rief mein christdemokratischer te.Die Mehrheit der Bürger hat ihn schließ- HNachbar über den Zaun: Großes Jahr lich zu respektieren,ja zu verehren gelernt. für Sie! 150 Jahre SPD – und 100 Jahre Warum sollte er nun, wie der Nachbar Willy! Doppeljubiläum – kommt selten meinte, im Souterrain des halben Verges- vor. Vergesst den Brandt mal nicht. – Wie sens verschwinden? Sind nicht in der Re- das? – Sein Bild, sagte der Nachbar, werde publik genug Plätze, Straßen, Brücken (und blasser. Er ist kein Merkel- und kein Kohl- nun gar ein gigantisch verbauter, sündhaft Typ. Einer, der geistig noch in den Grün- teurer und unnützer Flughafen) nach ihm der-Jahren der CDU zuhaus ist,als sie über benannt? Stehen nicht genug Biografien in einen starken linken Flügel verfügte. Von den Regalen, darunter die von Peter Merse- dessen Chef, , Ministerpräsi- burger, die gleichen Ranges wie die geprie- dent von Nordrhein-Westfalen, glaubten sene Adenauer-Biografie von Hans-Peter wir jungen Bonner Korrespondenten da- Schwarz ist? – Ob mein gewitzter Nachbar mals, dass er eines Tages den Alten von nicht doch lieber den Koloss von Oggers- Rhöndorf beerben könnte, gestützt auf die heim (statt Brandt) als Adenauers Enkel »Sozialausschüsse«, das Gegengewicht zu und den wahren »Kanzler der Einheit« , der auf den Wolken seiner etabliert sähe,den Erben Bismarcks,in dem ewigen Zigarre über dem deutschen Wes- man freilich auch (wie der Autor dieser ten schwebte,und zum Bankier und CDU- Zeilen) den Ursünder der europäischen Politiker , der diskret Katastrophen erkennen mag, den groß- den rheinischen Kapitalismus dirigierte preußisch-kleindeutschen Architekten, der (und die Bonusgier seiner Nach-Nachfol- mit Dynamit statt Mörtel gebaut hat? ger tief verachtet hätte). Kohl aber darf und soll als ein Bau- Der Nachbar war mit mir einig, dass meister Europas geehrt werden, der in- die Bundesrepublik vom Glück gesegnet stinktiv begriff, dass der neue kleindeutsche war, von zwei Kanzlern regiert zu werden, Riese in der Mitte des Kontinents für die die von der Fantasie der Leute ins Legen- Nachbarn nur zu verkraften ist, wenn er däre erhöht wurden, in jene leise vernebel- seine Dynamik auf eine europäische Fö- ten Sphären, in denen sich Geschichte ins deration überträgt – eine Pflicht der Ver- Mythische übersetzt. Beide hätten diesen nunft, die Brandt durchaus bewusst war, Prozess als unangemessen betrachtet, zu- als er im Februar 1972 die Resolution des mal Willy, der niemals vergaß, mit wel- Rates der Europäischen Gemeinschaft »über chem Hass ihm die Rechten begegnet wa- die schrittweise Verwirklichung der Wirt- ren – nach, neben, ja mit den Stalinisten in schafts- und Währungsunion« unterzeich- der DDR und anderswo. (»Brandt, an die nete, die nicht nur die völlige Öffnung des

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Binnenmarktes, sondern auch die Grün- Augen und fragt,ob manche Passagen nicht dung einer Europäischen Zentralbank ver- von Formulierungs-Artisten stammen, die langte. Bis 1980 wollte man die Union aus das europapolitische Erbe Brandts nicht der Taufe heben.Es dauerte,wie man weiß, angemessen zu aktualisieren verstehen. Je- etwas länger. Immerhin konnten die Fi- denfalls kann der National-Etatismus der nanzminister und sein französischen Genossen, der gewiss nicht französischer Kollege Giscard d’Estaing zu einem starken, föderativen Europa führt, die europäische »Währungsschlange« kre- kein Vorbild sein. ieren – das heißt: die Fixierung der Wech- Welches Brandt-Bild trägt das Partei- selkurse mit einem begrenzten Spielraum. haus via Television ins Land? Den »Knit- Dennoch: der mühsame Weg zur deutschen ter-Brandt« im Foyer, der doch nur eine Einheit, die Kohl sozusagen in den Schoß Facette seiner komplexen Persönlichkeit fiel – wobei er die Chance der Stunde mit darstellt: den gedankenschweren, den fra- hellwachem Gespür zu nutzen wusste – genden, den zweifelnden, den melancholi- wurde durch Brandts Ostpolitik gebahnt: schen Brandt, den es wahrhaftig gab. Es die Frucht seiner konsequenten Entspan- gab aber auch einen anderen. Denn nur mit nungs- und Friedenspolitik. Das weiß auch dieser grüblerischen Bescheidung wird kei- Helmut Schmidt, der das Werk – trotz der ner so leicht Regierender Bürgermeister, Konflikte um die »Nachrüstung« – auf sei- Außenminister, Bundeskanzler, behauptet ne Weise fortgeführt hat. sich keiner fast ein Vierteljahrhundert als Dennoch muss gefragt werden, ob Wil- Vorsitzender der Partei. Dazu brauchte es ly Brandt – neben, nach oder vor Lassalle einen, den sein Schöpfer mit einem kräf- und Bebel die bedeutendste Gestalt der tigen Instinkt für die Macht versehen hatte deutschen Sozialdemokratie – in der eige- (auch für ihre Grenzen). Mit dem Willen, nen Partei noch ganz präsent ist.Und wenn, Macht auszuüben – auf seine Weise. Selten dann wie? Bei der Lektüre des Regierungs- hieb er mit der Faust auf den Tisch, weil das programms etwa reibt sich unsereiner die den Tisch in der Regel wenig beeindruckt

