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Werbeseite MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Viren, Zweiter Weltkrieg, Mode

it Ebola, dem tödlichen Virus, hatte SPIEGEL-Redakteur Johann MGrolle schon Anfang des Jahres zu tun: bei der Arbeit für eine Ti- telgeschichte über den Kampf zwischen Mensch und Mikrobe, die im SPIEGEL 2/1995 erscheinen sollte. Der Krieg in Tschetschenien ver- drängte damals das Thema von der Frontseite – seine bedrohliche Ge- genwärtigkeit zeigt sich nun, wie Grol- le in diesem Heft beschreibt, im afrika- nischen Zaire (Seite 148). Und unter- dessen machte der Stoff auch auf der Leinwand Furore: in dem Film „Out- break“, aus dem das (vom SPIEGEL verfremdete) Titelfoto stammt. Vor Ort in Afrika traf SPIEGEL-Re- porter Erich Wiedemann auf einen Missionar, der seit langem in der hauptsächlich betroffenen Stadt Kikwit wohnt und das erste Wüten von Ebola miterlebt hat (Seite 158). Leichtsinn, jetzt überhaupt nach Zaire zu fliegen? Wohl nicht: Wer aufmerksam ist, kann Geplanter Viren-Titel vor Ansteckung ziemlich sicher sein. Gefährlich wurde es für Wiedemann trotzdem. In der Hauptstadt Kinshasa versuchten drei Männer, ihn in ihr Auto zu zerren. Wiedemann floh in die deutsche Botschaft, die Banditen entkamen im Verkehrsgewühl.

ls er 1974 mit dem US-Präsidenten Richard Nixon zu Leonid Bre- Aschnew nach Moskau flog, war Jürgen Leinemann SPIEGEL-Korre- spondent in Washington. In die Nähe von Minsk reisten damals die bei- den Staatsmänner mitsamt Leinemann und dem Journalistentroß, zu den Ruinen des russischen Dorfes Chatyn – niedergemacht von den „Hitler-Faschisten“ und nun ein Kriegsdenkmal. Von Stund an, erin- nert sich Leinemann, „waren wir Deutschen unter den ausländischen Kollegen völlig isoliert, die mieden uns“. Letzte Woche, als SPIEGEL-Reporter Leinemann dem Bonner Kanz- ler nach London, Paris, Berlin und Moskau folgte, um Kohls Mara- thon-Tour zu den diversen Kapitulationsfeiern zu beobachten (Seite 24), war von Ressentiments nichts zu spüren. Am Rande der Zeremo- nien reagierten die Bürger unbefangen und gesprächsbereit auf den Deutschen. Der Zweite Weltkrieg, so empfand Leinemann gut zwei Jahrzehnte nach Minsk, ist dem überkommenen Muster von Siegern und Besiegten längst entrückt. „Ein Stück dieses Krieges schleppt an- scheinend jeder mit sich, und alle sind Verlierer – offenbar ist daraus so etwas wie eine gemeinsame europäische Erfahrung geworden.“

änner, hört man, sind ziemlich eitel, und Jean-Paul Gaultier ist da Mkeine Ausnahme. Über den exzentrischen Pariser Couturier geht das Gerücht, er wolle sich seine Männerbrust, mit 43 auch nicht mehr die jüngste, durch Silikonimplantate härten lassen. Doch als die Redak- teurinnen Regina Carstensen und Marianne Wellershoff beim SPIE- GEL-Gespräch (Seite 132) diesen heiklen Punkt antippten, dementier- te der Meister entschieden. Er knöpfte sein Hemd auf und empfahl sich den Damen: „Wollen Sie mal fühlen?“ Der Versuchung, bei Gaultier zu grapschen, widerstanden die Kolleginnen.

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TITEL INHALT Die Rückkehr des Killervirus ...... 148 Erlebnisbericht des Tropenmediziners Jürgen Knobloch von der Ebola-Seuche im Sudan ...... 154 Kohl wußte vom Plutonium-Deal Seite 33 Erich Wiedemann über den Ausbruch der Todesseuche in Zaire ...... 158 Geheimdienstaufse- her Bernd Schmidbau- KOMMENTAR er hat vom Plutonium- Deal des BND mehr Rudolf Augstein: gewußt, als er zugibt. Konsequenzen, einseitig ...... 28 Sogar Kanzleramtsmi- nister Friedrich Bohl DEUTSCHLAND kannte die Akten über Panorama ...... 16 den Fall. Und selbst Umwelt: Streit um Tempolimit und Fahrverbote...22 der Kanzler wußte et- Staatsfeiern: Jürgen Leinemann über was von der Affäre des den Gedenkzyklus der Staatsmänner zum Geheimdienstes – wie- Kriegsjubiläum ...... 24 viel, daß muß nun Regenmacher sorgten für Schönwetter ...... 26 der Bonner Untersu- Regierung: Schäubles Kleinkrieg chungsausschuß klä- gegen Waigel...... 29 ren. Strahlender Held vor der Entsorgung tz, München Plutonium: Geheimdienstler informierte den Kanzler falsch ...... 33 Die Aussage des Zeugen „Rafa“ ...... 36 Interview mit dem russischen Vize-Atomminister Wiktor Sidorenko ...... 37 Parteien: Interview mit der Grünen-Sprecherin Milliarden-Geschenk für US-Konzern Seite 108 Krista Sager über ein neues Partei-Programm .....40 Demokratie: Werner Dähnhardt über eine Der geplante Verkauf früherer ostdeutscher Chemiekombinate an neue Form der Bürgerbeteiligung ...... 44 Dow Chemical wird den deutschen Steuerzahler etwa zehn Milliar- Tierschutz: Lufthansa stoppt Affentransporte ....57 den Mark kosten. Gewinn macht dabei nur das US-Unternehmen. Denkmalschutz: Streit um die Leipziger Völkerschlacht ...... 63 Zeitgeschichte: Prager Ausstellung zur NS-Besatzungszeit ...... 66 Radio: Hörerkauf und Gerichtshändel ...... 75 Hochschulen: Leichtfertiger Umgang Vergangenheit ohne Verbrämung Seite 66 mit Strahlen ...... 78 Sekten: Scientology – die Tricks mit den Noch immer belasten NS- Immobiliengeschäften ...... 82 Terror und sudetendeutsche Raffinierte Wohnungsverkäufe in Hamburg ...... 84 Vertreibung Tschechen wie Strafjustiz: Gerhard Mauz zum Zustand des Deutsche. Präsident Va´clav Prozesses über den Brandanschlag von Solingen...93 Havel empfiehlt: „Den eige- Treuhand: Milliarden-Gewinn bei nen Taten ins Gesicht se- Grundstücks-Spekulationen ...... 95 hen“. Gelegenheit dazu bie- Berlin: Mieter blockieren Daimler-Benz ...... 97 tet eine Ausstellung in Prag, Städtebau: Filz beim Berliner Tunnelbau ...... 98 die erstmals die deutschen Besatzungsjahre ohne kom- WIRTSCHAFT munistische Verbrämung Trends ...... 100 zeigt – die Untaten der Be- Wirtschaftspolitik: Kohl setzt auf satzer sowie das Lavieren

freiwillige Zusagen der Top-Manager ...... 104 KAPLAN-MAC DONALD der Besetzten zwischen Wi- Währungsunion: Die ersten Sparer flüchten Festgenommene Deutsche in Prag 1945 derstand und Kollaboration. in den Schweizer Franken ...... 107 Privatisierung: Milliarden für Dow Chemical ...... 108 Elektronik: Ideenarmut bei Sony ...... 112 Seiten 82, 84 Unternehmer: Papenburger Familienbetrieb Scientology in der Krise kauft US-Militärwerft ...... 116 Banken: Die Citibank ködert Bankkunden mit Kreditkarten zum Nulltarif ...... 122 Landwirtschaft: Darf die Haschpflanze Cannabis bald angebaut werden? ...... 126

GESELLSCHAFT LICHTBLICK Medien ...... 130

Mode: SPIEGEL-Gespräch mit dem S. SAUER / Couturier Jean-Paul Gaultier über Mieterprotest in Berlin Provokationen, Sex und Models ...... 132 Freitod: Selbstmord mit dem Fön ...... 137 Mit Protestaktionen verderben Mietervereine und Maklerverbände die Comics: Donald Duck als Atombomben- fragwürdigen Immobiliengeschäfte von Scientology-Anhängern. Die Konstrukteur ...... 140 Spitze der Psycho-Sekte in den USA reagiert zunehmend nervös, in der Kriegsgräber: Ein Baggerführer bettet Deutschland-Zentrale in Hamburg wurde die Führung gefeuert. Gefallene um ...... 142

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AUSLAND Panorama Ausland ...... 160 Frankreich: Neuer Start mit Chirac ...... 162 Interview mit dem Politologen „Wir sitzen auf einer sozialen Bombe“ Seite 162 Olivier Duhamel über die Wende ...... 164 Mitterrands Weg in die Geschichte ...... 166 Jacques Chirac, Nachfolger Rußland: Die Ehrung eines Sowjetveteranen des sozialistischen Sonnen- in der Provinz ...... 170 königs Mitterrand, will Tschetschenien: Interview mit dem Frankreich als Bürgerpräsi- Schriftsteller Fasil Iskander über dent regieren. Für den Po- Moskaus Krieg im Kaukasus ...... 176 litologen Olivier Duhamel Ägypten: Widerstand gegen verdankt der Gaullist den religiöse Zensoren ...... 182 Sieg einem Wahlkampf mit USA: Präsident Clinton verkündet das Ende des Asyls für kubanische Flüchtlinge ...... 184 „linkem Anstrich“. Der Zeitgeschichte: Der Krieg nach neue Staatschef hat ver- dem Krieg auf Texel ...... 188 sprochen, vor allem die Ar- Großbritannien: Deutscher Ansturm beitslosigkeit zu bekämp- auf Führerscheine ...... 194

fen. Chirac: „Wir sitzen auf SIPA PRESS einer sozialen Bombe.“ Sieger Chirac, Ehefrau Bernadette SPORT Fußball: Trainer Erich Ribbeck hat Mühe, seine Fehlgriffe schönzureden ...... 196 Nikolaus von Festenberg über den Brecht als Prolet und Pornograph Seiten 218, 220 CDU-Wahlhelfer Otto Rehhagel ...... 198 Basketball: Amerika bejubelt den Unbekanntes von Bertolt Bösewicht Dennis Rodman ...... 199 Brecht: Aus dem Nachlaß tau- Schach: Interview mit dem Programmierer chen vier erotische, zuweilen Marty Hirsch über die Macht der Computer ..... 200 pornographische Erzählungen auf, geschrieben um 1940 im WISSENSCHAFT skandinavischen Exil – eine da- von druckt der SPIEGEL erst- Prisma ...... 202 mals. Brecht schreibt aus der Tiere: Spinnweben als Drogenindikator ...... 208 Sicht eines Chauffeurs über Ärzte: Ostmediziner fürchten dessen Affären mit Damen der Honorareinbußen ...... 212 feinen Gesellschaft – im Prole- tenjargon, deftig, deutlich und TECHNIK gewitzt: „Sie müssen eine Gele- Kommunikation: Ende der goldenen Zeit

BETTMANN genheit finden bei die Weiber, im Cyberspace ...... 204 Brecht sonst ists Essig.“ Landwirtschaft: Mehr Freiheit für Kühe durch Melk-Roboter ...... 211 Automobile: Erste Solar-Tankstelle des TÜV Rheinland ...... 216

Ende der freien Kommunikation Seite 204 KULTUR Autoren: Erotische Miniaturen Totalitäre Regime, Unternehmen und Sekten versuchen, die Kom- aus dem Brecht-Nachlaß ...... 218 munikation im weltweiten Datenverbund Internet mit rund 35 Millio- „Über Gelegenheiten“ von Bertold Brecht ...... 220 nen Nutzern einzuschränken. Kritiker sollen per Gerichtsurteil zum Kunstsammler: Heinz Berggruen kehrt Schweigen gebracht, freie Debatten unterbunden werden. mit seinen Bildern nach Berlin zurück ...... 222 Museen: Interview mit dem ägyptischen Kulturminister Faruk Husni über seine Pläne zur Rückführung von Kunstschätzen ...... 224 Kultfilme: Hellmuth Karasek über Der Popschneider von Paris Seite 132 die Wiederentdeckung des Filmemachers Ed Wood ...... 226 Er liebt Videoclips auf Bestseller ...... 228 MTV, tanzt in Techno- Film: „Betty und ihre Schwestern“ Klubs, interessiert sich von Gillian Armstrong ...... 230 für Datennetze und New Pop: „Easy Listening“ – Fahrstuhlmusik der Age und macht daraus ei- sechziger Jahre als neuer Partyspaß ...... 232 Szene ne neue Kollektion. Jean- ...... 234 Fernsehen: Lindenstraße – vom Problemfall Paul Gaultier ist der Pop- zum Glanzstück der ARD ...... 238 star unter den französi- Regisseure: Interview mit Wim Wenders schen Modemachern und über seinen neuen Film „Lisbon Story“ ...... 241 liefert bei jeder Schau ei- Fernseh-Vorausschau ...... 250 nen neuen Skandal. Denn er haßt, so sagt er Briefe ...... 7 im SPIEGEL-Gespräch, Impressum ...... 14

vor allem eines: politisch X. ROSSI / GAMMA / STUDIO X Personalien ...... 244 korrekte Mode. Gaultier mit Models Register ...... 248 Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 254

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Werbeseite BRIEFE Nur eine Halluzination de waren Illusionen zu einer Zeit, wo Hunger und Arbeitslosigkeit herrschten (Nr. 18/1995, Titel: Rudolf Augstein: und Hitler bereits in den Startblock für Karl May und die Deutschen) das Dritte Reich gegangen war. Karl May bleibt ein peinlicher Held. Ein Würzburg KARL KIRCHNER wenig seltsam finde ich es schon, wenn ausgerechnet der SPIEGEL so versöhn- lich mit diesem Teil deutscher Trivialli- Leider fehlt jeglicher Hinweis auf die teratur umgeht. Auch ist es vollkommen Homosexualität im Werk Karl Mays. unangebracht, daß man ernst zu neh- Wenn in seinen Romanen – diesen fast menden Persönlichkeiten ankreidet, sie reinen Männerwelten – Old Shatterhand hätte „Leichenfledderei“ an Karl Mays nach langem Ritt Winnetou wieder zu (Mach-)Werken betrieben. Gesicht bekommt und von seinen „samtartigen Augen“, dem „unver- Bornheim (Nrdrh.-Westf.) RAINER LIESENFELD gleichlichen Timbre seiner Stimme“ und von den „halbvollen küßlichen Lippen“ schwärmt und er für Old Shatterhand Dank an Rudolf Augstein für seinen ob- „eine ganze Welt der Liebe“ ist, über- jektiven Essay zu Karl Mays Leben und steigt dies meines Erachtens hetero- sexuelle Maßstäbe von Freundschaft. Köln ERWIN IN HET PANHUIS Schwulenverband in Deutschland

Ein Bravo für das wun- derbare Titelbild von Karl May. Die Flek- ken, die Sie auf seiner Weste aufzeigen, kön- nen als minimal ange- sehen werden im Ver- gleich mit solchen an- derswo, die durch Ver- filzung überdeckt wer- den. Bonn KURT SCHILDMANN

Karl Mays Meinung über die Deutschen? Schlag nach in seinen „Gesammelten Wer- Selbstdarsteller Karl May ken“! „Ja, ihr Deut- „Ja, ihr Deutschen seid eigenartige Kerle“ schen seid eigenartige Kerle. Mild, weich wie Werk, vor allem aber dafür, daß er die Butter! Wenn es aber sein muß, stellt ihr perfiden postumen Kritiker des großen euern Mann wie sonst einer. Ihr möch- Erzählers beim Namen genannt hat. tet alle Welt mit Samthandschuhen an- Töging (Bayern) PETER VORNEHM fassen, und doch schlagt ihr gleich mit dem Kolben drein, wenn ihr meint, daß ihr euch endlich wehren müßt.“ Ich bin 1964 als nicht deutsch sprechen- des Gastarbeiterkind nach Deutschland Bad Krozingen (Bad.-Württ.) GERD MAIER gekommen. Zwei Faktoren haben we- sentlich dazu beigetragen, die deutsche Augsteins Titelgeschichte soll belegen, Sprache zu lernen: TV-Konsum und die der friedliebende Phantast Karl May Lektüre von Karl May. Bis zu meinem sei kein Wegbereiter der braunen Mas- 12. Lebensjahr habe ich bestimmt 40 sen gewesen. Als Gegengift gegen die Bücher gelesen. Das intensive Verhält- Sozialdemokratie taugte er aber alle- nis endete jedoch, als ich las, wie Karl mal. May die Griechen und die Juden be- Oppenheim (Rhld.-Pf.) WERNER KRENNRICH schrieb: offen rassistisch. Köln CHRISTOS YIANNOPOULOS Der Beitrag heißt „Karl May und die Deutschen“, doch geschildert wird nur Die Wahrheit ist eine Halluzination, zu das Verhältnis Hitlers sowie emigrierter der sich die Mehrheit bekennt. Dieser Intellektueller zu Karl May. Ferner sug- Halluzination habe ich mich als Jugend- geriert das Titelbild durch die Köpfe der licher auch gebeugt. Die Karl-May-Bän- Kaiser Wilhelm I. und II., daß auch das

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Verhältnis der Obrigkeit im Kaiserreich beiden Seiten verderben das politische zu Karl May einmal unter die Lupe ge- Klima. Die seinerzeitige Erklärung Va´- nommen wird, was aber nicht der Fall clav Havels ist von der überwiegenden ist. Mehrheit unserer Volksgruppe mit gro- Lünen (Nrdrh.-Westf.) THILO SCHOLLE ßer Rührung aufgenommen worden. Mitglied der Karl-May-Gesellschaft Nur mußte dieser aufrechte Mann auf Druck der „Falken“ in der Zwischenzeit Leider hat Augstein das Kapitel „Skla- seinen Standpunkt aufgeben. Er ist im ven der Arbeit“ aus dem Roman „Der eigenen Volk nicht auf Versöhnungsbe- verlorene Sohn“ nicht erwähnt. Es han- reitschaft gestoßen. delt sich um eine brillante sozialkritische Dannstadt (Rhld.-Pf.) ROBERT APPELT Charakterstudie der Zeit während der deutschen Industrialisierung. Der historisch begründeten Sensibilität Würzburg BERNHARD FEGHELM der Tschechen sollte schon Verständnis entgegengebracht werden. Aber wie steht es um die Sensibilität der Töchter und Söhne derjenigen Deutschen, die in Unbelehrbarer Trachtenverein Aussig von der Elbbrücke in den Tod (Nr. 18/1995: Außenpolitik: Kohl verhin- gestürzt wurden, weil ihr einziges Ver- dert Versöhnung mit Prag) brechen darin bestand, Angehörige der zweitgrößten Volksgruppe im Vielvöl- Niederbayern, Oberpfälzer, Oberfran- kerstaat der 1918 gegründeten Tsche- ken einschließlich viertem Stamm im choslowakei zu sein? Ist jene Sensibilität bayerischen Osten, wo wir oft auch No- eine Quantite´ne´gligeable? vak, Schiedek, Turba und Havlicek hei- ßen, artikulieren wir uns gegenüber den Hann Münden (Nieders.) HELMUT STRUNZ tschechischen Nachbarn, deren Namen auch oft Lendl, Eichler, Klaus und Dienstbier lauten, als Menschen guter Potentieller Selbstmörder Absicht, wie es nicht nur unter Stam- (Nr. 18/1995, Flugunfälle: Deutsche mesverwandten üblich sein sollte, damit Hobbyflieger als Bruchpiloten gefürchtet) endlich normal werden kann, was längst hätte normal sein müssen. Ihr Artikel über die deutschen Privatpi- Bärnau MAXIMILIAN SCHNURRER loten entspricht zwar leider in vielen Punkten der traurigen Wahrheit, ange- Wie stets werden die Sudetendeutschen klagt wird hier jedoch der Falsche. (sie haben in Wirklichkeit längst in der Denn unsere Piloten haben keine besse- Bundesrepublik ihre bleibende Heimat ren oder schlechteren Veranlagungen gefunden) als bodenständiger, sturer zur Fliegerei als alle anderen Piloten der und unbelehrbarer Trachtenverein dar- Welt. Das, was sich später aus diesen gestellt. Infam! Dabei ist schon der er- Veranlagungen entwickelt, nämlich die sten Nachkriegsgeneration die Zeit vor fliegerischen Fertigkeiten, wird durch 1945 ziemlich gleichgültig. Von wegen unser Luftfahrtsystem geprägt. Neu ist „Revanchismus“. Kleine Gruppen von die Kritik nicht, denn Piloten, Verbände B. BOSTELMANN / ARGUM Treffen von Sudetendeutschen (in München 1993): Menschen guter Absicht

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Es ist eine Wohltat, einmal einen Promi- nenten vorgestellt zu bekommen, der sich nicht in Ausflüchten, Entschuldi- gungen und mitleidheischenden Ge- ständnissen ergeht. Wenn mich etwas aufregt, dann die Art, wie Roland Kai- ser oder Konstantin Wecker mit der Boulevardpresse zusammenarbeiten und dann auf sie schimpfen. Neu-Ulm MARIO SCHMALSTIEG

Boy George ist viel mehr als ein ge- schminkter Ex-Junkie. Er ist ein hervor- ragender Sänger und Songschreiber. Sie hätten sich mehr auf seine Musik kon- zentrieren sollen. Über die haben Sie nur wenige Worte verloren, dafür aber viel über seine Homosexualität geschrie- ben, die man doch heute nicht mehr so aufbauschen sollte. Flensburg SONJA WIELOW HARTMUT SCHWARZBACH / ARGUS Flugschülerin beim Unterricht: Theorie im Vordergrund Es ist unverantwortlich, über einen so und Fachzeitschriften brandmarken seit Die Art der geschilderten Flugunfälle durch und durch verkommenen und he- langem eine selbstgefällige, fachlich läßt sich so nicht auf mangelhafte Flug- donistischen Popstar einen positiven Ar- mangelhaft ausgebildete Luftfahrtver- ausbildung zurückführen. Wer ohne tikel zu veröffentlichen. waltung und kämpfen gegen eine Ver- ausreichende Spritreserven so lange Herne RÜDIGER DÖLLER kehrspolitik, die dem Verkehrsträger fliegt, bis der Quirl (Propeller) stehen- „allgemeine Luftfahrt“ buchstäblich die bleibt, ist ein potentieller Selbstmörder, Luft unter den Tragflächen entzieht. dem nicht zu helfen ist. Berlin DR. KLAUS-JÜRGEN SCHWAHN Köln THOMAS KLÜPPELBERG Flugkapitän und Flugbetriebsleiter

Für mich als Privatpilotin liegt das Pro- blem nicht in einer mangelhaften Erst- Grölen der Prolos ausbildung der Piloten, auch nicht in (Nr. 18/1995, Stars: Thomas Hüetlin einer Instrumentenflugberechtigung, über die Wiederkehr des Popidols Boy wie Sie es darstellen, sondern an den George) ungenügenden Anforderungen, die an den bereits ausgebildeten Privatpiloten Die Jugendlichen und ihre Großeltern gestellt werden, um die Lizenz alle lagen Boy George ja schon immer zu zwei Jahre verlängert zu bekommen. Füßen. Mit Ihrem Artikel hat er sicher Warum zum Beispiel ist ein Sicher- auch das mittlere Alter gewonnen. heitstraining nicht genauso Pflicht wie Visbek (Nieders.) IRMGARD HABE der regelmäßige Gesundheits-Check? Oldenburg ULI DALDRUP Boy George ist eine herausragende Per- sönlichkeit, und das hat der SPIEGEL Warum ist das alles so? Weil der Sprit richtig begriffen. George O’Dowd ist sauteuer ist, weil versteuert. Trainings- ein gesellschaftliches Ergeignis, eine Er- flüge sind kaum mehr möglich, weil je- scheinung, die so schillernd und einneh- ACTION PRESS der zugereiste Lehrer sich billig ein mend ist, daß es schwerfällt zu glauben, Popidol George Haus in die Einflugschneise bauen darf daß er nicht unseren eigenen Träumen Mehr als ein geschminkter Ex-Junkie und anschließend Vorsitzender der entstiegen ist. Thomas Hüetlin gelingt Bürgerinitiative gegen den Flugplatz es, seinen Humor und Witz, seine Niemals beim Geheimdienst wird. Selbstkritik und -ironie, seine Wortge- München BERNHARD PFENDTNER wandtheit, sein Selbstbewußtsein und (Nr. 17/1995, Furchtbare Juristen: Fil- seine Unsicherheit – und doch seine binger spielt Stasi-Opfer) Normalität herauszustellen. Ich habe aus eigener Erfahrung den Ich war niemals Mitglied des Militäri- Eindruck, daß in anderen Ländern we- Köln DR. WILFRIED SAUERBEIN schen Abschirmdienstes und auch sonst sentlich mehr Wert auf die Praxis ge- keines deutschen oder ausländischen legt wird, während in Deutschland Geheimdienstes. Ich habe mich nicht in Theorie und Regellernen im Vorder- Dieser androgyne Knabe hat’s ja echt der von Ihnen veröffentlichten Form grund stehen. In Australien lernt man faustdick hinter den Ohren („Ich hab’ erst sicher zu fliegen und anschließend, jetzt euer Geld und werde mir ’ne Men- („Der will einfach sauber in die Urne“) daß es auch entsprechende Vorschrif- ge Lidschatten dafür kaufen“) – eine und schon gar nicht in der abfällig hämi- ten gibt. göttliche Antwort auf das Grölen der schen Tendenz über die Rehabilitierung Prolos. Lehrte (Nieders.) des früheren baden-württembergischen DR. CHRISTIAN BOETTGER Stuttgart HEINZ LANGFERMANN Ministerpräsidenten, Herrn Professor

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BRIEFE MNO Dr. Dr. H. Filbinger, geäußert. Dieses 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 Zitat stammt nicht von mir. CompuServe: 74431,736 . Internet: http://www.spiegel.de/spiegel Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006. Telefax (040) 30072898, Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg. Bonn LUTZ FREIHERR VON WANGENHEIM HERAUSGEBER: Rudolf Augstein 0138, Telefax 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glüsing, Aveni- Fregattenkapitän a.D.d.R. da Sa˜o Sebastia˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. Security Consult and Coaching CHEFREDAKTEUR: Stefan Aust (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von Ro- STELLV. CHEFREDAKTEURE: Joachim Preuß, Dr. Dieter Wild ques, Largo Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, Telefax 679 7768 . Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11 223 REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, Wil- Stockholm, Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 . War- helm Bittorf, Peter Bölke, Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, schau: Andreas Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, Tel. Henryk M. Broder, Werner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, (004822) 25 49 96, Telefax 25 84 74 . Washington: Karl-Heinz Sardonisches Lachen Hans-Dieter Degler, Dr. Martin Doerry, Anke Dürr, Adel S. Elias, Büschemann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Press Nikolaus von Festenberg, Uly Foerster, Dr. Erich Follath, Klaus Building, Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) 347 5222, (Nr. 18/1995, Autoren: Die heimeligen Franke, Gisela Friedrichsen, Angela Gatterburg, Henry Glass, Jo- Telefax 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schönbrunner Stra- hann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Hans Halter, Wer- ße 26/2, 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax 587 4242 Erinnerungen der Theologin Dorothee ner Harenberg, Dietmar Hawranek, Manfred W. Hentschel, Hans ILLUSTRATION: Werner Bartels, Renata Biendarra, Martina Blu- Sölle) Hielscher, Wolfgang Höbel, Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim me, Barbara Bocian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Hoelzgen, Dr. Jürgen Hohmeyer, Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Bonnie, Regine Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Rainer Hupe, Ulrich Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. Csallos, Volker Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hur- Sie haben auf weiten Strecken recht, der Hellmuth Karasek, Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, me, Bettina Janietz, Claudia Jeczawitz, Antje Klein, Ursula „starke Kaffee“ ist dringend nötig. Ralf Klassen, Petra Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Knips, Morschhäuser, Cornelia Pfauter, Monika Rick, Chris Riewerts, Ju- Susanne Koelbl, Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Bernd lia Saur, Detlev Scheerbarth, Manfred Schniedenharn, Frank Und doch, und doch – Dorothee Sölle Kühnl, Wulf Küster, Dr. Romain Leick, Hans Leyendecker, Heinz Schumann, Rainer Sennewald, Dietmar Suchalla, Karin Wein- P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Madzia, Armin Mahler, Dr. Hans- berg, Matthias Welker, Monika Zucht ist wichtig geworden, nicht nur für Peter Martin, Georg Mascolo, Gerhard Mauz, Gerd Meißner, Frit- mich. jof Meyer, Dr. Werner Meyer-Larsen, Michael Mönninger, Joa- SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- chim Mohr, Mathias Müller von Blumencron, Bettina Musall, Dr. bine Bodenhagen, Reinhold Bussmann, Dieter Gellrich, Hermann Heidelberg HANNA EIERMANN Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Claudia Pai, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Petermann, Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl, Detlef Pypke, Dr. Rolf Rietzler, M. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Ingrid Seelig, Anuschka Roshani, Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Saltzwedel, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, Ruth Tenhaef, Hans-Jürgen Karl-H. Schaper, Marie-Luise Scherer, Heiner Schimmöller, Ro- Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters land Schleicher, Michael Schmidt-Klingenberg, Cordt Schnibben, VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Hans Joachim Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Bruno Schrep, Hel- orama, Regierung, Plutonium (S. 33, 37), Parteien, Treuhand, mut Schümann, Matthias Schulz, Birgit Schwarz, Ulrich Schwarz, Städtebau: Dr. Gerhard Spörl; für Umwelt, Plutonium (S. 36), Tier- Dr. Stefan Simons, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard Spörl, schutz, Denkmalschutz, Hochschulen, Sekten, Berlin, Privatisie- Olaf Stampf, Gabor Steingart, Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, rung, Freitod, Kriegsgräber: Christiane Kohl; für Zeitgeschichte Barbara Supp, Dieter G. Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans-Jörg (S. 66): Dr. Rolf Rietzler; für Radio, Medien, Kommunikation, Vehlewald, Dr. Manfred Weber, Susanne Weingarten, Alfred Kiosk: Uly Foerster; für Trends, Wirtschaftspolitik, Währungsuni- Weinzierl, Marianne Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos Wid- on, Elektronik, Unternehmer, Banken, Landwirtschaft (S. 126): mann, Erich Wiedemann, Christian Wüst, Peter Zobel, Dr. Peter Gabor Steingart; für Mode, Comics, Zeitgeschichte (S. 188), Pop, Zolling, Helene Zuber Fernsehen, Fernseh-Vorausschau: Hans-Dieter Degler; für Titel- geschichte: Johann Grolle; für Panorama Ausland, Frankreich, REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- Tschetschenien, Ägypten, Großbritannien: Dr. Romain Leick; für gang Bayer, Petra Bornhöft, Markus Dettmer, Jan Fleischhauer, Fußball, Basketball, Schach: Heiner Schimmöller; für Staatsfei- Uwe Klußmann, Jürgen Leinemann, Claus Christian Malzahn, ern (S. 26), Prisma, Tiere, Landwirtschaft (S. 211), Ärzte, Automo- Walter Mayr, Harald Schumann, Michael Sontheimer, Kurfürsten- bile: Jürgen Petermann; für Autoren, Kunstsammler, Museen, straße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, Telefax . Bestseller, Szene, Regisseure: Dr. Martin Doerry; für namentlich 25 40 91 10 Bonn: Winfried Didzoleit, Manfred Ertel, Dr. Olaf gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Personalien, Re- Ihlau, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth Nie- gister, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; für Titel- jahr, Hartmut Palmer, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen bild: Matthias Welker; für Gestaltung: Dietmar Suchalla; für Haus- Schlamp, Hajo Schumacher, Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, mitteilung: Hans Joachim Schöps (sämtlich Brandstwiete 19, Dahlmannstraße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, Tele- 20457 Hamburg) fax 21 51 10 . Dresden: Sebastian Borger, Christian Habbe, Kö- nigsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. (0351) 567 0271, Te- DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Sigrid Behrend, Ulrich lefax 567 0275 . Düsseldorf: Ulrich Bieger, Georg Bönisch, Ri- Booms, Dr. Helmut Bott, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- ACTION PRESS chard Rickelmann, Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) der, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, Cor- Theologin Sölle 93 601-01, Telefax 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Dalbergsweg delia Freiwald, Dr. Andre´ Geicke, Ille von Gerstenbergk-Helldorff, 6, 99084 Erfurt, Tel. (0361) 642 2696, Telefax 566 7459 . Dr. Dieter Gessner, Hartmut Heidler, Wolfgang Henkel, Gesa Garantiert linker Sandinisten-Kaffee Frankfurt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bittner, Annette Groß- Höppner, Jürgen Holm, Christa von Holtzapfel, Joachim Immisch, bongardt, Rüdiger Jungbluth, Ulrich Manz, Oberlindau 80, 60323 Hauke Janssen, Günter Johannes, Angela Köllisch, Sonny Krau- Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Telefax 72 17 02 . Hanno- spe, Hannes Lamp, Marie-Odile Jonot-Langheim, Walter Leh- Mit selbstverliebtem Zynismus diffa- mann, Michael Lindner, Dr. Petra Ludwig, Sigrid Lüttich, Roderich Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Hannover, Tel. ver: Maurer, Rainer Mehl, Ulrich Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Mül- miert Peter Stolle Leben und Werk von (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 . Karlsruhe: Dr. Rolf Lam- ler, Bernd Musa, Christel Nath, Anneliese Neumann, Werner Niel- precht, Amalienstraße 25, 76133 Karlsruhe, Tel. (0721) 225 14, Dorothee Sölle. sen, Paul Ostrop, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Telefax 276 12 . Mainz: Wilfried Voigt, Weißliliengasse 10, Rambow, Dr. Mechthild Ripke, Constanze Sanders, Petra Santos, 55116 Mainz, Tel. (06131) 23 24 40, Telefax 23 47 68 . Mün- Hamburg Christof Schepers, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Andrea PROF. DR. WOLFGANG GRÜNBERG chen: Dinah Deckstein, Annette Ramelsberger, Dr. Joachim Rei- Schumann, Claudia Siewert, Margret Spohn, Rainer Staudham- mann, Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Universität Hamburg . mer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Rainer Szimm, Monika Tänzer, Telefax 4180 0425 Schwerin: Bert Gamerschlag, Spieltor- Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris damm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) 557 44 42, Telefax . Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, 56 99 19 Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Grimm, Sylvia Schreiber, Dieter Wessendorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 22 15 31, Te- Selten hat ein Artikel Bigotterie mit so lefax 29 77 65 BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- sardonischem Lachen aufgespießt. REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, shington Post, New York Times, Reuters, sid, Time Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 283 0474, Telefax Tübingen JÖRN SCHÄFER 283 0475 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 . SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM 45, 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 . 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM Ihr Artikel war eine Wohltat. Ich gönne Jerusalem: Jürgen Hogrefe, 29, Hatikva Street, Yemin Moshe, 182,00. Normalpost Europa: sechs Monate DM 184,60, zwölf Jerusalem 94103, Tel. (009722) 24 57 55, Telefax 24 05 70 . Monate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM der Professorin den sehr starken Kaffee, Johannesburg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. den Sie ihr empfehlen. Aber findet der Eloff Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Tele- Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, fax 336 4057 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; gute Fulbert auch noch die richtige Sor- Muhandisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 . Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) te, den garantiert linken Sandinisten- Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Hen- 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; Kaffee, den Frau Sölle weiland in Nica- rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (0044171) 379 8550, Tele- München: Stuntzstraße 16, 81677 München, Tel. (089) ragua im langen weißen Wallegewand fax 379 8599 . Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007095) 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 226 30 35, Telefax 29 77 65 persönlich an Ort und Stelle abzupfte? 274 0009, Telefax 274 0003 . Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) Mühldorf (Bayern) HEINZ TH. RISSE Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 49 vom 1. Januar 1995 469 7273, Telefax 460 2775 . New York: Matthias Matussek, 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . 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14 DER SPIEGEL 20/1995 Werbeseite

Werbeseite . PANORAMA M. DARCHINGER Bonner Schürmann-Bau

Architektur als Bürokomplex für Abgeordnete geplant – sanieren und für die Deutsche Welle herrichten lassen. Waigel rechnet in Abriß-Birne droht einem internen Papier vor, das koste den Bund unterm Strich mindestens 580 Millionen Mark. Wenn der Rohbau Der Bonner Schürmann-Bau wankt. Am Dienstag dieser samt wertvollem Grundstück an einen privaten Investor ver- Woche entscheidet sich auf höchster Koalitionsebene das kauft werde, der die Ruine abreißen und durch einen Neu- Schicksal des Skandalbaus am Rhein. Doch es ist so gut wie bau für den Bundessender ersetzen müßte, reduzierten sich sicher: Der vom Weihnachtshochwasser 1993 unterspülte die Kosten auf 250 Millionen. Waigel wird der Koalitions- Betonrohling wird abgerissen. Damit hat Finanzminister runde den unterschriftsreifen Kaufvertrag mit einem Frank- Theo Waigel (CSU) den Streit im Kabinett um die ungelieb- furter Immobilienhändler präsentieren. Demnach soll der te Ruine entschieden, der Verlierer heißt Klaus Töpfer. Der Bund das neue Funkhaus auf 25 Jahre für 21 Millionen Mark CDU-Bauminister wollte den halbfertigen Bau – vor der jährlich mieten. Frühere Investoren hingegen verlangten 27 Vereinigung vom Kölner Architekten Joachim Schürmann Millionen bis 33 Millionen Mark.

Rechtsextremismus Jäger 90 Szene neu sortiert Und steigt und steigt und steigt... 150,5 Mitglieder der im Februar verbotenen Preis für einen Jäger 90/ Neonazi-Truppe Freiheitliche Deut- Eurofighter 2000 135,0 sche Arbeiterpartei (FAP) versuchen, Bericht des inklusive Waffen Bundes- sich neu zu organisieren. Ehemalige Schätzung und Ersatzteile; 111,4 rechnungs- FAP-Mitglieder sammeln sich in dem der Euro- hofs in Millionen Mark fighter GmbH Verein Die Nationalen, der vor allem laut Luft- 102,0 in Berlin, Brandenburg und Sachsen waffen- 90,0 Angebot der auftritt. Die Organisation, die von 83,8 führung dem früheren CDU-Mitglied und Ex- Der Jäger 90 wird umbe- Industrie Republikaner Frank Schwerdt, 51, nannt und abgespeckt. Als Eurofighter 2000 soll geführt wird, zählt etwa 100 Anhän- 62,9 er laut Verteidigungsmini- ger. Die Nationalen wollen, so JÄGER 90 ster Volker Rühe nicht EUROFIGHTER Schwerdt, die rechte Szene „neu sor- erste mehr als 90 Millionen tieren“ und im Oktober in Berlin an Planung Mark kosten. den Wahlen zum Abgeordnetenhaus März April Oktober September Mai teilnehmen. 1980 1987 1992 1992 1992 1993 1995

16 DER SPIEGEL 20/1995 .

DEUTSCHLAND

Zeitgeschichte Atommüll Hitler, der Trommler „Einfach vor die Tür gekippt“ Ein ungewöhnliches Medium haben russische Historiker und Geheim- dienstler gewählt, um teils unveröf- Die Umweltministerin von Sachsen- sem Fall Betreiber, oberste Genehmi- fentlichte Dokumente aus den Archi- Anhalt, die Bündnisgrüne Heidrun gungsbehörde und zugleich Aufsichts- ven des KGB zu vermarkten: Diese Heidecke, 40, kritisiert die Bonner amt in einer Person. Dem Land ist die Woche erscheint in Deutschland auf Atommüll-Pläne. Genehmigung sozusagen einfach vor computerlesbarer CD-Rom eine Mi- die Tür gekippt worden. Die CDU/ schung aus Videos, Fotos, Faksimiles SPIEGEL: Frau Heidecke, die Bun- FDP-Vorgängerregierung schaute vier und Texten über Hitler, Nazi-Größen desregierung will künftig auch mittel- Jahre lang zu. Die vollständige Geneh- und deren Ende. Die englisch kom- stark strahlende radioaktive Abfälle in migungsdokumentation ist bei mir erst mentierte Sammlung, die demnächst das Atomlager Morsleben bringen. kürzlich und nur nach heftigen Inter- auch in den USA und Frankreich ver- Bisher hatte der Bund aus Sicherheits- ventionen eingetroffen. kauft werden soll, gründen darauf verzichtet – ist das La- SPIEGEL: Wie wol- präsentiert neben ger jetzt sicherer? len Sie denn Belanglosigkeiten Heidecke: Nein, keineswegs. Hier sol- die Einlagerung in wie einem Hitler- len mit einem unter zweifelhaftem Morsleben stoppen? Album zum Ernte- DDR-Recht genehmigten Endlager Heidecke: Da der dankfest 1934 zahl- die bundesdeutschen Atomprobleme Bund sich selber reiche Texte von gelöst werden. Auch der Bundesum- kontrolliert, kann KGB-Vernehmun- weltministerin Angela Merkel sollte ich nur in den laufen- gen der Führer-En- klar sein, daß Morsleben allein wegen den Betrieb eingrei- tourage und vie- nicht erwiesener Langzeitsicherheit fen, wenn nachweis- ler Wehrmachtsof- nach bundesdeutschem Atomrecht ge- lich eine akute Ge- CD-Cover fiziere. Die Aussa- nehmigungsunfähig wäre. fährdung vorliegt ge des Generalfeld- SPIEGEL: Warum dulden Sie den Be- oder wenn wesentli- marschalls Ewald von Kleist etwa be- trieb in Morsleben, wenn sie der che Veränderungen ginnt mit den Worten „Hitler – Der Meinung ist, das Lager sei nicht si- des Betriebsablaufes Trommler – Vor 19 Jahren“ und en- cher? erfolgen. Das zen- det mit einem „Lebewohl, mein Füh- Heidecke: Ob sich Morsleben über- trale Problem ist, rer“; der SS-Brigadeführer und ober- haupt und wenn ja unter welchen Be- diese nachzuweisen, ste Hitler-Leibwächter Johann Rat- dingungen für die Einlagerung von ra- da ich keine Kon- tenhuber berichtet über die letzten dioaktiven Abfällen eignet, muß in ei- trollrechte besitze Stunden im Berliner Bunker. Produ- nem nachgeholten Genehmigungsver- und allein auf die In- ziert wurde die teure Scheibe (249 fahren bis zum Jahr 2000 überprüft formationen des

Mark, Vertrieb: City Information Sy- werden. Das Absurde aber ist: Das Bundes angewiesen PRINT stem, Würzburg) von einer Moskauer Bundesumweltministerium ist in die- bin.Merkelmuß bin- Heidecke Elektronikfirma. nen drei Wochen das meines Erachtens nicht durch die Ge- nehmigung gedeckte Verkippen von Zensur mittelradioaktivem Material rechtlich begründen. Ansonsten werden wir han- Aufgepeitscht deln, um den Weiterbetrieb zu unter- binden. und gierig SPIEGEL: Bis zum Jahre 2000 soll ein neues Planfeststellungsverfahren für Der Berliner Satiriker Wiglaf Droste Morsleben abgeschlossen sein. ist Opfer feministischer Zensur gewor- Heidecke: Neu ist gut, es ist das erste den. Seine Lesungen werden von Frau- Planfeststellungsverfahren überhaupt. engruppen gestürmt. Vergangene Wo- Nach dem derzeitigen Fahrplan hat der che kam es in Tübingen sogar zu Prü- Bund anderthalb Jahre Verspätung. gelszenen. Anlaß ist ein Text Drostes SPIEGEL: Bundesumweltministerin über Kindesmißbrauch – geschrieben Merkel kommt wie Sie aus Ostdeutsch- aus der Sicht eines Mannes, der fürch- land. Haben Sie Ihre Kollegin nicht mal tet, von übereifrigen Frauen zu Un- darauf angesprochen, unter welchen recht beschuldigt zu werden. Die Frau- Bedingungen in der DDR Genehmi- en werfen ihm deshalb vor, Selbsthilfe- gungen erteilt worden sind? gruppen zu denunzieren. Droste sei Heidecke: Für mich ist es schwer nach- „Teil der reaktionären Roll-back-Wel- vollziehbar, warum wir keine Verstän- le gegen die Errungenschaften und digung hinkriegen. Frau Merkel weiß Ansätze der Frauenbewegung“. Der als ehemalige DDR-Bürgerin genauso Autor über seine Gegnerinnen: „Kiez- gut wie ich, daß derartige Anlagen nicht Camarilla, die durch die Gegend unter sicherheitstechnischen Gesichts- streift, aufgepeitscht und gierig, auf W. SCHMIDT / NOVUM punkten genehmigt, sondern politisch der Suche nach Tätern.“ Atommüll-Endlager Morsleben verordnet wurden.

DER SPIEGEL 20/1995 17 .

PANORAMA

Kanzlerreise Polnische Wünsche an Kohl Bundeskanzler Helmut Kohl steht An- fang Juli eine schwierige Polen-Reise bevor. Die Gastgeber erwarten von Kohl bei seinem dreitägigen Besuch ei- ne deutliche Aussage darüber, wann der östliche Nachbar der Europäischen Union und der Nato beitreten darf. Bonn hatte dazu in Abstimmung mit den westlichen Alliierten bislang die vage Formel „um das Jahr 2000“ ge- braucht. Doch die Regierung in War-

DPA schau will aus Furcht vor der unbere- Hausbesetzer beim Kongreß in Leipzig chenbaren russischen Politik schon im Jahr 1998 Partner Westeuropas wer- Polizei zer aus der ganzen Republik zu einem den. Offen sind noch die einzelnen Kongreß inklusive Demonstration tra- Stationen von Kohls Reiseprogramm. Demonstrative Stärke fen, bot die Ordnungsmacht mehr als Möglich ist, daß er einen Abstecher 1000 Beamte auf. Seit 1992 hat die Stadt nach Danzig macht, um dort Lech Mit demonstrativen Polizeiauftritten in Abstimmung mit dem Innenministe- Walesa zu Hause zu besuchen. Das durchkreuzt Sachsens Innenminister rium zwar neue Besetzungen unterbun- könnte den Präsidenten besänftigen, Heinz Eggert (CDU) die liberale Linie den, den Altbesetzern hingegen Miet- der verärgert reagiert hatte, weil er des Leipziger Oberbürgermeisters Hin- verträge gegeben. Neuerdings aber kri- nicht zur Berliner Gedenkfeier zum rich Lehmann-Grube (SPD) gegenüber tisiert das Haus Eggert, Leipzig habe 50. Jahrestag des Kriegsendes am ver- Hausbesetzern. Als sich am vergange- „nicht immer eine glückliche Hand im gangenen Montag eingeladen worden nen Wochenende in Leipzig Hausbeset- Umgang mit Jugendeinrichtungen“. war.

Antisemiten mehr trauen können, denn Dein Vollstrecker ist sehr oft in Deiner Nähe Jude. Bin ich Polizist, Journalist, Antifa- schist, Nachbar, Jurist oder gar ein Mitglied der Judenver- Morddrohung an Giordano einigung??? Fragen über Fragen werden Dein krankes Ju- denhirn quälen, denn nur der Vollstrecker weiß, wann er Bösartige Briefe von Antisemiten und Rechtsradikalen be- vollstrecken wird. kommt der Schriftsteller Ralph Giordano („Die Bertinis“) Jude lasse keine falschen Hoffnungen aufkommen. Dies seit Jahren. Ausgerechnet zum 50. Jahrestag des Kriegs- ist kein simpler Drohbrief wie alle anderen, welche Du endes erhielt er ein besonders perverses Schreiben samt bekommen hast. Ich liebe es jedoch, meine Opfer vorher Morddrohung. Giordano liegt an einer Veröffentlichung, um von meinen Vorhaben in Kenntnis zu setzen. zu dokumentieren, „was in Deutschland von 1995 immer Sollte ich versagen, so werde ich mich zur Strafe selbst tö- noch oder schon wieder möglich ist“. Auszüge: ten, weil dann ein Parasit wie Du es nun einmal bist, wei- terleben wird. Jude nun denk mal darüber nach, solche Giordano, ich werde Dich töten müssen. Und ich werde Angebote habt Ihr den Palästinensern noch nie ge- es mit absoluter Perfektion erledigen. Du hast keine macht!!!! Chance, daß ich einen Fehler mache. Auf diesem Schrei- Tja Jude, ich verrate Dir jetzt sogar einmal eine von mir ben befinden sich keine Fingerabdrücke, kein Speichel auf aber schon verworfene Idee, wie ich die Welt gefahrlos der Briefmarke. Ich benutzte Papier und Umschläge aus von Dir entlausen wollte. Es ist nicht schwer von Dir per- einer Supermarktkette. Der Brief wurde weit entfernt von sönliche Gegenstände zu erhalten, um einem Hund eine meinem Wohnort aufgegeben. Betrachte Dich noch ein- gute Schweißspur zu geben. Nein, keinen Kampfhund hät- mal im Spiegel, reflektiere Dein Dasein als Opfer eigener te ich losgeschickt, sondern eine ganz liebe Hunderasse, Gnade von nicht geschehenen Taten. mit einem Implantat ausgestattet, wel- Erzähle Dir selbst einen Witz; einen ches bei Berührung des Halsbandes sei- kleinen Auschwitz und höre Dir sel- ne Wirkung entfaltet. Über den Inhalt ber bei Deinem Judenlachen zu. des Implantates war ich mir aber noch Der Tod wird für Dich wie eine Erlö- nicht im klaren. Ob konventioneller sung sein, eine Erlösung für Dich und Sprengstoff oder im Bereich der Biolo- für mich den Vollstrecker des germa- gie. Du Jude hast wahrscheinlich gar nischen Lichtes der Weltesche. keine Ahnung was uns die Genfor- Dein Leben ist verwirkt. Es wird kei- schung bereits jetzt schon alles bietet. ne Rettung für Dich geben. Keine Ich bin zwar kein Experte auf diesem Flucht und keine Macht der Welt wird Gebiet, aber im Baukastenprinzip Dich vor mir schützen können. konnte ich mir in den USA bereits die

Du wirst von nun an keine Ruhe K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL Bauteile für einen Tuberkelbazillus be- mehr haben. Du wirst niemandem Giordano sorgen.

18 DER SPIEGEL 20/1995 .

Blut-Skandal Opfer ohne Hilfe Mit einer großen Anfrage will die SPD von Gesundheitsminister Horst Seeho- fer (CSU)erfahren, warum sein Ressort für die Opfer des größten Medizinskan- dals der DDR nichts tue. In den Jahren 1978 und 1979 waren mehrere tausend Frauen nach ihrer ersten Schwanger- schaft mit einem Blutpräparat behan- delt worden, damit bei weiteren Schwangerschaften Komplikationen ver- mieden würden. Es be- stand die Gefahr, daß wegen unterschiedli- cher Rhesusfaktoren Blutunverträglichkei- ten bei Mutter und Kind auftreten. Doch das Impfserum war mit Hepatitis-Viren ver- seucht. Etwa 7000 Frauen wurden mit der

TEUTO PRESS oftmals tödlichen He- Schmidbauer patitis C infiziert. Von den DDR-Behörden wurden die Frauen mit Renten um 300 Mark abgefunden. Da der Verlauf der tückischen Krankheit weitgehend un- bekannt ist, so kritisiert der SPD-Ge- sundheitsexperte Horst Schmidbauer, lehnten bundesdeutsche Ämter viele hilfesuchende Frauen als „Simulantin- nen“ab. Die SPD fordert, die Opfer des Medizinskandals zu entschädigen.

Berlin/Brandenburg Zweifelhaftes Ja In der Berliner CDU ist ein heftiger Streit über die geplante Vereinigung der Bundesländer Berlin und Branden- burg entbrannt. Fusionsgegner werfen Befürwortern um den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen vor, bei einer Abstimmung unter den 14 850 CDU-Mitgliedern der Haupt- stadt getrickst zu haben. Bei der Post- kartenaktion hatten 3604 Christdemo- kraten für eine Ländervereinigung, 1296 dagegen gestimmt. Reinhard Führer, CDU-Vizepräsident des Ab- geordnetenhauses, bemängelt mehrere „Unstimmigkeiten“: So sei eine Wahl- urne erst nach Protesten aufgestellt worden. Außerdem hat Generalsekre- tär Dieter Ernst über 1000 Abstim- mungskarten mehr drucken lassen, als die Union in Berlin Mitglieder zählt. Führer: „Der eine oder andere Partei- freund fragt sich jetzt, ob da nicht je- mand einfach selbstausgefüllte Ja- Stimmen beigemischt hat.“

DER SPIEGEL 20/1995 19 .

PANORAMA

Sexuelle Gewalt In jeder siebten Familie In Deutschland werden deutlich mehr dene oder getrennt lebende Ehemän- Frauen von ihren Ehemännern verge- ner. waltigt als bislang angenommen. Das Mehr als die Hälfte der Vergewalti- Kriminologische Forschungsinstitut gungsopfer wurden außerdem geprü- Niedersachsen hat dem Bundesfamili- gelt oder mißhandelt. Polizei und enministerium jetzt die bundesweit Staatsanwaltschaft erfahren von diesen erste repräsentative Untersuchung Taten nur selten: Ganze 6,7 Prozent vorgelegt. aller Fälle wurden gemeldet. Frauen Jede siebte Frau im Alter von 20 bis „schämen sich“, so die Untersuchung, 59 Jahren ist danach mindestens ein- und „wollen das nicht vor den Nach- mal vergewaltigt worden – in der Re- barn an die Öffentlichkeit ziehen“. gel vom Ehemann, aber auch von an- Nach geltendem Recht ist Vergewalti- deren Nahestehenden. Wäre Verge- gung in der Ehe nicht strafbar. 83,4 waltigung in der Ehe strafbar, müß- Prozent der Bevölkerung wollen laut ten jährlich rund 70 000 Männer vor der Studie jedoch eine Gesetzesände- Gericht – wenn ihre Frauen Anzeige rung. Ein entsprechender Entwurf des erstatten würden. Nicht eingerechnet Justizministeriums ist bislang am Wi- sind Vergewaltigungen durch geschie- derstand der Union gescheitert.

INTERVIEW

Presse „Die Absage war ein Schock“ Artur („Atze“) Brauner, 76, ist Springer hätte sich dort niemand solche

Berliner Filmproduzent jüdischen Mätzchen erlaubt. L. SCHMIDT / JOKER Glaubens. Fast seine ganze Familie SPIEGEL: Der Springer Verlag be- Nana-Figur in Bonn wurde von den Nazis ermordet. gründet seine Absage auch mit rechtli- chen Bedenken, weil Sie etwa dem Staats-Kunst SPIEGEL: Herr Brauner, der Axel CDU-Abgeordneten Alfred Dregger Springer Verlag hat es abgelehnt, in eine Geisteshaltung unterstellen, die Schön bunt der Welt und in der Berliner Morgen- vor 50 Jahren zum Genozid an den Ju- post eine Anzeige von Ihnen zu druk- den geführt habe. und optimistisch ken, in der Sie zum 8. Mai an den Ho- Brauner: Andere Zeitungen sahen da locaust erinnern und sich gegen einen keine Probleme. Die Frankfurter Allge- Bonner Ministerien haben für Kunst rechten Aufruf wehren. Was war der meine hat den Text ohne jede Änderung nichts übrig. Seit den Zeiten des SPD- Grund? abgedruckt, die Süddeutsche auch. Kanzlers Helmut Schmidt können die Brauner: In den Absagen SPIEGEL: Hatte außer Ressorts etwa 1,5 Prozent ihres Sach- hieß es, der Verlag könne den Springer-Blättern ausstattungsetats für Kunst in Amtsstu- meine Anzeige aus überhaupt eine Zeitung ben verwenden. Mehrere Ministerien „grundsätzlichen Erwä- grundsätzliche Bedenken? wie Verteidigung und Finanzen jedoch gungen“ nicht schalten. Brauner: Alle haben mei- gaben dafür 1994 keine Mark aus. In Bei der Welt hat mich das nen Aufruf „WiderdasVer- Bilder investierte mit annähernd 12 000 nicht sehr verwundert; die gessen“ gebracht. Und die Mark nur Norbert Blüms Arbeitsmini- Absage der Morgenpost meisten sind mir dabei fi- sterium. Die Auswahlkommission des war ein Schock. nanziell sogar entgegenge- CDU-Ministers allerdings griff dane- SPIEGEL: Welche Motive kommen. Der Tagesspiegel ben. Weil sie „schön bunt und optimi- vermuten Sie dort? hat gar kein Honorar ver- stisch“ wirken (ein Ministerialer), wur- Brauner: Ich kann es mir langt, die Süddeutsche nur den auch zwei Lithographien der Fran- nicht erklären. Ich hatte ja einen symbolischen Preis. zösin Niki de Saint Phalle beschafft. Die

mit der Morgenpost schon ACTION PRESS SPIEGEL: Warum war es fanden beim Blüm-Personal zwar gro- den Preis vereinbart und Brauner Ihnen so wichtig, Ihren ßen Anklang, schließlich standen De meinen Text zur Korrektur Text zu veröffentlichen? Saint Phalles voluminöse Nana-Figuren zurück bekommen. Plötzlich haben sie Brauner: Ich habe fast meine ganze lange auf dem Dach der Bonner Kunst- mehr Geld verlangt, und als ich das ak- Familie in Auschwitz verloren. Wir halle. Doch die zu Ruhm und Reichtum zeptierte, hieß es mit einemmal: Wir dürfen es nicht zulassen, daß Rechte gekommene Künstlerin fälltgewiß nicht nehmen Ihre Anzeige nicht. Und das aller Couleur jetzt versuchen, die gei- unter die Kriterien des Kabinettsbe- passiert ausgerechnet beim Springer stige Führung an sich reißen. Die wol- schlusses von 1976. Danach sollten die Verlag, dessen Gründer Toleranz, Hu- len ein Licht anstecken, um das sich Bilderetats zur „Verbesserung der be- manität und Verbrüderung als oberste dann alle Nachtfalter dieser Republik ruflichen und sozialen Lage der Künst- Maximen eingestuft hat. Unter Axel versammeln können. ler“ beitragen.

20 DER SPIEGEL 20/1995 Werbeseite

Werbeseite .

DEUTSCHLAND

Umwelt WEICHZEICHNER OZON Neue Dramatik in der Diskussion um den Sommersmog: Wissenschaftler erklären Ozon jetzt für krebsverdächtig. Bundesumweltministerin Angela Merkel aber ist weiter gegen Tempolimits, 11 von 16 Bundesländern wollen notfalls im Alleingang Geschwindigkeitsbegrenzungen durchsetzen.

„Nach dem Grundsatz der Verhältnis- mäßigkeit“, meint etwa der baden-würt- tembergische Umweltminister Harald Schäfer (SPD), müsse das Wissenschaft- ler-Votum „die Gewichte politischen Handelns verschieben: weg vom Auto, hin zum Menschen“. Derzeit herrscht, mangels Bundesre- gelung, ein buntes Durcheinander bei der Ozonbekämpfung. Während SPD- regierte Länder wie Niedersachsen und Bremen Tempolimits von bestimmten Ozonwerten an eingeführt haben und das rot-grüne Hessen von Ozonrasern gar Bußgelder kassiert, gilt in Sachsen und Bayern uneingeschränkt freie Fahrt. Derweil werden im Bonner Um- weltressort seit vier Jahren Entwürfe für den Erlaß einer sogenannten Sommer- smog-Verordnung geschrieben – bislang scheiterten die Pläne stets am Kollegen Verkehrsminister. Strafzettel für Schnellfahrer, so schimpfte noch vorigen Dienstag der CDU-Abgeordnete Klaus Lippold, sei- en kein wirksames Mittel gegen den Ozondunst, sondern „schlichte Wegela- gerei“. Umweltministerin Merkel ver-

H. HAGEMEYER / TRANSPARENT drehte Donnerstag abend beim Kamin- Ozonwarnung in Köln 1994: „Weg vom Auto, hin zum Menschen“ gespräch mit den Länderkollegen in Dessau gequält die Augen: Sie habe sich as unscheinbare Büchlein wird im als „begründet krebsverdächtig“ auffüh- noch nicht mit den Chefs der Bonner August erscheinen, mit knapp 200 ren, der statt in Fabriken und Büros vor Wirtschafts- und Verkehrsressorts abge- DSeiten und dem unmöglichen Titel allem in der sogenannten frischen Luft stimmt. „MAK- und BAT-Werte-Liste 1995“ – verbreitet ist: das Ätzgas Ozon. Einen in der Sitzung kursierenden es verspricht ein Knüller zu werden. Ein heimtückisches Sommergift. Es Entwurf ihres Hauses erklärte Merkel Zwar sind die Autoren des Druck- kitzelt nicht nur Kindernasen und flugs zum „nonpaper“. Immerhin konn- werks weder Politiker noch Ministerial- schlägt alten Leuten auf den Kreislauf, te sich die Öko-Hardlinerin aber Fahr- beamte, sondern Mediziner, Chemiker es reizt vor allem die Politiker: Noch verbote vorstellen bei einer Ozonbela- und Toxikologen. Doch ihre Empfeh- letzte Woche stritt Bundesumweltmini- stung von 300 Mikrogramm (µg), „spä- lungen zur „Maximalen Arbeitsplatz- sterin Angela Merkel (CDU) mit ihren ter“ vielleicht sogar ab 240 µg. Merkel: Konzentration“ (MAK) von gesund- Ressortkollegen aus den Ländern über „Die Menschen müssen sich ja erst dar- heitsschädlichen Stoffen haben, Jahr Maßnahmen gegen den Ozondunst. an gewöhnen.“ für Jahr aktualisiert, in Deutschland Mitten in die Diskussion platzt nun Die MAK-Experten sind weiter. Für nachgerade Gesetzescharakter. der noch geheimgehaltene Beschluß der die Innenräume von Betrieben und Bü- Was die Mitglieder der Senatskom- Senatskommission. Bislang galt Ozon ros schlagen sie einen weit niedrigeren mission der Deutschen Forschungsge- schon als lungen- und schleimhautschä- Grenzwert vor: In der Achtstunden- meinschaft, wie sich das Gremium digend. Wenn die MAK-Wissenschaft- schicht solle die Ozonkonzentration nennt, in ihrer neuen MAK-Liste vor- ler das Reizgas nun offiziell als einen künftig den Wert von 100 Mikrogramm schlagen, wird die Gesundheitspolitik Stoff einstufen, der beim Menschen pro Kubikmeter Atemluft nicht über- im Lande vermutlich radikal verän- möglicherweise Krebs hervorruft, könn- schreiten. dern. ten weit drastischere Maßnahmen gegen Die Fabrik als Luftkurort: Der Rest Erstmals werden die Autoren, unter den Ozonsmog notwendig werden als der Bevölkerung bleibt, wenn nichts ge- Ziffer III B, in ihrer Liste einen Stoff derzeit erörtert. schieht, weit höheren Dosen des krebs-

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verdächtigen Reizgases ausgesetzt – 24 Stunden lang. Gefährliche Verbindung Bereits Anfang Mai hatten die Ozon- pegel zwischen Frankfurt und Hanno- Entstehung von bodennahem Ozon ver, Fürth und Hameln Werte von bis O2 zu 280 Mikrogramm angezeigt. Im ver- Stickstoff- molekularer monoxid Sauerstoff gangenen Sommer ergaben Messungen NO Spitzenbelastungen von 400 µg. Stickstoffdioxid Ozon Jahr für Jahr steigt die Ozonbela- stung, überraschenderweise sind Ge- NO2 O biete, die fernab der Ballungszentren atomarer O3 liegen, mit am schlimmsten betroffen – Sauerstoff wie ein Weichzeichner legt sich der ge- fährliche Ozondunst über Wiesen, 1 Stickoxide (N0, N02) 2 Unter starker Sonnen- 3 Sauerstoffatome (0) Wald und Felder. und Kohlenwasserstoffe, strahlung spalten sich verbinden sich mit den In Deutschland gilt das Schadgas als die vor allem aus Autoab- aus dem NO2 Sauerstoff- Sauerstoffmolekülen (02) entscheidende Ursache des Waldster- gasen stammen, gelangen atome (0) ab. aus der Luft zu Ozon (03). bens, in Holland und den USA führen in die Luft. Experten Ernteausfälle in Milliarden- höhe auf das Sommergift zurück. Bei empfindlichen Menschen kann Ozon selbst in geringerer Konzentration (von Stunden pro Jahr STADT 0,300 140 Mikrogramm) zu Augenbrennen mit mehr als 120 Ozonkonzentration in 600 Mikrogramm Ozon mg/m3 und Atembeschwerden führen und die Frankfurt-Bockenheim pro Kubikmeter Lungenfunktion beeinträchtigen. Wis- 0,200 Luft 1995, Mittelwerte senschaftler machen den Stoff für die rapide Zunahme von Allergien und 500 Mittelwerte aus 57 deutschen 0,100 Atemwegserkrankungen verantwort- Meßstationen lich. Ein vermeintliches Paradoxon zweier 400 0,000 Umweltprobleme bringt immer wieder 28. 29. 30. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Verwirrung in die Diskussion: Oben in April Mai der Stratosphäre wird die natürliche Ozonschicht durch heraufsteigende 300 Schadstoffe immer dünner (Stichwort: LAND 0,300 „Ozonloch“). Hingegen bildet sich am mg/m3 Ozonkonzentration in Boden seit einiger Zeit zuviel Reizgas. 200 Fürth/Odenwald 0,200 1995, Mittelwerte

100 0,100

0,000 19771982 1987 1992 28. 29. 30. 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. April Mai

ein, die sich in Ballungsgebieten des den Bonnern immer wieder gelang, Nachts wieder umkehren kann: Wer- Länderwünsche zur Begrenzung des den weiter Schadstoffe in die Abendluft Ozons auszubremsen. geblasen, zerfällt das reaktionsfreudige Das Land Baden-Württemberg hat O3 wieder, es entstehen Stickstoffdi- 1994 einen Pilotversuch in dem vom oxid (NO2) und Sauerstoff (O2). Doch Sommersmog stets besonders stark in Regionen ohne Industrie und Auto- heimgesuchten Heilbronner Raum verkehr schweben nachts nicht genü- durchgeführt. Hessen wertete die Er-

M. DARCHINGER gend Schmutzstoffe durch die Luft, der fahrungen mit einer bereits 1993 auf ei- Bundesumweltministerin Merkel Pegel bleibt hoch – und Tag für Tag gene Faust erlassenen Smogverordnung Aufgaben nicht gemacht kommen neue Ozonwolken hinzu (sie- wissenschaftlich aus. Die Ergebnisse he Grafik). scheinen den Tempolimit-Gegnern auf Einer chemischen Fabrik gleich wan- Mit diesem Reaktionsprozeß hängt den ersten Blick recht zu geben. delt die sommerliche Sonneneinstrah- es zusammen, daß die Ozonkonzentra- Zwar gingen, etwa in Hessen, die lung die von Schadstoffen aus Schloten tionen auch bei Fahrverboten und Tem- Schadstoffe um bis zu 20 Prozent und Autoauspuffen durchsetzte Luft in polimits nicht automatisch zurückge- (Stickoxide) und rund 8 Prozent (Koh- den dreiatomigen Sauerstoff (O3) um. hen, selbst wenn sich die Schadstoffzu- lenwasserstoffe) zurück, ein Abbau des Hauptverursacher, das ist unter Wis- fuhr radikal vermindert. Ozons aber war kaum meßbar: „Zwi- senschaftlern und Politikern unstreitig, Merkel-Vorgänger Töpfer hatte da- schen null und zehn Prozent“. sind Abgase aus dem Autoverkehr, die her stets argumentiert, regionale Fahr- Seither lassen Autolobbyisten keine Stickoxide und Kohlenwasserstoffe. beschränkungen seien nutzlos. Wenn Gelegenheit aus, den Ozondunst für Die Stoffe spalten sich unter UV- überhaupt, müsse bundesweit etwas ge- gottgegeben zu erklären. Bei den Bür- Einwirkung. Eine Kettenreaktion setzt schehen – ein Argument, mit dem es gern kam die Botschaft an: Als vorletz-

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te Woche in Niedersachsen, Hessen und Bremen erstmals in diesem Jahr Staatsfeiern Ozonalarm gemeldet wurde, nahm kaum einer den Fuß vom Gas. Doch die Experten ziehen aus dem Pilotversuch einen anderen Schluß. Die „Unheimlich gelöst“ Maßnahmen seien nicht radikal genug gewesen, meint etwa Dieter Teufel vom SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann über den reisenden Gedenkzyklus Heidelberger Umwelt- und Prognose- der Staatsmänner zum Kriegsjubiläum Institut: Fahrbeschränkungen müßten „früher und flächendeckender“ kom- men. ls am Montag vergangener Woche seines Heimaturlaubs Theaterkarten er- Die Meinung vertritt, in einem unter die letzten Würdenträger die Stu- standen. Trotz wiederholter Bombenan- Verschluß gehaltenen Bericht, auch der Afen mit dem roten Teppich hinab- griffe war er mit seiner Mutter – auf Länderausschuß für Immissionsschutz geschritten und die gepanzerten Limou- mühsamem, stundenlangem Weg durch (LAI). Die Arbeitsgruppe aus Beamten sinen davongeglitten sind, blickt – ab- das zerschlagene Berlin – am Nachmit- und Wissenschaftlern empfiehlt, „mög- seits vom Getriebe – ein älterer Herr tag am Gendarmenmarkt angekommen. lichst frühzeitig“ Maßnahmen zu ver- noch lange sinnend auf Schinkels Schau- Flammen schlugen aus Schinkels Säu- ordnen. Tempolimits seien „auf jeden spielhaus am Berliner Gendarmen- lenpracht. Fall mit einem zusätzlichen weitflächi- markt. Ernst Benda, 70, ehemaliger Ob es denn vielleicht am Abend doch gen Fahrverbot zu kombinieren“. Vorsitzender des Bundesverfassungsge- noch eine Vorstellung geben werde, Schon ab 180 Mikrogramm sollen richts, überläßt sich seinen Erinnerun- fragte der Soldat Benda einen Berliner nach dem LAI-Vorschlag Autos und gen: „Ich habe dieses Haus brennen se- Feuerwehrmann. Der befand: „Nie wie- Lkw, die älter als acht Jahre sind, in der hen.“ der wird da Theater gespielt.“ Garage bleiben. Für alle anderen Pkw Im Juli 1944, kurz vor dem gescheiter- Gut ein halbes Jahrhundert später hat müsse Tempo 80 auf Autobahnen und ten Attentat auf Adolf Hitler, hatte der Ernst Benda nun europäisches Staats- 60 auf Bundesstraßen gelten (Lkw: al- junge Soldat Benda für den letzten Tag theater erlebt im Haus am Gendarmen- lerorten 60 km/h). markt. Zum dritten – Die Beschränkungen könnte die und vorletzten – Akt Bonner Ministerin Merkel durch einen beim reisenden Ge- neuen Passus im Bundes-Immissions- denkzyklus gastieren schutzgesetz erwirken. Noch zeigt sie am 50. Jahrestag der wenig Neigung. Den Länderministern Niederlage Nazi- versprach sie, bis Ende Mai ihre Haus- Deutschlands Sieger aufgaben zu machen. Wenn dann kein und Besiegte von einst annehmbarer Entwurf vorliegt, drohen in Berlin. 11 von 16 Bundesländern, eine eigene Von Station zu gemeinsame Verabredung zu treffen. Station ist die Stim- Doch die mittlerweile erreichte som- mung gestiegen. Fest- merliche Grundbelastung im Lande bankett, Gottesdienst (100 µg Ozon) kann auch durch radika- und Volksfest in Lon- le Tempolimits kurzfristig nicht gesenkt don mit 52 Staats- und werden. Selbst wenn schlagartig alle Regierungschefs. 66 Autos mit Katalysator ausgerüstet wür- Staatsführer kommen den – derzeit sind es bundesweit etwa zur Parade nach Paris. die Hälfte –, wäre der Effekt rasch wie- Den Festakt in Berlin der verschwunden; Anzahl und Fahrlei- haben die Verlierer stung der Fahrzeuge steigen unaufhör- den Siegermächten lich – der von der MAK-Werte-Kom- vorbehalten; zu den mission empfohlene Grenzwert (100 Kranzniederlegungen Mikrogramm) mutet da an heißen Som- in Moskau sind dann mertagen nachgerade weltfremd an. wieder mehr als 50 Die Experten berufen sich auf neue führende Staatsmän- Untersuchungen aus den USA. Dort ner versammelt. Die hatten, unter Aufsicht des angesehenen Atmosphäre beim US-Departments of Health and Human Schlußempfang im Services, Wissenschaftler in etlichen Kreml beschreibt ein Langzeitversuchen Gruppen von je- Begleiter des deut- weils 50 Ratten und Mäusen teils über schen Bundeskanzlers zwei Jahre, teils lebenslang unter- als „unheimlich ge- schiedlichen Ozondosen ausgesetzt. löst“. Dabei ergab sich bei Hunderten von Sollte das Wort weiblichen Mäusen ein eindeutiger „unheimlich“ aus- Krebsverdacht. Alarmierend für die nahmsweise einmal ei- Deutschen war vor allem, daß auch nen beschreibenden deutlich über zehn Prozent jener Mäuse Wert haben? an Bronchial- oder Lungenkrebs star-

ben, die über einen begrenzten Zeit- AP * Am vorigen Dienstag auf raum mit nur 120 Mikrogramm Ozon je Staatsgäste Kohl, Kinkel in Moskau* dem Soldatenfriedhof Lubli- Kubikmeter Atemluft leben mußten. Y „Der war nur ein Jahr älter als ich“ no.

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„Im Grunde“, hat Bundespräsident Roman Herzog schon in London ge- ahnt, „ist das alles zuviel.“ Nicht erst dieser gigantische europäische Wander- Gipfel zum Abschluß, sondern schon all die Zehntausenden Gedenkveranstal- tungen, Filmvorführungen, Diskussio- nen, Kommentare und Festakte, die seit Monaten Deutschland überschwem- men. „Wir werden sehen, was nach der Fülle bleibt.“ Zwei Tage später sagt Herzog in Ber- lin über das Kriegsende von 1945: „Man muß diesen Tag selbst erlebt haben, um halbwegs zu begreifen, was damals ge- schehen ist.“ Zwei Drittel aller Deut- schen aber – und die überwältigende Mehrheit der Briten, Franzosen und Russen, die sich bei den Gedenkfeier- lichkeiten um die Staatszelebritäten drängen – waren an diesen Tagen noch Kinder oder nicht geboren. Wie kann man ihnen die Vergangen-

heit nahebringen, ohne sie mit „notwen- AP digen Lehren aus der Geschichte“ zu Staatsgast Mitterrand in Berlin*: „Ich möchte Zeugnis ablegen“ langweilen? „Das ist die ganz entschei- dende Aufgabe unserer Generation“, Mitterrand hält in Berlin keine Rede; dem Einschlag einer V-2-Rakete ent- sagt Herzog: „Wie zeigt man jungen er erzählt. „Ich bin nicht gekommen, ronnen ist, definiert in Berlin die Zivili- Leuten, woran man erkennt, daß es los- um einen Sieg zu feiern“, sagt der sation Europas als „Partnerschaft zwi- geht?“ 78jährige Staatsmann, der noch Splitter schen den Toten, den Lebenden und Daß Heldenverehrung mit Staatsde- deutscher Granaten im Leib trägt. „Ich den noch nicht Geborenen“. koration dazu taugen könnte, haben möchte Zeugnis ablegen.“ Vom Manu- Der große Krieg, das wird in den ver- schon andere bezweifelt. Hatten nicht skript gelöst, intensiv, einfach und oft gangenen Wochen deutlicher denn je, gerade die Nazis ihre Greuel ästheti- fast poetisch, bringt Mitterrand seine ist das große europäische Epos der Neu- siert? Auf dem sonnengleißenden Ap- Erfahrungen als Soldat und Kriegsge- zeit. „Auf ganz Europa lastet das Kains- pellplatz des KZ Sachsenhausen schok- fangener auf die Formel von den „Erb- zeichen“, sagt Andrzej Szczypiorski, der kiert der polnische Schriftsteller feinden“, die 1000 Jahre brauchen, um Ex-Häftling. „Niemand von uns ist ganz Andrzej Szczypiorski, Lagernummer zu erkennen, daß sie Brüder sind. Euro- ohne Schuld angesichts dessen, was da- 96936, Ende April die zum Gedenken pa ist ihr gemeinsames Zuhause: „Mor- mals, in den Jahren des Krieges gegen an die Befreiung versammelten Men- gen muß das begonnene Werk vollendet Hitler, mit den Menschen geschehen schen mit dem Hinweis, daß dieses KZ werden.“ war.“ vor den Toren Berlins „ein elegantes Ergriffen und erleichtert erheben sich Die Königin von England erzählt Lager“ gewesen sei. „Hier wuchsen an mit Gastgeber Roman Herzog die Gäste Kriegserlebnisse, der israelische Präsi- manchen Fußwegen Blümchen in schö- des angenehm schlichten deutschen dent Ezer Weizmann, Großherzog Jean nen Beeten. Hier wurden mitten in den von Luxemburg. Im Hydepark von Lon- Blümchen die Menschen gefoltert.“ don werden Veteranen von den Liedern Und in Buchenwald warnt aus glei- Mitterrand hat ihrer Kriegsheldin Vera Lynn zu Tränen chem Anlaß sein spanischer Schriftstel- seine Lebensbrüche in bewegt. In Moskau türmen sich Tausen- ler-Kollege und Leidensgefährte Jorge de Narzissen und Nelken auf dem Sok- Semprun, Häftlingsnummer 44904, da- Stil verwandelt kel des neuen Reiterstandbildes, das vor, die Geschichte allzu heroisch zu den Berlin-Eroberer, Marschall Schu- vereinfachen: „Helden und Opfer sind Staatsaktes von den Plätzen, um den kow, feiert. Junge Leute tragen ihren Gestalten aus einem Guß, steif, monoli- französischen Präsidenten zu feiern. Großvätern patriotische Gedichte vor. thisch, ohne Widersprüche“ – wenig Wie vorher nur Willy Brandt hat der Meinungsbefrager wollen wissen, daß hilfreich, wie Semprun findet, um die Mann, dessen vielschichtige, wider- die Kriegszeit als Thema in der dritten „Ungewißheiten unseres historischen spruchsvolle Biographie die quälende Generation verblaßt sei. Aber vieles europäischen Augenblicks zu erhellen“. europäische Geschichte des 20. Jahr- deutet darauf hin, besonders in Steif, monolithisch, eine Gestalt wie hunderts spiegelt, seine Lebensbrüche Deutschland, daß im familiären Ge- aus einem Guß – wer meinte nicht bei in Stil verwandelt. Das fasziniert. spräch, im Austausch unter Freunden dieser Beschreibung den französischen Unverkennbar ist auch, daß Mitter- und in privaten Begegnungen mehr Ver- Präsidenten vor sich zu sehen, dessen rand einen Grundton aufgreifen kann, gangenheit „bewältigt“ worden ist, als staatspompöse Starre sich seit der Kun- der alle Veranstaltungen zum 8. Mai im politischen Alltag sichtbar wird. Die de von seiner unheilbaren Erkrankung durchdringt: die intensive persönliche Jahrestage verstärken den Trend. der Denkmalsqualität zu nähern schien? Bewegung der Beteiligten. Die Feindseligkeit, ja, der Haß des Aber dann ist es gerade dieser todes- Geschichten werden zu Geschichte. Generationskonfliktes der Nachkriegs- bleiche Franc¸ois Mitterrand, der mit Der britische Premierminister John Ma- zeit, der sich 1968 entlud, ist heute ver- bewegenden Reden und persönlichen jor, der erzählt, wie seine Familie, als er schwunden. Doch ist damals ein Prozeß Bekenntnissen dafür sorgt, daß die erst wenige Monate alt war, nur knapp des kollektiven politischen Lernens in Serie staatlicher Gedenkveranstaltun- Gang gekommen, dessen Ergebnis Bun- gen nicht zur hohlen Geste erkaltet. * Am 8. Mai, mit Ehefrau Danielle. despräsident Roman Herzog in Berlin

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als Tatsache verkünden kann, ohne daß sich – von links oder von rechts – Pro- testgeschrei erhebt. „Dieses Deutschland ist anders ge- „Aktion Zarenwetter“ worden, als es zu Zeiten des Kaiserrei- ches und der Weimarer Republik und Russische Wettermacher ließen Jelzin nicht im Regen stehen erst recht unter dem Nationalsozialis- mus gewesen war“, sagt er. „Es hat in dieser Frage keine deutsche Revolution unkelgraue Gewitterwolken Mit ihrer Schönwetteraktion zum gegeben, aber ein fundamentales Um- hingen am Montag letzter Wo- großen Gedenktag hatten die „akti- denken. Totalitäre, ja auch nur autoritä- Dche über Moskau. Auch für ven Einwirker“ – eine Truppe mit re Ideen haben heute bei der erdrücken- den Dienstag hielten die russischen viel Erfahrung, die nie kleckert, den Mehrheit der Deutschen keine Meteorologen eine mißliche Progno- sondern klotzt – wieder einmal Chance.“ se bereit: Ein heranziehendes Tief- Glück. Helmut Kohl hört diese Sätze mit druckgebiet drohte die hochgemuten Gleichartige Versuche in anderen deutlich zur Schau gestelltem Wohlge- Paraden zum 50. Jahrestag der deut- Ländern, durch Wolkenimpfung bei- fallen. Gern tut er so, als sei der intensi- schen Kapitulation unter Wasser zu spielsweise Hagelstürme über land- ve Prozeß der Reflexion, des Streites, setzen. wirtschaftlichen Nutzflächen zu ver- der Herausbildung einer kritischen Doch kein Tropfen Regen fiel auf hindern oder Wolken gezielt über Mentalität auch eine Frucht seiner Poli- die 9000 russischen Soldaten, 250 Waldbränden und in Dürrezonen tik. Jedes Lob aus dem Ausland, das der Panzer, 50 Kampfflugzeuge sowie abregnen zu lassen, waren in den Auseinandersetzung der Deutschen mit die 10 000 Schaulustigen, die sich am letzten Jahrzehnten immer wieder der eigenen Barbarei Respekt zollt, Dienstag morgen im neuen Moskau- fehlgeschlagen. zieht er auf sich. Als sei er nicht mit sei- er Siegespark Poklonnaja Gora ein- fanden. Blitzblau wölbte sich der Moskauer Himmel wenig später auch über dem Roten Platz, wo Rußlands Präsident Boris Jelzin mit seinen illustren Gästen aus dem We- sten den Aufmarsch von 5000 Vete- ranen beobachtete. Der überraschende Wetterum- schwung war weder ein Beleg für die Schwierigkeit verläßlicher Wetter- vorhersagen, noch war er den russi- schen Meteorologen als Falschpro- gnose anzulasten. Im Gegenteil: Ih- re Warnung, Platzregen könne die Jubelfeiern verwässern und die zur Flugschau abkommandierten Jets und Hubschrauber womöglich an den Boden fesseln, hatte im Aerolo- gischen Observatorium in der Mos- kauer Vorstadt Dolgoprudnij höch- ste Alarmstufe ausgelöst. Der Leiter der dortigen Abteilung „Aktive Einwirkung“, Gennadij

Bernikow, befahl den Start von sie- P. KASSIN ben Spezialflugzeugen der Typen Truppenparade in Moskau*: Die „Einwirker“ hatten Glück AN-30, AN-26 und AN-12. Das Tur- boprop-Geschwader nahm am Mon- Teilerfolge gab es nur in Israel, wo ner verunglückten Bitburg-Geste, sei- tag abend Kurs auf die heranziehen- die Niederschlagsmenge gebietswei- nem Pochen auf die „Gnade der späten den Schlechtwetterwolken und ver- se um bis zu 15 Prozent gesteigert Geburt“ und seinen Schlußstrich-Forde- sprühte in ihnen Trockeneis und die werden konnte. rungen allenfalls unfreiwillig hilfreich Chemikalie Silberjodid. Gegen einen weltweiten Einsatz gewesen – anstößig, nicht anstoßend. Die „Aktion Zarenwetter“ war der Wolkenimpfung sprechen vor al- Aber hat nicht gerade Helmut Kohl von Erfolg gekrönt. In den mit che- lem wirtschaftliche Gründe: Sie schmerzliche Erinnerungen an „Gräber- mischen Substanzen geimpften Wol- geht, bei ungewissem Ausgang, felder“ und „Fliegerangriffe“ im Sinn, ken wirkten Kohlendioxid- und Sil- mächtig ins Geld. Die Parade-Akti- wenn er auf Europa drängt? Hat nicht berjodidkristalle als Kondensations- on der Zarenwettermacher kostete auch der Bundeskanzler bereitwillig sei- kerne. An ihnen lagerten sich Was- rund eine Viertelmillion Mark. ne privaten Ängste aus der Nazi-Zeit sertröpfchen an, die, zu Schneeflok- Dafür schien allerdings im Um- ausgebreitet? Hat er nicht noch auf dem ken und Hagelkörnern gefroren, kreis von 100 Kilometern um die rus- Flug nach Moskau den Tod seines Bru- durch die Wolken sanken und als sische Metropole am Dienstag die ders betrauert, erzählt, wie er dessen Regen niedergingen – lange bevor Sonne. Hinterlassenschaften in Empfang ge- die gräßliche Wetterfront Moskau nommen hat? erreichte. * Am 9. Mai. Auf dem Soldatenfriedhof Lublino, am Stadtrand von Moskau, verharrt der Kanzler mit Außenminister Klaus Kin-

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kel am Grab des deutschen Soldaten werden, desto enthemmter wird sein Siegfried Pfaiffer, geboren 1929, gestor- Auftreten. ben in russischer Gefangenschaft am 14. Irgendwie gerät das Gedenken dabei November 1947. „Sehen Sie mal, der in den Hintergrund. Es ist nicht zuletzt war nur ein Jahr älter als ich“, sagt Hel- dem Beharren des deutschen Bundes- mut Kohl. Er schüttelt sich. kanzlers auf Normalität zu danken, daß Es gibt keinen Grund, an der Wahr- die Gedenkveranstaltungen der Staats- haftigkeit dieser Empfindungen zu zwei- männer, an jedem Tag aufdringlicher, feln. Doch nie gelingt es Kohl, in einem das symbolische Gepräge von Weltwirt- Prozeß des Nachdenkens die Gefühle schaftsgipfeln annehmen. Abseits vom und Empfindungen der eigenen Person Volk auf den Straßen dreht sich am En- in einen Zusammenhang zu stellen mit de im Kreml die Machtwelt um sich den Ereignissen und Tatsachen, die die- selbst, wie immer: Schulterklopfen, se Gefühle auslösen. Das wäre politisch. Small-talk, in die Kameras strahlen, op- Aber Helmut Kohl denkt Politik timistisch in die Zukunft reden. nicht, er fühlt sie. Und um von der Keine Frage, Helmut Kohl hat wie- „persönlichen Gefühlslage“ in die „hi- der einmal einen Schlußstrich gezogen. storische Lage“ überzuwechseln, Nach den Lobpreisungen der Sieger in braucht der Kanzler kein Nachdenken, Berlin fläzt er sich breit in der ersten keinen Übergang. Was „Normalität“ ist, Reihe. Durch Moskau federt er mit weiß doch schließlich jeder vernünftige drei Zentnern Selbstgefühl. Niemand Mensch, meint er. würde auf die Idee kommen, dieser Befreiung? Der Kanzler haßt es, Mann habe in Jalta nicht mit am Tisch Empfindungen „pauschal zusammenzu- gesessen. fassen“. Solche Lernaufgaben mag Ex- Seit der vergangenen Woche fühlt Präsident Richard von Weizsäcker, den sich Helmut Kohl, als Kanzler der er mit unverkennbarem Vergnügen ver- Deutschen, endgültig wieder aufgenom- gißt, sich und anderen zumuten. Er men in die „europäische Völkerfamilie“ selbst bleibt bei den ursprünglichen Ge- – und zwar als Familienoberhaupt. Je- fühlen, und alles in ihm sträubt sich, wie der weiß es, er sagt es zur Feier des Ta- er sagt, gegen jeden nachträglichen ges – das vereinte Deutschland ist Nu- Deutungsprozeß: „Ich finde das idio- mero eins in Europa: „Wir haben um tisch, um es brutal auszudrücken.“ die 80 Millionen Menschen; wir sind Deutscher bleibt er, wie alle Nachge- das Land mit der stärksten Wirtschafts- borenen, und „im deutschen Namen“ ist kraft; wir sind ganz besonders gut orga- die „Nazi-Barbarei“ geschehen. Soll er nisiert“ – kurz: „Die Führungsrolle ist aber deshalb von seinen jungen Lands- da.“ leuten verlangen, „daß sie unentwegt Und das Signal für die Jungen? Die von Denkmal zu Denkmal gehen“? politische Lehre aus der Geschichte? Was der Kanzler für richtig hält, lebt Kohl in Moskau: „Das eigentlich be- er vor. Je deutlicher er im Verlauf der stimmende Gefühl in diesen Tagen, vier Gedenktage das Signal empfängt, übrigens jetzt auch hier, heute, war, persönlich und politisch geschätzt zu daß ungeachtet dessen, was im deut- schen Namen geschehen ist, man sagt – * Am 6. Mai in London. Gott sei Dank, ihr seid wieder da.“ Y REUTER Gastgeber Major, Gast Kohl*: „Die Führungsrolle ist da“

DER SPIEGEL 20/1995 27 KOMMENTAR Konsequenzen, einseitig RUDOLF AUGSTEIN

er großmächtige und weltweit Beide, Mitterrand und Delors, streb- Aber es waren Franzosen, die 1992 konkurrenzlose Helmut Kohl hat ten eine „Vergemeinschaftung“ der D- von „Reparationen“ und von „Ver- Dwieder eines seiner berühmten Mark an, doch nicht in der Absicht, sie sailles“ geschrieben haben, nicht Deut- Eigentore geschossen. Was Frankreich zu stärken. Sie erreichten ihr Ziel zum sche. Und es ist ein Chirac nahestehen- seit den beiden großen Kardinälen, Teil im holländischen Maastricht 1992. der Soziologieprofessor, der 45jährige seit Ludwig XIV., seit den beiden Na- 1996 soll in Maastricht II die Sache fest- Emanuel Todd, der freimütig bekennt, poleons bis zu Clemenceau, Charles de geklopft werden. vor fünf Jahren noch sei er ein völlig Gaulle und Mitterrand hat verhindern Die Stadt ja, aber die Bühne ist nicht überzeugter Pro-Europäer gewesen. wollen, er hat es dem neuen, dem neo- mehr dieselbe. Da feststeht, daß weder Jetzt, angesichts der Arbeitslosigkeit – gaullistischen Präsidenten Jacques Frankreich noch Großbritannien echte schließlich habe Le Pen im Arbeiter- Chirac serviert: Das vereinte Deutsch- Abstriche ihrer SouveränitätimAußen- milieu bis zu 20 Prozent bekommen – land sei die „Nummer eins in Europa“. und Sicherheitsbereich, in der Innen- und angesichts der Probleme der Assi- Stimmt das etwa nicht? Doch, wirt- und Justizpolitik, in den Bereichen der milierung, müsse man sich eingeste- schaftlich wird es auf Dauer stimmen. Immigration und Verbrechensbekämp- hen, daß der europäische Horizont Aber so ganz stimmt überholt sei. Das Ge- es auch wieder nicht, fühl, französisch zu und es in Sat 1 mit ob- sein, sei das letzte, jektiven Tatsachen was der Arbeiterschaft festzuschreiben war an Werten noch ge- schlicht Kohlsche Tor- blieben sei. Todd wird heit. Er, der uns ge- sehr deutlich: genüber Frankreich Die Idee, ein Euro- fast durchweg unter pa zu konstruieren, Wert verkauft hat, der damit Deutschland oft einknickte, wenn nicht existiert, finde er die Trikolore nur ich pervers. von Ferne sah, sollte doch verinnerlicht ha- „Le Boche payera ben, daß der Starke tout“, war das Motto nicht immer am mäch- im Paris von 1920/21. tigsten allein ist. Aber Aber auch in Deutsch- dann bringt er wieder land gibt es Merkwür- seine gefühlige Un- digkeiten. Der Präsi- schärfenlehre vom dent des Deutschen „europäischen Haus“. Sparkassen- und Giro- Chirac, Kohabitati- verbands, Dr. rer. pol. onspremier zwischen Horst Köhler, war als 1986 und 1988, muß Waigels Staatssekretär sich nun nicht mehr der eigentlich Feder- seines Wortes von frü- führende auf deut- her erinnern: „Eine scher Seite in Maas- Idee in den Kopf von Frankfurter Allgemeine tricht. Auch heute hält Helmut Kohl hinein- er, wie sollte er auch zubekommen ist genauso schwer, wie fung zulassen wollen – und nur dieser anders, die Währungsunion für „wichtig einen Pudding mit dem Hammer an integrierende Prozeß ein Opfer und richtig“. Aber, siehe da, die ge- die Wand zu nageln.“ lohnt –, ist der in jedem Fall schwäche- meinsame Währung könne frühestens Kohl hat offenbar doch Ideen, und re Ecu ein reichlich dürftiger Ersatz für am 1. Januar 2002 eingeführt werden, diese ist eine Steilvorlage für Jacques die dann nicht mehr kontrollierbare das sei ein „realistischer Zeitbedarf“, 10 Chirac. Privat ist der ein umgängli- Stabilität der jetzigen, relativ gesunden bis 20 Milliarden D-Mark Umrüstko- cher Kerl. Aber als Präsident wird er deutschen Währung. sten bei der Privatwirtschaft gar nicht Frankreichs wirtschaftliche Interessen Frankreich unter Chirac wird ohne erst berücksichtigt. noch kompromißloser vertreten als Zweifel nationaler auftreten und sich Unverzichtbar aber sei, laut Köhler, sogar Mitterrand und der frühere noch mehr auf die Macht der Regie- die strikte Einhaltung der Konvergenz- EU-Präsident Jacques Delors. Frank- rungen stützen als bisher, und Kriterien des Vertrags von Maastricht. reich ist zuerst das Kraftwerk seiner Deutschland hätte allen Grund, dem Hier kann er Widerspruch von einer Interessen in europäischer Verpak- Rechnung zu tragen. Von einer „Ach- ehedem kompetenten Stelle erwarten, kung und dann erst der „Motor der se“ (Helmut Schmidt) sollten wir bes- vom Herausgeber der Zeit, Helmut Europäischen Union“, wie es sich ser nicht reden. Denn daß ohne Frank- Schmidt. Der spricht von Ökonomen- selbst und wie Chirac es gern reich und Deutschland gar nichts Eu- Logik und meint, es genüge, wenn nennt. ropäisches läuft, ist ein Gemeinplatz. die Konvergenz-Kriterien „einigerma-

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ßen“ eingehalten würden. Das eben nicht. Köhler wird sich demnächst also in der Riege der „Stoiber, Augstein, Tiet- meyer oder Waigel“ wiederfinden, „sie alle appellieren nur an Gefühle, die sie bei einer Bevölkerung vermuten, die ih- re D-Mark nicht hergeben wolle“*. Ja tatsächlich, es soll kleine Leute ge- ben, die sich schon genug geschröpft fühlen und Angst haben vor Währungs- kalamitäten. Schmidt spricht als Mit- glied einer privilegierten und geschütz- ten Klasse, der er aufgrund seiner Ver- dienste mit Recht angehört. Seinen An- griff auf den Bundesbankpräsidenten Hans Tietmeyer könnte man ihm, woll- te man ihm übel, alsunverschämt (oder, wie der Hanseat sagen würde, ausver- schämt) anrechnen. Kein „elder states- man“ in Frankreich würde sich so eine Attacke erlauben. Von mir kann man absehen, aber ist Theo Waigel mittlerweile nicht ein hal- M. RÜCKER / TRANSIT F. DARCHINGER ber Fachmann? Kohl, nun wirklich kei- Kontrahenten Waigel, Schäuble: Kurz und verletzend abgekanzelt ner, „hat nicht die Reputation, für strenge Kriterien zu kämpfen“, schreibt tion, voran von Fraktionschef Wolfgang Winfried Münster in der Süddeutschen Regierung Schäuble, aufgenötigt worden. Zeitung. Die Europäische Union werde Auch im Streit mit Ländern und von Waigel als „Kostenüberwälzungs- Kommunen um die Gewerbesteuer, so stelle“ (Kurt Biedenkopf) demaskiert. Waigel weiter, stecke er in der Klemme, Deutschland ist der genehme Kosten- Schwer weil er wider Willen vom Fraktionsvor- träger. Wieder Münster: „Die Partner sitzenden zu einem Reformansatz ge- in der Europäischen Union wollen eben drängt worden sei, mit dem er zwangs- alles, D-Mark und Geld.“ Aber Frank- gestört läufig im Bundesrat scheitern müsse. So reich betreibt doch eine Politik des har- wird es kommen: Die Sozialdemokraten ten Franc? Richtig, nur verträgt das Kleinkrieg in der Koalition: Wolf- haben bereits angekündigt, daß sie die Land sie (noch) nicht. Auch in Frank- gang Schäuble mosert über Theo gesamte Gewerbesteuerreform mit ihrer reich ist die EU ein Projekt der Eliten. Mehrheit im Bundesrat abschmettern Ohne das Schüren antideutscher Ge- Waigels Nichtstun. werden. fühle wäre Maastricht I schon im Vor- CSU-Landesgruppenchef Michael feld an Frankreich gescheitert. enn er Reden und Treiben Glos verstärkt den Eindruck, daß die So wird von Maastricht II wenig ge- manch eines CSU-Freundes CSU einen Mann an ihrer Spitze hat, nug erwartet. Die Stimmung der Klei- Wheutzutage verfolge, dann frage der sich in Bonn nicht durchzusetzen nen gab der holländische EU-Außen- er sich nicht selten, pflegt Theo Waigel versteht. Waigel sei, so der ambitionier- kommissar Hans van den Broek wieder, in vertrauter Runde zu scherzen: „Ja, te Glos, von der Koalition zu Gesetzent- als er mitteilte, sie alle fühlten sich aus Franz Josef selig, was sagst du denn da- würfen „bewegt worden“, die er nicht wichtigen Entscheidungsprozessen von zu?“ gewollt habe. Nun sei der CSU-Chef den Großen herausgedrängt. Wie soll Wenn der große Vorsitzende Strauß „der Prügelknabe“, jetzt stehe er „im das erst werden, wenn Polen, Tsche- Handeln und Reden seines Nachfolgers Regen“. chien und Ungarn und Slowenien hinzu- im Parteivorsitz der CSU kommentieren Vorige Woche nahmen die Demüti- treten? Oder wenn das Gründungsmit- könnte – er wäre kaum zu Scherzen auf- gungen kein Ende. Schäuble selbst fer- glied Italien seine Stimme wiederfin- gelegt. Der Chef im Amte des Bundesfi- tigte den Finanzminister am Telefon det? „Der Vertrag“, urteilt Peter Hort nanzministers macht in Bonn keine gute kurz und verletzend ab. Wenn Waigel in der FAZ, „ist nicht nur unübersicht- Figur. seine Steuergesetze im Bundestag und lich, sondern wenig schlüssig.“ Am vorigen Freitag lief er im Bundes- Bundesrat durchbekommen wolle, dann Aber: Der mit Abgangsgedanken be- tag mit seiner Unternehmensteuerre- solle er endlich stehen, endlich darum schäftigte Bundeskanzler Helmut Kohl form bei der SPD auf. Auch in den eige- kämpfen. wird sein europäisches Traumhaus nen Reihen schwindet inzwischen der Die Beziehungen zwischen den bei- schlüsselfertig übergeben. Respekt. den wichtigsten Unionspolitikern neben Er fühle sich allein gelassen, klagte Helmut Kohl sind schwer gestört. Waigel am Montag der vergangenen Schäuble hält Waigel, gelinde gesagt, * Der Schnauze von Schmidt (Hamburg) gelingt es immer noch, die unterschiedlichsten Gegner Woche im Vorstand der CDU/CSU- nicht für die Idealbesetzung auf dem Po- in einen Topf zu werfen, wo er jeden mit jedem Bundestagsfraktion. sten des Finanzministers. Der Frakti- beleidigen kann. An Gefühle hat er selbst ja nie Die geplante Neuregelung des Kin- onschef ist überzeugt, er selbst verstehe appelliert, er vertrat stets die Sache, seine nämlich. Aber: Er (offenbar als einziger) hat dergeldes mit der komplizierten Aus- weit mehr von diesem Job. Das läßt er „aus der Geschichte Konsequenzen gezogen“. zahlung über die Finanzämter, die er zunehmend spüren. jetzt vertreten müsse, habe er eigentlich Waigel hält Schäuble für einen, zu- nicht gewollt. Sie sei ihm von der Koali- rückhaltend ausgedrückt, nicht immer

DER SPIEGEL 20/1995 29 Werbeseite

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Werbeseite offen und geradeaus handelnden Men- schen. Bei ihm sei allergrößtes Mißtrau- en angebracht. Dazu hat Waigel tatsächlich allen Grund. In Gegenwart auch von christsozialen Angehörigen der Fraktionsführung kri- tisiert Schäuble schon mal die Defizite des Finanzministers, wenn es um Visio- nen und Konzeptionen in der Finanz- und Steuerpolitik geht. Sein Wille zum Sparen sei schon in Ordnung, aber er spare leider an den falschen Stellen, zum Beispiel in der Familienpolitik. Die Beamtenschaft habe, so ein ande- rer Vorwurf Schäubles, den CSU-Mini- ster gleichgeschaltet. Waigel verlasse sich allzusehr auf seine Beamten, anstatt selber alles im Detail durchzuarbeiten. Wegen der Doppelbelastung als Partei- chef und Minister kämen beide Ämter zu kurz. Das Bonner Vakuum will Schäuble nun persönlich füllen. Der CSU-Finanz- Willkommene Chance, die Tatkraft der Fraktion vorzuführen minister ohne Fortüne bietet ihm will- kommene Chance, die Reformmüdig- keit des Kabinetts Kohl und die Tatkraft der Fraktion vorzuführen. Die nutzt er umsichtig. In dieser Woche schon sollen in Schäubles Auftrag die Stellvertreter Heiner Geißler und Hans-Peter Repnik ein Konzept für die Rückführung der Staatsquote – des Anteils der öffentli- chen Hand am Bruttoinlandsprodukt – von jetzt rund 50 Prozent auf 46 Prozent vorlegen. Und noch vor der parlamenta- rischen Sommerpause will Schäuble prä- sentieren, was Waigel schuldig bleibt: ein Konzept für eine ökologische Steu- erreform. Das „Grobraster“ (Reformbeauftrag- ter Repnik) steht schon: kräftig höhere Energiesteuern, dafür Senkung von Lohn- und Einkommensteuer oder der Lohnnebenkosten, etwa durch einen staatlichen Grundbeitrag zur Sozialver- sicherung, der Arbeitnehmer wie Ar- beitgeber entlasten soll. Den Finanzminister verdrießt soviel Aktivismus. Es sei jetzt, verteidigt er sein Nichtstun, nicht die Zeit für irgend- welche neuen Steuern, auch wenn sie aufkommensneutral wären. Die Bürger würden allergisch auf jedweden neuen Zugriff reagieren. Auf längere Sicht glaubt sich Waigel im Konflikt mit Schäuble in der besse- ren Position. Anders als er, so der CSU- Mann, wolle der Fraktionschef noch hö- her steigen. Und das könne er nur mit den Stimmen der CSU, der er, Waigel, ja nun mal vorsteht. Y .