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(wie er sagte). Doch Machtworte sprach er erlaubte: just dort, wo er selber die tiefste durchaus, wenn es nicht anders ging. Oder Erniedrigung erlitten, wo er einst – auch er nutzte das schrecklichste seiner Macht- das! – die Liquidierung der SAP-Freunde mittel: Er schwieg den Kontrahenten zu Brandts in der großen Säuberung protest- Boden. Diesen, den entschlossenen, kraft- los registriert hatte. »Der Herr badet gern vollen Brandt sollte man im Parteihaus vor lau«, so kommentierte er hämisch Brandts Augen haben, und es müsste sich doch ein scheinbare Schwäche. Künstler finden, der diesen Brandt zu ge- W.B.hätte ihn ohne Zögern vor die Tür stalten vermag: ohne Heldenpose, aber als setzen sollen.Andere redeten ihm aber ein, einen, mit dem man Wahlen gewinnt. er könne der Partei die Zerreißprobe nicht Und dann war ja da noch der andere so- zumuten – und es sei keineswegs sicher, zialdemokratische Machtpolitiker, Herbert dass er sie gewinne. Dann bat Wehner, Wehner,der W.B.zermürbte und schließlich Brandt möge es »noch einmal mit ihm ver- zu Fall brachte. Der von den Journalisten suchen«.Willy beugte sich – und hatte da- gern als »Zuchtmeister« Titulierte wusste mit verloren.Es fehlte nicht viel,dass Weh- wohl, dass er wegen seiner Vergangenheit ner ihn zwei oder drei Jahre später auch aus niemals die Nummer eins der Partei oder dem Sattel des Vorsitzenden gehoben hätte. gar der Regierung sein konnte, und ver- Bis heute ist die Haltung der Partei ge- suchte ohne Zweifel,Brandt zu instrumen- genüber den beiden nicht klar. Eine Klä- talisieren. Willy sollte, kraft seiner Popu- rung ist die SPD aber Willy Brandt und larität, der Ostpolitik die Mehrheit sichern vor allem sich selber schuldig. Um in der und die nächsten Wahlen gewinnen. Da- kommenden Wahl einen Durchbruch à nach war es Zeit, ihn loszuwerden. la Brandt im Jahre 1972 zu erzwingen, Brandt und Wehner, das passte nicht braucht die Partei jene geistige und mora- zusammen. Brandt zog es vor, die sozial- lische, jene theoriefern-vitale Freiheit, die liberale Koalition zu bilden. Wehner hätte von dem Manne ausging, der Links und lieber die Große Koalition mit dem Ex- frei als einen seiner Buchtitel wählte.Kurz- Halbnazi Kiesinger weitergeführt. Beispiel- um: Sie braucht ein offenes, offensiveres los der Affront, den Wehner sich in Moskau Verhältnis zum Erbe Brandts. „

Gespräch mit Jürgen Trittin »Soziale Gerechtigkeit gehört bei den Grünen zum Grundkonsens«

Jürgen Trittin, seit 2009 Vorsitzender der Grünen-Bundestagsfraktion und zu- vor u.a. Bundesumweltminister, ist einer der beiden Spitzenkandidaten seiner Partei für die Bundestagswahl. Im Gespräch mit Thomas Meyer erläutert er die Ur- sprünge des Sozialen in der grünen Programmatik, die Schnittmengen und Diffe- renzen zwischen Grünen und SPD und warum beide Parteien im Herbst jeweils für sich kämpfen sollten.

NG/FH: Herr Trittin, die SPD begeht ihr SPD im Laufe ihrer Geschichte. Manche 150-jähriges Jubiläum. Ein Punkt, der sich vertreten nun die Meinung, dass die Grü- in diesem Zusammenhang aufdrängt, ist nen in gewisser Weise auch eine Abspal- die Frage nach den Abspaltungen von der tung von der SPD darstellen. Wahr ist zu-

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