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Plutonium Der Mann, der alles weiß Falschmeldungen der Geheimdienstler waren schuld, daß Helmut Kohl sich bei Boris Jelzin über vagabundierendes russisches Plutonium beschwerte. Dabei war der Kanzler über den Deal des Bundesnachrichtendienstes mit dem Bombenstoff von vornherein informiert. Doch niemand in Bonn hat etwas unternommen, die Aktion zu verhindern. U. BAUMGARTEN / VARIO PRESS Geheimdienstaufseher Schmidbauer, Chef Kohl: „Menschen unseres Kontinents aufs höchste bedroht“

und um die Uhr ist das Krisenzen- ster Bernd Schmidbauer. Mit Leiden- „Kerngeschehen“ sollen die Aufklärer trum im Kanzleramt besetzt. Tag schaft geht er seinem Geschäft nach. „herausschälen“, so SPD-Innenpolitiker Rfür Tag laufen dort Nachrichten Mal fühlt er sich als Chef des Bundes- Wilfried Penner, wer, wann, was über aus aller Welt ein, vom Zoll und von nachrichtendienstes, und mal agiert der den Transport von hochgiftigem Pluto- den Geheimdiensten, vom Wiesbadener Mann, den Mitarbeiter spöttisch 008 nium im August vorigen Jahres mit ei- Bundeskriminalamt und den Polizeibe- nennen, selber wie ein oberster Ermitt- ner Linienmaschine von Moskau nach hörden der Länder. ler. Er liebt die Auftritte als jemand, der München wußte. Wenn irgendwo Rauschgiftdealer auf- immer alles weiß. Wie brisant diese Frage gerade für fliegen, ein illegaler Waffenexport ent- Doch nun steckt er mittendrin in ei- den Kanzler werden kann, haben die deckt wird oder ein Terrorakt droht, nem Fall, von dem er am liebsten gar Beteiligten erst langsam begriffen. wissen die Kanzlerbeamten alsbald Be- nichts gewußt haben will: Die Plutoni- Denn der Ausschuß will auch der Frage scheid. Sie sammeln alle einschlägigen um-Affäre, mit der sich nun auch die nachgehen, wie weit Helmut Kohl sel- Hinweise, fassen nach, verteilen auch Strafgerichte befassen (siehe Seite 36), ber in die Vorbereitung des hochgefähr- Aufträge. könnte nicht nur für den agilen Kanzler- lichen Plutoniumtransports eingeweiht Und seit dem Zusammenbruch des amtmann Schmidbauer zum Verhängnis war. Und: Hat er leichtfertig Rußland Sowjetimperiums müssen sie ihre Auf- werden. Auch sein Kanzler gerät in Be- als Plutoniumlieferanten an den Pranger merksamkeit auf eine neue prekäre drängnis. gestellt? Aufgabe richten: den Schmuggel von In dieser Woche konstituiert sich in Für die Opposition ist der Transport vagabundierendem Nuklearmaterial, Bonn ein Parlamentarischer Untersu- von hochradioaktivem Stoff der wahre manchmal auch von bombenfähigem chungsausschuß, der die Hintergründe Skandal, weil ein Absturz der Lufthan- Plutonium. des vom Bundesnachrichtendienst sa-Maschine weite Gebiete auf Jahrtau- Chef des Krisenstabes ist der Koordi- (BND) inszenierten Plutonium-Schmug- sende verseucht hätte. Es sei doch nator der Geheimdienste, Staatsmini- gels (SPIEGEL 15/1995) klären soll. Als „klar“, meint der parlamentarische

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SPD-Geschäftsführer Nuklearterroristen rech- Peter Struck, daß BND, nen.“ Er redet von der Koordinator, der „Hinweisen“ zu poten- Chef des Kanzleramts tiellen Kaufinteressenten Friedrich Bohl oder der – „Irak würde ich da nen- Kanzler „hätten eingrei- nen.“ Er verweist auf fen müssen, wenn sie die Organisationen im Mitt- Mitteilung erhalten: Da leren und Nahen Osten, kommt jemand im Flug- „die sich in den Besitz zeug mit Plutonium im radioaktiven Materials Koffer“. bringen wollen, um be- Schmidbauer, das stimmte Erpressungen zu steht inzwischen fest, realisieren“.

wußte aufgrund eines W. MIERENDORF / ZEITENSPIEGEL So dick die Atomangst Vermerks genau, daß Plutonium-Fundort in Tengen: „Digitale Fingerabdrücke“ aufgetragen ist, die Fak- das bayerische Landes- ten sind dürftig. Tatsäch- kriminalamt das Plutonium nach Mün- Der zeitliche Ablauf der Ereignisse lich weiß Schmidbauer nichts Genaues chen schaffen wollte. Ihm war ebenso jedenfalls läßt auf sorgfältige Koordina- über die Herkunft des Tengener Stoffes. bekannt, daß die Bayern Probleme hat- tion schließen. In einem Gutachten des Karlsruher ten, weil der Import gegen das Kriegs- Seit dem 4. Juli ist zumindest beim Instituts für Transurane vom Juni 1994 waffenkontrollgesetz verstoßen würde. Pullacher BND, möglicherweise auch wird nur „auf eine mögliche Herkunft Auch der Kanzler, das hat Schmid- im Kanzleramt bekannt, daß ein Pluto- des Materials aus dem militärischen Be- bauer inzwischen selber vor der Parla- nium-Coup ansteht. Am 19. Juli schließ- reich hingewiesen“. Auch eine Herstel- mentarischen Kontrollkommission ein- lich, morgens, 6.15 Uhr, meldet die lung in Rußland sei „möglich“ und der geräumt, war ebenso wie Bohl im vor- BND-Residenz in Madrid ihrer Zentrale Transportbehälter dort üblich. aus darüber informiert, daß in Mün- in Pullach die präzisen Daten: 400 Die Kampagne läuft weiter, auch als, chen ein Deal vorbereitet wurde. Aber Gramm Plutonium 239 seien bei Bedarf spätestens ab 1. August, dieser Karlsru- keiner der drei hat irgendwelche An- verfügbar, „in München“. her Befund überholt ist. Denn in Analy- stalten unternommen, dieses Unterneh- Kurz darauf fragt der BND beim sen, die dem Bundesumweltministerium men zu verhindern. Der kriminelle Plu- Bonner Kanzleramt an, wieviel Geld aus dem amerikanischen Los Alamos toniumbluff von München paßte zu ge- V-Leute für heiße Tips kassieren dürf- zugingen, wird die militärische Herkunft nau ins Konzept. ten. Davon weiß Schmidbauer angeblich bezweifelt. „Vielmehr wird für nahezu Schmidbauer zog im Sommer vori- nichts mehr. sicher gehalten“, faßt Ministerialrat gen Jahres auf höchster Ebene eine di- Am selben Tag Bernd Fechner in einem plomatische Offensive gegen Moskau schreibt der Kanzler an Papier die US-Berichte durch. Die Russen sollten der Welt als Jelzin den Beschwerde- zusammen, daß das Ten- Plutonium-Lieferanten vorgeführt wer- brief. Und am selben gener Plutonium „für den. Tag beginnt Schmidbau- Forschungszwecke her- Kohl schrieb seinem Freund Boris er mit einer Medienkam- gestellt wurde“. Jelzin einen Warn-Brief und informier- pagne über „eine neue Die deutschen Behör- te darüber auch US-Präsident Bill Clin- Art der Bedrohung“. den übernehmen zwar ton, damit der dem Russen-Präsiden- In Interviews macht diesen Befund: „Eine ten ebenfalls schreibe. Die ungesicher- der Koordinator Ex-Sta- Herkunft aus dem Kern- ten Nuklearbestände aus Rußland, si-Leute als Helfer aus. waffenbereich (wird) heißt es in dem Kohl-Brief, seien „eine Auch „höchste Kreise“ ausgeschlossen“, heißt es neue Gefahr, die die Menschen unseres Moskaus seien in Fälle in einem VS-Bericht des Kontinents aufs höchste bedroht“. von Plutonium-Schmug- BND, und der Tengen- Aber wie sich inzwischen heraus- gel verwickelt. Fund stamme auch stellt, war Kohl von seinem Schmid- Das zufällig Wochen „nicht direkt aus einem bauer schlecht beraten. Denn die an- zuvor in einer Garage Reaktor“. Solche De- geblich so bombensicheren Hinweise im baden-württembergi- mentis in eigener Sache auf Rußland als Herkunftsort des schen Tengen gefundene bleiben aber vertraulich. Strahlenstoffs erweisen sich heute als Plutonium, läßt Schmid- Das extrem reine Plu- zweifelhaft, wenn nicht falsch. bauer nun wissen, stam- tonium, das ist längst ge- Ein Grund für die Kampagne aus me aus dem „gewaltigen sicherte Annahme auch

dem vorigen Sommer: Die Union hat- militärisch-industriellen ACTION PRESS der deutschen Fachleute, te, wenige Wochen vor den Bundes- Komplex Rußlands“. Kanzleramtsminister Bohl stammt ursprünglich tags- und den bayerischen Landtags- Man habe „digitale Fin- zwar aus Rußland, ist wahlen, ihr Thema gefunden – die Plu- gerabdrücke“ des in Tengen entdeckten dort aber schon in den sechziger Jahren tonium-Gefahr. Jetzt galt es, trommel- Plutoniums gefunden, behauptet er, und produziert worden – insgesamt 1200 ten die Regisseure aus CDU und CSU, so „die Labors lokalisieren können, inde- Gramm als „Laborstandard“. Viele In- die gegen das Verbrechens- nen es hergestellt wurde“. stitute im damaligen Ostblock wurden bekämpfungsgesetz aufzugeben. Jetzt Schmidbauer weiß fix zu sagen, von wo damit beliefert, in kleinen Mengen. waren weitreichende Kompetenzen für das Tengener Material – „sechs Gramm Damit ist völlig offen, ob der Tenge- BND, Bundeskriminalamt und Verfas- fast reines Waffenplutonium“ den Weg ner Fund aus Bulgarien oder Rumänien, sungsschutz gefordert, jetzt sollten nach Deutschland fand, „aus dem Mos- Kasachstan oder der Ukraine stammt. „bestimmte liberale Tugendwächter“ kauer Kurtschatow-Institut“ – „viel- Schmidbauer, der im vorigen Sommer (CSU-Chef Theo Waigel) mit ihren leicht“. so lauthals über die Gefahren lamentier- rechtsstaatlichen Bedenken lieber Tag für Tag legt Schmidbauer nach. te, ist inzwischen ganz kleinlaut gewor- schweigen. „Wir müssen mit der Bedrohung durch den. „Der Ort der Entwendung“ des in

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Tengen gefundenen Stoffs, berichtete er Anfang Dezember der Deutschen Ge- sellschaft für Auswärtige Politik, sei „nicht unbedingt in Rußland zu suchen“. „Roberto war Käufer“ So ein Stoff finde sich nämlich genauso „im Kernforschungszentrum der frühe- Die Aussage des V-Mannes „Rafa“ vor dem Münchner Landgericht ren DDR in Rossendorf“. Auch bei dem in München sicherge- stellten Plutonium mag sich der Geheim- ie Identität des Passagiers war Gericht, sei im Frühjahr 1994 im Madri- dienst-Aufseher erst mal nicht festlegen: nicht einmal der Fluggesellschaft der Novotel mehrfach als angeblicher „Der genaue Produktions- und Her- Dbekannt. Rafael Ferreras Ferna´n- deutscher Interessent für Plutonium auf- kunftsort des Plutoniums ist nicht be- dez, 41, reiste vorige Woche unter fal- getreten. „Rafa“: „Einen anderen Käu- kannt.“ schem Namen nach München. fer hat es in Madrid nicht gegeben. Nur Doch mit seinen voreiligen Behaup- Seine Freunde vom Bundesnachrich- Roberto.“ tungen hat Schmidbauer Moskaus Regie- tendienst (BND) schleusten den Mann, Ein in Dossiers von Bundesnachrich- rung in die Rolle der verfolgten Unschuld den sie „Rafa“ nennen, an allen Kon- tendienst und Bundeskriminalamt auf- gebracht. Schon sieht sich der russische trollen vorbei. Seine Unterkunft blieb geführter jüdischer Waffenfabrikant aus Vizeminister für Atomenergie Wiktor Si- geheim, rund um die Uhr wurde er be- Deutschland, der angeblich in Madrid dorenko, der – wahrscheinlich zufällig – wacht. mit Plutonium handeln wollte, ist nach im selben Flugzeug war wie der Plutoni- Am Freitag dann hatte „Rafa“ seinen „Rafas“ Aussagen eine Legende. Die in um-Koffer, als Opfer einer „Provokati- großen Auftritt. Der V-Mann des BND wochenlanger Arbeit ausgetüftelte Ver- on“ dunkler Mächte (siehe Interview Sei- trat vor der 9. Großen Strafkammer des teidigungslinie von Politikern und Si- te 37). Landgerichts München als erster Zeuge cherheitsbehörden ist damit perdu. Verfolgte Unschuld spielt auch im Prozeß gegen die Plutonium- Noch am 10. April hatte BND-Präsi- Schmidbauer: Er habe es nicht besser ge- Schmuggler Julio Oroz Eguia, Javier dent Konrad Porzner zu der SPIEGEL- Enthüllung erklärt: Der im Artikel genannte Dunkelmann, der Ende Mai und Anfang Juni 1994 Treffen in einem Madrider Hotel arran- giert haben soll, ist dem Dienst nicht bekannt. Damit geht die Unterstellung einer Inszenierung von Anfang an fehl. So hätte es Porzner gern gehabt. Doch inzwischen bewegt sich der BND- Präsident unaufhaltsam im Krebsgang. Bonner Parlamentariern mußte er geste- hen, daß „Rafa“ und „Roberto“ in BND-Diensten standen. „Roberto“ wurde im Frühjahr 1993 von der BND- Residentur in Madrid angeworben, kas- sierte – einschließlich Spesen – rund 5000 Mark im Monat. BND-Unterlagen ist zu entnehmen, daß die Residentur des Dienstes in Madrid „viel Arbeit und Zeit in die Verbindung mit Roberto“ in- vestiert hat. Auch die Einlassungen des Bonner Staatsministers Bernd Schmidbauer sind

T. EINBERGER / ARGUM entlarvt. Mehrmals hatte Schmidbauer Angeklagter Torres*: Deal mit V-Männern beteuert: Die wichtige Frage in einem Magazin wußt. Kanzleramtsminister Bohl, der Bengoechea Arratibel und Justiniano nach dem Dunkelmann, bei dem man stets über Geheimdienstaktionen außer- Torres Benı´tez auf, die am 10. August ja unterstellt hat, es sei ein Mitarbeiter halb des Alltagsgeschäfts informiert 1994 mit 363,4 Gramm Plutonium 239 des Nachrichtendienstes, kann eindeu- wurde, der auch die Akten des Plutoni- im Gepäck in München festgenommen tig beantwortet werden: Kein nachrich- um-Deals gelesen hat, will ebenfalls worden waren und sich jetzt wegen Ver- tendienstlicher Mitarbeiter des deut- nichts Genaues wissen: Operative Ein- stoßes gegen das Kriegswaffenkontroll- schen Nachrichtendienstes kann die- zelheiten kenne er nicht. Nur „in allge- gesetz verantworten müssen. ser Mann gewesen sein. meiner Weise“, erklärt Schmidbauer, Bei „Rafas“ Aussage wurde die Öf- habe er den Kanzler informiert. fentlichkeit ausgeschlossen. Hinter ver- Helmut Kohls Koordinator für die Die Beamten des Hauses kennen ih- schlossenen Türen bestätigte er, zumin- Geheimdienste sieht ziemlich zerbeult ren 008 besser. Sie wissen, daß der dest teilweise, was der SPIEGEL vor aus (siehe Seite 33). „Es gibt eine Wei- Mann, der immer alles weiß, sich schon fünf Wochen enthüllt hat: daß der an- sungslage für die Nachrichtendienste“, stets mit detaillierten Agenten-Ge- gebliche Plutonium-Schmuggel eine hatte er getönt, „den Ankauf und den schichten bei seinem Regierungschef kunstvolle Inszenierung der Sicherheits- Anreiz für solches Material nicht zu be- wichtig gemacht hat. behörden war. fördern.“ Und: „Ich habe überhaupt Sein Freund „Roberto“, der ebenso keinen Grund anzunehmen, daß solche * Am Mittwoch der vergangenen Woche im wie er für den deutschen Geheimdienst Dinge passieren.“ Die Dinge sind pas- Münchner Landgericht. gearbeitet habe, so Zeuge „Rafa“ vor siert.

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Derangiert istnicht zuletzt BKA-Präsi- Der V-Mann des BND soll einen aufgesucht. Zu München wollte der V- dent Hans-Ludwig Zachert. Im Innen- großen Kokain-Deal angestoßen ha- Mann nichts sagen. ausschuß des Bundestages hatte er die ben. Er habe sich „zu sicher gefühlt“, „Roberto“ fürchtet um sein Leben. Zusammenarbeit seiner Behörde mit sagt ein hoher spanischer Polizeioffi- „Verglichen mit den Jungs, mit denen er „Roberto“ als V-Mann seit 1992 zuge- zier. Möglicherweise habe „Roberto“ es zu tun hat“, orakelt sein Anwalt standen und diese sogar als „durchaus po- seine Plutonium-Arbeit als Freibrief Francisco A. Corpas Alcaraz, „sind ko- sitiv“ gepriesen. Auf Fragen nach einer empfunden. „Der dachte, ihm kann lumbianische Drogenmafiosi Waisen- Personenidentität „Robertos“ mit dem keiner mehr.“ kinder.“ „Dunkelmann“ jedoch antwortete er be- Am 27. April haben ihn Beamte des Wen der Advokat meint, sagt er stimmt: „Unser V-Mann ist nicht dieser Bundeskriminalamtes im Gefängnis nicht. Dunkelmann.“ Was jetzt den Akteurendieses gefährli- chen Politkrimis bleibt, ist, sich von ihren Gehilfen abzusetzen, die Bayern als er- ste. „Vielleicht“, räumte CSU-Innenmi- nister Günther Beckstein gegenüber Par- teifreunden ein, wäre es „besser gewe- „Eine Provokation“ sen“,dieBehörden desFreistaates hätten mit diesem „Rafa“ „nicht zusammenge- Interview mit dem russischen Vize-Atomminister Wiktor Sidorenko arbeitet“. Auch der BND geht auf Distanz zu „Rafa“. Der Dienst will seinen V-Mann SPIEGEL: Wiktor Alexejewitsch, sind gerufen und die Verdächtigungen ge- zum Einzeltäter stempeln. Sie in die Münchner Plutonium-Affä- gen mich als „Quatsch“ bezeichnet. „Rafa“, heißt es in einem BND-Dos- re verwickelt? Am 19. Mai wollen sie mir hier in sier, sei möglicherweise „den intellektu- Sidorenko: Alles absurd. Moskau ihre offizielle Stellungnahme ellen Anforderungen nicht hinreichend SPIEGEL: Immerhin saßen Sie in der- übergeben. gewachsen gewesen“. In opportunisti- selben Lufthansa-Maschine wie die SPIEGEL: Könnte bei der Aktion der scher Weise spiele er Leute gegeneinan- Atomschmuggler. Reiner Zufall? russische Geheimdienst seine Hand der aus. Kein Wort von den Kameraden Sidorenko: Nicht ich habe die Idee zu im Spiel gehabt haben? vom BND-Referat 11A, die „Rafa“ ge- dieser Reise gehabt, sondern der Sidorenko: Ich kenne den Sicher- führt haben. bayerische Staatsminister für Umwelt heitsdienst durch meine Arbeit in der Letzte Woche bauten die Bonner und Thomas Goppel. Der hatte mich im Atombranche aus nächster Nähe und Pullacher eine neue Front auf. Der stell- Juli darum gebeten, zu diesem Ter- konnte mich stets auf ihn verlassen. vertretende russische Atomminister min nach München zu kommen. Auf Auch in Zukunft möchte ich davon Wiktor Alexejewitsch Sidorenko wurde einer gemeinsamen Pressekonferenz ausgehen, daß dieserDienst dieInter- verdächtigt, einer der Drahtzieher des wollte Goppel ein Gutachten über ei- essen des Staates schützt. Ich will Atomdeals zu sein. Einen Beleg dafür ne neue Generation russischer Kern- nicht unterstellen, daß er zum Provo- gibt es nicht. kraftwerke vorstellen. Die Flugtik- kateur geworden ist. Sonst müßte Am 24. Mai soll „Rafa“ noch einmal kets für mich und den mich begleiten- man an der Zuverlässigkeit des ge- vomGericht gehört werden. Alsweiteren den Experten aus St. Petersburg wur- samten Systems zweifeln. Zeugen will der Vorsitzende Richter den von München aus bestellt. SPIEGEL: Ihr Sicherheitsdienst aber Heinz Alert möglicherweise auch „Ro- SPIEGEL: Waren Sie wirklich über- verhält sich in der Plutonium-Affäre berto“ laden. rascht, als Sie von der Verhaftung der erstaunlich zurückhaltend . . . Dessen Wohnung im andalusischen Plutonium-Dealer hörten? Sidorenko: . . . was mir überhaupt Torre del Mar, Calle Infantes 23, ist der- Sidorenko: Doch. Überrascht war ich nicht imponiert. Es wäre wichtig ge- zeit verwaist. „Roberto“ hat eine neue davon, daß der Schmuggel und meine wesen, daß wir für die eigene Analyse Anschrift: Der Scheinkäufer von Madrid Reise zusammenfielen. So etwas pas- Proben des beschlagnahmten Pluto- sitzt seit Ende Februar im Penitenciario siert doch nicht zufällig. Von meinen niums bekommen. Gerade das aber de Alhaurı´n de la Torre, dem Knast von Gastgebern habe ich erfahren, daß wurde bei den intensiven Verhand- Ma´laga. „Roberto“istinEinzelhaft, wird das Umweltministerium zuständig- lungen zwischen Schmidbauer und rund um die Uhr bewacht. keitshalber vorab von der Aktion auf dem russischen Sicherheitschef Ste- dem Münchner Flughafen in Kennt- paschin nicht geklärt – wir waren ja nis gesetzt worden war. Meine Gast- dabei nur mit Beobachtern vertreten. geber seien besorgt gewesen, weil Den Vorwurf muß ich unseren Ge- auch ich mit derselben Maschine er- heimdiensten machen. wartet wurde. In Absprache mit den SPIEGEL: Sie fühlen sich im Stich ge- deutschen Diensten sollte ich deswe- lassen? gen bei der Ankunft von der Operati- Sidorenko: Leider kann man sich des on ferngehalten werden. Eindrucks nicht erwehren, daß Ruß- SPIEGEL: Wie denn? land mit den Atom-Vorwürfen stän- Sidorenko: Man nahm mich gleich in diginSpannung gehalten und interna- der Maschine in Empfang, führte tional in Mißkredit gebracht werden mich über eine Treppe hinunter aufs soll. Der Mechanismus ist für den Au- Flugfeld und setzte mich dort in ein ßenstehenden schwer zu durchschau- Auto. Niemand hat mich bis zu mei- en. Ich bin fest davon überzeugt, daß nem Abflug zum Plutoniumschmug- alleseineProvokationwarund ichnur gel befragt. Im übrigen: Die bayeri- eine Figur in einem undurchsichtigen

EL PAIS schen Kollegen haben inzwischen an- Spiel bin. BND-Mitarbeiter „Rafa“ „Den Anforderungen nicht gewachsen“

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Parteien „Bewegung in den Köpfen“ Interview mit der Grünen-Sprecherin Krista Sager über ein neues Programm für ihre Partei

SPIEGEL: Frau Sager, braucht Ihre Par- dem Öko-Linken verständi- tei – wie einst die SPD – ein Godes- gen, ohne mit ideologischen berg, um das Programm den neuen Abschreckungsfloskeln zu Wählern anzupassen? arbeiten. Sager: Nein. Wir brauchen nach 15 SPIEGEL: Aber gerade der Jahren zwar ein neues Grundsatzpro- ideologische Grundsatz- gramm, aber keine politische Kehrt- streit hat die Diskussion um wende oder große Revision unserer die Außenpolitik gelähmt. Politik wie 1959 die Sozialdemokraten. Sager: Witzigerweise steht Es ist allerdings auch keine Überra- in unserem Grundsatzpro- schung, daß unser Programm von 1980 gramm mitnichten die For- in Teilen vom Gang der weltpolitischen derung nach Abschaffung Ereignisse überholt worden ist. der Bundeswehr . . . SPIEGEL: Wo denn? SPIEGEL: . . . was aber auf Sager: Natürlich in der Außen- und grünen Parteitagen später Friedenspolitik, die damals zwangsläu- verklausuliert beschlossen fig von der Blockkonfrontation und der wurde. deutschen Teilung geprägt war. Dage- Sager: Im Grundsatzpro- gen blieb damals die Forderung nach gramm steht die Forderung einer gemeinsamen europäischen Frie- nach Auflösung der Militär- densordnung völlig vage. Diese jetzt blöcke Nato und Warschau-

auszuarbeiten wäre unter anderem die H. J. DARCHINGER er Pakt, und zwar im Zu- Aufgabe einer neuen friedenspoliti- Reformerin Sager sammenhang mit der schen Debatte. „Niemand will sich eine blutige Nase holen“ „Überwindung der deut- SPIEGEL: In der Innenpolitik sehen Sie schen Spaltung“, was sicher keinen Renovierungsbedarf? marktwirtschaftliche Fortentwicklung manchen überrascht. Wir haben jetzt die Sager: Der ganze Bereich Finanzen „neue Mittelschichten“ zu erschließen. konkrete Frage zu beantworten, wie un- und Steuern war 1980 eine totale Null- Sager: Was immer Fischer meint, mir ter Beibehaltung unserer pazifistischen nummer. Wir fordern heute Öko-Steu- geht es nicht darum, den inhaltlichen Gesamtvision die europäische Friedens- ern als marktwirtschaftliches Len- Ausverkauf zu betreiben, um die Bünd- und Sicherheitsarchitektur im Detail aus- kungsinstrument für den ökologischen nis-Grünen für neue Wählerschichten sehen soll. Umbau unserer Wirtschaft. Auch zu dadurch zu öffnen, daß wir uns anderer SPIEGEL: Selbst im alten Grünen-Pro- diesem zentralen Punkt unserer Um- Schichten entledigen. Wir müssen uns gramm ist von einem Ausbau der Uno zu weltpolitik ist eine programmatische vielmehr auf die Gemeinsamkeiten zwi- einem wirksamen Instrument der Frie- Weiterentwicklung dringend notwen- schen dem grünen Unternehmer und denspolitik die Rede. Was heißt das für dig. Blauhelm-Einsätze? SPIEGEL: Bleibt es bei der Absage an Sager: Die Delegiertenkonferenz in jegliches quantitatives Wachstum? Neuer Flügelstreit Potsdam hat letztes Jahr das Verbleiben Sager: Ich kann mir gut vorstellen, daß der Unprofor-Truppen im ehemaligen es viele Debatten über die Definition um ein neues Grundsatzprogramm Jugoslawien verlangt. der Begriffe „qualitatives“ und „quan- droht die Einigkeit von Bündnis SPIEGEL: Sollen deutsche Soldaten auch titatives“ Wachstum geben wird. Zum 90/Die Grünen zu belasten. Vor al- an militärischen Blauhelm-Einsätzen in Beispiel taucht der Begriff „nachhalti- lem Realos, an der Spitze Joschka Bosnien teilnehmen? ges Wirtschaften“, der heute die Um- Fischer, möchten die einstige Pro- Sager: Konsens ist, daß ein deutscher weltdebatte prägt, dort kein einziges testpartei zu einer sozialen und öko- Einsatz nicht geeignet ist, dort zur De- Mal auf. logischen Reformpartei der „neu- eskalation beizutragen. Ich gebe aber zu: SPIEGEL: Antiquiert wirkt es auch, en Mittelschichten“ fortentwickeln. Wenn man meint, daß der Einsatz von wenn der Raubbau der Natur kurzer- Parteilinke dagegen wehren sich Blauhelm-Truppen in bestimmten Ge- hand den „Profitinteressen des Groß- „gegen jede Revisionismusdebat- bieten zur Friedenssicherung beiträgt, kapitals“ angelastet wird. te“. Die ehemalige Hamburger Frak- stellt sich irgendwann die Frage, unter Sager: Das war eine Formulierung, die tionsvorsitzende der Grün-Alternati- welchen Bedingungen Deutsche weiter- heute sicher noch für manchen linken ven Liste, Krista Sager, 41, vom gehende Pflichten in Uno und OSZE Lehrer aus Hamburg identitätsstiftende Realo-Flügel wurde im Dezember übernehmen müssen. Das istbei uns nach Bedeutung hat. Aber jemand, der den zur gleichberechtigten Sprecherin wie vor eine offene Frage. Raubbau an der Natur in der DDR des Bundesvorstandes, zusammen SPIEGEL: Kritiker in den eigenen Reihen, miterlebt hat, wird mit dieser Formu- mit dem zur Linken gerechneten wie Ihr Parlamentarischer Geschäftsfüh- lierung wohl weniger anfangen können. Niedersachsen Jürgen Trittin, 40, rer Werner Schulz, fürchten, daß die SPIEGEL: Ihr heimlicher Parteichef gewählt. Angst vor neuem Streit die Partei außen- Joschka Fischer träumt davon, durch politisch handlungsunfähig macht.

40 DER SPIEGEL 20/1995 Sager: Man muß keine besonders kriti- sche Beobachterin sein, um festzustel- len, daß die Grünen in dieser gegen- wärtigen Debatte über eine gemeinsa- me europäische Friedensordnung kaum eine Rolle spielen. Minderheit und Mehrheit blockieren sich im Moment gegenseitig, und niemand will sich eine blutige Nase holen. Dabei dürfen wir nicht stehenbleiben. Aber die Außen- politik dürfte nicht das geeignete The- ma sein, um mit einer grundsätzlichen Selbstverständigung anzufangen. Dabei ist der Prozeß, der etwa vier Jahre dau- „Schon heute haben Liberale ihre Heimat bei uns gefunden“ ern wird, wichtiger als das schriftliche Endprodukt. SPIEGEL: Wo wollen Sie beginnen? Sager: Mit Themen, die ebenso wichtig, aber nicht mit so großen Ängsten besetzt sind und nicht gleich zu Machtkämpfen verkommen – zum Beispiel die ökologi- sche Wirtschafts-, Steuer- oder auch die Medienpolitik. Denn es heißt im Grund- satzprogramm immer noch, daß „Funk- und Fernsehsender in privater Hand ver- boten bleiben“ sollen. SPIEGEL: Selbst an so überfälligen Posi- tionen möchte der linke Flügel Ihrer Par- tei am liebsten nicht rütteln, weil er eine Revision des Programms hin zu Fischers Ziel einer Öko-FDP fürchtet. Sager: Das ist Unsinn. Wenn wir uns marktwirtschaftlicher Lenkungsinstru- mente bedienen, hat das mit Öko-FDP nichts zu tun. Die FDP ist inzwischen zur reinen Klientelpartei verkommen. SPIEGEL: Fischer will die FDP beerben, ohne zur FDP zu werden. Wie geht das? Sager: Diejenigen liberalen WählerIn- nen, die sehr stark von der Idee der Bür- ger-, Menschen- und Grundrechte ge- prägt sind, haben heute schon ihre Hei- mat bei den Grünen gefunden. Hinzu kommen große Teile der besser Ausge- bildeten, denen es oft auch wirtschaftlich etwas besser geht und die ökologische Themen ganz hoch ansiedeln. Es gibt nicht nur eine Bewegung der Grünen hin zu diesen Wählerschichten, sondern auch eine grüne Bewegung in den Köpfen die- ser Menschen. SPIEGEL: Manche Linke in Ihrer Partei fürchten, was da vorgeht, sei nichts ande- res als Revisionismus. Sager: Denen kann ich nur zur Lektüre empfehlen, was am Ende unseres 15 Jah- re alten Programms steht: „Nach unse- rem basisdemokratischen Verständnis wird die Programmdiskussion von allen Mitgliedern laufend fortgesetzt, orien- tiert an neuen Erkenntnissen und Erfah- rungen aus der Praxis.“ Diese Formulie- rung ist rührend. Und sie stimmt. Y

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Werbeseite . W. SCHEIBLE / FORMAT Bauplaner Püschel, Steinmann auf dem Börkhauser Feld in Solingen: „Ideen von Laien, auf die wir nie gekommen wären“

Demokratie „Das gute Volksempfinden“ SPIEGEL-Redakteur Werner Dähnhardt über eine neue Form der Bürgerbeteiligung

reimal die Woche geht der Rent- ligten-Gutachten für „zukunftsorientier- Was die Solinger Feldbeschauer von ner Karl-Heinz Adolph, 58, am tes, bewohnergerechtes und ökologi- anderen Bürgerinitiativen unterschei- DBörkhauser Feld spazieren, einer sches Bauen“, übergaben Steinmann det: Sie waren vom Bauherrn eingela- sanft geschwungenen Kuppe im Südwe- und sein Vorstandschef Wolfram Pü- den. Die Siedlung auf dem Börkhauser sten der Industriestadt Solingen. schel Mitte vorletzter Woche dem Solin- Feld ist eines der Projekte, das mit Hilfe „Diese Ruhe hier“, schwärmt er, sei ger Oberbürgermeister Gerd Kaimer. von Bürgergruppen konzipiert wird – das Schönste – den Baum mitten auf dem Acker kennt er zu allen Jahreszei- ten. Oft hocken Krähen auf den grünen Ästen über der Wintersaat. Die Ruhe ist bald dahin. Gruppen de- battierender, gestikulierender Solinger stapften schon über das Börkhauser Feld. In ihrer Begleitung ein Architekt: 350 Wohnungen sollen hier entstehen, ein ganzes Neubaugebiet. Wenigstens der Baum in der Mitte bleibt stehen – ein etwas hilfloses Ge- schenk für Naturfreunde wie Adolph. Auch sonst haben die Planer den Bür- gern eine Menge Zugeständnisse ge- macht. Die Besichtigungsgruppen, die mit dem Architekten Rolf-Peter Steinmann das Planungsgebiet inspizierten, haben bei dem Wohnungsbauprojekt des So- linger Spar- und Bauvereins das ent- scheidende Wort mitzureden – auch der

Spaziergänger Adolph war dabei. Ihre M. BERGES Empfehlungen, ein sogenanntes Betei- Modellarbeit der Solinger Planungszelle: Bauen mit Zisternen und Sonnenenergie

44 DER SPIEGEL 20/1995 DEUTSCHLAND sogenannten Planungszellen. Das Wort, so spotten Experten, klinge wie „eine Mischung aus Kommunismus und Ge- fängnis“. Doch das Modell macht Schu- le bei ratlosen Politikern und ratsuchen- den Verwaltungsexperten. Die ungewöhnliche Form der Bürger- beteiligung gilt mancherorts mittlerwei- le als Ausweg aus dem Dilemma jahr- zehntelang verschleppter Planungspro- zesse und zugleich als praktikable Form direkter Demokratie. Die Methode wurde von Gesell- schaftswissenschaftlern an der Bergi- schen Universität in Wuppertal ausge- tüftelt, bereits vielfach erprobt, und sie wird ständig weiterentwickelt. Die Grundidee: eine Art Schöffengericht für Planungsaufgaben. In Arbeitsgruppen werden x-beliebige Bürger versammelt und mit einem Streit- oder Problemfall konfrontiert. Darüber sollen sie sich so genau infor- mieren, daß sie den Fall guten Gewis- sens entscheiden können – fair und un- abhängig, damit sich niemand übervor- teilt sieht. Den Wuppertaler Wissenschaftlern ist es gelungen, diese in Wahrheit höchst knifflige Aufgabe zu lösen. Ihre Metho- de wird einhellig als taugliches System zur Aktivierung der Bürgergesellschaft gelobt. Zuspruch bekommt das Projekt der Planungszellen, das sich unter Kommu- nalpolitikern und Wissenschaftlern in- ternational herumgesprochen hat, mitt- lerweile auch aus dem Ausland. Das renommierte Londoner Institute for Public Policy Research rühmte in ei- nem jüngst veröffentlichten Bericht das Wuppertaler Beteiligungsmodell als ei- ne Innovation, die helfen könne, der „schwachen Demokratie“ in den west- europäischen Staaten neuen Schwung zu verschaffen. Mittlerweile winken Clea-

Die Planungszelle ist ein verblüffend erfolgreiches Mo- dell für die Beteiligung von Bürgern an Planungsentscheidungen. Die Idee: Laiengremien nach dem Vorbild der Schöffengerichte kommen schneller zu konsensfähigen Ent- scheidungen über umstrittene Projek- te als die oft schwerfällige öffentli- che Verwaltung, die auf politische Vorgaben und Lobby-Interessen Rück- sicht nehmen muß. Voraussetzung für sachgemäße Entscheidungen ist die gründliche Information der Teil- nehmer, am Ende gibt es ein Betei- ligten- oder Bürgergutachten. Der Er- finder der Planungszelle, der Wup- pertaler Sozialwissenschaftler Peter C. Dienel, 71, bekommt Anfragen aus ganz Europa. Werbeseite

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ring-Aufträge für das britische Gesund- sei, sagt Dienel, „multifunktional und oder Naturschutzgebiete, Bürohäuser heits- und Verkehrswesen. nicht auf einen bestimmten Zweck hin oder Fernstraßen planen, sich aus- In Israel wollen erstmals Juden und konstruiert“. schließlich am Gemeinwohl orientieren, Araber gemeinsam ein Stadtentwick- Der Sozialwissenschaftler Dienel, zu- gilt mittlerweile als naiv. Zu offensicht- lungsprojekt beraten. Die Stadt Akko gleich promovierter Theologe, ist ein lich sind die Rücksichten auf politische läßt Ende des Jahres in Planungszellen Demokratietüftler, der über sein Pa- Parteien oder Wirtschafts-Lobbyisten. nach Wuppertaler Muster Zukunftsauf- tentrezept der Planungszellen für den Mißtrauen der Bürger begleitet her- gaben, etwa für touristische Ziele, die allgemeinen Gebrauch ein Handbuch kömmlich jede öffentliche Planung. Be- Altstadt-Pflege und jüdische Viertel, in verfaßt hat**. Er träumt schon von der teiligungsrechte und Rechtsmittel wer- ethnisch gemischten Bürgergruppen dis- den von Bürgerinitiativen und Planungs- kutieren. Projektname: „Akko 2040“. betroffenen oft so gezielt ausgenutzt, In Spanien befriedete das Wupperta- Laien-Planung gegen daß nichts mehr geht. ler Mitsprachesystem Konflikte um die Politfilz und So blieb in Konstanz am Bodensee in Trassenführung einer Autobahn im Bas- den achtziger Jahren eine 340 Meter lan- kenland, eines fehlenden Verbindungs- Spezl-Wirtschaft ge Autobahnbrücke über den Rhein po- stücks der Strecke von Schweden nach litisch in der Luft hängen. Die Verwal- Südspanien. Dort hatte es zuvor, bei Gründung eines „Partizipationsamtes“ tungsgerichte stoppten das Projekt we- Auseinandersetzungen mit der baski- für massenhafte Planungszellen. Doch gen vorsätzlich falscher Angaben im schen Untergrundorganisation Eta, der Erfinder eilt den Tatsachen weit Planfeststellungsverfahren. Die Stadtvä- Massendemonstrationen, Brandstiftun- voraus. Vorerst kann ihn jeder Stadt- ter müssen sich auf Jahre hinaus mit gen und Bombenanschläge gegeben – kämmerer mit Hinweis auf fehlende provisorischen Auffahrten für den Nah- Bilanz: drei Tote und neun Verletzte. Haushaltsmittel stoppen. verkehr zufriedengeben. Auf die Basken machte der gelungene Die kleinen bunten Zellen des eigen- Für die Bewältigung von über 82 000 Streich mit der „Planungszelle Autovı´a“ sinnigen Professors haben jedoch bei an- Einwendungen gegen den neuen Stutt- im Hinterland von San Sebastia´n so viel fangs spöttischen Kollegen als „Dienel- garter Großflughafen mußte 1987 eigens Eindruck, daß spanische Parteien und Modell“ Karriere gemacht. Überall läßt die Rundsporthalle in Filderstadt-Bern- die Herri Batasuna, der politische Arm es sich ausprobieren. hausen angemietet werden. Einen gan- der Eta, inzwischen bei den Organisato- Dienels Kniff ist die Ausschaltung zen Monat dauerte die Massenbeteili- ren erkunden, ob durch ein derartiges sachfremder Interessen aus Entschei- gung an der Flughafenplanung. REUTER J. DIETRICH / NETZHAUT Eta-Terror in San Sebastia´n*, Befriedungsexperte Dienel: Mord und Totschlag mit Bürger-Gutachten geschlichtet

Vermittlungsverfahren Hintergrundfra- dungsabläufen. Die zufallsgesteuerte Beim Bau des Flughafens München II gen des Basken-Konflikts mit der Regie- Auswahl der Laienplanerschar sorgt für behalf sich der Bayerische Verwaltungs- rung geklärt werden könnten. einen Diskurs ohne Rücksicht auf Polit- gerichtshof mit der Auswahl von 40 Der Erfinder des Friedenswerks hält filz und Spezl-Wirtschaft. Bauingenieur Musterklägern aus den 5700 anhängigen das für geradezu selbstverständlich. Pe- Steinmann in Solingen fand es „faszinie- Klagen. Verhandelt wurde in einem ter C. Dienel, emeritierter Professor der rend, wie verantwortungsbewußt mit Konzertsaal der Oberfinanzdirektion. Wuppertaler Uni, traut seinem „laien- unserem Projekt umgegangen wurde“. Als der Franz-Josef-Strauß-Flughafen geeigneten Dialogsystem“ eine fast un- An solchen interessenneutralen Ver- nach fast drei Jahrzehnten Planungs- begrenzte Schlichtungskraft zu. Denn es mittlungsinstanzen bei schwelenden und Bauzeit 1992 endlich fertig war, hat- Konflikten oder umstrittenen Zukunfts- ten die Gerichte und Verwaltungen 249 * Brandanschlag auf einen Bus im März 1992. aufgaben mangelt es. Längst haben die Erörterungstermine für 25 000 Einsprü- ** Peter C. Dienel: „Die Planungszelle – Eine Al- Bürger den Glauben an die Neutralität che absolviert. ternative zur Establishment-Demokratie“. West- deutscher Verlag, Opladen; 296 Seiten; 29,80 der Verwaltung verloren. Die Idee, daß Einsichtige Politiker, wie die nieder- Mark. Behörden, wenn sie Atomkraftwerke sächsische Umweltministerin Monika

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Griefahn, haben wiederholt Schlichtun- scheidungen, die in einem Bürgergut- gen bei Planungskonflikten mit soge- achten münden. nannten Mediationsverfahren versucht. In Solingen erarbeiteten vier Pla- Doch die Vermittlungskonzepte, meist nungszellen, je zwei Mitte und Ende von professionellen Instituten, blieben November, jeweils themengleich die oft unbefriedigend. Grundlagen für den in diesem Sommer Der frühere Hamburger Umweltsena- fälligen Hochbauwettbewerb. tor Jörg Kuhbier scheiterte mit einer Die große Teilnehmerzahl fördert das Konfliktvermittlung bei der geplanten Ideen-Aufkommen und die soziale Re- Autobahn Lübeck–Stralsund. Schon für präsentanz: Rentner, Beamte und Ar- das erste Teilstück war die schleswig-hol- beitslose, Hausfrauen, Sekretärinnen steinische Landesregierung so festgelegt, und Studenten, Schneiderin, Nachrich- daß seine Schlichtung zur „gehobenen tentechniker, Bankkaufmann, eine frü- Kunst der Überredung“ betroffener Bür- here Ratsherrin, ein Kriminalhaupt- ger mißriet, so der So- kommissar. Die Teil- zialdemokrat. nehmer erhalten eine Dienels Methode Aufwandsentschädi- kann für Abhilfe sor- gung, Berufstätige sind gen. Die Bürger wür- – mancherorts als Bil- den zum „authenti- dungsurlauber – frei- schen Gegenüber der gestellt. Politik“ erst dann, Noch vor der Bau- wenn sie hinlänglich land-Begehung mit über ein Projekt infor- dem Architekten miert und souverän in Steinmann hatten die der Beschlußfassung Planungszellen, aufge- seien, lehrt der Demo- teilt in Kleingruppen, kratie-Theoretiker. binnen 20 Minuten zu Die Jedermann- überlegen, wie das Le- Ausschüsse rekrutiert ben in der Siedlung der Forscher nach dem später aussehen soll. Zufallsprinzip. Je nach Auf Flipcharts sam- erforderlicher Kopf- melten sich gut zwei zahl werden die Teil- Dutzend Vorschläge: nehmer im Melderegi- Durchmischung aller ster der Einwohneräm- Altersstufen; gefahrlo- ter nach dem kleinen se Bewegungsmöglich- Einmaleins ausgezählt: keit auch für Kinder

jeder zwanzigste, jeder W. SCHMIDT / NOVUM und Alte; Balkons für hundertste, jeweils Konfliktforscher Gessenharter Wohnungen ohne Gar- nach Bedarf. ten. Die „Zufallsschöffen“ (Dienel) erhal- Der Kripomann fordert Freizeitange- ten eine Einladung mit Rückschein zur bote für Jugendliche, damit „man nicht Projektarbeit. Bei wichtigen oder bri- nach fünf Jahren einen Streetworker santen Themen sagen bis zu 50 Prozent holt und feststellt, es ist zu spät“. der Eingeladenen zu. Die Endergebnisse, nach jeweils vier Im Fall Solingen ermittelte Dienels Tagen, findet Bongardts Koordinator Uni-Fachkollege Horst Bongardt, Pro- Ralf Siegel „erstaunlich progressiv“, jektleiter der Wuppertaler Forschungs- mit zahlreichen ökologischen Lösun- stelle Bürgerbeteiligung und Planungs- gen. Schadstofffreie Baumaterialien, verfahren, die meisten Teilnehmer aus Brauchwasser aus Zisternen, Nutzung den gut 15 000 Mitgliedern des Spar- von Sonnenenergie gehören zum Forde- und Bauvereins, weil ein Großteil der rungskatalog. Zwei der vier Planungs- geplanten Siedlung für die Genossen- zellen empfahlen teilweise Bauen ohne schafter bestimmt ist. Nur jeder fünfte Keller und die Verwendung der gespar- stammte aus dem Einwohnerverzeichnis ten Kosten für verbesserte Bauausstat- von Solingen-Ohligs. tung. Dagegen nahmen Keller-Befür- Als Standardgröße einer Planungszel- worter einen „unversöhnlichen Stand- le hat Dienel 25 Personen festgelegt – punkt“ (Gutachten) ein. ein überschaubares Diskussionsforum, Das Beteiligten-Gutachten wurde, das ständig zur Beratung von Einzelfra- nach Auswertung der von den Teilneh- gen in fünfköpfige Kleingruppen geteilt mern vergebenen Punkte für die einzel- wird. nen Vorschläge, an den Bauverein so- „Wir halten sie unter ständigem Ent- wie Politiker der Kommune und des scheidungsdruck“, verkündet Bongardt. Landes Nordrhein-Westfalen über- Fachbeamte, Politiker, Praktiker und reicht. Anfang 1996 werden neue Pla- Wissenschaftler bombardieren die Lai- nungszellen das Ergebnis des Architek- enplaner, deren Debatte von neutralen tenwettbewerbs prüfen. Moderatoren begleitet wird, mit Kurz- Bauleiter Steinmann, der im voraus referaten – Informationen für Teilent- Laienpläne für „Traumschlösser“ be- Werbeseite

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Tendenzen im niedersächsischen Buxte- hude erarbeiten. Dort war 1992 eine Unterkunft für Asylsuchende in Brand gesteckt und ein Einwohner, der sich ge- gen Nazigesinnung gewandt hatte, von einem Skinhead erschlagen worden. Der Wissenschaftler, Professor an der Hamburger Bundeswehr-Universität, ließ, im Auftrag der Stadt, in Interviews und öffentlichen Moderatorenrunden ein Meinungsbild im Ort ermitteln. Die gewonnenen Vorschläge zur Entspan- nung legte er einer Planungszelle vor, die in einer Feierstunde den Stadtvätern ihr Bürgergutachten überreichte. Der Buxtehuder Stadtrat beschloß Ende April erste Maßnahmen. Dazu ge- hören die Einrichtung eines Ausländer- beirats, die Bestellung eines Streetwor- kers und Räume für eine deutsch-aus- ländische Gesellschaft, die aus der Pla- nungszelle heraus gegründet wurde. Die Ausländer in der Planungszelle wurden auch mit Forderungen konfron-

W. SCHEIBLE / FORMAT tiert – etwa der, daß hier lebende Aus- Rathaus-Vorplatz in Köln: Stadtplanung in kleinen bunten Zellen länder Deutsch lernen müßten. Integra- tion, argumentierte ei- fürchtet hatte, bekam statt dessen „sehr ne Lehrerin, „läuft interessante Arbeitsergebnisse, und das nun mal in erster Linie in jeweils nur vier Tagen“. über Sprache“. Für Die „Schnell-Lerneffekte“ der mei- schwierige Fälle wie sten Teilnehmer verblüffen auch die Analphabeten, auf die Wissenschaftler immer wieder. Die So- Türken und Araber linger Laienplaner „haben Dinge be- hinwiesen, sollen Kur- dacht, auf die wir nie gekommen wä- se angeboten werden. ren“, resümiert Bongardt. Dabei wird Schon die ausführli- die Zeit bis zum Abschlußvotum jeweils chen Presseberichte bewußt kurz gehalten: Je länger disku- über die Bürgeraktivi- tiert wird, desto mehr Fremdinteressen täten trugen zu einem können sich einmischen. „besseren Klima in der Andere Erfolge mit Planungszellen Stadt“ (Gessenharter) liegen schon länger vor. Bürgergutach- bei, Fremdenfeindlich- ten widmen sich so komplizierten The- keit wurde unpopulär. men wie – 1989 – der Ausgestaltung und Prompt haben die Lai- Anwendung der neuen digitalen Dienste engutachter nun den

der Telekom (520 Teilnehmer in acht H. SPIEGEL Eindruck, daß es die Städten) oder – vier Jahre zuvor – der Teilnehmer der Kölner Planungszelle (1979) Stadtväter mit den Testplanung und den Testkriterien der Wohnungen statt Verwaltungsblöcke empfohlenen Maßnah- Stiftung Warentest (Einführung ökolo- men, besonders wenn gischer Maßstäbe). Lösung“ durch: eine Variante des ur- sie Geld kosten, nicht mehr so eilig ha- In Köln lösten Planungszellen (gut sprünglichen Entwurfs mit einem ver- ben. 240 Teilnehmer) die festgefahrene kleinerten Tunnelprojekt. Das kann sich rächen. In Solingen Stadtplanung im Rathaus/Gürzenich- In einer Schlußdebatte blamierten hatte eine Planungszelle dringend emp- Viertel. Zu allgemeiner Zufriedenheit Mitglieder der Planungszellen die zu- fohlen, ausreichend Aufsichts- und An- verlangten sie beispielsweise mehr Woh- ständigen Politiker mit überlegenem sprechpersonal für einen projektierten nungsbau, wo die Architekten Verwal- Detailwissen. Gesiegt hatte, wie es die Freizeitpark am Bärenloch-Gelände be- tungsgebäude vorgesehen hatten, und Solinger Moderatorin Birte Kubersky reitzustellen. Die Stadtverwaltung, schufen dazwischen Freiflächen. ausdrückt, „das gute Volksempfinden“. sonst für Mitbeteiligungsprojekte schon Im westfälischen Gevelsberg hatten Erfinder Dienel weiß aber auch, war- preisgekrönt, scheute Mitte der achtzi- sich die Parteien über eine Route für um solche Einsichten in der Bürokratie ger Jahre die Kosten und mauerte. den Durchgangsverkehr zerstritten. noch immer auf Mißtrauen stoßen: „Das Vorletztes Jahr trieben sich in dem SPD und CDU verloren kräftig Stim- Verfahren ist eine Beleidigung für den unbeaufsichtigten Gelände vier junge men. Fachmann.“ Soll’s auch sein. Leute herum, malten Hakenkreuze auf Planungszellen mit insgesamt 300 Die Dienel-Methode beginnt sich von Sandkastenränder und langweilten sich. Bürgern lieferten sich 1991 „unglaublich ihren Wuppertaler Ursprüngen zu lö- Derzeit stehen sie in Düsseldorf vor Ge- emotionale Auseinandersetzungen“, sen. Gestützt auf Dienels Konzept und richt. wie sich die begleitende Moderatorin gefördert mit Lotto-Mitteln, ließ der Sie werden beschuldigt, den Solinger Anne Fischer erinnert. Doch am Ende, Hamburger Politologe Wolfgang Ges- Brandanschlag mit fünffacher Todesfol- erlebte die überraschte Sozialwissen- senharter ein Bürgergutachten gegen ge auf die türkische Familie Genc¸ ausge- schaftlerin, setzte sich die „vernünftigste ausländerfeindliche und rechtsextreme heckt zu haben. Y

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einreisen, bleiben aber kann es auf der Tierschutz Airport-Station auch nicht. Wo immer das Äffchen noch landen wird: In einer Lufthansa-Maschine fliegt es keinen einzigen Kilometer mehr. Die Elefant deutsche Airline beschloß vergangene Woche, sämtliche Affentransporte ein- zustellen. im Laderaum Bislang beförderte die Kranich-Linie bis zu 8000 Primaten jährlich, meist ka- Die Lufthansa ist durch umstrittene men die Affen aus Asien und wurden zu Tierfrachten ins Gerede gekommen Tierversuchslabors in die USA geflogen – mit Zwischenlandung in Frankfurt. – jetzt stoppt die Airline alle Tierschützer fordern seit langem, die Affentransporte. Lufthansa solle die Affentransporte zu Tierversuchen einstellen. „Für den Stopp“, lobt die Veterinärärztin Chri- as zierliche Äffchen mit den gro- stiane Cronjaeger vom Bundesverband ßen dunklen Kulleraugen turnt der Tierversuchsgegner jetzt, „verdient Dlustlos in seinem Käfig herum. die Lufthansa unsere hohe Anerken- Wärter haben dem Tier ein paar Holz- nung.“ stäbe durchs Gitter gesteckt, damit es Doch die Labor-Äffchen sind nicht wenigstens etwas zum Klettern hat. die einzigen animalischen Fluggäste der In Syrien war das Makaken-Äffchen Lufthansa. Monat für Monat befördert als Luftfracht aufgegeben worden, Ziel- die Airline Tausende von Tieren als ort: Frankfurt. Jetzt hockt es dort auf Luftfracht, vom Zuchtschwein über der Tierstation des Flughafens. Weil das Schlangen und Zierfische bis hin zu Tier aus der freien Wildbahn kommt, Pferden und Elefanten – teils unter frag- darf es aus Artenschutzgründen nicht würdigen Bedingungen, wie Tierschüt- zer kritisieren. Ihre Affen- frachten haben die Lufthan- seaten nicht aus ethischer Überzeugung storniert. Sie fürchten vielmehr, die anhal- tenden Proteste könnten ihr Image gefährden. „Gegen sol- che emotionalen Kampa- gnen“, erklärt der Vorstands- vorsitzende der Lufthansa- Cargo, Wilhelm Althen, „haben wir keine Chance.“ In öffentlichen Aktionen

M. KARREMANN hatten die Tierversuchsgegner Transportopfer Affe zum Boykott aller Fluglinien „Die Tiere gehen die Wände hoch“ aufgerufen, die Affen beför-

Elefantenbaby-Transport: Flugstreß in der dunklen Kiste Werbeseite

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Werbeseite DEUTSCHLAND dern. Ihr Protest galt, außer der Luft- i Im August 1992 etwa starben 110 Ma- hansa, noch etwa 20 Firmen. „Während kaken-Affen auf dem Flug von Jakar- Sie Ihren Flug genießen“, appellierte ta über Frankfurt nach Miami. Die ein Faltblatt an das Gewissen der Passa- Ursache ist bis heute ungeklärt – wo- giere, „sitzen im Frachtraum der Ma- möglich ein Heizungsausfall, vermu- schine Todeskandidaten.“ tet die Lufthansa. Tatsächlich sind die Tiere häufig nur i Im Februar 1993 verendete in Frank- ein Stockwerk unter den Passagieren furt ein bis auf die Knochen abgema- untergebracht. Während sich etwa in gerter Hund. Das Windspiel aus Ma- der Business-Class die Gäste in die Pol- cau war auf dem Weg nach Lissabon, stersessel lehnen, kann es sein, daß die beim Einladen in Hongkong hatten Kreatur im Frachtraum starr vor Angst Lufthansa-Mitarbeiter den schlechten in einem engen Käfig hockt. Zustand des Tieres übersehen, weil es Elefantenbabys stehen eingezwängt in eine Decke trug. Holzkisten, damit sie während des Flu- i Im August 1993 entdeckten die Vete- ges nicht umfallen. Affen, die zusam- rinäre auf der Frankfurter Tierstation mengepfercht wurden, zerfleischten sich in einer Kiste mit Igelbabys aus Kairo zuweilen gegenseitig. Allein der Flug- elf tote Tiere. Weil in den Papieren streß, in einer dunklen Kiste bei fälschlicherweise der Hinweis „Repti- schwankendem Druck und ungewohn- lien“ vermerkt war, hatten Lufthansa- ten Temperaturen, ist nach Ansicht vie- Mitarbeiter angenommen, es handle ler Veterinäre eine Qual für die völlig sich um Krokodile – und nicht nach- verängstigten Tiere. geschaut. Besonders für die hochsensi- blen Primaten, so Brigitte Ru- sche vom Tierschutzbund, sei der Flug „eine einzige Tortur“. Die Transportkästen könnten „wie Luxusappartements“ aus- gestattet sein, meint auch die Tierschutzbeauftragte der hessischen Landesregierung Madeleine Martin, „die Tiere gehen trotzdem die Wände hoch“. Überdies sind die Tierschüt- zer überzeugt, daß die noch immer von diversen Flugge- sellschaften transportierten Affen, zumeist Makaken und Paviane aus Asien und Afrika, überwiegend von der freien Wildbahn stammen und daher nach den Tierschutzbestim- mungen in etlichen Ländern Transportopfer Windhund nicht als Versuchstiere miß- „Todeskandidaten im Frachtraum“ braucht werden dürften. Doch werden nach ihren Recherchen weltweit Derlei „bedauerliche Unfälle“, wie- Jahr für Jahr Zehntausende von Affen il- gelt LH-Vorstand Althen ab, kämen nur legal in der Wildnis gefangen – nur um, vereinzelt vor: Angesichts der hohen für viel Geld, an Laborbetriebe verkauft Zahl von transportierten Tieren sei „die zu werden. Gerade mal zwei von zehn ge- Todesrate gleich null“. Den Transport fangenen Affen überleben nach Tier- von exotischen Vögeln aber stellte die schützer-Schätzungen brutale Fangme- Lufthansa bereits Ende 1990 ein. „Das thoden und quälende Reisen. haben wir nicht in den Griff bekom- Die Lufthansa beteuert, sie habe nur men“, räumt Althen ein, „es starben zu Zuchtaffen transportiert, bei denen, mit viele.“ entsprechenden Papieren, die Herkunft Das Cargo-Unternehmen fühlt sich nachgewiesen sei. Tierschützer hingegen als Prügelknabe. „Hier wird versucht“, behaupten, viele Zertifikate seien ge- glaubt Althen, „über den Transport ein fälscht: Über Zwischenhändler würden anderes Problem zu lösen – das der Tier- die Tiere umdeklariert. „Am Tier versuche“. Die zu Hunderten eingehen- selbst“, bestätigt Andrea Escher aus dem den Protestpostkarten („Mit Affen flieg’ hessischen Sozialministerium, „können ich nicht“) jedenfalls landen bei der sie nie überprüfen, woher es stammt.“ Lufthansa regelmäßig im Mülleimer. Auch wenn sich die Lufthansa bemüht, Indes werden auch unter Lufthansa- ihre Transportbedingungen ständig zu Mitarbeitern die Tierschützer immer verbessern – Todesfälle im Frachtraum zahlreicher. Kürzlich weigerte sich ein konnten selbst die LH-Betreuer nicht Pilot sogar, einen Hund zu fliegen – aus verhindern: „ethischen Gründen“. Y Werbeseite

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DEUTSCHLAND AKG K. MEHNER Völkerschlacht-Gemälde*, Grundbesitzer Flohr, Gedenkstein: Kanonenkugeln im Kartoffelacker

Landeigner wurden nicht informiert. Allerdings fraßen sich, Meter für Me- Denkmalschutz Seither sind die friedlichen Felder wieder ter, die Braunkohlebagger immer näher ein Kriegsschauplatz. an den Schlachtacker heran. Die Ein- Anwohner und Gemeinden in der Re- heitssozialisten wollten auf Dauer – we- gion zwischen Leipzig und Borna wehren gen der Tradition – nicht auf die Kohle Ran wie sich gegen die aus ihrer Sicht unzumutba- verzichten. Nach der Wende aber wurde ren Baubeschränkungen – und gegen die der Braunkohleabbau gestoppt. Seither ungleiche Behandlung: Denn während marschieren pünktlich zum Jahrestag des Blücher privater Häuslebau und kommunale Ge- Gefechtes in jedem Herbst Freiwillige werbeansiedlungen auf dem Areal strikt mit Lanzen und Bajonetten auf den Fel- Streit um den Schauplatz der Leipzi- untersagt wurden, will der Bund eine Au- dern auf und stellen die alten Frontlinien ger Völkerschlacht: Bürger dürfen tobahn durch die historienreiche Acker- nach – Motto: Ran wie Blücher. krume schneiden. An das Schlachtfeld grenzende Ge- nicht bauen, doch der Bund plant Der Bau der Betonpiste südlich von meinden wie die Dörfer Wachau und eine Autobahn auf dem Terrain. Leipzig würde die soeben zur Kulturstät- Güldengossa gründeten einen Zweckver- te geadelten Kartoffeläcker unwiderruf- band „Südliches Schlachtfeld“. Sie woll- lich zerstören. Dabei hatte das Schlacht- ten, wie es der Liebertwolkwitzer Bür- enn Ulrich Flohr, 52, seine Lati- feld die letzten 180 Jahre nahezu unbe- germeister Klaus Reißmann, 56, aus- fundien im Süden von Leipzig in- schadet überstanden. Ein halbes Dut- drückt, „das blutgetränkte Territorium Wspiziert, überkommt den Bau- zend Granitblöcke, wie Hinkelsteine auf richtig vermarkten“. ingenieur neuerdings die Wut. Weit den Feldern verstreut, erinnern noch an Den Kommunalpolitikern schwebt ei- schweift der Blick über 20 Hektar Acker- die alte Schlachtordnung. Immer mal ne Art History-Disneyland vor. Da soll land, günstig im Speckgürtel der Messe- wieder stoßen Bauern beim Pflügen auf ein russisches Hüttendorf mit Biwak er- stadt gelegen. Kanonenkugeln. richtet werden und eine Windmühle, die Auf dem renditeträchtigen Boden Etwa 120 000 Menschen wurden in auf zeitgenössischen Malereien zu sehen wollte Flohr drei Einfamilienhäuser er- dem dreitägigen Gemetzel getötet oder ist. Auch Restaurants und Hotels waren richten. Doch die Behörden haben dem verwundet. Das Andenken an die geplant. Ingenieur jedwede Bauarbeit untersagt – Schlacht, bei der eine Allianz aus Russen, So viele Besucher wie die 170 000, die statt zum Investor ist der Mann, gleich- Preußen und Österreichern unter Füh- jedes Jahr zu dem monumentalen, nur sam über Nacht, zum Mitbesitzer eines rung des Generals von Blücher und des sieben Kilometer entfernten Völker- Flächendenkmals avanciert. Österreichers Fürst zu Schwarzenberg schlacht-Denkmal in Leipzig pilgern, Denn Flohrs Felder waren Schauplatz Napoleon empfindlich geschlagen hatte, würden allemal kommen, so das Kalkül der Leipziger Völkerschlacht. Wo heute wurde selbst zu DDR-Zeiten gewahrt. der Dörfler. Doch statt hochfliegender Kartoffeln und Maispflanzen sprießen, Pläne gibt es jetzt, är- da donnerten einst Kanonen, stampften 20 km Leipzig- gert sich Denkmalpfle- Pferdehufe und stolperten bunt unifor- Halle Meusdorf ger Reißmann, „nur mierte Soldaten herum – es war ein SACHSEN Liebert- Beschränkungen“. schreckliches Gemetzel, bei dem im Leipzig Gefechtsstand wolkwitz Gegen die Autobahn Herbst 1813 Napoleon eine entscheiden- 14 Napoleons aber sind die Denkmal- de Niederlage erlitt. 9 Ausschnitt Wachau schützer machtlos. Al- Vergangenen März stellte der sächsi- lenfalls können sie er- sche Landeskonservator ein gut 200 geplante SACHSEN- Autobahntrasse Schlachtfeld wirken, daß die Trasse Hektar großes Terrain als „südliches ANHALT abgesenkt wird, um, Schlachtfeld“ unter Denkmalschutz. wie Denkmalreferent Grundbesitzer Flohr wie auch andere Güldengossa Thomas Noack formu- 4 liert, „den Eindruck * Fürst Schwarzenberg überbringt Alexander I. Gera des historischen von Rußland, Franz I. von Österreich und Friedrich Braunkohle- Wilhelm III. von Preußen die Siegesbotschaft (18. THÜRINGEN Zwickau grube Schlachtfeldes zu er- Oktober 1813). halten“. Y

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Unvermeidbar bestimmt in Tsche- Zeitgeschichte chien das magische Dreieck Widerstand – Anpassung – Kollaboration jede Aus- einandersetzung mit der eigenen Ge- schichte. Und dann ist da ja auch noch „die sudetendeutsche Frage“, die, so Magisches Dreieck Außenminister Josef Zieleniec, „an den Nerv der Nation rührt“. Die Vertrei- Terror, Todeskommandos, Rache, Vertreibung – auf Deutschen und Tsche- bung der Sudetendeutschen in den Jah- chen lastet noch immer das Trauma ihrer gemeinsamen Geschichte. Eine ren 1945 bis 1947 läßt noch immer die Emotionen auf deutscher wie auf tsche- Prager Ausstellung zeigt erstmals die NS-Besatzungszeit unverfälscht. chischer Seite hoch aufwallen – eine der wenigen Erblasten in der Folge des Zweiten Weltkriegs, die nicht ausge- uch Tschechien hat nun seine frag- die Tschechen ein Volk von Wider- räumt ist. würdige Vergangenheit: Wurden standskämpfern mit Hunderttausenden Für mehr Licht auf diesem histori- Aseine Bewohner im Mai 1945 tat- von „Opfern des Faschismus“. schen Terrain sorgt nun eine gerade in sächlich befreit? Und standen sie am „Das ist die Wahrheit, denn so der tschechischen Hauptstadt eröffnete Ende des Zweiten Weltkriegs wirklich mecht es gewesen sein wollen“, sagt Ausstellung: „Prag im Schatten des Ha- an der Seite der Siegermächte? der Touristenführer auf dem Hrad- kenkreuzes. Die Geschichte der deut- Über sechs Jahre mußten die Tsche- schin, der alten Kaiserburg über der schen Besatzung 1939-1945“. Schauplatz chen unter der martialischen Herrenras- Moldau, wenn er wieder mal eine pi- ist das Altstädter Rathaus, jenes ge- se aus dem Nachbarreich leben, am kante Anekdote erzählt hat. schichtsträchtige Gebäude, das SS- längsten von allen Völkern. 50 Jahre ist Widerstand? Die Tschechen hatten Truppen noch am letzten Kriegstag in es her, daß die deutschen Besatzer vor sich schließlich den deutschen Invaso- Brand geschossen hatten. Schirmherr ist der heranrückenden Roten Armee aus ren ergeben und auch noch das ganze Parlamentspräsident Milan Uhde, die Prag flohen. Arsenal ihrer Waffen übereignet. Op- Resonanz sensationell. Bohumil Hra- Mit der Erfahrung von 40 Jahren so- fer des Faschismus? Ihr Präsident Emil bal, unter Prags Literaten, sagt, wjetischer „Bruderhilfe“ sprechen heute Ha´cha hatte schließlich noch am 20. aufgewühlt von der Erinnerung: „Jetzt viele Tschechen bei diesem Datum statt April 1945 dem in Berlin eingebunker- werden die Wechsel von damals fällig.“ von „Befreiung“ lieber vom „Austausch ten Hitler enthusiastisch zum Geburts- Die Ausstellung beruht auf einem Fo- der Okkupanten“. Für Milosˇ Zeman, tag gratuliert. to- und Textband mit gleichem Titel, Chef der tschechischen Sozialdemokra- den der schottische Historiker Callum ten, sind das Ketzereien, für ihn bleiben * Im Prager Pankra´c-Gefängnis. MacDonald, 46, und der tschechisch- EUPRA FOTOS: KAPLAN-MACDONALD Deutscher Einmarsch in Prag am 15. März 1939, SS-Fallbeil*: „In Blitzesschnelle und mit äußerster Härte“

66 DER SPIEGEL 20/1995 englische TV-Dokumentarist Jan Ka- plan, 47, geschrieben haben und der jetzt in einer englischen und tschechi- schen Ausgabe im Prager Melantrich- Verlag erscheint. Beide Autoren sind Experten: Der Professor aus Warwick hat schon ein hervorragendes Buch über das Heydrich-Attentat geschrieben, Ka- plan ist ein unermüdlicher Rechercheur des historischen Wandels in seiner Va- terstadt. „Die Kommunisten haben einen Vor- hang des Schweigens vor die Komplexi- tät des Lebens in der Okkupationszeit gezogen und einen Mythos vom Wider- stand der Arbeiterklasse unter Führung der Sowjetunion propagiert“ – dagegen setzen MacDonald und Kaplan, wie sie sagen, ihre „unverfälschte Geschichte“. Herausgekommen ist ein anschauliches Lehrstück für die Tschechen – aber auch für die Deutschen, die jeden Sommer millionenfach als Touristen für eine „Germanisierung“ neuer Art in der Gol- denen Stadt an der Moldau sorgen. Wenn diese Scharen überhaupt einen Bewußtseinsschimmer von der deut- schen Besatzung haben, dann ist es das Klischee, daß hier im Unterschied zu Polen, der Sowjetunion, dem Balkan doch alles recht zivil und harmlos abge- laufen sei. Mitnichten. Den Bildern die- ser Ausstellung hält diese fromme Erin- nerungslüge nicht stand. Begonnen hat es damals in aller Herr- Pro-NS-Kundgebung auf dem Wenzelsplatz am 3. Juli 1942: „Prager Tabu“ gottsfrühe. „Verhaltet euch ruhig, geht zur Arbeit, schickt eure Kinder zur zuvor hatte er mit dem Münchner Ab- Armee der Tschechen gab ihre Waf- Schule. Das deutsche Heer rückt von kommen den Westmächten die Annek- fen kampflos ab, darunter eine Million der Grenze nach Prag vor.“ Alle fünf tion des Sudetenlandes abgepreßt – Gewehre, 2500 Geschütze und 1500 Minuten, von halb fünf Uhr an, gab an nahm der Vegetarier ein Glas Pilsner Flugzeuge. Halb in ohnmächtiger diesem 15. März 1939 der tschechische und einen Happen Prager Schinken zu Wut, halb in fatalistischer Gelassenheit Rundfunk die Meldung durch. „Sachlich sich. starrten die Prager entgeistert auf die und geduldig“, wie die Journalistin Mi- Kein Schuß war gefallen, die Dro- Invasoren. lena Jesenska´, Freundin des Prager hung mit seinen Bombengeschwadern Die 7,2 Millionen Tschechen, von Dichters Franz Kafka, in ihrem Tage- hatte genügt. Die modern ausgerüstete den Appeasement-Politikern in Eng- buch notierte. Ihre Wehmut land schmählich im Stich ge- suchte sie sarkastisch zu fas- lassen, lebten nun im deut- sen: „So kommen die gro- schen „Protektorat Böhmen ßen Ereignisse zu uns: sach- und Mähren“. Zurückge- te und unerwartet.“ stuft auf den Status eines Neun Monate später, En- Kolonialvolks, hatten sie zu de 1939, wurde Milena Je- kuschen und zu arbeiten. senska´ von den Besatzern Das besetzte Land diente ins KZ Ravensbrück depor- mit seiner hochentwickel- tiert, wo sie 1944 umkam. ten Industrie der deutschen Hitler war zum erstenmal Kriegsmaschinerie bei ihren in ein Land eingefallen, das Eroberungsfeldzügen als außerhalb der deutschen Waffenschmiede. 1941 wur- Sprachgrenze lag. Als er den ein Drittel der deut- gleich am ersten Tag höchst- schen Panzer, 28 Prozent persönlich in Prag auf dem der Lastwagen und 40 Pro- Hradschin für eine Nacht zent der Maschinenwaffen Quartier nahm, vertraute er im „Protektorat“ produ- seinem Spießgesellen Hein- ziert. rich Himmler an: „Ich muß Endziel war die „Eindeut- wirklich sagen, das habe ich schung von Böhmen und elegant gemacht.“ Mähren“. Wer von den Zur Feier der planmäßi- „Protektoratsangehörigen“ gen „Erledigung der Rest- sich bewährte und das Prä- Tschechei“ – ein halbes Jahr Staatssekretär Frank (l.), Präsident Ha´cha (r.): Artig bei Fuß dikat „eindeutschungsfähig“

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erhielt, sollte später „germanisiert“ – wer nicht, „nach Osten deportiert“ oder „ausgemerzt“ werden. Emil Ha´cha, der schwer gedemütigte Tschechenpräsident, durfte als Gali- onsfigur in seinem Amt bleiben, stets artig bei Fuß der Besatzungsmacht. An deren Spitze stellte Hitler einen „Reichsprotektor“, zunächst seinen Ex-Außenminister Konstantin von Neurath, dann den berüchtigten Orga- nisator der „Endlösung der Judenfra- ge“, Reinhard Tristan Heydrich, den nach Himmler zweitmächtigsten Mann in der SS. Der legendenumwitterte „junge To- desgott“ Heydrich erhöhte, wie er in- tern erklärte, „aus kriegswichtigen und taktischen Gründen“ den tschechischen Arbeitern die „Fettrationen“ und plan- te gleichzeitig von Anfang an auch schon „eine Endlösung“, um das ge- raubte Land „endgültig deutsch“ zu machen.

Heydrichs Exekutor war Staatssekre- FOTOS: BPK tär Karl Hermann Frank, ein Sudeten- NS-Statthalter Heydrich, Ehefrau Lina*: „Mann mit eisernem Herz“ deutscher aus Karlsbad. Der SS-Grup- penführer lenkte über sechs Jahre den kommen waren und das Bild der In- über 400 Todesurteile, die sofort voll- Terror, den Gestapo und SS in ihrem nenstadt dominierten. Die feinsten Ho- streckt wurden. neuen Revier entfalteten. Annähernd tels, die Cafe´s, die Restaurants – alles Zum Mord kam das Zuckerbrot: 5000 Menschen fielen der ersten Ver- in deutscher Hand, die tschechischen 200 000 Schuhe gratis für die Rüstungs- haftungswelle („Aktion Gitter“) zum Kellner gaben ihr Bestes. Auf dem arbeiter, Lebensmittelzulagen für die Opfer: Juden und Deutsche, die in den Wenzelsplatz paradierte jeden Samstag Schwerarbeiter, Empfang auf der Prager Jahren zuvor nach Prag geflohen wa- ein SS-Wachbataillon. In Berlin lobte Burg für eine Arbeiterdelegation. ren, Journalisten und Intellektuelle, Goebbels die Verhältnisse in der böh- Wenige Monate später war der SS-Ge- die im Verdacht standen, das neue Re- mischen Kolonie und den Fleiß ihrer neral mit den huldvoll gnädigen Allüren gime abzulehnen. Bewohner: „Die Tschechen haben sich tot – Opfer eines Attentats, das zwei von Die Prager mußten umdenken, ein bewährt.“ einer englischen „Halifax“ abgesetzte Heer von Spitzeln arbeitete den Nazi- Kleineren Widerstandsregungen be- Fallschirmagenten im Auftrag der tsche- Machthabern zu. Auch im Straßenver- gegneten Heydrich und Frank mit Ter- choslowakischen Exilregierung am 27. kehr herrschte nun das deutsche Sy- ror: Tausende wurden verhaftet, in Mai 1942 verübten: der Tscheche Jan Ku- stem. Keine zwei Wochen nach dem zwei Monaten fällten Sondergerichte bisˇ und der Slowake Jozef Gabcˇik. Einmarsch hieß es: „Es wird Der Coup löste ein vielfaches rechts gefahren.“ Echo aus, Nazi-Gegner sahen Als Studenten auf dem Wen- darin ein Signal. Zum erstenmal zelsplatz gegen die deutsche Un- war ein Anschlag auf einen Nazi- terdrückungspolitik demonstrier- Führer von solchem Rang gelun- ten, wurden neun von ihnen gen. Präsident Va´clav Havel fei- standrechtlich erschossen und al- erte 50 Jahre später den „Wider- le tschechischen Hochschulen ge- standsakt“: Er habe „der ganzen schlossen. Welt gezeigt, daß wir uns selbst Die meisten Tschechen ver- als unterjochtes Volk reflektie- suchten, sich mit den Okkupan- ren, das ein Opfer der Gewalt ge- ten zu arrangieren. Die Nach- worden ist“. richten aus Polen, wo der deut- In Berlin rasten Hitler und sche Mordfuror nach dem Über- Himmler. Sie befahlen, sofort fall vom 1. September 1939 noch „die gesamte oppositionelle weit schlimmer wütete, bremsten tschechische Intelligenz zu ver- auch die Wagemutigen, die zur haften und heute nacht bereits Auflehnung entschlossen waren. die hundert wichtigsten zu er- Konfrontationen wurden vermie- schießen“. Als Heydrich am 4. den, aber die Widerstandsgrup- Juni seinen Verletzungen erlag, pen im Untergrund hielten Kon- wurde sein Leichnam im Ein- takt mit den Exilorganisationen gangshof des Hradschin aufge- in London. bahrt. SS-Männer hielten die To- Im Frühjahr 1941 schien Prag tenwache, endlose Kolonnen von ein Ort weit weg vom Krieg zu sein. Zumindest für die 120 000 * Am 26. Mai 1942, dem Abend vor dem deutschen Herrenmenschen, die Attentat, bei einem Konzertbesuch im inzwischen aus dem Reich ge- Himmler-Befehl: Orgie der Vergeltung Prager Waldstein-Palais.

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schen Ortsnamen auf die Bomben, die teilsverkündung und Hinrichtung hatten sie über Deutschland abwarfen. die Angehörigen zu tragen. Auf Wunsch Verrat und Grausamkeit halfen den war Ratenzahlung möglich. Nazi-Häschern auf die Spur. Ein eben- Die Zentrale des SS-Terrors befand falls in England ausgebildeter Wider- sich im Pecˇek-Palais in der Nähe des standskämpfer, Karel Cˇ urda, sicherte Wenzelsplatzes, einer ehemals jüdi- sich einen Teil der zur Belohnung ausge- schen Bank. Die Tresorräume dienten setzten 20 Millionen Kronen und nannte nun den Gestapo-Verhörexperten als die Namen. Ein junger Mann gab am 17. schalldichte Folterkammern. Von dort Juni das Versteck preis, als die Gestapo- wurde die Mutter des tschechischen Vernehmer ihm den Kopf seiner Mutter Filmregisseurs Milosˇ Forman nach in einem Glasbehälter präsentierten. Auschwitz deportiert, wo sie 1943 starb. In der Krypta der orthodoxen St.-Ky- Einen ähnlichen Weg nahm ein gro- rill-und-Method-Kirche in der Prager ßer Teil der Prager Juden. Nur wenige Resselgasse, wohin sich die beiden At- Tausende der etwa 60 000 Juden, die da- tentäter mit fünf ihrer Kameraden ge- mals hier lebten, hatten 1939 noch aus- flüchtet hatten, endete der ungleiche reisen können. Der Rest saß in der Na- zi-Falle. 70 Kilometer von Prag entfernt hatte Tresorräume dienten Heydrich in Theresienstadt ein Vorzei- der Gestapo ge-KZ installieren lassen. Hinter der Ghetto-Fassade war es von 1942 an für als Folterkammern über 45 000 Prager Juden Durchgangs- station in die Vernichtungslager weiter Kampf. Die Widerstandskämpfer wehr- östlich. ten sich gegen die anstürmenden SS- Nur 484 Juden haben in Prag über- Truppen bis zur letzten Patrone – die ga- lebt. Kaplan erläutert: „Hier war es be- ben sie sich selbst. Ihre abgeschnittenen sonders schwierig unterzutauchen. Das und aufgespießten Köpfe wurden wäh- Risiko, Juden zu helfen, war hoch. Dar- rend der nachfolgenden Verhöre den auf stand die Todesstrafe.“ Angehörigen gezeigt, bevor auch diese Bis kurz vor Kriegsende blieb Prag der Terrorjustiz zum Opfer fielen. von Bomben verschont. Seit Februar Nach der „Heydrichiade“, wie die 1943 mußten alle Tschechen zwischen 17 Prager die Schreckensphase nach dem und 45 Jahren, Männer wie Frauen, Attentat nennen, sank die Bereitschaft „zwangsverpflichtet“ in den Fabriken in der Bevölkerung, den Widerstand zu für Hitlers „Endsieg“ arbeiten, 64 Stun- unterstützen, auf ein Minimum. Viele den die Woche. strömten nun zu den „Sieg Heil“-Kund- Dabei gab es immer weniger zu essen. gebungen, die überall im Land organi- Die Regale in den Geschäften waren

R. R. COWDERY siert wurden, den Unterdrückern ihre leer, in den Schaufenstern standen Frank-Hinrichtung in Prag 1946 Ergebenheit zu zeigen. Die größte De- Schilder, die von Hasˇeks Schwejk hätten 5000 Zuschauer monstration der Jubel-Tschechen, die stammen können: „Geschlossen für den am 3. Juli auf dem Wenzelsplatz mit Sieg des Reichs“. Trauergästen, darunter viele Tsche- über 200 000 Teilnehmern stattfand, ist Als sich das Ende der Nazi-Herrschaft chen, gaben dem „Mann mit dem eiser- in der Ausstellung dokumentiert. „Bis abzuzeichnen begann, warteten die nen Herzen“ (Hitler) die letzte Ehre. jetzt“, sagt Kaplan, „war es in Prag so Mit Schaudern erinnern sich Prager, gut wie tabu gewesen, Fotos davon zu die diese Zeit miterlebt haben, an das, zeigen.“ was folgte: 1017 Hinrichtungen in den Tschechische Soldaten kämpften in ersten Wochen, die Namen der Opfer den Reihen der Engländer gegen die schallten aus Lautsprechern über den Deutschen, auch in der Roten Armee Wenzelsplatz, hinter jedem dröhnten gab es tschechische Bataillone, aber in ein paar Takte deutscher Marschmusik. Prag selbst breitete sich tiefe Resignati- 300 Tschechen ließ Kurt Daluege, on aus. Die Besatzer blieben gleichwohl Heydrichs Nachfolger, „wegen Guthei- wachsam. Ihr Anführer Frank begeister- ßung des Attentats“ erschießen. te sich an den Sondergerichten, die es Straßensperren, Razzien, Orgien der fertigbrachten, „in Blitzesschnelle und Vergeltung: Am 10. Juni nahmen sich mit äußerster Härte“ pro Monat 100 SS-Truppen das Dorf Lidice im Westen Tschechen zu töten. von Prag vor. Sie erschossen alle Män- Ausführlich schildern MacDonald ner (insgesamt 198), deportierten die und Kaplan die Prozedur des langen Frauen in das KZ Ravensbrück, ver- Mordens in Text und Bild, bis hin zu schleppten die Kinder, brannten die makabren Einzelheiten. In der düsteren Ortschaft nieder und machten sie, wie es k. u. k. Strafanstalt Pankra´c im Süd- ihr Befehl war, „dem Erdboden gleich“. osten Prags starben die Häftlinge meist Ähnlich verfuhren sie zwei Wochen spä- durch den Strick und die „Fallschwert- ter mit der Gemeinde Lezˇa´ky. maschine“. War das Tagespensum so

Lidice wurde zur Chiffre für SS-Greu- groß, daß sich Warteschlangen bildeten, KAPLAN-MACDONALD el, für Willkür und Grausamkeit. In durften die Todeskandidaten auf Stüh- Prosowjetische Propaganda 1946 England pinselten Piloten den tschechi- len Platz nehmen. Die Kosten für Ur- „Austausch der Okkupanten“

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Tschechen geduldig, bis sich die Trup- die Hörer abspenstig. Bei penetran- pen der Alliierten der Stadt näherten. Radio ten Gewinnspielen (Branchenjargon: Am 5. Mai 1945 brach dann der Prager „Hörerkauf“) ist alles zu kriegen, vom Aufstand los, an dessen Spitze sich der Hundertmarkschein über die Wochen- im Untergrund formierte tschechische endreise bis zum Auto. Nationalrat Cˇ NR setzte. Parole Nirgendwo in der deutschen Radiosze- Die Stunde, jahrelang von den Wi- ne ist die Konkurrenz größer. 22 UKW- derstandsgruppen inbrünstig beschwo- Stationen, allein neun Kommerzsender, ren, war gekommen. Erbitterte Stra- für Kohle rangeln auf dem heißesten Radiomarkt ßenkämpfe, Tieffliegerangriffe, Geisel- der Republik um Hörer und Werbeein- erschießungen, fieberhafte Verhand- Auf dem heißesten Radiomarkt nahmen. Drei weitere Stationen werden lungen um Kapitulation und freien Ab- der Republik, in Berlin, gehören dieses Jahr auf den Markt drängen. zug kennzeichnen das Chaos der letz- Als Berlins erster Kommerzsender ten Tage – fast 2000 Menschen kamen Hörerkauf und Gerichtshändel zur Hundert,6 vor acht Jahren antrat, mußte auf tschechischer Seite dabei um. Senderstrategie. er sich die Frequenz noch mit den linken Die amerikanischen Panzer verharr- Alternativfunkern von Radio 100 teilen. ten 60 Kilometer westlich bei Pilsen Heute kostet Konkurrenz richtig Geld. und griffen gemäß einer Absprache mit as morgendliche Grauen hat viele Mit zwei Millionen Mark Werbegeld den Sowjetrussen nicht ein. Am Mor- Stimmen. „Die Sticker-Picker sind drückte Hundert,6-Geschäftsführer Ge- gen des 9. Mai, die letzten deutschen Dwieder unterwegs“, dröhnt Arno org Gafron, 41, Anfang des Jahres seine Truppen verließen gerade die Stadt im Müller aus dem Radio und verspricht neue Morning-Show „Expresso“ auf den Westen, tauchten von Norden her die dem schlaftrunkenen Hörer Geld und Markt. ersten Sowjetpanzer im Zentrum Prags zwei Kabrios als Hauptgewinn. Partner Beständig hatte sein Sender in der Ra- auf, stürmisch bejubelt von der Bevöl- Jochen Tust haut auf sein Schlagzeug dio-Prime-time zwischen sechs und zehn kerung. Die Rote Armee konnte sich ein, während im Hintergrund eine junge Uhr morgens Hörer verloren. Wochen- rühmen, die letzte europäische Haupt- Frau von Zeit zu Zeit glucksendes La- lang prangte an den Berliner Werbeta- stadt befreit zu haben. chen einstreut. feln eine überdimensional große Frau Es war auch die Stunde der Rache. Von sechs Uhr morgens an toben Ar- ohne Oberkörper mit Spitzenhöschen Gestapo- und SS-Männer, die sich no und seine Crew („Berlins lustigste bekleidet – Slogan: „Expresso-Hörer nicht rechtzeitig abgesetzt hatten, wur- Morgensendung“) bei 104,6 RTL. Im wissen morgens als erste, was im Busch den gejagt und an Straßenlaternen auf- Radioreich der guten Laune wird keine ist!“ gehängt. Die Sudetendeutschen wur- Gnade gewährt: Lispelnde Reporterin- Im Kampf um Marktanteile überlebt den über die Grenze getrieben – bis nen, Super-Soft-Hits und Reisepreisaus- nur, wer die Hörer mit Gewinnspielen zum Jahresende 1946 über zwei Millio- schreiben füllen den Äther, und auf der und Aktionen an sich bindet. „Auf rund nen, zum Teil unter grausamen Exzes- anderen Seite der Radioskala lauert, bei 160 Millionen Mark brutto“ schätzt Ga- sen. 94,3 Megahertz, schon Andreas Dorf- fron die Werbeetats der Berliner Sender. Mehr als 700 Todesurteile ergingen mann. Rund 20 Prozent ihrer Einnahmen stek- gegen deutsche Besatzer und ihre „Mini-Mix bringt Maxi-Cash“, tönt ken die Funker mittlerweile in Promoti- tschechischen Helfershelfer. Den nach der Sender r.s.2. Ein paar Musiktitel an- on. Doch Geld, da sind sich alle Exper- Westen geflohenen Frank lieferten die gespielt, 1500 Mark im Jackpot, die ten einig, verdient neben Hundert,6 und Amerikaner den Tschechen aus. Die richtigen Antworten und ein quietschen- RTL allenfalls noch der Berliner Rund- machten ihm den Prozeß und henkten der Gewinner mehr am Telefon. funk. ihn am 22. Mai 1946 in Prag vor 5000 Mit Millionensummen machen sich Die Zahl der treuen Stammhörer ist Zuschauern, darunter einige Witwen die Berliner Radiosender gegenseitig rückläufig, immer häufiger wechselt die aus Lidice, spektakulär mit dem Gal- gen. Auch Verräter Karel Cˇ urda wur- de hingerichtet. Chef-Kollaborateur Ha´cha starb am 1. Juni 1945 in der Gefängniszelle. Drei Jahre später, als die Kommuni- sten die Gefängnisse mit ihren politi- schen Gegnern zu füllen begannen, waren viele darunter, die sich im Wi- derstand gegen die deutschen Besatzer bewährt hatten. Die Sowjets ließen sich weiter als Befreier von der Nazi- Herrschaft feiern, während sie ihre ei- gene Herrschaft mit der stalinistischen Knute festigten. NA VEˇ Cˇ NE´ CˇASY – „in alle Ewig- keit“, steht in großen Lettern auf dem Schlußbild der Ausstellung. Es zeigt ei- nen sowjetischen Kosaken, der sein Pferd unter einer Brücke in der Mol- dau tränkt, das Cover eines Propagan- dabuches aus der Nachkriegszeit. So ganz falsch war sie nicht, diese Voraus- sage, sagen die Prager, die es überlebt

haben: 40 Jahre können ewig lang A. PACZENSKY / ZENIT sein. Y Radio-Moderator Müller: „Berlins lustigste Morgensendung“

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Kundschaft das Programm. Zudem dringt das Fernsehen mit seinen Talk- shows in den Nachmittag ein, früher eine Radiodomäne. Besonders hart beharken sich seit Mo- naten RTL und r.s.2 auf Sendung, auf der Straße und vor Gericht. RTL-Geschäfts- führer Bernt vonzur Mühlen, 48, hältden Konkurrenten „für eine Totalkopie“ sei- nes Programms („Die größten Hits der 70er,80erund 90er“). Er bedauert,beial- ler Wertschätzung für die freie Markt- wirtschaft, daß man „Sendekonzepte nicht schützen kann“. Noch im Sommer vergangenen Jahres galt r.s.2 alsklinisch tot. Aus Rias hervor- gegangen, sollte der Sender die Fortset- zung öffentlich-rechtlichen Hörfunks in privater Hand werden. Statt dessen wur- de die Station heruntergewirtschaftet. Doch mit einem neuen Musikkonzept („Super-Oldies und das Beste von heu- te“) und aggressiver Werbestrategie

puschte der neue Geschäftsführer Ulrich A. PACZENSKY / ZENIT Gathmann, 36, in den letzten vier Mona- Radio-Manager Gathmann: „Barscheck gegen Parkschreck“ ten seinen Sender unter die ersten Vier. Sein einfaches Rezept: „Was die Leute Bei ihrem Kampf um die Hörer ver- niger als 70 Prozent Zustimmung fallen am meisten mobilisiert, ist Geld.“ stoßen viele Rundfunkstationen sogar raus“, sagt Erich Schoepe vom Sender Wer r.s.2-Reportern im Dezember das gegen Lizenzbestimmungen. Die Sen- r.s.2. Ausgeklügelte Programmschema- Motto des Senders aufsagen konnte, be- delizenzen enthalten klare Vorgaben – ta legen fest, was wie oft und wann ge- kam 500 Mark. Wer ein Zettelchen mit sei es, daß ein Mindestmaß an Infor- spielt wird. Mehr als sechs Minuten dem Merksatz „Ich habe gewechselt zu r. mation vorgeschrieben ist, sei es, daß Werbung in der Stunde verschrecken s.2“ parat hatte, konnte gleich 5000 Mark bestimmte Musikformate eingehalten die Hörer. Moderatoren, Jingles – alles einstreichen. RTL ließ die Aktion per werden müssen. Doch „bei praktisch wird ständig neu getestet. einstweiliger Verfügung verbieten. Aber allen Sendern“ stellt Hans Hege, Chef r.s.2-Chef Gathmann glaubt, daß nur auch die r.s.2-Manager hatten vor Ge- der aufsichtführenden Landesmedien- vier bis fünf große Mainstream-Sender richt Erfolg: Der „RTL-Wechselmann“, anstalt Berlin-Brandenburg, Defizite überleben werden, für den Rest blieben der freigebig Tausendmarkscheine unter fest. die Nischen als Spartensender. In selte- die Hörer verteilte,durftenicht mehrauf- Die Regelverstöße sind kalkuliert: nem Einverständnis fordert RTL-Kolle- treten. Nicht das Wort bindet das breite Publi- ge von zur Mühlen, die Lizenzgeber Seitdem gehören einstweilige Verfü- kum, sondern die Musik. 90 Prozent sollten Senderfamilien ermöglichen: gungen und Abmahnungen zur Tages- der Bürger, weiß von zur Mühlen aus „Wir werden jede rechtliche Möglich- ordnung. Vorigen Monat ließ r.s.2 die seinen Untersuchungen, schalten das keit nutzen, uns zu stärken und zu diver- RTL-Promotion-Aktion „Kohle-Parole“ Radio an, um Musik zu hören. Und so sifizieren.“ Der Konzentrationsprozeß ist abseh- bar. Die Promotion wird immer teurer, der Aufwand für Marktanalysen steigt. Die großen Berliner Hörfunkstationen setzen auf Expansion. Im Sommer wird RTL mit „News Talk“ den ersten deut- schen 24-Stunden-Talksender auf den Äther schicken. Auch Gafron breitet sich aus. Vorige Woche stellte er sein Radio Charlie vor, Mit-Gesellschafter: der ehemalige Bonner US-Botschafter Richard Burt. Das deutsch-amerikanische Programm soll „Berlin einen Touch Amerika brin- gen“. Wie in alten Zeiten muß Gafron wieder seine Frequenz teilen – diesmal mit dem US-Auslandssender Voice of Radio-Gewinnspiel: „Geld mobilisiert die Leute“ America. Von August an wird eine neue Pro- verbieten, da der Sender vorher schon wird das Programm zum Werbeumfeld – motion-Offensive die Berliner Hörer den Titel „Parole für Kohle“ urheber- wie in Amerika. überrollen. Dann beginnt die neue Er- rechtlich geschützt hatte. Im Gegenzug Meinungsforschung und Marketing hebung der Media-Analyse, der größten mußte r.s.2 „Barscheck gegen Park- bestimmen den Inhalt: Jeder Musiktitel, Untersuchung über Marktanteile und schreck“ einstellen – Begründung: Dies der über den Sender geht, wird vorher Einschaltquoten im Hörfunk. Schon sei eine Aufforderung zur Strafvereite- streng geheim in ausgewählten Gruppen heute ist PR-Mann Schoepe sicher: lung. und per Telefon getestet. „Titel mit we- „Das wird knüppelhart wie nie.“ Y

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kommt und dorthin auch, als akademi- Hochschulen scher Oberrat, zurückkehren kann. Dabei ist der leichtfertige Umgang des Mediziners Bade mit gefährlichen Materialien den Konstanzer Kollegen Harmlose seit Jahren geläufig. In einem internen Bericht hat die Universität bereits vor neun Monaten eine lange Liste von Si- Strahlen cherheitsmängeln im Bade-Labor zu- sammengestellt: Ein Medizinprofessor der Uni i Eine Studentin habe der Professor Konstanz gefährdet seit Jahren die ohne die vom Gesetz zwingend vor- geschriebene Vorsorgeuntersuchung Gesundheit seiner Mitarbeiter. Der Experimente mit Krebszellen machen Mann ist noch immer im Amt. lassen. i Manipulierte Zellen der Sicherheits- stufe 2, die Krebs erregen und für ie junge Frau aus dem Badischen Mensch und Umwelt gefährlich wer- war ordentlich erzogen. Als sie den können, habe Bade in einem Dnach dem Berufskolleg mit 18 als Aufbewahrungstank vergessen – ob- biologisch-technische Assistentin in der wohl er mehrfach versichert hatte, die Abteilung „Experimentelle Krebsfor- Zellen seien längst vernichtet.

schung“ der Universität Konstanz an- H. WOLFF-SEYBOLD i Seinen Mitarbeitern habe der Medizi- fing, stellte sie keine unbequemen Fra- Mediziner Bade ner jahrelang keine Sicherheitshin- gen. Fehler eingeräumt weise gegeben; erst auf Drängen des Sie erkundigte sich nicht nach der Uni-Beauftragten für biologische Si- Höhe der Strahlenbelastung und fragte Bei der Operation des Kindes kurz cherheit sei der Wissenschaftler dazu auch nicht, ob sie mit krebserregenden nach der Geburt kam es zu Komplika- bereit gewesen. Zellen hantieren müsse. tionen – das Mädchen ist seither geistig Im Dezember letzten Jahres zog sich Als die Frau 1987 schwanger wurde, behindert. eine kolumbianische Ärztin, Stipendia- beruhigte sie ihr Vorgesetzter, der Me- Daß Schwangere mit radioaktivem tin der Konrad-Adenauer-Stiftung, Ver- diziner Ernesto Bade, 58. „Der Profes- Material arbeiten, verstößt gegen die sor hat gesagt“, erinnert sie sich, „die 1976 von der Bundesregierung erlassene Strahlung, mit der wir arbeiten, sei Strahlenschutzverordnung. Die Hoch- Auch im Gen-Labor harmlos. Da habe ich halt einfach wei- schulen haben entsprechende Regeln. gab es Probleme tergewurstelt.“ „Wenn bei uns bekannt wird, daß eine Mit schrecklichen Folgen: Die Toch- Frau schwanger ist“, erläutert der Strah- mit der Sicherheit ter, die Bades Assistentin gebar, hatte lenschutzbeauftragte der Universität eine mißgebildete Aorta – eine Verän- Heidelberg, Ulrich Hartmann, die gän- giftungen mit der Chemikalie Xylol zu, derung, die bei Tierversuchen im La- gige Praxis, „muß sie noch am selben weil Bade sie offenbar nicht auf die Ge- bor durch Radioaktivität ausgelöst Tag raus aus der Abteilung – egal, wie fahren hingewiesen hatte. wird und von der Wissenschaftler an- minimal die Radioaktivitätsdosen sind, Jahrelang begnügte sich die Uni-Lei- nehmen, daß sie auch beim Menschen mit denen sie arbeitet.“ tung damit, Bade zu mehr Sorgfalt zu durch Strahleneinwirkung entstehen Doch Professor Bade hielt solche ermahnen. kann. Vorsorge offenbar für entbehrlich. Der Im Januar 1994 untersagte Bretthauer Konstanzer Strahlen- dem Medizinprofessor und dessen For- schutzbeauftragte Rai- schungsgruppe schließlich den Umgang ner Bretthauer versi- mit radioaktivem Material – eine „Er- chert, ihm sei der Fall ziehungsmaßnahme“, so der Strahlen- nicht gemeldet wor- schutzbeauftragte, um den Wissen- den: „Sonst hätten wir schaftler zu disziplinieren. die Frau sofort für den Doch erst als sich in Konstanz herum- Umgang mit radioakti- sprach, daß der Medizinprofessor es ven Stoffen gesperrt.“ auch mit der Sicherheit in seinem Gen- Bade selbst gibt zu, Labor nicht so genau nimmt, alarmierte seine schwangere Assi- die Universität kurz vor Weihnachten stentin weiterbeschäf- das Wissenschaftsministerium in Stutt- tigt zu haben: „Das gart. kann ein Fehler gewe- Des Professors Verstöße gegen die Si- sen sein.“ cherheitsvorschriften, schrieb Uni-Justi- Die Uni Konstanz tiar Manfred Witznick, erhielten durch hat den Fall bisher un- den Fall der schwangeren Bade-Assi- ter der Decke gehalten stentin eine „besondere Dimension“. – im Verein mit dem Die Hochschule fragte beim Wissen- baden-württembergi- schaftsministerium nach, ob sie gegen schen Wissenschafts- Bade ein Disziplinarverfahren einleiten ministerium, dessen solle. Chef Klaus von Trotha Vor vier Wochen kam aus Stuttgart

K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL (CDU) von der Kon- eine erste, hinhaltende Antwort: Das Universität Konstanz: Liste von Sicherheitsmängeln stanzer Hochschule Ministerium prüfe die Sache. Y

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DEUTSCHLAND A. V. D. OSTEN-SACKEN / DIAGONAL K. HAMANN / DIAGONAL Mieterprotest gegen Scientology (in Hamburg), Scientology-Makler Brase: „Ideelle Ziele“

Sekten „Wie tausend Metastasen“ Die Scientology-Sekte gerät in Deutschland zunehmend in Schwierigkeiten: Die Immobilienspekulationen von Scientologen werfen weniger Geld ab, seriöse Banken geben kaum noch Kredite – die öffentlichen Proteste gegen rüde Methoden von Firmen, die von Sektenanhängern gesteuert werden, beginnen zu wirken.

en jungen Mann schien der Him- der Psycho-Sekte kaum zuführen: Der Banken nehmen für einen vergleich- mel geschickt zu haben: Sternzei- finanzkräftige Kaufmann und Finanzier baren Kredit nur rund zehn Prozent. Dchen Waage, also flexibel und Siegfried Heinrich Huber, 36, ver- Doch von den Geldinstituten bekommt kreativ, Aszendent Jungfrau, Hinweis sprach, den Sektenjüngern mit einem der stadtbekannte Sektenaktivist Brase für eine sichere kaufmännische Hand, dicken Kredit aus der Klemme zu hel- schon seit fünf Jahren keinen Pfennig und im zweiten Haus, dem „Geldhaus“, fen. mehr. sagt die Hamburger Hobby-Astrologin Bald schloß der Hamburger Sciento- Die Jünger des Scientology-Gründers Eva Schnell, 53, „war alles voll“. loge und Immobilienmakler Götz Brase L. Ron Hubbard brauchen dringend Ka- Einen besseren Kandidaten als die- mit dem Berliner Kaufmann einen Dar- pital, woher und für welchen Preis auch sen Geschäftsmann aus Berlin, so lehensvertrag über 1,7 Millionen Mark – immer. Denn die Geschäftsleute der schien es der Scientology-Anhängerin mit ungewöhnlich hoher Zinsverpflich- Sekte haben sich mit fragwürdigen Schnell, konnte sie ihren Freunden von tung: 24 Prozent per annum. Transaktionen auf dem Immobilien-

Scientology deren Wirkung jedoch erst kürzlich als „Kirche“ in den USA. Hubbard, der „weitgehend kommerzialisiert“und„auf 1986 im Alter von 74 Jahren starb, wäre gern Kirche, Religionsgemein- Gewinnerzielung gerichtet“ eingestuft. strebte eine Welt ohne Drogen und Ver- schaft oder Weltanschauungsverein. Geld spielt in der Tat eine zentrale Rolle brechen an – unter der Weltherrschaft Kritiker halten die Organisation für ei- bei Scientology. Allein die Anfängerkur- von Scientology. nen florierenden Psycho-Konzern mit in se kosten bis zu 50 000 Mark, zusätzli- Zum Erhalt ihrer Macht fertigt die Orga- Deutschland angeblich 30 000 und che Spenden sind erwünscht. Seit Jah- nisation zahlreiche Dossiers über ihre weltweit acht Millionen Anhängern. ren besetzen deutsche Scientologen zu- Mitglieder an. Ein Spitzeldienst („Of- In vielen Staaten, etwa den USA, Hol- nehmend Posten in der Wirtschaft, als fice of Special Affairs“) kümmert sich land und Kanada, ist Scientology offi- Immobilienhändler, Unternehmensbe- um Aussteiger und Gegner. Kritiker ziell als Kirche akzeptiert, vor deut- rater oder Managertrainer. Rund 2500 werden als sexuell Perverse, chroni- schen Gerichten streitet die Organisa- Firmen zahlen Lizenzgebühren von bis sche Bankrotteure oder korrupte Lüg- tion seit Jahren vergeblich um den zu 15 Prozent ihres Umsatzes an das ner diffamiert – gemäß Hubbards An- Status einer Religionsgemeinschaft; „World Institute of Scientology Enterpri- leitung: „Finden Sie genügend Droh- die Anerkennung brächte den Sciento- ses“ (WISE). material gegen sie oder fabrizieren Sie logen erhebliche Steuervergünstigun- Der Kommunistenhasser und Science- es . . . Unerwartete Angriffe in den Rük- gen. Das Bundesverwaltungsgericht fiction-Autor Lafayette Ron Hubbard er- ken des Feindes funktionieren am be- und das Bundesarbeitsgericht haben richtete 1954 die erste Scientologen- sten.“

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markt offenbar kräftig verkalkuliert: Ih- Tür“, sagt ein Scientology-Insider, „ist Stuttgarter und Düsseldorfer Raum re Gewinne sind spärlicher geworden, es fast nicht mehr verkäuflich.“ sind, etwa unter Makler- und Bauunter- mangelt an Geld, wacklige Finanzierun- Die Immobiliengeschäfte gehören bis- nehmen, schon Scientologen-Firmen gen drohen zu platzen. lang zu den besten Einnahmequellen aufgefallen. Seit Mieterinitiativen und Mieter- der Scientologen in Deutschland. Zen- Der Widerstand gegen Scientology- schutzvereine allerorten Scientologen tren sind Berlin und Hamburg, wo Sek- Makler wird jedoch stärker. Politiker im Immobiliengewerbe enttarnen und tenmitglieder nach Schätzung von Mie- fordern ein Verbot der Sekte, der Deut- sogenannte Giftlisten verteilen, ist tervereinen schon bis zu 50 Prozent je- sche Industrie- und Handelstag warnt schon manch ein Millionen-Deal verei- ner Geschäfte abwickeln, bei denen vor ihren Methoden. In Hamburg hat telt worden: „Ein Haus mit Parolen an Mietwohnungen in Eigentum umgewan- sich vergangene Woche gar eine einzig- der Wand und Mieterprotesten vor der delt und verkauft werden. Aber auch im artige Allianz gebildet: Makler-, Mieter-

Absurder Handel Wie zwei Hamburger Scientology-Anhänger beim Immobiliengeschäft tricksten

Überraschung: Die Firma Tempus hatte ihrerseits dem Vorbesitzer le- diglich einen kleinen Teil des Kauf- preises für das Haus (6,4 Millionen Mark) bezahlt. Weil der Rest fällig blieb, platzte der Deal. Das Immobilienunternehmen hat seinen Kunden mithin Wohnungen in einem Haus verkauft, das ihm nicht gehörte. „Dieser Handel ist so absurd, wie wenn ich das Auto mei- nes Nachbarn verkaufe, und der weiß nichts davon“, sagt Rechtsan- walt Ralf Burmester, den die Tem- pus-Kunden engagiert haben. Eingetragener Eigentümer der Immobilie ist noch immer der Vor-

G. SAGORSKI / DIAGONAL besitzer, ein Privatmann. Aber auch Scientology-Opfer Kocheim (r.)*: Bar-Scheck beim Notar der ist nicht Herr über das Haus, der Mann hat über fünf Millionen hre Traumwohnung fand die An- Makler Thomas Frigge und Stephan Mark Schulden. Weil er seine Til- gestellte Susanne Kocheim, 31, in Michael Koenig, den Geschäftsfüh- gungsraten nicht mehr leisten konn- Ieiner Anzeige des Hamburger rer der Immobilienfirma Tempus te, ließ seine Bank das Haus unter Abendblatts: „Sanierter Jugendstil, Fünfundvierzigste Verwaltungsge- Zwangsverwaltung stellen und be- 73 Quadratmeter, im Generalsvier- sellschaft mbH, die als Verkäuferin antragte eine Zwangsversteigerung. tel von Hamburg“, lautete die An- auftrat, ob sie sich der Scientology- Die Firma Tempus wird den nonce. Der Preis: stolze 5000 Mark Sekte verbunden fühlten. Beide ant- Kaufpreis nun wohl kaum noch auf- pro Quadratmeter. worteten mit einem klaren Nein. bringen, um damit die Versteige- Dafür lockte die Wohnung mit Tatsächlich sind Frigge und Koenig rung zu verhindern: Der Zwangs- Originalfenstern aus dem Jahr 1908, jedoch als Scientologen stadtbe- verwalter hat den Verkauf der noch Stuck und großem Balkon. „Da kannt. unveräußerten Wohnungen ge- gab’s kein Zögern – gesehen und ge- Mit der Apotheken-Angestellten stoppt. nommen“, sagt die Hamburgerin. zog im Januar eine bunte Truppe in Möglicherweise sind jetzt die Das war im Oktober letzten Jahres. das Haus in der Mansteinstraße, dar- Vorausleistungen der neuen Haus- In den Monaten zuvor hatte die unter ein Schauspieler und eine Gra- bewohner perdu – pro Käufer bis zu junge Frau zwar Berichte über die fikstudentin. 60 000 Mark für Courtage, Notar ausgebufften Praktiken von Sciento- Den Kaufpreis für seine Wohnung und Umzug. Die Kaufsummen im- logen auf dem Immobilienmarkt ge- hatte jeder, wie vereinbart, zuvor merhin liegen noch, einigermaßen lesen. Der Firmenname ihres Mak- auf einem Konto bei einem Notar sicher, auf dem Konto des Notars. lers, „B.I.G. – Bramfelder Immobi- hinterlegt, die Beurkundung war be- Schlimmstenfalls droht den Käu- lien Gesellschaft mbH“, war ihr da- zahlt, ebenfalls die Courtage – noch fern nach der Zwangsversteigerung bei aber nicht untergekommen. Si- im Büro des Notars hatte Kocheim die Räumungsklage. Dann stünden cherheitshalber fragte sie jedoch den Makler Frigge einen Bar-Scheck die Leute auf der Straße. „Meine über 22 300 Mark überreicht. Mandanten“, sagt Anwalt Burme- * Mit Rechtsanwalt Burmester (rechts sit- Im Februar erlebten die Bewoh- ster, „haben den rechtlichen Status zend) und anderen Wohnungskäufern. ner des Hauses jedoch eine böse von Hausbesetzern.“

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lichst viele Wohnungen zu verkaufen. geweihte halten ihn für ein „unsterbli- Aus dem Erlös wird der ursprüngliche ches Wesen“ der gehobenen Klasse. Kaufbetrag beglichen – und ein satter Persönlich gilt Brase als äußerst be- Spekulationsgewinn gezogen. scheiden, zum Wohl der selbsternann- Das Risiko bei solch gewagten Manö- ten Kirche erwirtschaftete er jedoch vern tragen ahnungslose Käufer, die wo- nach Insider-Informationen in den ver- möglich schon einige zehntausend Mark gangenen Jahren mehrere Millionen für Maklercourtage, Notargebühren und Mark, die dem Sektenkonzern, meist als Umzug bezahlt haben, ohne letztlich Ei- Spenden deklariert, zugeflossen sein gentümer der vier Wände zu werden. sollen. Sein Name steht auf der Liste der Seit sich nun zunehmend Widerstand sogenannten Patrons, jener Sektenmit- regt gegen die scientologischen Um- glieder, die besonders eifrig spenden. wandler, gerät auch die Finanzierung der Seit Jahren wird die Hamburger Filia- schnellen Häuser-Deals ins Stocken: le (Scientology-Jargon für eine Nieder- Banken sind aus Sorge um ihre Reputati- lassung: „Org“) von der Zentrale in on seltener bereit, die dubiosen Geschäf- Clearwater/Florida auch dank Brases te der Seelenfänger mit Krediten zu un- Geschäftstrieb immer wieder als „er- terstützen; die Hamburger Vereins- und folgreichste Org auf dem Planeten“ aus- Westbank etwa läßt Scientologen nicht gezeichnet: Kaum eine andere Mission einmal mehr ein Konto eröffnen (SPIE- der Sekte scheffelte so viel Geld. GEL 13/1995). Private Geldgeber kassie- Brase bestreitet die enorme Bedeu- ren horrende Zinsen. tung seiner Geschäfte für den Konzern: Bei dem Berliner Scientology-Chef Miscavige Kreditgeber Huber Führung ausgewechselt unterschrieb auch die Hamburger Firma und Grundeigentümer-Verbände wollen Breitling & Partner ei- zusammenarbeiten; sie fordern etwa nen Vertrag. Das Zeitungen auf, Anzeigen von Scientolo- Maklerbüro, gegrün- gy-Firmen nicht mehr zu drucken. det von den einsti- Brechen die Gewinne in der Bundes- gen Brase-Mitarbei- republik weg, trifft das die Organisation tern Thomas Breitling, auch international: Bis zu einem Drittel 29, und Achim Halb, des weltweit auf einige Milliarden Mark 31, will sich von Hu- geschätzten Jahresumsatzes des Psycho- ber 3,3 Millionen Konzerns werde von Mitgliedern aus Mark leihen – zum Deutschland und der Schweiz erwirt- Zinssatz von 15 Pro- schaftet, behaupten hochrangige Aus- zent. steiger. Ob es zu den Millio- Jahrelang beherrschten die Scientolo- nentransfers an Breit- gen, bekannt für rüde Methoden, vor al- ling und Brase kommt, ist jedoch fraglich, denn Finan- Kaum ein anderes zier Huber zögert Sektenzentrum plötzlich, das Geld zur Verfügung zu stellen: scheffelte so viel Geld Im Finanzdschungel Ex-Missionsleiterin Hansen: Spirituelles Weiterkommen der Sekte trauen die lem den Hamburger Immobilienmarkt. Beteiligten sich offenbar gegenseitig „Ich lehne es ab, Scientology direkt mit Die Methode: Unverdächtige Finan- nicht mehr über den Weg. Geld zu unterstützen.“ Lediglich „ein- ziers, die nicht der Sekte angehören, er- Bereits Anfang der achtziger Jahre zelne Projekte“ der Organisation will werben reihenweise zumeist vermietete hatte Scientology-Anhänger Brase, 38, der Makler gefördert haben. Dabei frei- Mehrfamilienhäuser, die preisgünstig zu in Hamburg mit dem Immobilienge- lich, räumt der Sektenanhänger ein, haben sind. Sodann werden die Mietsge- schäft begonnen. Zusammen mit diver- könne es „schon mal um größere Beträ- bäude in Eigentumswohnungen umge- sen Firmen, bei denen er meist nicht öf- ge gehen“. Solche „ideellen Ziele“, sagt wandelt. Makler, die zum Sektenclan ge- fentlich in Erscheinung trat, soll er al- Brase, müsse „sich ein erfolgreicher Ge- hören, besorgen den Verkauf, nachdem lein in Hamburg mehrere hundert Häu- schäftsmann leisten können“. sie zuvor oftmals die Mieter vertrieben ser umgewandelt haben. „In Spitzenzei- Unterstützt wird der Makler von zwei haben. Leere Wohnungen lassen sich er- ten“, so ein Insider des Brase-Konzerns, Hamburger Geschäftsleuten, die heftig heblich teurer losschlagen als vermietete „gingen hier die Woche Dutzende Woh- dementieren, etwas mit Scientology zu – den Sektierern war mithin ein ordentli- nungen über den Tisch.“ tun zu haben: dem wohlhabenden Im- cher Gewinn sicher. Der in Dänemark aufgewachsene mobilienhändler Robert Boehm, 65, Nach einer anderen, ebenfalls gängi- Brase, der mit seiner Firma am feinen und dem ebenfalls vermögenden Kom- gen Methode machen die Scientologen Hamburger Mittelweg residiert, ist ein munikationstrainer und früheren Kom- das Geschäft auch allein: Sie kaufen Häu- fanatischer Anhänger des Scientology- militonen Brases, Fred Anton, 46. ser mit wenig Eigenkapital an, die Haupt- Unternehmens. In der Hierarchie des Den beiden gehören Firmen wie Me- summe, so wird vertraglich festgehalten, Psycho-Konzerns brachte er es zu höch- taReal, MegaReal, TransWert oder solle erst später, zu einem fixen Datum, sten Weihen, mittlerweile firmiert er als EcoGrund. In Hamburg und Berlin tre- fällig werden. Innerhalb dieser Zeitspan- „Operierender Thetan“ der „Stufe ten sie als Käufer und Umwandler der ne bemühen sich die Sektenmakler, mög- VII“, wie es im Sektenjargon heißt. Ein- Häuser auf, die Brase und mit ihm ver-

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nungen in Scientology-Manier verhö- kert werden: Bei 15 Objekten in Kreuz- berg, Neukölln, Tiergarten und Schöne- berg wurden die Verkäufer bereits als Sektenmitglieder erkannt. Die schlechten Nachrichten aus Deutschland haben inzwischen die Kon- zernspitze in den USA alarmiert. Hub- bard-Nachfolger David Miscavige, 35, ließ unlängst die Führung der Hambur- ger Zentrale auswechseln. Er entsandte zwei seiner Vertrauten nach Hamburg: den Chef des Geheim- dienstes „Office of Special Affairs“ (OSA), den Österreicher Kurt Weiland, und den Leiter des Wirtschaftsdachver- bandes der Sekte, „World Institute of Scientology Enterprises“ (WISE), Marc Yager. Die beiden sollten, wie es intern heißt, „mal aufräumen“.

F. HOLLANDER / DIAGONAL Die Herren sind inzwischen wieder Scientology-Gegnerin Caberta: „Die Deutschen haben nichts mehr zu melden“ abgereist. An der Spitze der Hamburger „Org“ steht jetzt der Amerikaner Mark flochtene Unternehmen wie Reddy-Im- Protesten in Hamburg hatten Brase und Lizer aus dem Sektenhauptquartier in mobilien, GGB oder CKS vertreiben. Breitling ihre Verkäufer nach Berlin ge- Florida. „Die Deutschen“, sagt Ursula Häufig bemühen sich Sektenmakler, schickt. Gut ausgerüstet mit teils neuen Caberta, Scientology-Beauftragte des ihre Verbindungen zu dem Psycho-Kon- Firmennamen hofften Emissäre und Hamburger Senats, „haben hier nichts zern zu verschleiern. Selbst für kritische Drahtzieher, in der Hauptstadt mit alten mehr zu melden.“ Wohnungsinteressenten und Mieter ist Tricks neu anfangen zu können. Die frühere Leiterin Wiebke Hansen, kaum noch zu erkennen, daß sie es mit Als jedoch die Scientologin und ehe- 50, wurde abberufen und, wie Ex-Mit- Scientologen zu tun haben. Auf Anfrage malige Brase-Maklerin Kirsten Bringel glieder der Sekte argwöhnen, in eine leugnen die meisten Makler jedweden in Neukölln auftauchte, um als Ver- Art Straflager abgeschoben, das von der Zusammenhang. kaufsleiterin einer Firma namens Phö- Sektenführung als Rehabilitationscamp Werden sie enttarnt, gründen die Sek- nix in den dortigen Immobilienmarkt bezeichnet wird. Offiziell heißt es, Han- tenanhänger einfach neue Firmen. Auf einzusteigen, gab es prompt Ärger. sen widme sich ihrem „persönlichen spi- diese Weise entstand in wenigen Jahren Mit riesigen Transparenten zieht seit- rituellen Weiterkommen“. „ein Krebsgeschwür von scientology-na- her die Mieterinitiative „Robin Hub- Erinnerungen an die bis dahin hoch- hen Immobilienfirmen, die wie tausend bard – Neuköllner Bürger gegen Scien- verehrte Präsidentin der „Org“ wurden Metastasen den Umwandlungsmarkt be- tology“ gegen die Massenumwandlung in Hamburg bereits ausgelöscht: Fotos fallen haben“, sagt Jurist Wilfried zu Felde und warnt Kaufinteressenten von ihr, die früher das Sektenzentrum Lehmpfuhl vom Hamburger Mieterver- bei Hausbesichtigungen vor den Sekten- zierten, sind verschwunden, in Prospek- ein. verbindungen der Makler. ten fehlt ihr Konterfei, ihr Zimmer wur- Jede zweite Altbau-Eigentumswoh- Beinahe wöchentlich entdecken die de komplett ausgeräumt. nung in Hamburg werde inzwischen von Aktivisten weitere Häuser, deren Woh- Hansen soll, so Scientology-Insider, Scientologen verkauft. Seit Jah- Erfolgsbilanzen über Einnahmen und ren beobachtet der Mieterver- die Zahl der Mitglieder gefälscht haben. ein, wieBewohner solcher Miets- Sie habe offenbar Angst gehabt, der häuser mit ständigen Anrufen US-Führung den Abwärtstrend ihrer verängstigt und durch ungebete- Mission zu melden. Die neue Hambur- ne Besuche belästigt werden. ger Sektenführung bestreitet diese Ver- Sektenvertreter drängen sie zum sion. Kauf oder zum Auszug. Tatsächlich aber zeigt die Aufklärung Wer nicht kaufen kann oder über den kommerziellen Psycho-Kon- will, wird beschwatzt, seine zern nicht nur beim Immobiliengeschäft Wohnung gegen ein Handgeld Wirkung. Weniger Bürger als früher las- von 10 000 bis 50 000 Mark zu sen sich etwa auf der Straße ansprechen räumen. Ist die Wohnung leer, und als Mitglieder ködern. steigt ihr Wert um bis zu 40 Pro- Nach einem Gerichtsurteil, das die zent. Die Gewinnspannen auf Stadt Hamburg erwirkt hat, muß die diesem Markt sind immens. selbsternannte Kirche sich in Zukunft Günstiger Wohnraum, vor al- als gewerbetreibendes Unternehmen lem für sozial schwächere Bür- einstufen lassen – und als solches Steu- ger, wird dabei systematisch ver- ern bezahlen sowie die Bilanzen der nichtet. Wenn die Mieter in der Einnahmen offenlegen, etwa für teure Wohnung bleiben, drohen ihnen Psycho-Kurse. drastische Mieterhöhungen. Nach Jahren des Kampfes gegen die Immer häufiger wehren sich Sekte freut sich die Hamburger Sciento-

Bewohner gegen diese Praktiken VISION-PHOTOS / FOCUS-MAGAZIN logy-Gegnerin Caberta nun über den – besonders wenn Scientologen Brase-Gehilfin Bringel Erfolg: „Es geht langsam, aber es geht dahinterstecken. Nach heftigen Drahtzieher in der Hauptstadt bergab mit ihnen.“ Y

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Strafjustiz „Das Spiel der blinden Esel“ Gerhard Mauz zum Zustand des Prozesses über den Brandanschlag von Solingen

elix und Christian haben von An- fang an gesagt, sie seien unschuldig. FUnd sie haben daran an bislang 93 Sitzungstagen festgehalten. Da gibt es aber auch noch einen zwei- ten Christian. Und der ist die Wunder- tüte dieser Hauptverhandlung. Wenn er den Mund aufmacht (oder wenn seine Verteidiger für ihn sprechen – wenn er dem Vorsitzenden Richter oder einer gleichfalls in Haft befindli- chen jungen Frau Briefe schreibt), öff- net sich des Knaben Wunderhorn: Ge- ständnisse, Widerrufe, variierte Ge- ständnisse und dunkle, vieldeutige Be- merkungen. Man hat Schwierigkeiten mit dem Zählen, doch an die 18mal hat dieser Christian schon überrascht. Und dann ist da noch Markus, und von dem darf man den Familiennamen Gartmann nennen, denn er war zur Tat- zeit bereits 23 Jahre und darum, aber auch nur darum, ein Erwachsener.

Am 3. Juni 1993 hat er gestanden. Er AP beschuldigte sich und die drei anderen Tatort in Solingen 1993: Fünf Frauen und Mädchen starben der Tat. Am 4. Juni 1993 wiederholte er sein Geständnis vor dem Ermittlungs- Sie handelt von einer Alleintäterschaft Tatsache, daß dieses jüngste Geständnis richter des Bundesgerichtshofs, um es dieses Christian, davon, daß nur ein be- keineswegs völlig neu ist, sondern eine anschließend zu widerrufen. absichtigtes „Erschrecken“, eine kleine überarbeitete Neuauflage. Doch am 7. Juni 1993 gestand er in Randale außer Kontrolle gerieten. Doch hier wird nicht über eine Auf- der U-Haft in Wuppertal erneut. Und Und daß die Folgen dieses mißglückten führung von „Charlys Tante“ berichtet an diesem Geständnis hielt er bis zum Spaßes von Christian gar nicht vor dem oder über eine Vorstellung des „Komö- 17. März dieses Jahres fest – um es in nächsten Morgen bemerkt wurden, weil dienstadls“ und schon gar nicht über der Sitzung am 21. März zu widerrufen. er danach in Tiefschlaf gesunken war und „Wie würden Sie entscheiden?“ Damit war die Startbahn für Christi- nichts davon mitbekommen hatte, was Es ist hier vielmehr von der Nacht an, die Wundertüte, frei. Zu Beginn des nebenan passierte. zum 29. Mai 1993 die Rede, in der in ei- Prozesses am 13. April 1994 hatte er die Dies also gilt nun derzeit als das Ge- nem heute abgerissenen Mehrfamilien- drei mit ihm Angeklagten für unschuldig ständnis der Wundertüte, ungeachtet der haus in Solingen fünf Frauen bezie- erklärt. Von seiner eigenen hungsweise Mädchen, 27, „eventuellen Beteiligung“ 18, 12, 9 und 4 Jahre alt, auf wollte er damals nicht spre- schreckliche Weise zu Tode chen. Am 2. Mai 1995 kamen; und von dem da- schlugen dann aber doch, mals 15 Jahre alten Jungen, wie es im Liede heißt, die der so schwer versehrt über- Bäume aus, und der zweite lebte, daß mancher, der so Christian war soweit. Er am Leben bleibt, sich fragen hob ab. würde, ob es noch ein Le- Einer seiner Verteidiger, ben ist, was ihm für den Götz Reuker, Dortmund, Rest seines Lebens blieb. beantragte an diesem Tag, Der Strafprozeß über die einen „nachfolgend näher fünf Morde von Solingen dargestellten“ Brandver- befindet sich in Seenot, er such vornehmen zu lassen. ist ein Segelschiff, das bei Und im Rahmen dieses Be- NETZHAUT Windstärke zwölf vor Kap weisantrags bewegt sich Hoorn mit 45 Grad Schräg- seitdem die 18. Version sei- lage im Orkan treibt. nes Mandanten in schwin- Es geht nicht darum, daß

delerregendem freien Flug FOTOS: J. DIETRICH / diese Situation (und erst durch die Lüfte. Sachverständige Leygraf, Lempp: Vom Kollegen überfallen recht ein unklares Urteil)

DER SPIEGEL 20/1995 93 weltweit mit Empörung betrachtet be- gen zu Wort gekommen, und die vom daß dieser Christian durch seine Aussa- ziehungsweise betrachtet werden wird; Gericht gemäß Antrag übernommene gen andere vor einer Verurteilung die Bundesrepublik sollte sich getrost Aufforderung, auch gruppendynami- schützen wolle. So etwas sei seine Sache die Nerven zulegen, mit denen die Ver- sche Überlegungen anzustellen, hat die nicht. einigten Staaten auf die Todesurteile Schräglage des Segelschiffs vor Kap Er sei mißverstanden worden, korri- und Hinrichtungen in ihren Bundesstaa- Hoorn bis kurz vors Kentern ge- gierte Eggers am 93. Sitzungstag nach- ten nicht reagieren, ungeachtet interna- bracht. drücklich, wenn man ihn dahingehend tionalen Flehens (auch wenn sich dem Der Sachverständige Professor Chri- interpretiere, er habe das jüngste Be- „sogar der Papst“ angeschlossen hat). stian Eggers, 56, Kinder- und Jugend- kenntnis zur Alleintäterschaft für glaub- Es geht allein darum, daß eine derar- psychiater an der Universität Essen, er- haft erklärt. Die Würdigung und Wer- tige Ohnmacht vor dem Unrecht, vor stattete sein Gutachten über den Chri- tung dieser Einlassung habe nicht er, dem Verbrechen für das schmächtige stian, dessen faszinierende Hartnäckig- sondern das Gericht vorzunehmen. Vertrauen tödlich zu werden droht, für Professor Norbert Leygraf, 42, Direk- das Gefühl, daß die menschliche Exi- tor des Instituts für Forensische Psychia- stenz geplagt und von gräßlichen Wider- Der Sachverständige trie an der Universität Essen, hatte Mar- sprüchen geprägt, aber dennoch nicht ist nur kus Gartmann, den späten Widerrufer, völlig sinnlos ist; daß der Versuch, ein zu begutachten. Auch Leygraf hielt den Mensch zu werden und zu sein, kein Gehilfe des Richters Paragraphen 21 angesichts einer geschä- schwachsinniges Unterfangen ist. digten Biographie und eines erheblichen Schon am 15. März dieses Jahres hat- und Vielfältigkeit im Gestehen, Wider- Alkoholisierungsgrades für möglich. te der Rechtsanwalt Georg Greeven, rufen und Korrigieren von Geständnis- Hinsichtlich der Frage, was denn nun Düsseldorf, einer der Verteidiger des sen und Widerrufen jedermann fesselt. glaubhaft sei, das so lange aufrechter- von Beginn bis heute seine Unschuld be- Das Gutachten war einfühlend und haltene Geständnis oder der späte Wi- teuernden Felix, einen Beweisantrag mündete darin, daß der Sachverständige derruf, enthielt sich Leygraf korrekt je- eingebracht, in dem es um ein „grup- sich für die Anwendung des Paragra- der Stellungnahme. pendynamisches Zusatzgutachten der phen 21 aussprach, der dem Gericht Professor Reinhart Lempp, 71, emeri- im Verfahren bereits tätigen Sachver- Strafmilderung ermöglicht. tierter Kinder- und Jugendpsychiater an ständigen“ ging. Der Sachverständige Eggers ließ sich der Universität Tübingen, ist ein Wis- Das war Maßarbeit und obendrein, durch die Frage, was er denn von seines senschaftler mit großen Verdiensten. was sie noch imponierender macht, vor- Probanden jüngster Einlassung halte, Sein Buch über „Jugendliche Mörder“ ausschauende. Denn nun sind die sach- unter anderem zu der Äußerung bewe- ist ein Klassiker. Was Lempp dazu an- verständigen Psychiater und Psycholo- gen, er halte es für unwahrscheinlich, stiftete, ein Gutachten vorzutragen, das

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in seiner Art einmalig war, ist schwer Der Milliarden-Deal ist gut getarnt als zu ergründen. Er mag sich damit recht- Treuhand langweilige Verwaltungssache im Beam- fertigen, daß den Sachverständigen ten-Biotop. Nur Insider ahnen Böses: vom Gericht auf Antrag des Verteidi- „Die Kosten der deutschen Einheit trägt gers Greeven aufgegeben worden war, der Steuerzahler, die Gewinne werden auch gruppendynamische Zusammen- Fünfte privatisiert.“ hänge zu prüfen und zu erörtern. Es geht um rund 16 000 Hektar Land, Doch das erklärt nicht, warum er die im Amtsdeutsch Umwidmungsflä- sich intensiver mit Markus Gartmanns Fruchtfolge chen heißen. Besser bekannt sind solche Geständnis und Widerruf befaßte als Grundstücke als Spekulationsland: mit seinem eigenen Probanden: „Das Der Bund kann Milliarden aus Rings um Berlin, im sogenannten falsche Geständnis wie der Widerruf ist Bauland-Spekulationen verdienen. Speckgürtel, auf den Entwicklungsach- psychologisch durchaus in sich stimmig sen von Leipzig oder Dresden liegen erklärbar.“ In Lempps Lehrbuch Doch die Gewinne fließen wahr- Äcker und Wiesen mit hohem Zukunfts- „Gerichtliche Kinder- und Jugend- scheinlich in private Kassen. wert, die meist als zwischen 1945 und psychiatrie“ heißt es, daß auch der kin- 1949 enteignetes „Junkerland“ in das der- und jugendpsychiatrische Sachver- Vermögen des Bundes übergegangen ständige „Gehilfe des Richters“ ist: ünter Himstedt ist gut abgesichert. sind. „Dabei fallen jedoch die Tatsachenfest- Hinter der Eingangstür am Berli- Wenn daraus Bauland wird, steigt der stellungen, wie auch die rechtliche Gner Alexanderplatz versperren Wert von 50 Pfennig auf bis zu 150 Mark Würdigung, ausschließlich in die Kom- Drehkreuze den Weg, die nur mit – Kenner nennen das „die fünfte Frucht- petenz des Richters. Einer Einmi- Magnetkarten zu öffnen sind. Oben folge“. Wie im Westen etwa die glückli- schung in diese Kompetenz hat sich im siebten Stock schützt den Chef chen Landwirte rund um München, der Sachverständige strikt zu enthal- der Treuhand-Liegenschaftsgesellschaft kann hier im Osten der Bund zum Mil- ten.“ (TLG) eine Sicherheitsschleuse, die lionen-Bauern werden – zum Milliar- Was Lempp vorgetragen hat, war Beweiswürdigung. Karl Kraus hat vom aparten Spiel der „blinden Esel“, der Gerichtspsychiater, gesprochen: „Sie werden hereingeführt, sollen den An- geklagten durchschauen und sagen j-a.“ Der Karlsruher Revisionskönig Gunter Widmaier hat in einem ähnli- chen Zusammenhang einmal von einer gewissen „Alterswildheit“ gesprochen. Vielleicht irritiert Lempp, daß er selbstverständlich nicht etwa alt gewor- den ist oder wird, daß jedoch alle, die ihm begegnen oder mit denen er zu tun hat, in rätselhafter, um nicht zu sa- gen boshafter Manier immer jünger werden. Leygraf überstand den Überfall des verehrten Kollegen mit Respekt und Würde, erwiderte nur in wenigen Punkten deutlich, aber taktvoll. Zur Frage, was zutreffe, das Geständnis oder der Widerruf, beschränkte er sich darauf, daß dies eine Frage sei, die

„psychiatrisch-sachverständig nicht zu K. MEHNER klären ist“. Immobilien-Verwerter Himstedt: Monopoly mit Volkseigentum Die Fokussierung der Gerichtsbe- richterstattung läßt nicht mehr zu als einst die Treuhand-Präsidentin Birgit den-Bauern, denn über 20 Milliarden den Hinweis, daß die Lehren aus den Breuel abschirmte. Mark wären damit schon zu erlösen. Prozessen gegen Jugendliche, Heran- Der Geschäftsführer hütet das wert- Bisher gehörte das Land zum Beritt wachsende und nur dem Alter nach vollste Erbe der Ende 1994 aufgelösten der Bodenverwertungs- und -verwal- Erwachsene, wie etwa wegen Mölln Treuhand: die Immobilien der ehemals tungs GmbH (BVVG). Die Firma priva- und wegen der Lübecker Synagoge, volkseigenen Betriebe. Und wenn alles tisiert seit 1992 land- und forstwirt- nicht gezogen werden. klargeht, kriegt der Manager im Hochsi- schaftliche Flächen der Treuhand in Das beginnt damit, daß die Ermittler cherheitstrakt vom Bund bald noch ein- Ostdeutschland aufgrund eines soge- den Ton der Beschuldigten nicht tref- mal Grundstücke im Wert von mehre- nannten Geschäftsbesorgungsvertrags. fen. Sie gehen so mit ihnen um, wie ren Milliarden Mark dazu. Gesellschafter sind drei öffentlich-recht- sie es gelernt haben. Doch sie müssen Doch ob die Wertgegenstände aus liche Banken und mit einem Restanteil den Ton für unreife, unentwickelte dem Volkseigentum hinter den Sicher- von 8,35 Prozent die Bundesanstalt für Verdächtige finden, die wie Kinder heitstüren wirklich so gut aufgehoben vereinigungsbedingte Sonderaufgaben meinen, daß keiner sie sieht, wenn sie sind, ist überhaupt nicht sicher. Denn (BVS), die Nachfolgerin der Treuhand. sich die Augen zuhalten. die Gewinne aus dem Verkauf der bun- Etwaige Gewinne – nach Erstattung der Auf dem Gipfel dieser und vieler an- deseigenen Grundstücke könnten am Kosten – muß die BVVG ans Bundesfi- derer Mängel befindet sich dann ein Ende nicht bei Volk und Fiskus landen, nanzministerium abführen. Nun sollen Prozeß wie dieser in Seenot. Y sondern in privaten Portefeuilles. das Eigentum und die Verwertung der

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Umwidmungsflächen an die wohl bei BVVG wie bei TLG alleiniger TLG übergehen – scheinbar BUNDESMINISTERIUM DER FINANZEN Gesellschafter, lassen sich die lukrativen nicht mehr alseine Frage der or- Immobilien mühelos von einer Firma ganisatorischen Zweckmäßig- 100 % 100 % zur anderen schieben. keit. Denn dieTreuhand-Firma Das Monopoly mit dem früheren gehört zu 100 Prozent dem BVS TLG „Eigentum des Volkes“ könnte starten. Bund. Der Spekulationsgewinn Bundesanstalt für Treuhand- „Die technischen Voraussetzungen für würde auch von dort in die vereinigungsbedingte Liegenschafts- die Privatisierung sind so, daß sie jeder- Staatskasse fließen. Allerdings Sonderaufgaben gesellschaft mbH zeit in die Wege geleitet werden kann“, nur dann, wenn die Firma zum Verkauf meint ein Insider. Deutsche Siedlungs- Zeitpunkt des großen Reibachs und Landesrentenbank nichtlandwirt- Auch das Personal ist schon plaziert. schaftlicher noch dem Bund gehört. Landwirtschaftliche Seit kurzem ist Eckart John von Frey- Schon einmal hatte die TLG Immobilien aus end Aufsichtsratsvorsitzender der TLG. Rentenbank Staatsbesitz begehrlich nach den ertragrei- Landeskreditbank Der umtriebige Edelmann war bis Ende chen Ländereien gegriffen. Vor Baden-Württemberg 1994 als Ministerialdirektor im Finanz- über einem Jahr wollte Ge- ministerium für die Treuhand zuständig. jeweils 30,55% schäftsführer Himstedt 200 000 Überraschend hatte er sich im Dezem- bis 300 000 Hektar entwick- ber aus dem Staatsdienst ins Privatleben lungsverdächtige Fläche von BVVG – Bodenverwertungs- und verabschiedet, tauchte aber wenige Wo- der BVVG. Daraus hätte er im 8,35% -verwaltungs GmbH chen später als Vorstandschef der Indu- Lauf der Zeit die wirklich reali- Verkauf und Verpachtung land- und forst- strieverwaltungsgesellschaft AG (IVG) sierbaren Bau- und Gewerbe- wirtschaftlicher Flächen aus Staatsbesitz wieder auf (SPIEGEL 1/1995). gebiete herauspräpariert. Doch Der Mischkonzern ist ein in den ver- der Haushaltsausschuß des gangenen Jahren erfolgreich in Privat- Bundestages stellte sich dagegen, weil er on raffinierter angelegt. Am 24. April besitz überführtes ehemaliges Bundes- fürchtete, da werde Bundesvermögen schickte der Bonner Finanz-Staatssekre- unternehmen. Zuständig dafür war verschleudert. tär Manfred Overhaus den Banken-Ge- wiederum der vielseitige Ministeriale Die Banken-Gesellschafter der sellschaftern der BVVG einen Brief mit Freyend. Der Privatier mit der Nei- BVVG ließen sich statt dessen auf einen der kaum verhohlenen Drohung, den gung zum Privatisieren verfügt über Kompromiß ein. Die TLG soll 7500 Geschäftsbesorgungsvertrag „wegen beste Kontakte zur westdeutschen Hektar Äcker und Wiesen zum Preis Änderung der Geschäftsgrundlage“ zu Großindustrie. von Bauerwartungsland erwerben – et- kündigen. Der rüde Ton und die dabei „An den Namen knüpfen sich viele wa ein Zehntel des späteren Wertes – aufgestellten Bedingungen erweckten Spekulationen“, weiß auch TLG-Chef auch ein schönes Geschäft, aber offen- bei den Empfängern den Eindruck, das Himstedt. Aber eine Privatisierung sei- bar nicht schön genug. Finanzministerium wolle die Banken als ner Gesellschaft erscheint dem Manager Denn die Liegenschaftsgesellschaft ist Gesellschafter ganz loswerden. im Moment „nicht nur nicht opportun, in einer schlechten Phase. Für fast 17 Das würde manches vereinfachen. In sondern politisch verfehlt“. Milliarden Mark hat sie seit 1991 der BVVG könnte die Treuhand-Nach- Da hat er recht. Denn im derzeitigen Grundstücke, Gewerbeobjekte und folgerin BVS die alleinige Herrschaft Zustand ist sein Immobilien-Ungeheuer Wohnungen aus dem Besitz früherer übernehmen, ohne die widerborstigen für Investoren nicht sehr attraktiv. Bis Kombinate verkauft. Jetzt ist fast nur öffentlich-rechtlichen Institute. Selbst auf den grünen Wiesen, auf die er spe- noch ein schwer absetzbarer Bestand an die aufsässigen Parlamentarier im Haus- kuliert, die fünfte Fruchtfolge reift, ver- verstreuten Klein-Objekten und ver- haltsausschuß ließen sich womöglich gehen einige Jahre – Gewerbegebiete seuchten Flächen übrig. Im ersten Quar- ausschalten, wenn der Geschäftsbesor- müssen erschlossen, Bebauungspläne tal erreichte die Gesellschaft wenig gungsvertrag aufgehoben ist. Denn genehmigt werden. mehr als die Hälfte ihrer geplanten Ver- dann würde die BVVG nicht mehr nach „Was in fünf Jahren ist“, weiß der si- käufe. „Das ist kein Bestand“, klagt dem Kostenerstattungsprinzip arbeiten cherheitsbewußte Manager natürlich Himstedt, „das ist ein Ungeheuer.“ – hierfür müssen die Parlamentarier bis- nicht. Aber er gibt zu: „Das könnte Deswegen braucht das Ungeheuer fri- her die Haushaltsmittel genehmigen. dann andere interessieren.“ schen Boden. Diesmal ist die Transfusi- Und ist die Bundesanstalt erst mal so- Dann ist Zeit für reiche Ernte. Y

96 DER SPIEGEL 20/1995 . KLOSTERMEIER / VISION PHOTOS FOTOS: R. Berliner Baudenkmal Weinhaus Huth: „Von diesem Balkonplatz der Geschichte weiche ich nicht“

Berlins errichten: 1998 soll das alte Seit der vergangenen Woche spitzt Berlin Haus von der neuen Mercedes-Verwal- sich der Streit zu. Um das denkmalge- tungszentrale, reichlich Büro- und Ge- schützte Haus gegen Erdbewegungen schäftsräumen, einem Einzelhandels- zu sichern, muß Daimler Stützpfähle zentrum, luxuriösen Wohnquartieren einrammen lassen. Das aber macht Hans und einem Platz umgeben sein. Im ehe- mehr Krach, als Mieter erdulden müs- maligen Weinhaus soll ein schickes Re- sen, weshalb der Konzern die Bewoh- staurant untergebracht werden. ner nun dringend loswerden will. Doch im Glück Doch elf Parteien leben noch im Haus die wollen noch immer nicht gehen. und denken nicht daran, ihre Sozial- „Warum soll ich ausziehen, in drei Elf Mieter haben Daimler-Benz den mietverträge kampflos aufzugeben. Mit Jahren brodelt vor meinen Fenstern das Kampf angesagt: Sie behindern das zähem Widerstand behindern sie seit Leben“, sagt Mieter Wolfram Schulze. Monaten das ehrgeizige Projekt. 176 Mark Kaltmiete zahlt der Konzert- Bauprojekt des Konzerns in der veranstalter monatlich für seine 69 Hauptstadt. Quadratmeter. „Von diesem Balkon- platz der Geschichte“, so Schulze, „weiche ich nicht.“ Er ließ Daimler ala Choukri ist im achten Monat wissen, er fühle sich wie „Hans im schwanger und wohnt inmitten ei- Glück“. Hner Baustelle. Wenn in aller Frühe Dabei ist das Leben vorerst eine riesige Maschinen neben dem traditions- Qual: Immer mal wieder durchtrennen reichen Weinhaus Huth in der Potsda- Bagger die Strom- und Telefonleitun- mer Straße Löcher ins Erdreich graben, gen, auch die Wasserversorgung fällt klirrt das Geschirr in den Schränken. häufig aus. „Es ist, als ob ein Erdbeben ausgebro- Doch Tierärztin Choukri will, wie die chen wäre“, sagt Tierärztin Choukri, 36. anderen zehn Mietparteien, das Leben Wie ein Fels in der Brandung steht auf der Baustelle erst aufgeben, wenn das sechsgeschossige Haus inmitten von Bauherr Daimler-Benz für Ersatzwoh- 68 000 Quadratmetern aufgewühlter Er- nungen sorgt – oder solide Prämien für de. Das ehemalige Renommier-Restau- den freiwilligen Auszug zahlt: „Die rant, in dem die Prominenten in der Hausverwaltung will uns mit 1000 Mark Kaiserzeit ihre Schoppen tranken, hat pro Quadratmeter Wohnfläche abspei- als einziges Gebäude auf dem Potsda- sen“, klagt Choukri. mer Platz den Bombenhagel des Zwei- Das ist den Bewohnern zuwenig. 60 ten Weltkriegs überlebt. Quadratmeter groß ist Choukris Woh- Der neue Eigentümer, der Daimler- nung. Mit 60 000 Mark Entschädigung Benz-Konzern, will auf dem ehemals für den Auszug wäre sie, sagt die Tier- verkehrsreichsten Platz Europas für drei Weinhaus-Bewohnerin Bauer ärztin, auf Dauer schlecht bedient. Nur Milliarden Mark das künftige Zentrum Zäher Widerstand 340 Mark Warmmiete zahlt sie bislang

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– ein Spottpreis. „Das krieg’ ich in Berlin Schon von Oktober an sollen dann nicht wieder.“ Städtebau Tausende Bauarbeiter bis zu 45 Meter Die Ersatzwohnungen, die Daimler zu tiefe Gruben ausheben, die Spree umlei- bieten hat, sind in den Augen der Mieter ten, eine zwei Kilometer lange Bahn- entweder zu teuer, oder sie lägen „am brücke und drei Bahnhöfe bauen. Da- Ende der Welt“, so die Bewohnerin Ta- Vernarrt zwischen sollen vier Fern- und Regio- mara Bauer. nalbahnröhren über 3,5 Kilometer Län- Jeden Abend kurz nach 20 Uhr rufen ge die gesamte Berliner Mitte ein- die Bewohner nach der Staatsmacht, in Glitzer schließlich Spree und Landwehrkanal wenn draußen Kräne und Bagger die er- unterqueren. laubte Arbeitszeit wieder einmal über- Beim aufwendigsten deutschen Insgesamt 4,5 Steuermilliarden veran- ziehen. In der Nacht zum vergangenen Verkehrsprojekt, der Untertunnelung schlagen die Planer der Bahn und des Dienstag hat eine Streifenbeamtin vom Berliner Senats bislang für das Jahrhun- Revier in der Invalidenstraße sogar ein- der Berliner City, treibt der Filz die dertwerk. Die ersten Baugruben im Re- mal alle Maschinen anhalten lassen. Preise hoch. gierungsviertel und am Potsdamer Platz Auf Dauer wirken die Unterbrechun- sollen schon Ende 1997 wieder geschlos- gen: „Die Arbeiten liegen nicht mehr im sen sein. Andernfalls drohen dem Groß- Plan“, räumt Arne Foltin von der betei- ie residieren bescheiden in einer investor Daimler-Benz Riesenverluste, ligten Firma Bauer Spezialtiefbau ein. Kreuzberger Seitenstraße. Ihr wei- und dem Bundestag fehlen zum Umzug Seit Anfang Mai verstärkt Daimler- S ßer Containerbau, versteckt hinter mehr als tausend Büros. Benz den Druck. Die Hausbewohner, so heruntergekommenen Lagerschuppen, Ob Kosten und Termine noch zu hal- teilte ihnen das Unternehmen per Rund- ginge gut als Asylantenheim durch. ten sind, wird aber zunehmend fraglich. brief mit, sollten sich wegen des zu erwar- Doch die Fassade täuscht. Die Machtkämpfe innerhalb der Deutschen tenden Krachs beim Einrammen der 20köpfige Crew der „Projektgesellschaft Bahn führten zu teuren Umplanungen. Stützpfähle innerhalb von zwei Tagen Und die Einflußnahme von entscheiden, ob sie in ein Hotel ziehen Baulobbyisten stellt das lau- wollten oder in andere Ausweichquartie- fende Ausschreibungsverfah- re. Wer unbedingt bleiben wolle, müsse ren in Frage, noch bevor der eine Erklärung unterschreiben, nach der Zuschlag überhaupt erteilt ist. er mögliche Gesundheitsschäden durch Der Ärger begann mit ei- den Radau selbst zu verantworten habe nem Knall drei Tage vor Silve- und auf alle Regreßansprüche verzichte. ster. Aus heiterem Himmel „Der guten Ordnung halber“ wies der feuerte der Bahnvorstand den Konzern die Mieter zudem darauf hin, PVZB-Geschäftsführer Fritz daß er im Falle einer Ablehnung dieses Vollrath, der von Bahnchef Angebots das Mietverhältnis „wegen Heinz Dürr persönlich ange- Unzumutbarkeit der Fortsetzung, das worben worden war. Der heißt aus wichtigem Grund, fristlos“ zu frühere Düsseldorfer Tief- kündigen gedenke. bauamtsleiter hatte den Bau Heinz Kleemann vom Berliner Mieter- des dortigen Hauptbahnhofs verein nennt den Brief „unerhört“. Er pünktlich und ohne Kosten- empfiehlt den Bewohnern, in ihren Woh- sprünge durchgezogen. Mit nungen zu bleiben und eifrig Lärmproto- der gleichen Verve ging er kolle zu schreiben. Als Antwort auf die auch in Berlin vor. „Überrumpelungs- und Zermürbungs- Aber der Vollblut-Ingenieur taktik“ sollten die Mieter ihre Forderun- mußte erfahren, daß preiswer- gen erhöhen: „4000 Mark pro Quadrat- tes Bauen bei der Bahn nicht meter wären angemessen“, so Kleemann gefragt ist. Mehrmals warnte – die Auszugsprämie entspräche dann er öffentlich vor riskanten dem Kaufpreis von Wohnungen in re- Planänderungen, die das Ge- spektabler Lage. nehmigungsverfahren verzö- „Die Mieter verlangen so hohe Abfin- gern könnten.

dungen, daß selbst ein großer Konzern ARIS Zu Vollraths Gegenspieler tief Luft holen muß“, klagt Detlev Hee- Bahn-Projektchef Remmert wurde Peter Reinhardt, im ring von der Daimler-Hausverwaltung. Machtkämpfe blockieren Entscheidungen Bahnvorstand verantwortlich Den Daimler-Managern rennt die Zeit für Personenbahnhöfe. Der davon. Ende vergangener Woche geneh- für Verkehrsanlagen im Zentralen Be- war in den schicken Entwurf vernarrt, migte das Amtsgericht Tiergarten den reich“ (PVZB), einem Gemeinschafts- den der Hamburger Star-Architekt Antrag eines Mieters. Per einstweiliger unternehmen der Deutschen Bahn und Meinhard von Gerkan für den Hochbau Verfügung hat es angeordnet, daß die des Landes Berlin, steuert ein Milliar- am Lehrter Bahnhof, dem zukünftigen Daimler-Arbeiter die Stützpfähle nicht denprojekt ohne Beispiel: die Berliner Knotenpunkt der Berliner Bahnen, ge- mit der sonst anfallenden Lautstärke ein- Tunnelbauten. zeichnet hatte. rammen dürfen – sie müssen sich etwas Ihre Pläne beschäftigen derzeit ein Gerkans Idee entsprach nicht den fer- anderes einfallen lassen. Heer von Ingenieuren und Kaufleuten tigen Basisplanungen der PVZB-Inge- Wohl wegen der aufziehenden Gefahr in einem Dutzend europäischer Bau- nieure und warf deren Sicherheitskon- eines Baustopps hatte Daimler-Unter- konzerne. Bis Ende Juni müssen die zept mit kurzen Fluchtwegen über den händler Heering zuvor bereits Verhand- Unternehmen den Tunnelherren in den Haufen. Statt dessen schlug er lange lungsbereitschaft signalisiert: „Über die Bürocontainern ihre Angebote vorle- Umsteigewege vor, um die Reisenden in Erhöhung der Ablösesumme wird man gen, um sich einen der begehrten Auf- die Ladenpassagen zu leiten. Eine über- noch reden können.“ Y träge am Tunnelbau zu verschaffen. dimensionale Glashalle überwölbt in

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che gehandelt“, erfuhr ein verblüffter Tunnelplaner vor drei Wochen beim „Betontag“, einer Fachta- gung der Betonindustrie in Hamburg. Um die Aufträge recht- lich einwandfrei zu verge- ben, müssen zudem allen Firmen dieselben Projekt- informationen zum glei- chen Zeitpunkt zugänglich sein. Niemand darf bevor- zugt werden. Entgegen der ursprüngli- chen Absicht wurde aber nach Vollraths Rausschmiß auf Betreiben des Bahn- vorstands ausgerechnet ei- ne Frankfurter Anwalts- kanzlei mit der Abwick- lung der Ausschreibung be- auftragt, die aufs engste mit einigen deutschen Bau- konzernen verbandelt ist: die Societät Wolfgang Hei- ermann und Partner.

ARCHITEKTENBÜRO GERKAN Zu deren Mandanten Entwurf für Lehrter Bahnhof: „Die Liste wird seit langem in der Branche gehandelt“ zählt unter anderem Deutschlands größter Bau- seinem Entwurf das gewaltige Bahn- Doch entgegen den ursprünglichen konzern Philipp Holzmann, der in Ber- kreuz. Vollrath widersetzte sich und Absprachen legte Mönnich die Koope- lin zusammen mit den drei anderen Bau- warnte vor Mehrkosten von nahezu 100 ration auf Eis. „Die schicken uns die riesen Hochtief, Dywidag sowie Bilfin- Millionen Mark, die im Bundesetat Pläne nicht, das Projekt hängt seit Wo- ger + Berger gegen die europäische nicht berücksichtigt sind. Reinhardt chen“, ärgert sich ein Daimler-Mann. Konkurrenz antritt. Zudem führt der setzte sich durch. Vollrath mußte gehen. Verzug können sich die Tunnelbauer Anwalt Horst Franke die Feder in dem Seitdem läuft bei der PVZB vieles an- jedoch nicht mehr leisten. Mit ihrem Verfahren – bis September letzten Jah- ders. Pro forma übernahm der Bochu- Genehmigungsantrag liegen sie schon res war er als Geschäftsführer des mer U-Bahn-Bauer Dieter Mönnich die ein halbes Jahr hinter der ursprüngli- Hauptverbandes der Deutschen Bauin- Geschäftsführung. Einen Vertrag hat er chen Terminplanung. Die Aufträge für dustrie der Bonner Cheflobbyist für die bis heute nicht und muß fast jede Ent- den neuen Zentralbahnhof konnten Betonbranche. scheidung mit Frankfurt abstimmen – noch nicht einmal ausgeschrieben wer- Daß Heiermann und Franke womög- zum Nutzen der interessierten Bauindu- den, weil die Ingenieure mit den Be- lich in einen Interessenkonflikt geraten, strie und zum Schaden der Steuerzahler. kann sich Berlins Bahnchef und PVZB- So stieg zunächst ein von der Bochu- Aufsichtsratsvorsitzender Werner Rem- mer Ingenieurfirma Zerna lediglich aus- „Die schicken uns die mert gleichwohl „nicht vorstellen“. Hei- geliehener Mitarbeiter zum Assistenten Pläne nicht, das Projekt ermann sei schließlich allgemein aner- der Geschäftsleitung „mit Weisungsbe- kannter Spezialist für Baurecht. Das fugnis und Durchgriffsrecht“ auf. In die- hängt seit Wochen“ Know-how diente bislang allerdings ser Funktion genehmigt er unter ande- meist privaten Auftraggebern – und rem die Honorare der Auftragnehmer, rechnungen für den Gerkanschen Palast Heiermanns eigenen Interessen. Seinen auch für seine eigene Firma. nachhängen. Posten als Aufsichtsrat bei der Ersten Zugleich kehrte das Ingenieurunter- Auf die schiefe Bahn gerät das Pro- Baugesellschaft Leipzig kündigte die nehmen Lahmeyer International, eine jekt erst recht durch dubiose Umstände, Treuhand 1992 wegen überteuerter Schwesterfirma von Hochtief im RWE- unter denen derzeit um die ersten drei Grundstücksgeschäfte, die Staatsan- Konzern, auf wundersame Weise in den Milliarden-Aufträge gezockt wird. Um waltschaft ermittelt wegen Untreue. Kreis der Auftragnehmer zurück. Zwei bei der Verteilung der Steuergelder Nun versuchen Heiermann und Fran- Monate zuvor hatte Vollrath Lahmeyer freie Hand zu haben, wählten die Bahn- ke bei der Deutschen Bahn, schnelles wegen grober Fehler gekündigt. strategen ein Verfahren ohne öffentli- Geld zu machen. Mit Geschäftsführer Neuerdings stockt die kostensparende che Ausschreibung. Dabei werden nur Mönnich arrangierten die Frankfurter Zusammenarbeit mit den Investoren am ausgewählte Unternehmen aufgefor- Anwälte einen Honorarvertrag für Potsdamer Platz. Vollrath hatte verein- dert, ein Angebot zu machen. „baubegleitende Rechtsberatung“, der bart, daß die Daimler-Tochter Debis die Doch bei diesem Vorgehen muß die die öffentlichen Bauherren 100 000 Baugrube für die Bahn gleich mitaushe- Bieterliste zwingend bis zum Ende der Mark monatlich kostet und insgesamt ben läßt und sparte so 30 Millionen Angebotsfrist geheim bleiben. Andern- 7,1 Millionen bis Ende des Jahres 2000 Mark. Das gleiche Verfahren bietet die falls sind preistreibende Absprachen garantieren soll, mehr als doppelt soviel Debis-Führung auch für den unterirdi- möglich. Um besondere Geheimhaltung wie branchenüblich. schen Bahnhofs-Rohbau an, die sich mit haben sich PVZB- und Bahnführung Das Pauschalhonorar, wie passend, dem Keller des Daimler-Hochhauses aber offenbar gar nicht erst bemüht. ist unabhängig vom Umfang der er- überschneiden. „Die Liste wird seit langem in der Bran- brachten Leistung. Y

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WIRTSCHAFT TRENDS

SPD reich zu verbieten, weil in diesen Zeitschriften Scharpings für Zigaretten geworben wird. Tabakreklame ist neue Berater in Frankreich seit An- fang 1993 untersagt. Am Rudolf Scharping will sich als Wirt- Donnerstag dieser Wo- schaftsfreund und Modernisierer profi- che werden die deut- lieren. Der SPD-Chef hat sich einen schen Verleger ihre An- neuen Kreis von rund 30 Beratern aus wälte zur Anhörung vor Unternehmen und Wissenschaft zuge- das Pariser Handelsge- legt, das „Forum Wirt- richt schicken; die Deut- schaft“. Dazu gehö- schen, so machte einer ren Öko-Unternehmer der französischen Verle- wie Carlhanns Damm, ger klar, sollten in dem Vorstandsvorsitzender beantragten Verkaufs- der AEG Hausgeräte, verbot bitte „keinen Af- und Joachim Bene- front“ sehen. Denn die mann, Chef der Flach- Kläger hoffen, daß der

glas Solartechnik in F. REGLAIN / STUDIO / GAMMA Fall an den Europäi- Köln, einem der welt- Zeitungskiosk in Paris schen Gerichtshof ver- weit größten Anbieter wiesen wird. Die Rich- von Solarkomponen- Werbung ter in Luxemburg, so die Vermutung, ten. Mit dabei ist auch werden nicht zulassen, daß Medien ei- Uwe-Harro Cloppen- Mit Tricks zum Tabak nes EU-Mitgliedslandes in einem an-

BONN-SEQUENZ burg, einer der Chefs deren EU-Staat verboten werden. Scharping des Bekleidungshauses Mit einem Trick wollen französische Wenn aber der Europäische Gerichts- Peek & Cloppenburg. Verleger das Werbeverbot für Tabak hof Zigarettenreklame in importierten Aus der Wissenschaft hat Scharping kippen. Drei Pariser Verlage, darunter Medien zulasse, dürfe die französische den Darmstädter Ökonomie-Professor der des Nouvel Observateur, haben be- Regierung den nationalen Blättern die Bert Rürup und Erhard Kantzenbach, antragt, den Verkauf von SPIEGEL, gleiche Werbung nicht verbieten, hof- Präsident des Hamburger HWWA-In- Stern, Bunte und TV Today in Frank- fen die Verleger. stituts für Wirtschaftsforschung, ausge- wählt. Dreimal im Jahr soll die Runde zusammenkommen. Metallgesellschaft

Seat Fragwürdige Honorare Streit um Staatsgelder Kajo Neukirchen, Chef der Metallge- Ernst am 17. Januar an Neukirchen, sellschaft (MG), soll eine fragwürdige habe die Immobiliengruppe DIFA Der VW-Konzern hat wieder Ärger Honorarforderung in Höhe von rund das Areal erworben. Das MG-Ma- mit seiner spanischen Tochterfirma drei Millionen Mark bewilligen – aus nagement hat offenbar Zweifel an der Seat. Weil sich Konkurrenten bei der Angst vor der Dresdner Bank, die Berechtigung der Forderung. „Roland Europäischen Union in Brüssel be- der MG-Chef für die Sanierung des Ernst“, schrieb in einer internen No- schwert haben, soll Seat einen Betrag Konzerns braucht. Die Summe for- tiz Michael Guntersdorf, Chef der von rund 500 Millionen Mark an den derte der Baulöwe Roland Ernst, an MG Immobilien GmbH, „wies außer- spanischen Staat zurückzahlen. Die dessen Projekten die Dresdner Bank dem darauf hin, daß diese Vereinba- Summe war offiziell zur technologi- oft beteiligt ist, für Vermittlungsakti- rung gemeinsam mit der Dresdner schen Modernisierung bewilligt wor- vitäten beim Verkauf der MG-Ver- Bank getroffen worden sei (davon den, soll aber in Wirklichkeit für den waltung am Reuterweg in Frankfurt. weiß ich allerdings nichts). Sollten wir Abbau der Belegschaft eingesetzt wor- „Aufgrund des von uns erarbeiteten nicht bereit sein, seine Forderungen den sein. Wettbewerbskommissar Ka- städtebaulichen Gutachtens“, schrieb zu erfüllen“, werde Ernst „in dieser rel van Miert fordert von der Regierung Sache“ den Vorstand der in Madrid jetzt einen Verwendungs- Dresdner Bank ansprechen. nachweis der Mittel. Wenn VW dieGel- Dieser Hinweis verfehlte offen- der zurückzahlen muß, könnte es zu ei- bar auch bei Neukirchen die ner Trennung von Seat kommen. Im- Wirkung nicht. „Ich kann nicht mer häufiger ist im Vorstand die Rede sehen“, schrieb er in einer davon, bei der verlustreichen Tochter Hausmitteilung an seinen Justi- Seat auszusteigen. Deren überdimen- tiar Harald Rieger, „in welcher sioniertes Werk Martorell bei Barcelo- Funktion Herr R. Ernst für uns na wären die Wolfsburger ohnehin gern noch tätig sein soll. Allerdings los. Interessant für VW ist lediglich das kann ich ermessen, welche Pro- Werk Pamplona, das den Polo produ- bleme (Dresdner Bank) entste- ziert. Das aber hat VW bereits im vori- hen, wenn wir dieses Thema

gen Jahr Seat für 1,2 Milliarden Mark A. SCHOELZEL KAMMER / ACTION PRESS nicht präzise und schnell erledi- abgekauft. Ernst Neukirchen gen.“

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WIRTSCHAFT

Wirtschaftspolitik LEERE WORTE DER BOSSE Gespräche ersetzen Gesetze, Versprechen treten an die Stelle von Verordnungen. Bundeskanzler Helmut Kohl verläßt sich auf schwammige Zusagen der Wirtschaftsführer. Zusätzliche Ostinvestitionen und Lehrstellen für alle haben ihm die Unternehmer versprochen, doch ihre Zusagen meist nicht gehalten.

er häßliche Satz ging beinahe un- ter. Fast 60 Minuten sprach Hel- Dmut Kohl am Mittwoch vergange- ner Woche auf dem Deutschen Sparkas- sentag, fast 60 Minuten wartete er mit Schmeicheleien und Nettigkeiten auf. Nur in einer Randbemerkung ließ er Groll erkennen: Die Versprechungen der Kreditinstitute für die neuen Bun- desländer seien „noch nicht erfüllt“. Dann legte er in freundlichem Tonfall li- stig nach: Das Ganze sei aber, so hoffe er, „auf gutem Wege“. Kohls eigene Mitarbeiter reden Klar- text. Das Versprechen der westdeut- schen Banken, eine Milliarde Mark in marode Treuhandfirmen zu stecken, sei nicht eingelöst, heißt es im Kanzleramt. Gerade bei den Sparkassen, die ur- sprünglich 40 Prozent der Bankenmilli- arde für den Aufbau Ost beisteuern soll- ten, habe die „moralische Verpflichtung gegenüber dem Kanzler“ fast nichts be- wirkt. Jahrelang hat sich Kohl auf die Zusa- gen der Wirtschaftler verlassen. Sie ver- sprachen ihm alles und hielten wenig da- von. Das Gezerre um die Bankenmilli- arde erscheint selbst der konservati- ven Börsenzeitung als „Eine-Milliarde- Show“. Bis zum 14. Juni, wenn erneut Wirt- schaftsführer und Gewerkschaftsfunk- tionäre zur Kanzlerrunde nach Bonn reisen, will Kohl endlich Klarheit. Eine Arbeitsgruppe im Kanzleramt unter- sucht, was aus den Versprechen der letz- ten Jahre wurde. Kohl fühlt sich getäuscht. Zwar sind die Zusagen nicht einklagbar, aber die „moralische Verpflichtung“, so dachte er, müsse eigentlich reichen. Er dachte falsch. Für jeden Bewerber sollte eine Lehr- stelle parat sein, versprachen die Ver- bandspräsidenten von DIHT und Hand- werkskammern. Daraus wird wohl nichts: Im deutschen Osten stehen der- zeit rund 90 000 Jugendliche ohne Aus- bildungsplatz da.

* Auf dem Festakt zum 125. Jubiläum der Deut- B. BOSTELMANN / ARGUM schen Bank am 10. März in Frankfurt. Kanzler Kohl*: Geliehene Wirtschaftskompetenz

104 DER SPIEGEL 20/1995 „Die Lücke zwischen angebotenen Forscher Martin Führ hat untersucht, und nachgefragten Stellen wird im versprechen unter welchen Bedingungen auch in Osten eher größer“, weiß Walter „Jeder Bewerber erhält einen Deutschland eine Politik der freiwilli- Hirsch, Referatsleiter in der Bundesan- Ausbildungsplatz“ gen Absprachen funktionieren kann. stalt für Arbeit. Damit das angestrebte Grundregel eins: Es kommt darauf an, Stellenwachstum von zehn Prozent in Fehlende Lehrstellen in den richtigen Verhandlungspartner zu zwei Jahren erreicht werde, müsse sich den neuen Bundesländern 90 100 finden. „der Trend in den kommenden Mona- im März des jeweiligen Jahres Schon das ging bei Kohls Bankenab- ten noch erheblich ändern“. sprache daneben. Der Sparkassenver- Die Kohlendioxid-Emissionen sollen 64 509 band muß einerseits für die großen Lan- bis zum Jahr 2005 um „bis zu 20 Pro- desbanken sprechen, kann die aber an- zent“ sinken. Das versprachen, noch 47 826 schließend kaum unter Druck setzen. rechtzeitig vor dem Klimagipfel, die „Die große WestLB“, so ein Kohl-Mit- 34 553 Quelle: BA Manager der Industrie. Doch den Wor- arbeiter, „macht im Zweifel doch, was ten folgten bisher keine Taten. Ohne sie will.“ Kurskorrektur, darin sind sich alle Öko- Wichtig ist, daß die Politik glaubwür- logen einig, wird das Klimagift weiter dig Zwangsmaßnahmen androht. Das zunehmen. habe Umweltministerin Angela Merkel 1992 1993 1994 1995 Selbst die häufig als Erfolg gepriesene versäumt, als sie mit der Automobilin- Einkaufsoffensive Ost des Bundesver- dustrie einen sinkenden Spritverbrauch bandes der Deutschen Industrie (BDI), lingsausbildung – den Großteil von für künftige Modelle vereinbarte, kriti- die den Absatz von Ostwaren in West- Deutschlands Unternehmern interes- siert Umweltexperte Wicke. deutschland verbessern sollte, hat bisher siert schlicht nicht, was ihre Verbands- „Da hätte erst ein Entwurf für eine nicht viel gebracht. Nach einer Untersu- fürsten in Bonn verkünden. knallharte Verordnung für den Flotten- chung des Münchner Ifo-Instituts stieg Selbst Siemens-Chef Heinrich von verbrauch auf dem Tisch liegen müssen, zwar der Warenstrom von Ost nach Pierer, ein Freund des Bundeskanzlers, bevor die Verhandlungen losgingen“, West. Doch die Verkäufe in die umge- ist da keine Ausnahme. Ausgerechnet erklärt er: „Dann wäre vielleicht das kehrte Richtung nahmen deutlich der Münchner Elektrokonzern stellte Doppelte herausgekommen.“ schneller zu. trotz der Lehrstellenversprechen der Genauso wichtig sind exakte Abspra- Verbandsoberen fast zehn Prozent we- chen über die Kontrolle der Zusagen – versprechen niger Auszubildende ein als noch im und über Zwischentermine, zu denen „Das deutsche Kre- Investitionen der Jahr zuvor. erste Erfolgsdaten pünktlich vorliegen ditgewerbe inve- Kreditwirtschaft Im Ausland haben sich freiwillige müssen. stiert im Osten eine Selbstverpflichtungen der Wirtschaft da- Nichts davon sieht die Abmachung in den neuen gegen bewährt. „Es müssen ein paar vor, die Merkel und verschiedene Indu- Milliarde Mark“ Bundesländern Voraussetzungen stimmen, dann kön- strieverbände über die Minderung des in Millionen Mark 400 nen die Aktionen sogar mehr bringen Klimagases CO2 trafen. Noch bevor als staatliche Auflagen“, sagt Martin Einzelheiten klar waren, versprach Mer- Führ, der im Auftrag des Deutschen kel ihrerseits, die Industrie von einer Bundestages die Wirkung von Selbstver- Energiesteuer zu verschonen. pflichtungen untersucht hat. Privatbanken 320 Trotz der bisherigen Enttäuschungen 400 Als Erfolgsmodell gilt die Umweltpo- wird die Bundesregierung ihre Appell- litik der Niederlande. Dort entstand En- strategie beibehalten. Die Klüngelrunde de der achtziger Jahre der sogenannte im Kanzleramt, die zunächst nur bis Ju- Sparkassen 257 Nationale Umweltplan, der auf Bran- ni dieses Jahres befristet war, wird ver- chenabkommen, Selbstverpflichtungen mutlich fortgesetzt. 200 Genossen- und Kooperationen von Wirtschaft, Die knappe Mehrheit im Bundestag schaftsbanken 80 Umweltgruppen und Gewerkschaften und die SPD-Dominanz im Bundesrat basierte. haben das Regieren schwieriger ge- Damals galt der Plan als Notlösung, macht. Viele Entscheidungen müssen Vor allem die zögerlichen Investitio- weil in der Rezession keine strengen nen in Ostdeutschland haben den Kanz- Umweltauflagen durchsetzbar schienen. versprechen ler verärgert. Das Verhältnis zu den Doch die Unternehmen machten weit- „Die deutsche Wirtschaft verringert Bossen ist seit der deutschen Einheit gehende Zusagen und hielten diese ihre CO2-Emissionen bis zum Jahr weiter abgekühlt. Viel hielt er nie von größtenteils ein. Der Grund: Die Lang- 2005 um 20 Prozent“ den Männern aus den Top-Etagen. Daß zeitabsprachen gaben ihnen mehr Si- sie ihre Zusagen so wenig halten, hat ihn cherheit beim Planen. Minderungsziel: 80% enttäuscht. Noch erfolgreicher ist die Politik der 800 des Wertes von 1987 „Die Selbstverpflichtungen der Wirt- Ehrenworte in Japan. Mit detaillierten schaft taugen nichts“, findet selbst die Selbstverpflichtungen entgehen die Nip- 600 unternehmerfreundliche Wirtschaftswo- pon-Konzerne einer allzu rigiden Ge- che. Bei einer Umfrage des Blattes er- setzgebung. Der enorme Erfolg der in- klärte sich nur ein Drittel von rund 700 formellen Absprachen ist allerdings auf 400 CO2-Emissionen befragten Unternehmen zum Mitma- die Bundesrepublik nicht übertragbar: durch Verbrauch von fossilen Brennstoffen chen bereit, falls Kammern und Verbän- „Wer in Japan solche Versprechen 200 de in ihrem Namen Versprechen abge- bricht, wird sozial geächtet“, weiß Lutz in Deutschland ben. Wicke, Staatssekretär beim Berliner in Millionen Tonnen Ein knappes Viertel der Befragten Umweltsenator Volker Hassemer. In 0 hält Selbstverpflichtungen grundsätzlich Deutschland sind die Skrupel offenbar 1987 19901993 1996 1999 2002 2005 für falsch. Ob Klimaschutz oder Lehr- geringer.

DER SPIEGEL 20/1995 105 daher in langwierigen Vorgesprächen sorgfältig abgestimmt werden, immer mehr Vorhaben können durch abwei- chende Minderheitsinteressen lahmge- legt werden. Da liegt es nahe, Alternativen zum mühseligen parlamentarischen Geschäft zu entwickeln. Eine Neuauflage der konzertierten Aktion ist für Kohl nicht ohne Reiz: Gespräche ersetzen Geset- ze, Versprechen treten an die Stelle von Verordnungen. Das Verfahren hat Vorteile für alle Beteiligten: Die Verbände, die alle- samt unter Mitgliederschwund leiden, können sich publikumswirksam insze- nieren. Der Kanzler, beobachtet der SPD-Abgeordnete Siegmar Mosdorf, „schmückt sich mit geliehener Wirt- schaftskompetenz“. Für das nächste Treffen Mitte Juni stellt sich Roland Issen, Chef der Deut- schen Angestellten-Gewerkschaft, dar- auf ein, daß nach den Zugeständnissen der Regierung und der Arbeitgeber in den vergangenen Sitzungen „diesmal für uns Gewerkschaften unangenehme Fragen an der Reihe sind“. Vor allem Zugeständnisse bei der Flexibilisierung der Arbeitszeiten wür- den die Wirtschaftslobbyisten den Ar- beitnehmervertretern gern abringen. So moderiert ausgerechnet der libe- rale Wirtschaftsminister Günter Rex- rodt („Wirtschaft findet in der Wirt- schaft statt“) neuerdings Branchendia- loge, an denen Unternehmer und Ge- werkschaften teilnehmen. Forschungs- und Bildungsminister Jürgen Rüttgers leitet kommende Woche erstmals einen neuen Technologierat. Der Frankfurter Allgemeinen, der selbsternanntem Tugendwächterin der Marktwirtschaft, ist das Treiben mitt- lerweile ungeheuer: „Die Bonner Poli- tik wird längst als permanente konzer- tierte Aktion gestaltet.“ Niemand im Regierungslager bestrei- tet das. Wolfgang Schäuble, Vorsitzen- der der Unionsfraktion im Bundestag, spricht vom „zunehmenden Prozeßcha- rakter“ der Kohlschen Politik. Die Bonner Wirtschaftspolitik, freut sich der Vorsitzende der CDU-Sozialaus- schüsse Rainer Eppelmann, ist „perma- nenter Sozialpakt geworden“. Den Wirtschaftsführern und Ver- bandspräsidenten ist das recht so, so- lange sie von verbindlichen Abspra- chen verschont bleiben. Um ein für sie kostspieliges Gesetz zu verhindern, sind sie gern bereit, Versprechen zu ge- ben. Der Unternehmer Tyll Necker, ehe- maliger BDI-Präsident und Initiator der jüngsten Kanzlerrunden, hatte von Anfang an nur Unverbindliches im Sinn. Stets erklärte er: „Wir sind hier kein Beschluß-, sondern nur ein Infor- mationsgremium.“ Y .

WIRTSCHAFT

bereits, wie viele andere Banken auch, len die Schweizer die Zinsen steuerfrei Währungsunion ihre Bataillone in Marsch gesetzt, um aus. die Mark-Konten ihrer Kunden in Si- Der Franken könnte sich als Nachfol- cherheit zu bringen. Die Flucht der Spa- ger der starken D-Mark etablieren. Be- rer in die Schweizer Franken hat längst reits jetzt, da sind sich viele Banker ei- Sicherer begonnen. nig, beginnt der Franken von seinem Im Spätsommer vergangenen Jahres Status als sicherer Fluchthafen zu profi- eröffnete die Landesbank Hessen-Thü- tieren. Während der vergangenen Mo- Hafen ringen (Helaba) in Zürich eine Depen- nate legte die D-Mark gegenüber dem dance. Die meisten anderen regionalen Dollar und fast allen Währungen zu. Viele Anleger fühlen sich durch die Sparkassenzentralen wie die WestLB Nur eine Währung stand in Europa bes- Europäische Währungsunion schon oder die Bayerische Landesbank ma- ser da: der Schweizer Franken. chen dort schon seit längerem gute Ge- Angesichts solcher Perspektiven wol- heute verunsichert. Die Flucht in den schäfte. len auch die Großbanken nicht abseits Schweizer Franken hat begonnen. 200 Millionen Mark haben Privatanle- stehen. Die Deutsche Bank (Suisse) SA ger innerhalb weniger Monate zur Zür- bezog im Herbst ein neues, größeres cher Helaba geschleppt. Erfolg steckt Geschäftsgebäude in Nähe des Zürcher enn es um die D-Mark geht, ver- an: Auch die Frankfurter Sparkasse Hauptbahnhofs. Sie verwaltet bereits steht Wolfgang Grüger keinen denkt darüber nach, in der Schweiz eine Vermögen im Wert von über zehn Milli- WSpaß. Kommt es zur schnellen eigene Filiale zu eröffnen. arden Schweizer Franken. Einführung einer europäischen Ein- Natürlich habe der Volksentscheid Die Dresdnerbank Asset Manage- heitswährung, prophezeit der Präsident der Schweizer, dem Europäischen Wirt- ment aus Luxemburg ließ sich zum er- des Bundesverbandes der Deutschen schaftsraum fernzubleiben, „den Schritt stenmal den Vertrieb von sechs Fonds in Volks- und Raiffeisenbanken „eine gi- nach Zürich begünstigt“, sagt Karl Kau- der Schweiz genehmigen. Demnächst gantische Kapitalflucht“. ermann, Vorstandsvorsitzender der He- soll den Anlegern eine Palette von 22 Immer mehr Bürger, so Grüger, fra- laba. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Fonds zur Verfügung stehen. So will die gen beim Abschluß langfristiger Spar- Eidgenossen jemals die Gelder von Aus- Dresdner Bank ihre Expansion mit eige- verträge schon, in welcher Währung sie ländern besteuern, ist damit geschwun- nen Produkten vorantreiben. das Ersparte wieder ausgezahlt bekom- den – zur Freude der deutschen Steuer- Bislang wurden in der Schweiz fast men. Zur geplanten Eurowährung, die flüchtlinge. Bei fast allen Anlagen zah- nur Vermögen in mindestens siebenstel- nach dem Maastricht-Vertrag spätestens liger Höhe gebunkert, 1999 eingeführt werden soll, gebe es bis- kleinere Beträge gin- her wenig Vertrauen. Grügers Beobach- Schwacher Ecu... gen nach Luxemburg tung: „Bei Deutschlands Sparern geht 1,95 oder Österreich. Doch Ecu in Mark die Angst um.“ 1,93 jetzt finden auch klei- Auch Bundeskanzler Helmut Kohl, 1,91 nere Vermögen den der die D-Mark vertragsgemäß opfern Weg in die Eidgenos- will, kennt das Mißtrauen der Bundes- 1,89 senschaft. Die Aktivi- bürger. Die Bevölkerung solle sich nicht 1,87 täten der Fondsgesell- „von Europa-Ängsten anstecken las- 1,85 schaften haben spür- sen“, beschwor er vergangene Woche bar zugenommen. Die die 3000 Gäste des Sparkassentages in ...und starker Franken Deka, Fondsgesell- Hannover. 1,23 schaft der Sparkassen, Da appellierte der Pfälzer an das fal- 1,21 hat jetzt in der Schweiz sche Publikum. Die Sparkassen haben 1,19 eine Servicegesell- schaft gegründet. 1,17 Schweizer Franken in Mark Die Furcht der Spa- 1,15 rer ist nicht unbegrün- J FMAMJJASONDJFMAM det. Im Maastricht- 1994 1995 Vertrag sind zwar ver- gleichsweise harte Kri- terien für die Länder definiert worden, die der Währungsunion beitreten wol- len. Doch die Sanktionen im Fall exzes- siver Haushaltsdefizite bereits aufge- nommener Staaten gelten vielen Exper- ten als „Papiertiger“ (Zentralbankrats- mitglied Hans-Jürgen Koebnick). Es ist wenig wahrscheinlich, daß der Ecu die Stabilität der Mark erreichen kann. Friedrich Heinemann vom Zen- trum für Europäische Wirtschaftsfor- schung warnt bereits heute vor festver- zinslichen Mark-Anleihen, die erst nach 1999 fällig werden. Wenn der Zinsgewinn am Ende in Ecu ausgezahlt wird, prophezeit der Mannheimer Forscher enttäuschte Ge-

KEYSTONE ZÜRICH sichter. Die Erträge könnten „unange- Schweizer Bank: „Bei Deutschlands Sparern geht die Angst um“ messen niedrig“ ausfallen. Y

DER SPIEGEL 20/1995 107 .

WIRTSCHAFT

Privatisierung Ein Gefühl wie Weihnachten Der Verkauf früherer ostdeutscher Chemiebetriebe an den US-Konzern Dow Chemical kostet den Steuerzahler fast zehn Milliarden Mark. Im Osten entstehen die teuersten Arbeitsplätze der Welt – subventioniert mit mehr als fünf Millionen Mark pro Job. Egal wie sich das neue Unternehmen entwickelt: Die Amerikaner verdienen immer.

er Erweckungsgottesdienst fand im Kohls Mann kann offenbar nicht rech- die in der freien Wirtschaft ihresglei- Saale statt. Einhellig beschworen nen: Der Deal mit Dow Chemical ist die chen suchen. Der Vertrag wird wie ein Ddie Redner im Kulturhaus der Bu- kostspieligste Abwicklung der ökonomi- Staatsgeheimnis gehütet. Gegenüber na-Werke in Schkopau als Retter der schen DDR-Vergangenheit in den neu- dem SPIEGEL räumte der BVS- ostdeutschen Chemieindustrie den en Ländern. Schon jetzt steht fest: Bei Verhandlungsführer, der Düsseldorfer Schutzpatron von Plaste und Elaste – dem Geschäft zahlen die deutschen Rechtsanwalt Georg F. Thoma, jedoch Helmut Kohl. Steuerzahler Milliarden drauf. ein: „Die Amerikaner haben sich gegen Auch wenn der Bundeskanzler nicht Für 300 Millionen Mark gehen am alle Risiken abgesichert.“ anwesend war, sein Geist schwebte an 1. Juni dieses Jahres 80 Prozent der frü- Zu Lasten des deutschen Steuerzah- diesem Tag allgegenwärtig im Raum. heren Kombinate Buna in Schkopau, lers. Kurz vor ihrer Auflösung kam En- Schließlich sollte auf der Betriebsver- Sächsische Olefinwerke in Böhlen und de Dezember letzten Jahres die Treu- sammlung am 28. April der Belegschaft Leuna Polyolefine GmbH an den ameri- hand zu der Erkenntnis, die Buna-Priva- des ostdeutschen Unternehmens die kanischen Konzern. Das neue Unter- tisierung koste den Staat bis 1999 wahr- Verwirklichung seiner Vision verkün- nehmen firmiert unter dem Namen BSL scheinlich 8,092 Milliarden Mark. Nach det werden: die Privatisierung der ehe- Olefinverbund GmbH. Berechnungen der Treuhand-Nachfol- maligen Chemiebetriebe Buna, Leuna Nach einer Restrukturierungsphase, gerin BVS von Ende März sind es sogar und der Sächsischen Olefinwerke Böh- in der das Unternehmen bis Ende 1999 bis zu 9,487 Milliarden Mark. BVS-In- len. neu aufgebaut wird, hat Dow ein Vor- sider sind überzeugt, daß unabhängige Am 10. Mai 1991 hatte Kohl persön- kaufsrecht auf die bei der Bundesanstalt Wirtschaftsprüfer bei der Lektüre der lich am selben Ort „für den Fortbestand für vereinigungsbedingte Sonderaufga- Vereinbarung zwischen der BVS und dieser Standorte“ sein Wort gegeben. ben (BVS), der Nachfolgerin der Berli- Dow „leicht auf einen zweistelligen Mil- Im Wahljahr 1994 erneuerte er bei ei- ner Treuhandanstalt, verbliebenen An- liardenbetrag kämen“. Wie immer sich nem Besuch in Böhlen sein Versprechen teile zum Fixpreis von 250 Millionen die BSL entwickelt, Dow Chemical und wies gleich auf den mutmaßlichen Mark. macht stets Gewinn. Erben der realsozialistischen Konkurs- Ein Schnäppchen, allerdings nur für Der Erhalt industrieller Kerne in Ost- masse hin: den amerikanischen Konzern Dow Chemical. Um das Versprechen deutschland hat seinen Preis, doch im Dow Chemical (Jahresumsatz rund 19 des Kanzlers zu halten, hat die BVS den Chemiedreieck erreicht er absurde Hö- Milliarden Dollar). Amerikanern Zugeständnisse gemacht, hen. Jeder vertraglich garantierte Ar- Zur Betriebsver- sammlung Ende April schickte Kohl seinen Intimus Johannes Lu- dewig (CDU), um Vollzug zu vermelden. Der Staatssekretär im Bundeswirtschaftsmi- nisterium sollte den Bunesen die Übernah- me ihres Werkes durch Dow Chemical schmackhaft machen. Fünf Jahre nach der deutschen Einheit, pries Ludewig seinen Kanzler, hätten jetzt auch die Menschen in Buna, Leuna und Böh- len „eine Zukunftsper- spektive“. Der Dow- Konzern garantiere ei- ne Beschäftigtenzahl von „3000 plus“. Die Übernahme, beteuerte der Bonner, sei „keine

Privatisierung um je- PRINT den Preis“. Ehemaliges Chemiekombinat Buna: „Produkte von gestern mit Technologie von vorgestern“

108 DER SPIEGEL 20/1995 .

beitsplatz in der BSL kann bis zu beseitigen lassen: Das Unternehmen ne reine Produktionsstätte. Zwar erklär- 5 270 555 Mark kosten. kann sogar das Erdreich in seinem Be- te das Unternehmen, auch eine For- Von den durch die Amerikaner ver- ritt auf BVS-Kosten abräumen lassen. schungsabteilung von mindestens 150 sprochenen „3000 plus“ Stellen – derzeit Die zugesicherte Freistellung von Altla- Beschäftigten sei vorgesehen. Doch sind es noch 5700 – stellt Dow Chemical sten halten selbst BVS-Leute „für au- auch hier gilt: Vertraglich zugesichert nur 2300 im eigenen Betrieb zur Verfü- ßergewöhnlich weitreichend“. sind nur 100 Forscherplätze. gung. Lediglich 1800 sind durch Ver- Auf diese Weise könnte sich der US- Der Dow-Plan stieß vor allem beim tragsstrafen bis Ende 1999 pönalisiert. Konzern Grundstücke im Verkehrswert Leitungsausschuß, einem Gremium von Für jeden Job weniger in dieser Zeit von 345 Millionen Mark sanieren lassen. Wirtschaftsfachleuten und Steuerrecht- muß Dow pro Jahr 60 000 Mark zahlen – Ein interner Treuhand-Vermerk vom lern, das die Unternehmens- und Sanie- eine lächerliche Summe. 19. Februar zweifelte an, ob „auf seiten rungskonzepte der BVS für das Bundes- Der fünftgrößte Chemiekonzern der unseres Verhandlungsteams tatsächlich finanzministerium bewertet, auf massi- Welt kassiert ab, wo es geht. Stolz er- Klarheit über den Wert der . . . Grund- ven Widerstand. Mehrfach warnten die klärte die BVS nach der Vertragsunter- stücke besteht“. Experten im Bonner Finanzministeri- zeichnung am 4. April in der Schweiz, Von der Lage des Standortes wäre das um, das Konzept der von Dow favori- Basis für den Erfolg sei „das gemeinsam ostdeutsche Chemiedreieck längst nicht sierten Chlorchemie habe keine Zu- von BVS und Dow finanzier- kunft. Dow wolle „Produkte te Investitionsprogramm von von gestern mit Technolo- nahezu vier Milliarden gien von vorgestern herstel- Mark“ bis 1999. len“. Eindringlich rieten sie Die BVS-Manager ver- dem BVS-Vorstand von ei- schwiegen, daß der Staat die nem Vertragsabschluß mit vertraglich vereinbarten dem US-Unternehmen ab. 3,816 Milliarden Mark fast Wesentlich positiver be- allein finanziert. Nur etwa urteilten die Gutachter ein 200 Millionen Mark steuert gemeinsames Angebot des Dow bei. Und auch die stellt amerikanischen Chemie- der Konzern nicht etwa als multis Union Carbide Cor- Einlage zur Verfügung, poration (UCC) und der sondern in Form eines ver- belgischen Domo-Group zinslichen Darlehens an vom 13. März dieses Jahres. die BSL. Bei zwei Präsentationen En- Bis Ende 1999 zahlt die de März in Frankfurt und BVS zudem alle Verluste des Berlin offerierte das Kon- Unternehmens bis zu einem sortium einen „neuen Buna- Limit von 2,776 Milliarden Komplex“. Der sah vor, Mark. Ist das Minus noch 3300 Arbeitsplätze zu schaf- größer, wird die Summe ge- fen und sich gleichzeitig von teilt. Der kalkulierte Ver- der Chlorchemie zu verab- lustausgleich wird jedes Jahr schieden. Doch die BVS im voraus bezahlt. Fällt das ignorierte das Votum des Defizit am Ende der Re- Leitungsausschusses.

strukturierung geringer aus, DPA Für Dow Chemical, so er- wird Dow mit 33 Prozent der Demonstrierende Buna-Arbeiter* zählt ein US-Chemiemana- eingesparten Differenz be- 5 270 555 Mark pro Arbeitsplatz ger, sei der Vertragsab- lohnt. schluß wie eine „Christmas Nach Artikel 4.2 des Vertrages gehen mehr konkurrenzfähig. Neue Anlagen, Party“ gewesen. BVS-Präsident Hein- beide Seiten davon aus, daß der US- wie die Dow-Werke in Stade, im spani- rich Hornef, ein früherer Pharma-Ma- Multi bereits bei der Übernahme im Ju- schen Tarragona oder im holländischen nager, sieht das ganz locker: „Wer fragt ni dieses Jahres einen Verlustvortrag Terneuzen werden an der See gebaut, schon in 20 Jahren, ob wir 500 Millionen von mindestens 3,2 Milliarden Mark in weil dort die Rohstoffe Öl und Gas ko- Mark zuviel ausgegeben haben?“ Oder Anspruch nehmen kann. Das ist bares stengünstig im Großtanker angeliefert noch ein paar Peanuts mehr. Geld: Selbst wenn die BSL Gewinne werden können. Eine Dow vertraglich Am Mittwoch dieser Woche wird sich macht, muß sie auf Jahre hinaus keine garantierte Rohstoff-Pipeline von Ro- der neue BVS-Verwaltungsrat mit dem Steuern zahlen. stock nach Böhlen, die die BVS voraus- Dow-Deal beschäftigen. Geht es nach Weitere geldwerte Vorteile für Dow sichtlich 400 Millionen Mark kosten dem Vorstand, wird der Verwaltungsrat Chemical: 449 Millionen Mark be- wird, soll den Standortnachteil kompen- lediglich einen Bericht zum Vertragsab- kommt der Konzern für Standortnach- sieren. Wird die Leitung nicht bis zum schluß erhalten. Schon am 1. Februar teile, die auch noch nach der Restruktu- 30. September 1999 fertig, kann Dow teilte das BVS-Verhandlungsteam dem rierungsphase 1999 bestehen bleiben. von dem Vertrag zurücktreten. Dow-Manager J. P. Reinhard mit, eine Das Geld wird schon in diesem Jahr aus- Wiederholt hatten Mitarbeiter den „neue Runde von BVS-Zustimmungen“ gezahlt, Zinsgewinne sind garantiert. Treuhand-Vorstand und die BVS-Spitze durch den Verwaltungsrat sollte vermie- Die Energiepreise läßt Dow sich run- darauf hingewiesen, daß der ausgehan- den werden. tersubventionieren, lediglich 5,6 Pfen- delte Vertrag dem amerikanischen Kon- Zustimmen muß auch noch die Euro- nig für jede Kilowattstunde Strom bei- zern mindestens eineinhalb bis zwei Mil- päische Kommission in Brüssel. Das spielsweise soll der Konzern laut Ver- liarden Mark Profit einbringt. kann Jahre dauern. Angesichts der ho- trag zahlen. Erwartete Kosten für die Der stattlichen Dividende steht wenig hen Subventionen für Dow rechnet BVS: rund 146 Millionen Mark. gegenüber. Das Chemiedreieck wird ei- selbst die BVS nicht damit, daß die Dreißig Jahre lang darf Dow zudem Kommissare das Geschäft ohne Einwän- Altlasten melden und dann kostenlos * Im Dezember 1992 vor dem Werk. de passieren lassen. Y

DER SPIEGEL 20/1995 109 Werbeseite

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beitete, als Mann von Welt. Er spricht Die erfolgsgewohnte Sony-Mann- Elektronik fließend Englisch und Französisch und schaft trifft die Ideenkrise hart. Stets antwortet auf Fragen unjapanisch di- hatten sich die Ingenieure für etwas rekt. „Der Markt ändert sich radikal“, Besonderes gehalten. Mit pfiffigen hat Idei erkannt: „Sony muß sich eben- Ideen, etwa beim Walkman, gelang es Absturz aus falls wandeln.“ ihnen, Kundenwünsche zu wecken und Für die erfolgsgewohnten Japan-Kon- Märkte zu erschließen. Durch enorm zerne wird sich der Wettbewerb enorm schnelle Verbesserungen bei der Pro- dem Paradies verschärfen, wenn demnächst Compu- duktion hielten sie sich die Konkurren- terriesen, Fernmeldegiganten und die ten aus Europa und Amerika vom Lei- Dem japanischen Sony-Konzern, Firmen der Unterhaltungselektronik um be. einst wegweisend in der Unterhal- den gleichen Markt kämpfen. Schon Doch die alten Rezepte funktionie- sind Computerfirmen wie Microsoft und ren nicht mehr. Jüngstes Beispiel für tungselektronik, sind die Ideen Compaq oder Telefonriesen wie AT&T Sonys „Sturz vom Paradies in die Höl- ausgegangen. dabei, die Trendsetter-Rolle für das le“, so das japanische Wirtschaftsblatt kommende Geschäft der Multimedia- Toyo Keizai, ist die Mini Disc (MD). Ära an sich zu reißen. In die bespielbare Silberscheibe im it Kleinigkeiten mochte sich Bei Sony dümpelt der Umsatz bereits Miniformat hatte Sony größte Hoff- Akio Morita nie abgeben. Der seit vier Jahren um die 36 Milliarden nungen gesetzt, nachdem der Versuch, Mselbstbewußte Gründer des japa- Dollar (siehe Grafik). Immer noch ma- ins Computergeschäft einzusteigen, ge- nischen Sony-Konzerns, der den Walk- chen die Japaner das größte Geschäft scheitert war und neue Produkte wie man und den Camcorder populär mach- mit Fernsehern, Videorecordern und der superscharfe HDTV-Fernseher, te, schmückte seine Auftritte am lieb- CD-Spielern, alles Produkte, die seit der digitale DAT-Recorder oder das sten mit visionären Ankündigungen. mehr als zehn Jahren auf dem Markt elektronische Lexikon Data Discman Sein Nachfolger Norio Ohga, 65, gibt sind. Schafft Idei die Wende nicht, muß nicht die erhofften Umsätze brachten. sich bescheidener. Theatralische Auf- das „Trüffelschwein der Unterhaltungs- Als „würdigen Nachfolger der Com- tritte liegen ihm nicht, obwohl er ausge- elektronik“ (Morita) fürchten, in die un- pact Cassette“ feierte Sony die Neuheit bildeter Opernsänger ist. Als Ohga An- dankbare Rolle eines Zulieferers ge- im Sommer 1992. „Unsere Vision eines fang April im Sony-Board, dem Auf- drängt zu werden. neuen Personal-Audio-Systems ist sichtsrat des Unternehmens, die Nach- Wirklichkeit geworden“, schwärmte folge des schwer erkrankten Morita, 74, Firmenchef Ohga, nun beginne ein antrat, rühmte er Sonys neuentwickelte Fehlender „neues Zeitalter des Hörerlebnisses“. Lithium-Ionen-Batterie. Funke Schon bald würden fast alle großen Das Klein-Klein ist mehr als nur eine Schallplattenkonzerne ihre Musik auf Frage des persönlichen Stils. Ausge- Sonys Konzern- das „Format der Zukunft“ übertragen. rechnet in einer Zeit, in der Computer- daten im Knapp drei Jahre später klingen die und Telekom-Manager fast täglich neue Überblick Töne gedämpfter. In den Hi-Fi-Läden Visionen über die schöne bunte Welt liegen die knapp tausend Mark teuren des Multimedia-Zeitalters verbreiten, Taschenspieler wie Blei in den Vitri- Umsatz 38,1 38,8 36,5 muß sich der Trendsetter der Unterhal- 35,9 nen. Bislang erreichte Sony mit der tungselektronik mit unscheinbaren In- 28,6 High-Tech-Maschine für den mobilen novationen zufriedengeben. Das Image in Milliarden Musikgenuß nicht annähernd die Ver- als Erfinder-Company ist dahin. Dollar kaufszahlen von konventionellen Kas- Bahnbrechende Produkte, wie sie der settenrecordern. Weltweit wurden in Firmengründer liebte, hat der bekannte- den vergangenen zweieinhalb Jahren ste Elektronikkonzern Japans seit lan- gerade einmal 750 000 MD-Geräte ver- gem nicht mehr vorzuweisen. Was die 1990 91 92 93 94 kauft, davon etwa jedes zehnte in Ingenieure an Neuheiten austüftelten, Deutschland. erfüllte meist nicht die Erwartungen der elektronik entertainment An gegenseitigen Schuldzuweisungen Marketing-Experten. Seit dem Camcor- Film für den Fast-Flop mangelt es nicht. Video der, der schon vor rund zehn Jahren po- 8,8 Musik Die Plattenfirmen hätten nicht mitge- pulär wurde, hat Sony kein Massenpro- 17,9 12,3 zogen, klagt Sony; bei einem so klei- dukt mehr kreieren können. nen Kundenkreis, kontert die Musik- Unter Aufsichtsrat Ohga soll ein neu- Anteile 1994 branche, lohne es nicht, das Reper- er Firmenchef für frische Ideen sorgen. in Prozent toire auch noch auf Minischeibe anzu- Ohgas Hoffnung richtet sich auf einen 22,5 21,9 bieten. Mann, der viele Konventionen fernöstli- Audio Nach dem Reinfall bei der MD kon- cher Firmenkultur über den Haufen 16,6 sonstige zentriert der neue Firmenchef Idei sei- wirft. Elektronik ne Hoffnung auf zwei andere Silber- Mit Nobuyuki Idei, 57, rückte nicht Fernsehgeräte scheiben: die Video Disc (DVD) und nur der Jüngste aus dem 15köpfigen die CD-Rom für die neuentwickelte Vorstand an die Spitze. Der neue Sony- Gewinn 2,63 Spielkonsole PlayStation sollen den Niedergang des Konzerns stoppen. Boß, der erst seit einem Jahr im Füh- 2,26 2,10 rungsgremium des Unternehmens sitzt, vor Steuern, Doch auch die neuen Ableger der CD kann auch kein Ingenieurdiplom vor- in Milliarden sind keine Selbstgänger. weisen, bislang unverzichtbare Qualifi- Dollar 0,90 0,99 Mit der PlayStation, die im Spät- kation in nahezu jedem japanischen herbst in Deutschland auf den Markt Elektrokonzern. kommt, tritt Sony gegen die Quasi- Dafür gilt der Neuling, der in Tokio 1990 91 92 93 94 Monopolisten Nintendo und Sega an. zuletzt als Marketing- und PR-Chef ar- Technisch ist die rund 700 Mark teure

112 DER SPIEGEL 20/1995 .

Zudem fehlt dem ba entwickelten DVD-Konkurrenzstan- Herausforderer in vie- dard. len Ländern die nötige Noch ist nicht abzusehen, welches Vertriebsbasis. Meist Format sich am Ende durchsetzen wird. werden die Spielkon- Sicher ist nur, daß die Elektronikriesen solen nicht in den den Kampf nicht mehr allein unter sich Hi-Fi-Geschäften, son- ausmachen können. Auch die Compu- dern im Spielwaren- terkonzerne und die Hollywood-Studios handel verkauft. Dort wollen bei der Entscheidung über die aber ist Sony bislang Filmscheibe ein wichtiges Wort mitre- überhaupt nicht ver- den. treten. Zwar haben sich die Filmriesen MCA Noch härter wird und Time Warner schon für die Toshiba- der Kampf um die Vi- Technik und Columbia für das Sony- deo Disc, bei dem sich Format ausgesprochen. Doch deren Sony mit Philips ver- Wort ist nicht viel wert, da alle drei Stu- bündet hat. Ähnlich dios mit den jeweiligen japanischen Fir- wie einst bei den Vi- mengruppen verbandelt sind. Größeres deorecordern droht Gewicht hat das Votum der unabhängi- auch bei den digitalen gen Studios, allen voran die Disney- Bildplatten, die in eini- Gruppe, die derzeit erfolgreichste Firma gen Jahren die klobige in Hollywood.

AP Spielfilmkassette er- Die Unabhängigen wollen sich keine Sony-Chefs Ohga, Idei: „Trüffelschwein der Elektronik“ setzen sollen, ein erbit- Entscheidung aufzwingen lassen. Eben- terter Systemkrieg. so wie die Computerfirmen hoffen sie ei- PlayStation zur Zeit zwar den Angebo- Auf der anderen Seite der Front hat nen Systemkrieg um die Video Disc ver- ten der mächtigen Konkurrenten über- sich bereits eine mächtige Allianz for- meiden zu können und drängen deshalb legen. Doch bei Nintendo und Sega miert: Neben Hitachi und der französi- auf eine Vereinheitlichung der Formate. können die Kids jeweils unter Hunder- schen Thomson-Gruppe setzt auch der Davon will der ehrgeizige neue Sony- ten von Spielen wählen, Sony dagegen Branchenriese Matsushita (Panasonic, Chef aber vorerst nichts wissen. Idei bietet bislang nur zwei Dutzend Pro- Technics), der Sony bereits beim Video- sagt: „Jetzt ist nicht die Zeit für Kom- gramme an. krieg geschlagen hat, auf den von Toshi- promisse.“ Y Werbeseite

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Werbeseite . S. WINTER / BLACK STAR Marinewerft von Philadelphia: Wenn der Flugzeugträger „J. F. Kennedy“ ablegt, ist das Spiel aus

Unternehmer „Wir streiken hier nie“ Der Papenburger Familienbetrieb Meyer will eine Militärwerft in Amerika übernehmen

o das deutsche Provinznest Pa- Bernhard Meyer, Eigentümer und Krieges ihre Flotte zu reduzieren. Da- penburg liegt, hat Leo Rafter aus Chef des Papenburger Schiffbau-Famili- mit aber werden wenigstens drei von Wder amerikanischen Industrie- enbetriebs, ist in Philadelphia zum acht der Naval Shipyards überflüssig, stadt Philadelphia nie interessiert. War- Schutzpatron der Marinewerft gewor- die die US-Marine für den Bau und die um auch? den. Die Amerikaner hoffen darauf, Wartung ihrer Kriegsschiffe noch selbst Seit 13 Jahren arbeitet der 54jährige daß die erfolgreiche deutsche Schiffbau- betreibt. Auch die am Delaware Fluß auf der Marinewerft seiner Heimatstadt. firma, deren Auftragsbücher bis 1997 liegende große Werft von Philadelphia, Erst war er Anstreicher, nun sitzt er seit voll sind, möglichst viele der 4400 die im zweiten Weltkrieg bis zu 50 000 sieben Jahren als Werkschutzmann in Werftjobs in der fünftgrößten US-Stadt Menschen beschäftigte, steht auf der einem Glaskasten am Haupteingang der erhält. Streichliste. Militäranlage und gibt Besucherpässe Die Regierung in Washington hat be- Noch spielen die Arbeiter täglich in aus. schlossen, nach dem Ende des Kalten der Mittagspause auf dem verölten Im vergangenen März erfuhr der Holzfußboden der alten Werkzeugma- Wachmann aus der lokalen Zeitung, schinenhalle mit Billardkugeln Boccia. daß die Entscheidung über seine Zu- Doch wenn nach zwei Jahren Umbauar- kunft in jenem norddeutschen Städtchen beit im September der gewaltige Flug- getroffen wird. Im Philadelphia Inquirer zeugträger „John F. Kennedy“ vom stand zu lesen, die Meyer-Werft aus Pa- Werftpier ablegt, ist das Spiel endgültig penburg im Emsland sei an der Über- aus. nahme der sterbenden amerikanischen Die Entscheidung fiel aber schon 1991 Werft interessiert. in Washington. Lange aber haben es die Rafter war von dieser Nachricht so meisten Werftarbeiter nicht glauben elektrisiert, daß er sich an die Schreib- wollen, daß Uncle Sam ihre bereits 1794 maschine setzte und einen Brief tippte. gegründete Werft wirklich dichtmachen Weil er in der Zeitung keine genaue könnte. Viel zu oft schon hatten die Po- Adresse fand, schrieb er einfach an Mr. litiker das Ende angedroht. Bernhard Meyer, Papenburg, Germany. In dem schmuddeligen Versamm- „Sie sollten wissen, daß die Amerika- lungsraum der Metallgewerkschafter, ner sehr interessiert sind, daß Sie hier- der wie alles auf dieser Werft nach End- herkommen“, teilte der Wachmann dem zeit und Abbruch aussieht, haut Werft- ihm unbekannten Niedersachsen mit. arbeiter John Green mit der Faust auf

„Jeder denkt hier positiv über Sie. Ich ACTION PRESS den abgewetzten Schreibtisch: „Wir wa- erhoffe von Ihnen, daß Sie diese Werft Werft-Chef Meyer ren immer die Besten. Die Jungs von wiederbeleben.“ Retter aus dem Emsland den anderen Naval Shipyards waren nie

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so effizient wie wir.“ Sein Kollege Bruce Kriegsschiffe waren. „Wir können Flug- Evans: „Wir fühlen uns verraten.“ zeugträger bauen“, meint der Anstrei- „Meyer Wörft“, wie Amerikaner den cher Bruce Evans mit einer Das-wäre- Namen des Papenburger Interessenten doch-gelacht-Mine: „Dann werden wir aussprechen, wurde daher am Delaware auch Kreuzfahrer hinkriegen.“ zur großen Hoffnung. Allerdings wissen Sein Kollege Phil Rowan sieht eben- die Arbeiter, daß die Deutschen allen- falls keine Probleme für den Unterneh- falls die Hälfte von ihnen gebrauchen mer Meyer. Schiff sei für sie Schiff, könnten. meint der Mann, dessen Arme von oben „Die könnten morgen anfangen“, er- bis unten tätowiert sind. „Statt Edel- klärt Robert Gorgone, ziviler Manager stahl nehmen wir eben mehr Teakholz, der Marinewerft, beim Gang über das wo wir früher Neonlampen hatten, hän- ausgedehnte Gelände. Stolz zeigt der gen wir Kristallüster auf.“ Werftmann, der Investoren für die Die seit 200 Jahren bestehende Mey- Anlage gewinnen soll, die fünf brach- er-Werft, die ungünstige 40 Kilometer liegenden Trockendocks. Eines ist so landeinwärts an der Ems liegt, sieht sich groß, daß ein moderner Flugzeugträ- in Deutschland von Umweltschützern ger für 5500 Mann Besatzung darin Platz behindert. Der heimische Betrieb be- findet. kam jedesmal Ärger, wenn der seichte DPA Meyer-Schiff (auf der Ems)*: Immer Ärger

Die zur Werft gehörenden Riesenkrä- Fluß ausgebaggert wurde, nur weil Mey- ne müssen nur geschmiert und in Be- er einen neuen dicken Pott ausliefern trieb genommen werden. Turmhohe mußte. Hallen, in denen längst die Tauben le- Das expansive Unternehmen mit sei- ben, warten auf neue Nutzer. nen 1800 Beschäftigten hatte schon ein- Ein weiterer Pluspunkt für Meyer mal Pläne für einen Zweitbetrieb. Der sind die amerikanischen Löhne. Beim sollte auf der Ostseeinsel Rügen entste- gegenwärtigen Stand des Dollar ver- hen. Umweltschützer aber hatten den dient ein Werftarbeiter in den USA ma- Plan verhindert. ximal 23 Mark. Dafür faßt kein erfahre- In Philadelphia können die Deut- ner ostfriesischer Facharbeiter Hammer schen jede Menge Staatshilfe erwarten. oder Schweißgerät an. Für das etwa 350 Millionen Dollar teure Auch die in Amerika übliche 40-Stun- Investitionsprojekt stehen rund 270 Mil- den-Woche und maximal drei Wochen lionen Dollar an öffentlichen Zuschüs- Jahresurlaub sind in Papenburg längst sen zur Verfügung. Soviel US-Unter- Vergangenheit. „Wir streiken hier nie“, stützung fanden nicht einmal die Auto- preist ein Metallgewerkschafter aus konzerne BMW und Mercedes. Philadelphia sich und seine Kollegen. Eine Meyer Werft Inc. mit Sitz in Für die Schweißer, Elektriker oder Philadelphia ist längst gegründet. Sogar Maschinenbauer des Naval Shipyard eine Telefonnummer hat die Firma mitt- macht es keinen Unterschied, daß Mey- lerweile eingerichtet, unter der sich In- er Kreuzfahrtschiffe, Fähren oder Gas- teressenten bewerben können. Wach- tanker baut und sie bislang Experten für mann Leo Rafter hofft, daß auch für ihn ein Job bei den Deutschen heraus- * Die „Oriana“ bei der Überführung in die Nord- springt. Selbstbewußt sagt er: „Ich kann see. Meyer eine Menge bieten.“ Y

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Banken Extrem aggressiv Mit Gratis-Kreditkarten will die Citibank 1,5 Millionen Bahnfahrer ködern. Das könnte für manchen gefährlich werden.

hr „Formel 1 Girokonto“ bei der Citi- bank hatte die Hamburger Sekretärin Ischon überzogen. Doch das schien die Bank nicht zu kümmern. Auf Pump zu leben, schrieb die Filiale in den Co- lonnaden ihrer Schuldnerin, darin liege K. ANDREWS ein „hohes Maß an Freiheit“. Citibank-Werbung: „Lockende Angebote für gutgläubige Kunden“ Der finanzielle „Spielraum“, den die Frau zu diesem Zeitpunkt in Wahrheit Kredit auf – „für die Realisierung weite- kassiert die Bahn bei den Provisionen längst ausgenutzt hatte, solle ihr auch rer Wünsche“. mit, die Händler, Restaurants und künftig „jederzeit zur Verfügung ste- Heute steht die Frau vor einem Schul- Tankstellen an die Bank zahlen. hen“, lockte die Bank und schlug vor, denberg von 112 000 Mark – bei einem Die Citibank hat sich mit dem Bahn- die Kontoüberziehung doch einfach in monatlichen Netto-Einkommen von nur Coup auf einen Schlag ein gewaltiges einen Ratenkredit umzuwandeln. 2400 Mark. Wie sie die Raten aufbrin- Potential neuer Kunden erschlossen. Die Frau nahm das Angebot an, fort- gen soll, weiß sie nicht. Derzeit besitzen rund 3,1 Millionen an konnte sie mit ihrem Girokonto Kein Einzelfall, sagen die Verbrau- Bahnfahrer die Plastik-Rabattkarte. Je- neue Schulden machen. Später erhielt cherschutzverbände. „Mit ihren locken- der zweite von ihnen, so schätzt die Citi- sie zusätzlich den „Citibank Rahmen- den Kreditangeboten bringt die Citi- bank, wird beim Neukauf die Kreditkar- Kredit“. Damit ließen sich, warb die bank immer wieder gutgläubige Kunden tenfunktion dazunehmen. Bank, „unvorhergesehene Ausgaben in massive finanzielle Schwierigkeiten“, Weitere 40 Prozent hofft die Bank für auf bequeme Art in den Griff bekom- so die Rechtsanwältin Hjördis Christian- eine Zahlungskarte zu gewinnen. Sie ist men“. sen von der Verbraucherzentrale Ham- für Kunden mit geringer Bonität ge- Noch bevor die Sekretärin ihr neues burg. Für die Schuldnerberatung in der dacht. Die müssen ein Guthaben auf Limit erreicht hatte (Citibank-Zwi- Hansestadt ist die Citibank „die Bank, dem Kartenkonto unterhalten, bis zu schenmeldung: „noch 2902,93 Mark zur mit der es die meisten Probleme gibt“. dessen Höhe sie mit dem Plastikausweis freien Verfügung“), drängte ihr das In- Neuer Ärger scheint programmiert. bezahlen können. stitut brieflich abermals 10 000 Mark In wenigen Wochen bekommt die Citi- Die cleveren Banker wollen die neue bank Gelegenheit, ihr Vertriebsschiene Bahn auch für ihre an- Geschäft massiv auszu- deren Produkte nutzen: Möglichst viele weiten – dank einer Reisende sollen zu regulären Citibank- Heimvorteil Kooperation mit der Kunden werden. Daß die Bank vor allem beim Verlei- In Deutschland ausgegebene Kreditkarten, Deutschen Bahn. Ab Juli wird Zugreisenden hen von Geld erfolgreich sein wird, be- in Millionen 1994 eine Bahncard angebo- fürchtet der Hamburger Rechtsprofes- ten, die zugleich auch sor Udo Reifner. Die Bank treibe von als Kreditkarte benutzt jeher „eine sehr aktive Verschuldenspo- werden kann. Der litik“, sagt der Leiter des Instituts für Fi- Clou für die Bahnkun- nanzdienstleistungen und Verbraucher- den: Sie bekommen, schutz. ausreichende Bonität Als „extrem aggressiv“ stuft auch Ulf vorausgesetzt, die Vi- Groth vom Förderverein Schuldenbera- sa-Karte von der Citi- tung im Lande Bremen die Geschäftspo- bank als kostenlose litik des deutschen Ablegers der größten Beigabe. Nicht mal ei- US-Bank ein. Er behauptet: „Die stre- ne Kontogebühr wird ben im Grunde die lebenslange Zwangs- fällig. verschuldung ihrer Kunden an.“ Die Für Bahnchef Heinz Bremer Schuldenberater betreuen meh- Dürr lohnt sich die Ko- rere Citibank-Kunden, die 40 Prozent operation mit der Citi- ihres Einkommens für Ratenzahlungen bank. Das Institut verwenden müssen. nimmt der Bahn die Schuldenberater und Verbraucheran- teure Herstellung der wälte werfen der Bank vor allem vor, Karten ab. Zudem daß sie immer wieder Kreditkunden

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heimischen Arten gehörte, auf deut- Landwirtschaft schem Boden beinahe ausgerottet. Nun erfährt die von Amts wegen ver- folgte Pflanze Protektion von ganz oben. Der Bonner Gesundheitsminister Horst Wie Raps Seehofer (CSU) plädiert amtsintern für eine Lockerung des Betäubungsmittelge- Erfolg der Bauernlobby: Gesund- setzes, um den Cannabis-Anbau in heitsminister Seehofer will den Deutschland wieder zu gestatten. Be- stimmte Hanfsorten, teilte Seehofer sei- Anbau der Kifferpflanze Hanf in der nem CDU-Kabinettskollegen Jochen Landwirtschaft erlauben. Borchert in einem Schreiben mit, sollen künftig nicht mehr als Droge, sondern als Nutzpflanze klassifiziert werden, die m Kampf gegen die Drogenkriminali- dann jeder Bauer wie Raps und Sonnen- tät hatte die Brandenburger Polizei blumen aussäen darf. Iim vergangenen Sommer alle Hände Seehofer will die Hasch-Hardliner voll zu tun. nicht verschrecken. Im Juli plant er da- Bewaffnet mit Hacke und Spaten her, eine Expertenrunde zu versammeln, marschierten mehrere Einheiten durch die ihm, streng wissenschaftlich natür- Wald und Flur, um das Übel mit Stumpf

J. H. DARCHINGER lich, Argumente gegen das Totalverbot und Stiel auszurotten. Die Pflanzen der Citibank-Partner Dürr liefern soll. Vorraussetzung für die land- Gattung Cannabis sativa – die einzige la- Die Bahn kassiert mit wirtschaftliche Nutzung von Cannabis teinische Vokabel, die auch der Hasch- sei, so Seehofer an Borchert, die „Bereit- bruder liebt – sind laut Betäubungsmit- über die Höhe ihrer Verpflichtungen stellung von Hanfsorten mit sehr niedri- telgesetz verboten. täusche. Zunächst räume sie großzügige gem Gehalt an Tetrahydrocannabinol Immer wieder hatten wachsame Bür- Überziehungslimits ein, dann buche sie (THC)“. Mit THC bezeichnen Chemiker ger die Ordnungshüter nach Waldspa- Belastungen zwischen Gehaltskonto, den Wirkstoff der Pflanze. Bei den von ziergängen alarmiert. Über 30 000 Can- Scheck-Kreditkonto und Kreditkarten- Haschern bevorzugten Cannabis-Stau- nabis-Stauden, die auf Lichtungen und konto hin und her, bis der Schuldner den den beträgt er 10 bis 15 Prozent. Der für Wiesen wild gewachsen waren, ließen Überblick verloren habe. die Landwirtschaft geeignete Hanf hinge- die Polizeipräsidenten zu meterhohen Für die Bank ist das ein gutes Ge- gen hat nicht mehr als 0,3 Prozent des an- Haufen zusammentragen und im Febru- schäft, denn sie kassiert üppige Zinsen. törnenden Stoffes intus – wer sich damit ar öffentlich verbrennen. Und der Laie merkt bei alledem nicht, bekiffen will, müßte schon eine ganze Der Gesetzestext macht keinen Un- „daß dabei die Effektivzinsen das Markt- Plantage rauchen. terschied zwischen Sorten, die zur Ge- übliche bis zur Hälfte übersteigen“, Den Landwirtschaftsminister Bor- winnung von Marihuana geeignet sind, kritisiert das Verbraucherschutz-Organ chert muß Seehofer nicht überzeugen. und Nutzpflanzen, deren Rauchgenuß Bankwatch. Der Minister hat bereits Ende April allenfalls Kopfschmerzen verursacht. So Die Stiftung Warentest ermittelte, daß dringlich gebeten, das deutsche Anbau- wurde die Hanfstaude, die einst vor al- die Citibank zu den teuren Kreditinstitu- verbot für Hanf zu überprüfen. lem in Bayern und Brandenburg zu den ten im Lande gehört. Für einen fünfjähri- Der Vorstoß hat vor allem finanzielle gen Ratenkredit über 20 000 Mark müs- Gründe. Der Landwirtschaftsminister sen Citibank-Schuldner insgesamt 41 * In einer Gärtnerei in Amsterdam. weiß: Am Hanf klebt Geld. Prozent mehr an Zinsen zahlen als die Kunden des günstigsten Anbieters, der Hamburger Sparkasse. Für „sachlich nicht gerechtfertigt“ und „teilweise böswillig“ hält Citibank-Spre- cher Folkert Mindermann die Kritik der Verbraucherschützer. „Die brauchen ein Feindbild zur Selbstbestätigung.“ Ohnehin werde wohl nur eine kleine Minderheit der Bahnkartenkunden ei- nen Kredit aufnehmen. Die Mehrheit der Visa-Kunden nutze beim Kartenkon- to erfahrungsgemäß nur das Zahlungs- ziel von vier Wochen. „Dreiviertel der Leute wird das keinen Pfennig kosten“, sagt Mindermann. Verbraucheranwalt Reifner hält dage- gen, daß bei dem von der Citibank prak- tizierten Visa-System anders als bei der Eurocard die Kreditkarte in der Regel nicht an ein Girokonto gekoppelt ist. Da- her könne die Bank die Bonität ihrer Kartenkunden nicht laufend überprüfen. „Die Verschuldung wird explodie- ren“, prognostiziert Reifner. Seine Be-

fürchtung: „Nachher können wir die RENAULT-RIEGER / GAMMA / STUDIO X Scherben wieder zusammenkehren.“ Y Cannabis-Anbau*: „Sonst schauen wir in die Röhre“

126 DER SPIEGEL 20/1995 Der Anbau wird von der Europäi- schen Union (EU) großzügig gefördert. Die Bauern in Holland, England und Frankreich, von keinerlei Verboten be- schwert, kassieren aus der EU-Kasse rund 1300 Mark pro Hektar. Auch für die gebeutelten Bauern in Ostdeutsch- land wäre der Cannabis-Anbau ein gu- tes Geschäft. Der Hanf erlebt in Europa ein er- staunliches Comeback. In den fünfziger Jahren wurde der „nachwachsende Roh- stoff“, aus dem unter anderem Papier, Öl und Textilien gewonnen werden kön- nen, von synthetischen Stoffen ver- drängt. Nun liegt er im Öko-Trend. Die Lobby reicht von der monarchistisch orientierten Bayernpartei bis zu Öko- Freaks und Autonomen, die seit jeher fordern: Legalize it. Auch der Deutsche Bauernverband macht sich für eine Wiederzulassung des Hanfanbaus stark. „Wenn ausländische Betriebe die deutsche Industrie mit Hanffasern beliefern, schauen unsere Bauern in die Röhre“, argumentiert Bauernpräsident Constatin von Heere- man. In Frankreich werde „mit dem Hanfanbau viel Geld verdient“. Von den 7840 Hektar, die 1994 euro- paweit mit Cannabis bepflanzt waren, lagen über 6300 in Frankreich, rund 600 Bauern leben allein im Nachbarland vom Hanfanbau. Und die EU lockt mit weiteren Geldern: Die Subventionen aus Brüssel werden zum 1. August die- ses Jahres noch einmal um rund 250 Mark pro Hektar erhöht und liegen dann bei insgesamt 1500 Mark. Auch die Hanfindustrie meldet sich zurück. In Holland, weiß der Berliner Hanfexperte und Hobby-Kiffer Mathias Bröckers, habe ein pfiffiger Unterneh- mer eine Hanfpapierfabrik errichtet. Die Engländer steigen derzeit in die Textilproduktion ein. Bröckers betreibt in Berlin einen Hanfsupermarkt. Im Angebot hat er über 80 Produkte, die aus dem Rohstoff gewonnen wurden. Wegen der Bonner Verbotspolitik muß er die Waren – vom Hanfseil über Jeans bis hin zum Lip- penstift – aus dem Ausland importie- ren. Vom Cannabis-Trend will in Berlin nun auch eine neugegründete Partei profitieren. Zur kommenden Abgeord- netenhauswahl im Herbst hat sich eine 50köpfige „Hanf Liga“ gegründet, die das gefiederte Pflanzenblatt zum Sym- bol einer „umfassenden Neugestaltung der Gesellschaft“ erkoren hat. Mit von der Partie ist eine junge Frau, die sich auskennt im Cannabis-Milieu: Jutta Neuss, Tochter des Kabarettisten und bekennenden Kiffers Wolfgang Neuss, erfüllt nun das Vermächtnis ihres Vaters. Der hatte bis zu seinem Tod da- für gekämpft, „daß auf deutschem Bo- den nie wieder ein Joint ausgeht“. Y

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Werbeseite . MEDIEN

Verlage „Bianca“ beherrscht, hatte mit einer einstweiligen Verfügung gedroht. Zwei Spione mit Paprika langjährige Manager der Springertoch- ter Cora hätten, ermittelte der Verlag, Einen „bunten Strauß voller Optimis- Konzepte und Strategien an die Kon- mus und Lebensfreude“ wollte der kurrenz verraten, in einem Fall offen- Happy Day Verlag binden, angerei- bar über dieEhefrau. Die Aktionen von chert mit „feuriger Erotik“. Doch an Happy Day zeigten „eine verblüffende der heilen Welt seiner Taschenromane Ähnlichkeit“ mit Cora, sagt der zustän-

„Tulipa“, „Viola“ und „Paprika“ hatte dige Springer-Manager Ralf Kläsener. NINTENDO der Hamburger Kleinverleger nur we- Nach diesem „Fall von Werkspionage, Nintendo-Spiel „Donkey Kong“ nig Spaß. Die Trivial-Frauenheftchen, der im Verlagswesen der Nachkriegs- die Anfang des Mo- geschichte seinesglei- Videospiele nats herauskamen und chen sucht“ (Kläse- bis Frühjahr 1996 eine ner), mußten die bei- Schlappe für Nintendo Auflage von 14 Millio- den angeblichen Ver- nen Exemplaren brin- räter den Springer- Eine neue Videospielgeneration, die gen sollten, würden Konzern verlassen – Ende dieses Jahres kommen sollte, muß vom Markt genom- wegen des „Vorwurfs der Branchenprimus Nintendo verta- men, verkündete der von Verstößen gegen gen. Seine Innovation für den Vier-Mil- Verlag vergangene das Vertraulichkeits- liarden-Dollar-Markt scheitert an tech- Woche seinen Ver- gebot“, so der Cora- nischen Problemen: Die lange überfälli- triebspartnern. Der Verlag. Und die an- ge Videospielstation Ultra 64 kommt Axel Springer Verlag, onymen Eigentümer frühestens Anfang 1996 auf den Markt. der zusammen mit des Happy Day Ver- Das Herbstgeschäft vor Weihnachten, dem kanadischen lags, die drei Uni-Ab- wichtigste Zeit für die Videospielbran- Partner Harlequin den solventen die Geschäf- che, muß Nintendo (Hauptspiel: Markt mit Produkten te führen ließen, müs- „Donkey Kong“) dem Erzrivalen Sega wie „Julia“, „Bacca- sen ihre junge Firma und Newcomer Sony überlassen, dessen ra“, „Tiffany“ oder Eingestelltes Romanheft wohl liquidieren. Playstation als technisch ausgereift gilt.

Presse vor, daß die Verlegerfrau Gudrun Bauer persönlich einsteigt. Bertels- mann könnte die TV-Blätter rtv und Ausverkauf bei Sebaldus FF, die von einer Nürnberger Kon- zerntochter herausgegeben werden, Eine heftige Schlacht ist um die Über- will der Münchner Presseunternehmer mit den Sebaldus-Zeitschriften koope- nahme eines der größten deutschen Hubert Burda (Bild + Funk) lediglich rieren lassen. Es gehe, sagt Sebaldus- Pressehäuser entbrannt: Gleich drei die Sebaldus-Verlagstochter Gong Mann Bayer, um einen Einstiegspreis Medienkonzerne planen den Einstieg kaufen, wie Sebaldus-Aufsichtsrats- von 100 bis 200 Millionen Mark, zu- bei dem Nürnberger Sebaldus-Verlag, chef Georg Bayer bestätigt. Ihre Of- züglich Investitionen. Komplizierte der mit Programm- und Regenbogen- ferten sollen die Konzerne beim Auf- Verhältnisse zwischen den rund 200 blättern (Gong, Super TV, Die Aktu- sichtsrat hinterlegt haben. Da der Bau- Sebaldus-Einzelgesellschaftern, darun- elle, Die Zwei) sowie Druckereien er-Konzern bereits jedes zweite deut- ter die katholische Kirche, haben wich- knapp eine Milliarde Mark umsetzt. sche TV-Zeitschriftenexemplar her- tige Entscheidungen in dem Unterneh- Während die Hamburger Verlegerfa- ausbringt und ein Kauf von Sebaldus men, das von Auflagen- und Anzei- milie Bauer und die Gütersloher Ber- das Kartellamt alarmieren würde, sieht genverlusten gebeutelt wird, bisher er- telsmann AG die Mehrheit anstreben, ein Modell nach Aussagen von Bayer schwert.

HINTERGRUND brutto-werbeumsätze Freie Plätze verkaufte auflage abo-anteil 100 in tausend in prozent in Millionen Mark Marktbereinigung in der Wirtschaftspresse 90 Vor fünf Jahren noch war die Wirt- Flugzeug – weiter. 270 50 Capital 80 Wirtschaftswoche* schaftspresse eine der attraktiv- Die freigewordenen sten Zeitschriften-Gattungen. Plätze lassen die Print- 193 3750 DM 70 Capital Doch seither haben die meisten konzerne aber nicht ruhen: 163 71 Wirtschafts- 60 der Ökonomie-Titel Anzeigen ver- Der Zürcher Verleger Michael woche* 50 loren. Die Folge: Marktbereini- Ringier möchte seine in der 133 27 Forbes** Manager Magazin gung. Kurz hintereinander gaben Schweiz erfolgreiche Wochenzei- 40 in diesem Frühjahr Top Business tung Cash nach Deutschland brin- 131 73 Impulse und Forbes auf. gen. Und auch die US-Eigner von Manager 30 Impulse 103 50 Magazin Top Business** Sie konnten nur wenige Abonnen- Forbes wollen es mit einem neuen 20 DM ten binden und reichten jeden Partner erneut versuchen: Sie 62 19 Top Business** 10 Monat Zehntausende von Exem- sprechen, wie Branchenexperten Forbes** * einzige Wochenzeitschrift, plaren über „Sonderverkäufe“ – berichten, mit dem Holtzbrinck- sonst nur Monatstitel 1990 91 92 93 94 Lesemappen, Bordexemplare im Verlag (Wirtschaftswoche, DM). **bis Mai

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SPIEGEL-Gespräch „INSPIRATION IST IRRTUM“ Der Pariser Modemacher Jean-Paul Gaultier über Sex, Lügen und die Moral des guten Geschmacks

SPIEGEL: Monsieur Gaultier, Sie gelten riert haben, dann ist das ein großes es nicht unbedingt leichter, zu gutem als der ewig junge Rebell der Pariser Kompliment für mich. Das finde ich Sex zu kommen. Leider. Modewelt. Paßt das Image noch zu ei- wichtiger, als wenn meine Sachen im SPIEGEL: Aber Kleidung kann dabei nem 43jährigen? Museum gezeigt werden. behilflich sein? Gaultier: Rebellentum ist keine Frage SPIEGEL: Und doch hat Mode nicht bloß Gaultier: Glücklicherweise. Doch es des Alters. Es fing an, als ich erfuhr, Gebrauchswert. Ihr Kollege Thierry gibt auch Mode, die furchtbar „politi- daß es den Weihnachtsmann nicht gibt. Mugler sagt in Robert Altmans Film cally correct“ ist. Ich war schrecklich enttäuscht, daß mei- „Preˆt-a`-Porter“, Mode diene dazu, gut SPIEGEL: Und die Ihnen offenbar miß- ne Eltern mich belogen hatten, seitdem auszusehen und guten Sex zu bekom- fällt. nehme ich nicht mehr alles hin. men. Gaultier: Ja. Das sind bourgeoise Klei- SPIEGEL: Nehmen Sie es mit der Wahr- Gaultier: Wer sich gut anzieht, ist attrak- der, die nicht zu kurz und nicht zu heit genauer als Ihre Eltern? tiver für andere. Aber deshalb hat man lang sind, nicht zu eng am Körper sit- Gaultier: Als Kind nicht, da zen, nicht zu ausgefallen sind, habe ich viel gelogen. Ich hat- also ein sehr konservatives te wunderbare Eltern und eine Image haben. Solchen Klei- wunderbare Großmutter, aber dern fehlt der Esprit. ich fühlte mich von den ande- SPIEGEL: Sie setzen mehr auf ren Kindern ausgestoßen. Ich Schockwirkungen. dachte, die mögen mich nicht, Gaultier: Die einen lieben mei- weil ich nicht interessant bin. nen Stil, andere sind davon ir- Und wenn ich nicht interes- ritiert oder hassen ihn sogar. sant bin, dann muß ich mir et- Aber ich entwerfe nichts, um was ausdenken. So habe ich Leute zu irgendeiner Correct- mir eine ganze Biographie er- ness zu erziehen. Ich möchte logen. etwas zeigen, etwas Politi- SPIEGEL: Was haben Sie sich sches, etwas Soziales, etwas ausgedacht? Sexuelles. Denn Kleidung Gaultier: Ich habe erzählt, drückt etwas aus: Lauter grüne meine Eltern seien in Nord- Stoffe könnte heißen, ich bin afrika, und ich sei ganz allein. ökologisch; mit einem kurzen, Ich wollte mir auf diese Weise engen Kleid kann ich sagen: die Zuneigung der anderen si- „Ich bin scharf.“ Ich kann chern. Als ich anfing zu arbei- mich als Künstler, als Intellek- ten, merkte ich, daß ich für tuellen darstellen oder zu ver- meine Arbeit Aufmerksamkeit stehen geben: Ich bin ein bekam, eine Art von Liebe. Wahnsinniger. Die Leute akzeptierten mich, SPIEGEL: Und was drückt Ihre weil ich gute Skizzen machte. jüngste Kollektion aus? Damit war das Herumlügen Gaultier: Ich liebe das Futuri- plötzlich überflüssig. Viel- stische, und gleichzeitig liebe leicht waren die Lügen Vor- ich das Primitive. Ich bin faszi- aussetzung für meinen Erfolg. niert von den „New Age Tra-

SPIEGEL: Der ist mittlerweile CAPITAL PICT. / INTERTOPICS vellers“, die wie primitive so groß, daß Ihre ziemlich aus- Stämme leben und in Wohn- gefallene Mode auch auf der Jean-Paul Gaultier wagen durch Amerika ziehen. Straße getragen wird. Gerade Techno- und Computerfreaks haben wir hier in Paris einen ist der Popstar der französischen Modeszene: Er erfand die sind zwei Gruppen, die Futuri- jungen Mann gesehen, der Kombination von Jeans und Schottenrock, schickte Models stisches und Primitives verei- Jeans trug, darüber einen mit Ringen durch Bauchnabel und Nase über den Laufsteg nen: Sie sind moderne Stäm- Schottenrock und ein Matro- und ließ zuletzt eine Schwangere seine Kollektion vorführen me, die ihren Platz im digitalen senhemd. – seit seinem Durchbruch im Jahre 1978 ist jede Show eine Zeitalter gefunden haben, Gaultier: Na fabelhaft. Wenn gezielte Provokation. Auch sein Parfüm ist umstritten. Weil nämlich am Musikcomputer meine Kollektionen ihn inspi- der Flakon einem Frauentorso nachgebildet ist, wird der Duft und in den Datennetzen. In nicht in der größten Parfümerie der Welt verkauft: der Par- meiner letzten Kollektion habe füm-Boutique im Vatikan. Das Gespräch führten Regina Carsten- ich mit diesem Thema gespielt sen und Marianne Wellershoff. und mit ganz neuartigen, syn-

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thetischen Materialien gear- beitet. Die Show haben wir dann mit Technomusik un- terlegt. SPIEGEL: Sie mögen Tech- no? Gaultier: Ja, aber nur, weil der zufällig in den Klubs ge- spielt wird, in die ich mit meinen Freunden schon seit Jahren gehe. Ich sehe auch sehr oft Videoclips auf MTV. Ich bin wie ein Schwamm, der überall Ein- drücke aufsaugt. Ich habe zum Beispiel einmal einen Obdachlosen gesehen, der seinen Pullover über den Mantel angezogen hatte. Der Mann war betrunken und hatte sich vermutlich aus Versehen so angezogen, aber mich hat das inspiriert. SPIEGEL: Der Irrtum als Quelle der Inspiration? Gaultier: Genau, die Inspi- ration als Irrtum. Als Kind hatte ich ein ähnliches Er- lebnis: Meine Großmutter war in großer Eile und hatte aus Versehen einen schwar- zen Satinunterrock und dar- über einen Pullover angezo- gen – aber keinen Rock. Ich habe mich insgeheim totge- lacht. Die Szene blieb mir im Gedächtnis, und irgend- wann habe ich gedacht: Wieso eigentlich nicht? Das sah doch sehr schön aus, so unvollständig, wie es war. Ich habe also in einer Kol- lektion mit dem Motiv der Unterwäsche gespielt, die

man sichtbar trägt. Als ich STILLS / STUDIO X P. ARNAL / STILLS / STUDIO X zum erstenmal Skinheads in Models Campbell, Auermann mit „New Age Travellers“-Kollektion: „Ich liebe das Primitive“ London sah, hat mir diese Silhouette mit den ballonförmigen Flie- Gaultier: Ich war zu dieser Zeit eben Gaultier: Ich hatte am Strand einen jun- gerjacken gefallen, und ich dachte, so ei- häufig Juden begegnet, hatte sie auf der gen Mann gesehen, der einen Pareo, ein ne Form will ich auch machen. Erst später Straße beobachtet. Und das wirkte in um die Hüften geschlungenes langes habe ich erfahren, was die Skinheads po- mir. Es waren nicht wirklich jüdische Tuch, trug. Ich überlegte: Wenn er da- litisch wollten. Kleider, die ich da entworfen habe. Si- mit am Strand herumspazieren kann, SPIEGEL: Waren Sie ähnlich unpolitisch, cher gab es Übereinstimmungen, zum warum eigentlich nicht auch in der als Sie eine Kollektion entwarfen, gegen Beispiel bei einigen langen schwarzen Stadt? Allerdings gab es gegen meinen die dann jüdische Organisationen prote- Mänteln, wie Rabbiner sie tragen. Hosenrock eine Menge Widerstände, stierten? SPIEGEL: Für Ihre jüngste Kollektion selbst unter den Models. Gaultier: Im Gegenteil. Das war in der haben Sie ein hochschwangeres Model SPIEGEL: Fanden die den zu weiblich? Zeit, als Neonazis plötzlich überall von auf den Laufsteg geschickt. Was war die Gaultier: Das sind überholte Katego- sich reden machten. Und ich wollte klar- Botschaft? rien. Für mich zeichnet sich eine Frau stellen, daß man sich nicht verstecken Gaultier: Ich wollte damit den Frauen nicht dadurch aus, daß sie Röcke trägt muß, wenn man zu einer Minderheit ge- sagen: Liebe dich selbst, du kannst stolz oder Nylonstrümpfe. Warum sollte ein hört, sei es als Homosexueller, Auslän- auf deinen Bauch sein. Ich gebe zu, das Mann das nicht ebenfalls anziehen? Ein der oder eben Jude. ist nicht furchtbar tiefsinnig. Trotzdem Mann muß sich nicht auf die Klassiker SPIEGEL: Suchten Sie nur ein anstoßerre- hat es offenbar ein Tabu berührt, denn Jackett, Weste und Hose beschränken, gendes Thema fürIhre Show, oder hatten der Figaro schrie gleich: „Skandal, diese Uniform des 20. Jahrhunderts. Sie wirklich politische Motive? Skandal!“ Früher sind Männer wie Pfauen herum- Gaultier: Kann Mode jemals eine ernst- SPIEGEL: Womit Ihr Provokationsspiel gelaufen. Schauen Sie sich Ludwig XIV. hafte politische Botschaft haben? aufging – wie 1984, als Sie die Pariser an, der war viel extravaganter als seine SPIEGEL: Genau dashaben Siegerade be- Modewelt mit Ihren Röcken für Männer Frauen. Die Mode stand damals am hauptet. überraschten. Rande der Lächerlichkeit.

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SPIEGEL: Wo ist heute die Grenze zum professioneller Perspektive stört mich, schlechten Geschmack? daß sie immer die gleiche Frisur trägt. Gaultier: Ich urteile nie, was gut und was Ich halte das für einen großen Fehler. schlecht ist. Ich ändere meinen Ge- Mein Rat an Claudia ist: Laß dir ab und schmack sowieso ständig. zu eine neue Frisur machen. Die Leute SPIEGEL: Das sieht man Ihnen gar nicht fangen an, diese blonde Mähne langwei- an: Meistens tragen Sie ein blau-weiß lig zu finden. gestreiftes T-Shirt. SPIEGEL: Sie verdient damit nach wie vor viel Geld. Gaultier: Aber wie lange noch? Ich will nicht gehässig sein, aber sie hat keine Persönlichkeit. SPIEGEL: Sie haben doch auch nie Ihre Frisur verändert. Gaultier: Doch, ständig – in Richtung Glatze. SPIEGEL: Wenn Sie schon Frau Schiffer nicht mögen – gefallen Ihnen denn we- nigstens deutsche Designer? Gaultier: Ach, äh . . . Ich mag den klas- sischen Stil von Jil Sander. Aber sie re- volutioniert die Mode nicht gerade.

SPIEGEL: Wer oder was hat sie denn re- LGI / INTERTOPICS volutioniert? Madonna mit Gaultier-Modell Gaultier: Coco Chanel zum Beispiel. Sie „Mein Teddy trägt den ersten Cone-Bra“ kleidete die Frauen in den fünfziger Jah- ren auf sehr moderne Weise: Sie ent- SPIEGEL: Sie selber verwenden auch warf Strickkleider, die der Kleidung der Versatzstücke vergangener Epochen. Matrosen nachempfunden waren, als Gaultier: Nur gibt es bei mir immer eine andere Designer noch nicht über Puff- Verbindung zum Heute und zum Mor- röckchen hinaus waren. Sie propagierte gen. Ich verarbeite zum Beispiel neue den kurzen Haarschnitt und setzte High-Tech-Materialien. durch, daß man sein Gesicht bräunen SPIEGEL: Die kommen mittlerweile vor und Sport machen durfte – das war ein allem aus Italien. Wieso sind die Fran- völlig neuer way of life. zosen nicht mehr Marktführer? SPIEGEL: Derzeit bedienen sich Ihre Gaultier: Die italienischen Stofflieferan- Kollegen ausgiebig bei der Mode der ten sind viel bessere Geschäftsleute. Sie

DPA fünfziger und sechziger Jahre. laden Designer aus der ganzen Welt Model Schiffer Gaultier: Ein paar von denen arbeiten nach Como ein und zeigen ihnen ihre „Immer die gleiche Frisur“ sogar an einem Komplett-Look aus die- schönen, innovativen Gewebe. Sie brin- sen Zeiten. Sie nehmen beispielsweise gen die Modeleute in irgendwelchen Pa- Gaultier: Stimmt. Das ist sehr einfach, Fotografien aus alten Modejournalen lazzi unter, es gibt überwältigende Büf- aber auch sehr klassisch. Hin und wie- und versuchen, alles nachzuahmen: das fets mit Pasta, alles ist ganz wunderbar. der ziehe ich etwas von Versace an. gleiche Licht, das gleiche Make-up, der Die Kollektionen sind sehr interessant SPIEGEL: Es gibt in Ihren Kollektionen gleiche Typ von Mädchen. und preiswert. Die Franzosen waren zu Standards. Dazu gehört auch Tatjana Patitz, das deutsche Supermodel, das in jeder Show dabei ist. Gaultier: Ich war einer der ersten, der Tatjana engagiert hat. Ich liebe sie ein- fach. Ihre Augen sind unglaublich. SPIEGEL: Nadja Auermanns Beine auch. Gaultier: Auch ein hervorragendes Mo- del aus Deutschland. Und sie verändert sich dauernd. Sie kann Rollen spielen, ihre Haare kurz schneiden oder umfär- ben, und trotzdem bleibt sie Nadja. SPIEGEL: Und was ist mit Claudia Schif- fer? Gaultier: Die ist nicht gerade mein Lieb- lingsmodel. Das liegt vor allem daran, daß sie als neue Brigitte Bardot präsen- tiert wurde. Doch die Bardot hat zu ih- rer Zeit die Wünsche der Männer und die Sehnsüchte der Mädchen verkörpert und damit heftige Reaktionen provo- ziert. Claudia dagegen steht nicht für ein

neues Lebensgefühl. Sie repräsentiert SIPA eine alte, überholte Generation. Aus Laufstegparade (in Wien): „Ich bin wie ein Schwamm, der Eindrücke aufsaugt“

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selbstgefällig und haben sich immer nur chen einen Stromfall auf dem Sezier- wiederholt. Inzwischen werden viele Freitod tisch. Immer wieder seien es „besonders Kollektionen in italienischen Fabriken einsame ältere Damen“, sagt Schneider, produziert, auch meine eigene. Die Ita- die ihrem Leben mit Hilfe der Elektrizi- liener arbeiten sehr genau. Und, ich tät ein Ende setzen. will es mal so sagen, sie haben noch an- Dreifach Schneider machte sich 1984 als Gut- dere Talente: Nämlich ein besonderes achter im Prozeß gegen den früheren Geschick im Verkaufen und Kaufen. Fußballtrainer Helmut („Fiffi“) Krons- Manchmal kaufen sie auch Menschen. hält besser bein einen Namen. Der Meistermacher SPIEGEL: Was meinen Sie damit? von Hannover 96 war angeklagt, seine Gaultier: Ein Designer engagiert zum Der Stromtod in der Badewanne ist Frau Gerda durch Schläge tödlich ver- Beispiel den Redakteur eines großen bei Selbstmördern beliebt – aber letzt und dann ihren Selbstmord in der Modemagazins als Berater. Der Redak- Badewanne vorgetäuscht zu haben. teur macht dann pro forma ein paar eine äußerst schmerzhafte Art, sich Dank Schneiders Expertise wurde Vorschläge und kassiert eine Menge ins Jenseits zu befördern. Kronsbein freigesprochen. Geld dafür, im Extremfall darf’s auch Bonte gilt als internationaler Fach- mal eine Villa sein. Und in der näch- mann auf dem Gebiet, seit er in den sten Magazinnummer werden dann aus- ls der Ehemann vergangene Wo- USA vor zwei Jahren in einem Mord- führlich die neuen Modelle des De- che im rheinischen Ratingen die prozeß mitwirkte. In Philadelphia war signers vorgestellt. ABadezimmertür öffnete, kam ihm ein Mann angeklagt, seine Ehefrau in ei- SPIEGEL: Sie machen dieses Spiel nicht dichter Wasserdampf entgegen. Den nem Jacuzzi, einer Art Heimwhirlpool, mit? Raum durchspannte ein Stromkabel. In ertränkt zu haben. Der deutsche Profes- Gaultier: Ich bin so arrogant, auf die der Wanne lag, verkrampft und leblos, sor überzeugte die Geschworenen, daß Qualität meiner Mode zu vertrauen. der Körper seiner Frau, neben ihr gur- die Frau sich möglicherweise selbst um- SPIEGEL: Gibt es noch andere Formen gebracht hatte. Sie spra- von Korruption? chen den Angeklagten Gaultier: Die Drohung, einem Mode- „nicht schuldig“. magazin Anzeigen zu entziehen, ist Das dramatische Holly- auch eine Art von Erpressung. Man fin- wood-Vorbild für den det in der Modebranche verschiedenste Selbstmord in der Bade- Mafia-Methoden, das ist in Italien an wanne lieferte Ende der der Tagesordnung, auch bei großen sechziger Jahre der schotti- Häusern. sche Schauspieler Sean SPIEGEL: Da es in der Mode vor allem Connery. In dem Action- ums Geschäft geht – wird es Ihnen da Streifen „James Bond 007 – nicht langweilig? Thunderball“ tötete er als Gaultier: Nein, nein, ich bin sehr glück- britischer Agent einen lich, Mode zu machen. Schon als Kind Schurken mit einem Venti- habe ich angefangen, Schnitte und Stile lator, den er in die Wanne zu entwerfen. warf. SPIEGEL: Deshalb war Ihr erstes Model Seither registrieren die Ihr Teddybär. Haben Sie den noch? Gerichtsmediziner welt- Gaultier: Ja, er liegt in einem Schuhkar- weit einen stetigen Anstieg ton. Leider ist er nicht mehr vorzeig- dieser Todesart. Auch in bar, er ist ziemlich abgewetzt. Er Deutschland wurden allein

brauchte mal ein ernsthaftes Lifting. NETZHAUT 1993 mehr Menschen als je SPIEGEL: Trägt er noch ein Gaultier- Gerichtsmediziner Bonte* zuvor Opfer eines „Selbst- Modell? „Eine Art Modeerscheinung“ mords durch Stromschlag“ Gaultier: Ja, den ersten Cone-Bra, den – obwohl die Zahl der Sui- ich überhaupt entworfen habe. Diesen gelte noch ein eingeschalteter Fön im zide in der Bundesrepublik insgesamt kegelförmigen BH mußte ich mit Zei- Wasser. seit Jahren abnimmt. tungspapier ausstopfen, damit er besser Für die Gerichtsmediziner der Uni- Dabei fällt auf, daß männliche Selbst- in Form bleibt. Das Modell für Madon- versität Düsseldorf ein Routinefall: mörder eher eine unbequeme Variante na war ausgereifter. Stromleichen in Badewannen sind in- der Stromtods wählen: Sie klettern auf SPIEGEL: Noch sehen Sie nicht so mit- zwischen, sagt Wolfgang Bonte, Chef Strommasten und stürzen sich in die genommen aus wie Ihr Teddybär. des Gerichtsmedizinischen Instituts, Hochspannungsdrähte der Überlandlei- Gaultier: Davor habe ich keine Angst. „eine Art Modeerscheinung“. tungen. Nehmen Sie Marlon Brando. Er ist Bonte und seine Mitarbeiter müssen Lebensmüde Frauen dagegen, die frü- großartig, obwohl er ein dickes Mon- jeden Monat im Auftrag der Staatsan- her meist zu Tabletten griffen, suchen ster geworden ist. Er hat diese Haltung: waltschaft mindestens eine Wasserleiche immer häufiger den Stromschlag in der „Ich bin fett, und das ist mir scheiß- darauf untersuchen, ob der Verblichene Badewanne. Ein Grund für den An- egal.“ Paul Newman dagegen versucht, durch Unfall oder Selbstmord zu Tode stieg, vermutet Gerichtsmediziner Bon- immer noch jung auszusehen. Das haut gekommen oder von fremder Hand per te, sei der Umstand, daß der Wannen- natürlich nicht hin. Stromschlag ins Jenseits befördert wor- tod inzwischen als schnelle und sichere SPIEGEL: Sie ziehen also Brandos Hal- den ist. Methode gilt, die keines besonderen tung vor? Auch Medizinprofessor Volkmar technischen Verständnisses bedarf, kei- Gaultier: Soviel, wie ich esse, läuft es Schneider von der Freien Universität ne äußeren Verletzungen hervorruft darauf hinaus. Berlin hat durchschnittlich alle vier Wo- und keine Schmerzen verursacht. SPIEGEL: Monsieur Gaultier, wir dan- Nach Auskunft der Experten ist ken Ihnen für dieses Gespräch. Y * In seinem Düsseldorfer Labor. der Strom-Wasser-Selbstmord entgegen

DER SPIEGEL 20/1995 137 Werbeseite

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landläufiger Meinung jedoch keines- amerikanischen Atombombe auf Japan wegs als sanfter Abgang zu empfehlen: Comics noch frisch. Disney übte Selbstzensur. Der Tod sei schmerzhaft und trete häu- Dabei hatte die Disney Company im fig nicht sofort ein. Zudem sei in moder- Zweiten Weltkrieg durchaus Sinn für nen, mit raffinierten elektrischen Siche- politische Themen. Comic-Figuren rungen ausgestatteten Wohnungen ein Fut statt machten Propaganda gegen die Nazis, Erfolg der Methode nicht garantiert: auch Donald mußte an die Humor- Die Stromzufuhr wird in diesen Woh- Front. 1942 spielte er die Hauptrolle in nungen blitzschnell unterbrochen. Bum dem Propaganda-Trickfilm „Der Fueh- Der Sterbende, warnt Manfred Wol- rer’s Face“. Er schraubte in einer Muni- fersdorf von der Deutschen Gesellschaft Jahrzehntelang hielt der Disney- tionsfabrik Granaten zusammen und für Suizidprävention vor dem Stromtod, Konzern eine Geschichte über Do- kämpfte dann als tapferer Held im Un- erlebe seinen Herzstillstand nach länge- tergrund. Für seinen Dienst am Vater- rem „Kammerflimmern“ schmerzhaft nald Duck als Atombomben-Erfinder land erhielt Donald einen Oscar. mit, und es komme zu heftigen Ver- zurück – aus politischen Gründen. Nach Kriegsende wurden die Disney- krampfungen. Lektoren allerdings pingelig. Eine ganze Dabei sei es auch ganz gleichgültig, Reihe von Barks-Geschichten durfte bis ergänzt Bonte, welche oder wie viele s ist tierisch einfach, eine „kosmi- heute nicht erscheinen – „vor allem we- Geräte mit ins Wasser genommen wür- sche Bombe“ zu bauen, zumindest gen ihres politischen Anspruchs“, wie den. Die meisten Selbstmörder greifen Efür einen erfinderischen Erpel: Georg Tempel, Redakteur beim Ehapa nach den Erkenntnissen des Mediziners „Man nehme zwei Unzen gekörnte Me- Verlag, erklärt. Nazis, aber auch Juden zum Fön, aber auch mit Rasierappara- teoritensubstanz, zwei Eßlöffel Sternen- oder Schwarze hatten im Entenhausen ten, Bügeleisen, Lampen, Heizlüftern, staub“ und die „Energie eines Kugelblit- der vierziger und fünfziger Jahre nichts Küchenmixern, Toastern, Radios und zes“. Zur Abrundung gibt der Giftmi- zu suchen. einfachen, nicht isolierten Stromkabeln scher „sieben Katzenhaare und fünf Nur äußerst selten verschlug es die als Tatwaffen hatte er schon zu Tropfen Methan“ hinzu, und schon – Entenhausener Gänsevögel in politisch tun. „Spit“, „Sputter“, „Pop“ – ist Donald höchst unkorrekte Gegenden wie „Bru- Der Gerichtsmediziner erinnert sich Ducks Atombombe einsatzbereit. topien“, dessen Einwohner von einem an eine 38jährige Frau, die, um ganz si- cherzugehen, „je einen Haarfön in der linken und in der rechten Hand“ gehal- Mit Handmixer, Bügeleisen und Fön ins Badewasser

ten habe. Eine andere nahm „gar drei Elektrogeräte, Handmixer, Bügeleisen, Fön“, mit ins Wasser. Besonders unerfreulich, so der Pa- thologe, sei die Verwendung von Heiz-

strahlern oder Heizlüftern: Werde der WALT DISNEY / EHAPA Tote nicht hinreichend schnell gefun- Comic-Held Donald Duck mit „kosmischer Bombe“: „Schnell in Teufels Küche“ den, könne sich das Badewasser so er- hitzen, „daß die Leiche dort, wo sie „Fünf Tropfen meiner Mixtur“, prahlt brutalen Diktator unterdrückt werden. der Stromquelle nahe ist, regelrecht Donald, „lösen schon eine größere Ex- Barks vermied Politik meist, „weil sie gekocht“ werde. plosion aus“, sieben Tropfen „legen ei- für Kinder absolut uninteressant“ sei Bisweilen könnten Leichen auch nur nen ganzen Stadtteil in Schutt und und er damit „schnell in Teufels Küche“ noch „im Bronzeton“ geborgen wer- Asche“. Doch beim Test im Duckschen kommen könne. den. Grund: Weil die Heizspiralen ei- Garten zeigt sich, daß das Gemisch nur Deshalb endet selbst die Geschichte nes Föns durch den Strom schneller begrenzte Sprengkraft entwickelt – und von „Donald Duck’s Atom Bomb“ eini- oxydieren, kommt es im Wasser zu mit „Fut“ verpufft, statt mit „Bum“ zu germaßen beschaulich. Nachdem ein metallischen Absonderungen. explodieren. Das Comic-Geflügel muß russischer Wissenschaftler das Geschoß Manchmal, so hat der Göttinger keine Federn lassen. geklaut und versehentlich mit einer Zi- Psychiater Hermann Pohlmeier beob- Die Geschichte von der Möchtegern- garre gezündet hat, fallen den Enten- achtet, nutzen Ehepaare die Strom- Nuklearmacht Entenhausen hatte der hausenern alle Haare aus. Der Atom- wanne auch zum gemeinsamen Frei- legendäre Entenzeichner Carl Barks bomben-Dieb wird sofort verhaftet – tod; in der Fachliteratur seien solche schon 1947 an Walt Disney geliefert. wegen „Ausübung des Friseurhand- Taten als „Mitnahmeselbstmorde“ ge- Die deutsche Donald-Übersetzerin Eri- werks ohne Gewerbeschein“. läufig. ka Fuchs hatte schon die Sprechblasen Kommerz ist in Disneys Welt stets Einen besonders grotesken Fall er- gefüllt, doch wie überall durften sie wichtiger gewesen als Politik. Das weiß lebte die Düsseldorfer Kriminalpolizei: auch hierzulande nie gedruckt werden. auch Donald. Nachdem seine Bombe Als das mit bräunlichem Schaum be- Die Story ist erst jetzt erschienen, im Entenhausens Einwohner am ganzen deckte Badewasser einer 47 Jahre alten Mai-Heft der Barks Library (Ehapa Leibe ratzekahl gerupft hat, wirft er die Frührentnerin abgelassen wurde, die Verlag). Fast ein halbes Jahrhundert nächste gewinnträchtige Erfindung auf leblos in der Wanne lag, fand sich ne- lang lagen die Zeichnungen und Texte den Markt: „Kosmisches Haarwuchs- ben einem Heizlüfter der tote Dackel in Disney-Tresoren. Als Barks sie schuf, mittel nach Prof. Duck – nur ein Taler der Frau. Y war der Schock über den Abwurf der die Flasche“. Y

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GESELLSCHAFT VISION PHOTOS KULL / FOTOS: A. Umbetter Kowalke: „Unser Leben steht im Zeichen der Hoffnung“

einzige Umbetter von Kriegstoten in Weg in die Reichshauptstadt freige- Kriegsgräber Deutschland. Im Auftrag des Volksbun- kämpft. Mehr als 30 000 Soldaten verlo- des Deutsche Kriegsgräberfürsorge holt ren die Sowjets bei dieser letzten großen er im Schnitt acht Leichen täglich aus Vernichtungsschlacht des Krieges im der Erde östlich von Berlin. Oderbruch, 12 000 Deutsche starben Gottessegen Eine Lebensaufgabe: 3500 Skelette hier binnen weniger Tage. 85 Jahre vor- hat Kowalke bislang geborgen, bis zu her hatte Theodor Fontane über die 100 000 sind nach Schätzungen des märkische Landschaft geschwärmt: „Ein schauen Volksbundes auf dem Terrain der Ex- Blick von dieser Seelower Höhe läßt uns DDR noch verscharrt. 60 000 Menschen in solchen Gottessegen schauen.“ Ein früherer Baggerfahrer gräbt im starben in den letzten Apriltagen 1945 Die meisten Toten liegen heute noch, deutschen Osten die Überreste von allein im Kessel von Halbe. Dort ver- wie sie fielen – verscharrt in ihren Stel- nichteten die Sowjets große Teile der lungen. Die Sowjets kümmerten sich Gefallenen aus dem Zweiten Welt- deutschen 9. Armee. nur um ihre eigenen Toten, und für das krieg aus. Zuvor hatten die Verbände der Roten SED-Regime waren deutsche Gefallene Armee am 16. April die Oder überquert bloß Handlanger des Faschismus, die und sich auf den Seelower Höhen den man lassen konnte, wo sie waren. umpel, jetzt weiß ich, wer du bist“, Mit dem Spaten sagt Erwin Kowalke leise. Vorsich- macht sich Kowalke Ktig zieht er ein modriges Minen- an die Spurensuche. räumabzeichen aus dem freigeschaufel- Fundstücke wie Orden ten Grab auf dem Friedhof des ucker- und Feldpostbriefe märkischen Dorfes Naugarten. helfen, die Identität ei- Dann birgt er Oberschenkel- und nes Gefallenen festzu- Beckenknochen aus dem Erdreich und stellen, etwa die des legt sie zu den übrigen Gebeinen in ei- Oberfeldwebels Diet- nen grauen Pappkarton. Direkt unter rich Hinners von der den Fingerknochen kommt ein Siegel- 25. Panzergrenadierdi- ring zutage, auf dem die Initialen MW vision, dessen Überre- eingraviert sind. Kowalke reibt sich, wie ste Kowalke im äuße- immer, wenn er zufrieden ist, seinen ren Verteidigungsring Rübezahlbart. Ein deutscher Soldat vor Berlin ausgrub. mehr, der 50 Jahre nach Kriegsende sei- Noch ist die Aufklä- ne Identität wiederbekommt. rungsquote klein. Ko- Kowalke, 53, aus dem brandenburgi- schen Buckow, war zu DDR-Zeiten * In der Asservatenkammer Baggerfahrer in der Braunkohle. Seit Habseligkeiten Gefallener* der Auskunftsstelle für An- 1992 hat er einen neuen Beruf: Er ist der Eheringe, Gebisse und Berge von Orden gehörige in Berlin.

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walke schickt die Utensilien der Toten an gebannt auf die Gebeine eines Mannes, die Deutsche Dienststelle für die Benach- der, als er fiel, nur wenig älter war als richtigung der nächsten Angehörigen von er selber. „Ein vielleicht 16jähriger“, Gefallenen der ehemaligen deutschen schätzt Kowalke. Er schließt von der Wehrmacht (WASt*), die dem Bundes- Beschaffenheit des Beckenknochens auf innenministerium untersteht und ihren das Alter des Toten. Jeder gefundene Sitz in Berlin hat. Knopf, jeder Hosenträger kann Kowal- Doch Ringe, Medaillen oder Glasau- ke weiterhelfen. Auch heute noch er- gen bringen die 700 Rechercheure der greift ihn ein Glücksgefühl, wenn er in WASt, die bisher 300 000 Nachlässe von einem Stiefelschaft eine Taschenuhr Gefallenen aufgenommen und ermittelt entdeckt, in deren Deckel der Name haben, oft nicht weiter. Sowenig wie die eingraviert ist. Erkennungsmarken, die Kowalke im- Auch in ehemaligen Internierungsla- merhin bei der Hälfte der Skelette fin- gern der Sowjets hat Kowalke schon ge- det: graben. In Bautzen entdeckte er 184 Die kurz vor Kriegsende eilig zusam- vom sowjetischen Staatssicherheits- mengewürfelten Einheiten schickten kei- dienst verscharrte Leichen, im ehemali- ne Stammrollen mit den Daten ihrer Sol- gen KZ Sachsenhausen, das die Rote daten mehr an die WASt. Armee nach 1945 als Straflager nutzte, fand er vor einem Jahr die Leiche des Schauspielers Heinrich George. Als er anfing, konnte Kowalke oft nicht schla- fen. Ein Jahr brauchte er, um mit seiner Arbeit ins reine zu kommen. „Im Kessel von Halbe“, sagt er, „da weine ich manch- mal noch heute.“ In Halbe stolpern Spa- ziergänger immer mal wieder über Knochen, die aus der Erde ragen. Man- cher liefert seinen Fund in der Kirche des Ortes ab. „Manchmal“, sagt Pasto- rin Erdmute Labes, „habe ichbiszu sechs Lei- chen in meiner Waschkü- che zwischengelagert.“ Die Überreste der aus- gegrabenen Toten wer- den auf Soldatenfriedhö- fen beigesetzt, die Kosten trägt der Bund. Häufig hält Kowalke die Trauer-

VISION PHOTOS rede. „Unser Leben“, verkündet er, „steht im

A. KULL / Zeichen der Hoffnung Soldatenbegräbnis in Halbe und Versöhnung.“ Die Leichen in der Waschküche zwischengelagert Umbettungsfeiern sind meist gut besucht. Wit- In der Asservatenkammer der WASt wen, Kinder, Enkel und Kriegskamera- am Berliner Eichborndamm stapeln sich den reisen oft von weit her an. die Relikte jener Toten, für die sich kein 90 Prozent der Angehörigen seien Adressat finden ließ: kistenweise Eherin- dankbar, endlich Bescheid zu bekom- ge, Taschenuhren, Fotos, Briefe ohne men, weiß WASt-Vize Peter Gerhardt. Feldpostnummer. Zwischen Gebissen In den letzten drei bis vier Jahren seiauch und Bergen von Orden blitzt ein silbernes das Interesse der Jungen am Verbleib der Herz mit der Aufschrift: „Kehr heim“. Toten stark gestiegen: „Das Familienge- Kowalke sucht die Nichtheimgekehr- schichtsbewußtsein ist beachtlich.“ ten. In Naugarten kommt das halbe Dorf Für Totengräber Kowalke ist der Krieg zusammen, als er die Leichen von unbe- erst zu Ende, wenn das letzte Opfer ein kannten Soldaten exhumiert. Ein Junge würdiges Begräbnis bekommen hat. Er mit einem Fußball unter dem Arm blickt werde das kaum noch erleben, glaubt er. Denn bei acht Toten pro Arbeitstag dau- ert esbisdahin noch eingutes halbes Jahr- * Die Abkürzung WASt leitet sich von der bis 1946 offiziell gültigen Bezeichnung Wehrmacht- hundert. „Ich brauche“, sagt Kowalke, auskunftsstelle her. „200 weitere Kollegen.“ Y

DER SPIEGEL 20/1995 145 Werbeseite

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DÄMON AUS DEM BUSCH Sechzehn Jahre lang war es verschollen. Jetzt kam es zurück: Ebola, das aggressivste aller bekannten Viren. In der zairischen Provinzstadt Kikwit begann die mörderische Epidemie. Inzwischen droht sie sich auf die umliegenden Dörfer auszubreiten. Forscher fahnden unterdessen nach dem Wirt, der das Killervirus auf den Menschen überträgt.

ithohem Fieber und halb bewußt- los vor Bauchschmerzen schlepp- M te sichdie jungeFrauindasarmse- lige afrikanische Krankenhaus. Da ihnen nichts anderes einfiel, entschlossen sich die Ärzte, sie aufzuschneiden. Die Frau überlebte die Operation nur um wenige Tage. Das geschah vor gut sechs Wochen, Anfang April, inKikwit,einer weitausge- streuten Provinzstadt mit einigen hun- derttausend Einwohnern, 400 Kilometer östlich der zairischen Hauptstadt Kinsha- sa. Mit verhängnisvoller Verspätung erin- nerten sich Ärzte und Schwestern des Krankenhauses an die Worte, die die hochfiebernde Frau bei ihrem Eintreffen gestammelt hatte: Sie sei die einzige Überlebende aus ihrem abgelegenen Dorf. Zu diesem Zeitpunkt war das Operati- onsteam, das die Frau behandelt hatte,

bereits tot: Ein zairischer Arzt und drei, OLYMPIA womöglichvierMitgliederdes OP-Teams Missionskrankenhaus in Kikwit*: Eine Spritze für 100 Patienten waren von qualvollen inneren Blutungen dahingerafft worden. Überlebt hatte nur ba Rondi, 71, eine Nonne des Missions- Am 25. April starb Schwester Floral- der OP-Arzt, der am Tag der Operation ordens „Kleine Arme Schwestern“ aus ba. Zehn Tage später folgte ihr Claran- nicht zum Dienst erschienen war. dem italienischen Bergamo versorgte gela Ghilardi, 64, auch sie aus Bergamo; Als die in aller Eile operierte Frau da- schon seit 43 Jahren Patienten in Zaire, bis zu deren Ende hatte sie am Sterbe- hinsiechte, hatte sich eine der Ordens- ihre Hingabe und Unermüdlichkeit wa- bett ihrer Mitschwester gesessen. Inzwi- schwestern, die in dem 350-Betten-Kran- ren in Kikwit Legende. schen waren zwei weitere Ordensschwe- kenhaus Dienst tun, besonders aufop- stern erkrankt. Eine von ihnen, Da- fernd um die Kranke gekümmert: Floral- * Hinten links: Ordensschwester Ghilardi. nielangela Sorti, 48, starb am Donners-

Mit dem Ebola-Virus infizierte Patienten in Zaire 1976: „Der Ebola-Ausbruch in Kikwit erinnert uns daran, daß wir fortwährend

148 DER SPIEGEL 20/1995 .

ptomen der Erkrankten deutlich: das extrem hohe Fieber, das Erbrechen von Galle und Blut, der blutige Durchfall, diffuse innere und äußere Blu- tungen. Das hatten alle gehabt. So wütet, das schwante nun den Ärz- ten, nur das Ebola-Virus. Als am Donnerstag letzter Woche feststand, daß die Patienten in Kik- wit tatsächlich an diesem Killervirus gestorben wa- ren, erschien es Ärzten und Gesundheitsbeamten wie ein wahr gewordener Alptraum. Das zairische Ebola-Virus, das die Ein- geweide seiner Opfer in Brei verwandelt, das die Kranken aus praktisch al- len Körperöffnungen und sogar aus der Haut bluten läßt, gegen das es weder einen Impfstoff noch ein Heilmittel gibt und das in 90 Prozent aller Fälle töd- lich wirkt – das war im Bewußtsein der Men- schen bisher der Stoff, aus dem Science-fiction- Filme sind. Wie 1989 eine Herde von Versuchsaffen, die mit einem Verwandten des Ebola-Virus infiziert war, eine ganze amerika-

AP nische Stadt bedroht hat- CDC-Forscher im Hochsicherheitslabor: Hinter Betonmauern Fahndung nach dem Todeskeim te – diesen Vorfall rekon- struierte letztes Jahr der tag letzter Woche, die andere wird Typhusfälle und wurden entsprechend US-Autor Richard Preston in seinem kaum überleben. behandelt. Bestseller „Hot Zone“. Weil Epidemien und Tod so alltäglich Erst mit dem Tod der ersten Weißen, Hollywood bündelte die wiederer- sind in den Baracken afrikanischer Pro- der beiden italienischen Ordensschwe- wachten Ängste vor Killerviren in dem vinzkrankenhäuser, hatte sich in Kikwit stern, wachten die Verantwortlichen im hochkarätig besetzten Wissenschafts- wochenlang niemand um eine genaue Krankenhaus in Kikwit auf. thriller „Outbreak“ (siehe Titelbild) – Diagnose der auf den Tod Erkrankten Und plötzlich wurde ein erschrecken- fiktiver Ausbruch einer tödlichen Epi- gekümmert. Sie galten als Malaria- oder des gemeinsames Muster in den Sym- demie, die aus dem afrikanischen Busch

bedroht sind durch plötzlich auftauchende Infektionen“ FOTOS: ASS. PRODUCERS

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TITEL

in eine kalifornische Kleinstadt einge- Gering sei die Gefahr, daß das Virus eingedämmt und klein gehalten wer- schleppt wurde: Bedrohung für die gan- nach Europa verschleppt werde. Eine den“, meinte schon Eric Verschueren ze Nation. rasante Ausbreitung über Tröpfchenin- von der Organisation „Ärzte ohne Es war, als hätten Buch- und Dreh- fektion wie bei der Spanischen Grippe Grenzen“. buch-Autoren mit ihren Schreckensvi- 1918 sei beim Ebola-Virus nicht zu be- Aber als am Donnerstag letzter Wo- sionen den Dämon beschworen, der nun fürchten. Die Übertragung bei diesem che die ersten WHO-Experten am Ort im afrikanischen Kikwit reale Gestalt Virus geschieht über Blut und Körper- des Geschehens eintrafen, hatten die annahm: Das Virus, 1976 zum ersten- meisten Patienten das Krankenhaus mal entdeckt, seither nur selten aufflak- Kikwit schon fluchtartig verlassen; kernd, seit 16 Jahren nirgendwo mehr übriggeblieben waren nur 20 Schwer- wahrgenommen, brach plötzlich wieder kranke, die nicht laufen konnten. aus dem Busch hervor. Am Freitag wurde in Kikwit Aus- Noch nie, sagen die Experten, gab es gangssperre verhängt. Schulen und so wenig Seuchentote wie im 20. Jahr- Krankenhäuser wurden geschlossen. hundert. Die moderne Medizin, mit Hy- Soldaten hatten die Stadt umstellt, aber giene und Impfung, hat Seuchenzüge sie waren leicht zu bestechen von Ein- wie die Pest und Cholera, Pocken und wohnern, die um ihr Leben fürchteten. Kinderlähmung fast aus der Welt ge- Erste Ebola-Infektionen und -Todesfäl- tilgt. le wurden aus den Nachbardörfern ge- Aber jetzt wird deutlich, daß – wie meldet (siehe Seite 158). In der Haupt- vor knapp 20 Jahren Aids – völlig unver- stadt Kinshasa wurden Lastwagen aus hofft neue tödliche Krankheitserreger Kikwit gesichtet und sorgten für ent- über die Menschheit hereinbrechen sprechende Panik.

können. Die modernen Lebensgewohn- SABA Gekleidet in Schutzanzüge, ausgerü- heiten, mit Verstädterung und weltwei- Ebola-Virus stet mit batteriebetriebenen Luftfiltern, tem Tourismus, begünstigen die Aus- Umhüllt von Fett, gespickt mit Noppen erschienen am Donnerstag auch die er- breitung. „Der Ebola-Ausbruch in Kik- sten Wissenschaftlertrupps des amerika- wit“, so James Hughes, Direktor am säfte. Dennoch war die in Kikwit ausge- nischen CDC im Seuchengebiet. Es galt, amerikanischen Zentrum für Seuchen- brochene Epidemie Ende letzter Woche die Übertragungswege und das Ausmaß kontrolle (CDC), „erinnert uns daran, noch keineswegs unter Kontrolle. der Epidemie zu ermitteln. daß wir fortwährend bedroht sind durch Die Angaben über die Anzahl der Jetzt ließ sich nachvollziehen, wie das plötzlich auftauchende Infektionen.“ Opfer schwankte zwischen 170 und zwei Virus im Krankenhaus von Kikwit seine Ängste vor einem bevorstehenden bis drei Dutzend. Etliche andere Todes- Opfer gesucht hatte: Offensichtlich wur- globalen Seuchenzug suchten letzte Wo- fälle, zum Beispiel durch Typhus, waren den zuerst die Mitglieder des Ärzte- und che WHO-Beamte und deutsche Tro- fälschlich dem Virus zugeschrieben wor- des Pflegepersonals infiziert. Patienten, penmediziner zu zerstreuen. den. „Ich denke, die Epidemie kann die in andere Krankenhäuser verlegt

Blutiger Tod Wirkung des Ebola-Virus

URSPRUNG INFEKTION VIRUSVERMEHRUNG ORGANBEFALL TOD Das Ebola-Virus Das Virus überträgt 1. Spezielle Proteine in der Außenmem- Anders als die meisten Im Endstadium der Krank- stammt aus dem sich durch Kontakt mit bran des Ebola-Virus docken zunächst an Viren kann Ebola fast alle heit kollabiert die Blutgerin- Urwald. Von einem Blut, Exkrementen bestimmten Immunzellen (Makrophagen) Zelltypen des menschli- nung. Überall im Körper bil- unbekannten Tier oder Körpersäften. an und dringen so ins Zellinnere. chen Körpers den sich winzige Gerinnsel. springt es auf den Anders als die Grippe 2. Mit Hilfe der menschlichen Zellmaschi- befallen. Be- Gleichzeitig lecken die Menschen über. wird es nicht über die nerie vermehrt sich das Virus in der Zelle. sonders be- Adern. Blut dringt in alle Luft übertragen. 3. Die entstandenen Virenkopien platzen troffen sind Körperhöhlen. Der Patient aus ihrer Wirtszelle, töten sie dabei und Nieren, Milz blutet aus allen Körperöff- befallen neue Zellen. und Leber. nungen. 7 bis 16 Tage nach der Infektion sterben Inkubationszeit: 2 bis 21 Tage 60 bis 90 Prozent der Patienten.

Zellmembran Andockproteine ZELLE Nukleinsäure 3.1 (RNA) Lipidhülle ZELLKERN

2.1 Blutgerinnsel 1.1 EBOLA-VIRUS

150 DER SPIEGEL 20/1995 .

wurden, sorgten dann für die weitere Aus- breitung. Daß sich immer neue Menschen an- steckten, schien fast unvermeidbar – ange- sichts der für Europäer kaum vorstellbaren Armut und des daraus resultierenden Man- gels an Hygiene in Za- ire. „Die Ärzte dort sind gezwungen, ein und dieselbe Spritze bei 100 Patienten zu benutzen“, klagte der Virologe Jan ter Meu- len vom Hamburger Tropeninstitut. Wegen der mangelnden Aus- rüstung „werden auch Einweghandschuhe zehnmal gewaschen“. Opfer dieser Armut wurden auch die

Ordensschwestern aus CULVER Italien, die in Kikwit Grippe-Epidemie 1918 (in den USA): Moderne Lebensgewohnheiten und weltweiter Tourismus . . . jetzt am Ebola-Virus gestorben sind. Keine von ihnen hatte bei dem barmherzigen Werk eine Ge- sichtsmaske getragen, Handschuhe oder desinfizierbare Kittel. Und die „Kleinen Armen Schwestern“ waren es auch, von denen die Gefahr einer Ausbreitung der Seuche nach Europa ausging. Als die Nachricht von den Todesfäl- len in dem afrikanischen Missionskran- kenhaus das italienische Mutterhaus des Ordens erreichte, machten sich von dort zwei Nonnen auf nach Zaire, um ihre leibliche Schwester Floralba zu beerdi- gen. Sie sahen den Leichnam. Sie wohnten im Haus der Schwesterngemeinschaft in Kikwit und hatten Kontakte mit dem Krankenhauspersonal, alles ohne be- sondere Schutzmaßnahmen. Zehn Tage hielten sie sich in Kikwit auf, ehe der Ebola-Verdacht aufkam – reichlich Zeit für eine Ansteckung. Überstürzt reisten die Frauen zurück nach Bergamo.

Als sie am vorletzten Samstag in Mai- AKG WHO land eintrafen, hatten die italienischen . . . begünstigen die Ausbreitung: Pest-Darstellung, pockenkrankes Kind Behörden vorgesorgt. Angiolina Rondi, 54, und ihre Schwester Rosanna, 49, le- scher Herkunft in Kinshasa, schon an dacht sogleich auf das Ebola-Virus. ben seither hinter dicken Krankenhaus- jene Institution gewandt, die beim Schnelles Handeln war geboten – bei ei- glasscheiben in Quarantäne. Es gibt kei- plötzlichen Ausbruch einer Seuche ir- nem Virus, gegen das es kein Gegenmit- ne Anzeichen dafür, daß sie sich ange- gendwo in der Welt eine Schlüsselrolle tel gibt und das seine Opfer binnen we- steckt haben. Aber die Inkubationszeit spielt: das Seuchenzentrum CDC in At- niger Tage dahinrafft. des Killervirus kann bis zu drei Wochen lanta. Julia Weeks hatte Blutproben von In- betragen. So lange sollen die beiden Den Anruf aus Afrika hatte Ali Khan fizierten zunächst zum Tropeninstitut Schwestern isoliert bleiben. entgegengenommen, Mitglied der Spe- nach Antwerpen auf den Weg gebracht. Für die Quarantäneunterbringung zialistengruppe für besondere Viren Die Sendung wurde sogleich nach At- hatten die Schwestern des Mutterhauses beim CDC; er hatte Bereitschaftsdienst. lanta umgelenkt, denn in Antwerpen gesorgt, denen die Todesserie in Afrika Die Symptome, die ihm die Kollegin gibt es kein Labor mit der Sicherheits- nicht geheuer vorkam. Sie waren es in Afrika schilderte – blutiger Durch- stufe vier („Biosafety Level 4“, BL4), auch, die den Vorfall an die WHO mel- fall, Bluthusten, Blutungen aus klein- der höchsten Sicherheitsstufe im Um- deten. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte sten Verletzungen und schließlich gang mit derart gefährlichen Erregern. sich Julia Weeks, eine Ärztin amerikani- schneller Tod –, lenkten seinen Ver- BL4 liegt noch um eine Stufe höher, als

DER SPIEGEL 20/1995 151 TITEL es für die Beschäftigung mit Aids-Viren eingeklinkt, streicht unausgesetzt ein verlangt wird. Luftzug durch den Blue Suit. „Das dörrt Gelagert in einem mit flüssigem Stick- den Körper fürchterlich aus“, klagt stoff tiefgekühlten und mehrfach in Iso- Ostroff. Nicht einmal ordentlich trinken liermaterial verpackten Thermosbehäl- dürfe er vorher, denn der Rückweg zum ter, kam das Ebola-verdächtige Bioma- Klo wäre aufwendig und zeitraubend. terial am Dienstag morgen letzter Wo- Derart vermummt, machten sich die che im CDC an. Dort hielt Clarence Wissenschaftler des CDC-Teams, gelei- James Peters, Laborleiter der Virenab- tet von Peters, an die Fahndungsarbeit – teilung, seine Experten für Stufe BL4 mit zwei verschiedenen Verfahren. bereit. Zum einen unterzogen sie die Blut- Das Hochsicherheitslabor, in dem die proben dem sogenannten Elisa-Test, Blutproben aus Zaire geprüft werden mit dem sich Antikörper identifizieren sollten, ist hermetisch gegen die Außen- lassen; diese Eiweißstoffe, die der Kör- welt abgesichert. Dicke Stahlbetonmau- per zur Abwehr eines Erregers bildet, ern schützen den fensterlosen Bereich, liefern den Beweis, daß der Organismus der mit 370 Quadratmeter Grundfläche Kontakt mit einem bestimmten Erreger ein Drittel des gesamten Laborgebäudes hatte. Elisa bestätigte den Ebola-Ver- ausmacht. dacht. Hochempfindliche Sensoren und Parallel dazu machte sich eine andere Überwachungskameras registrieren jede Forschergruppe im Sicherheitslabor auf Bewegung im Umfeld. Rund um die Uhr die Suche nach dem Virus selbst. Dazu beobachten Wachposten die Monitore, benutzten die Wissenschaftler das PCR- bereit, jede unbefugte Annäherung Verfahren, welches das in der Blutprobe wenn nötig mit Gewalt zu verhindern. nur in Spuren vorkommende Erbgut des

Elefanten in der Kitum-Höhle: War dieser Seuchenfälle durch ZENTRAL- SUDAN ÄTHIOPIEN das Ebola-Virus AFRIKA weiß, umhüllt von etwas Fett und ge- Nzara spickt mit winzigen Noppen, die dem 1976 und Maridi Virus eine dornige Erscheinung geben. aktuell 1979 bola Erst Leben erweckt sie zum Leben. E Mount Denn verborgen in dieser Hülle liegt die Yambuku Elgon Zaire Kitum-Höhle RNS, das spiralförmige Molekül, das UGANDA die Erbinformation des Virus enthält: KONGO ZAIRE einen Befehl zur bedingungslosen Zer- Victoria- KENIA störung des Wirts. see Quarantänegebiet RUANDA Zwar ist die Ebola-RNS etwa doppelt so lang wie die Erbinformation des Kikwit BURUNDI Aids-Virus HIV, doch sie verzichtet auf raffinierte Steuerung biochemischer Re- Kinshasa gelkreise und verfolgt eine andere Stra- TANSANIA tegie: Ebola spricht nur die Sprache ro- her, molekularer Gewalt. ANGOLA 500 km „Vermehren, vermehren, vermeh- ren“, so lautet der schlichte Befehl, den das Virus, das aus dem Dschungel stammt, an seine Nachkommen weiter- Clarence James Peters ist einer der Virus beliebig vervielfältigt –so lange, bis gibt. Vermehren, ehe sich das Immunsy- wenigen, die zum BL4-Labor Zutritt ha- es sich nachweisen läßt. stem des befallenen Wirts zu einer wirk- ben. Zwei Codewörter verschaffen ihm So gab es in der Nacht zum Donnerstag samen Abwehr formieren kann. Einlaß in den Vorraum, in dem er sich letzter Woche schließlich Gewißheit: In Ebolas erste Opfer sind Fibroblasten für den Eintritt in die Schutzschleuse 14 von den 16 aus Zaire eingesandten und Makrophagen (siehe Grafik Seite vorbereitet. Blutproben fand sich das Ebola-Virus – 150). Dem Körper dienen diese Zellen „Hier muß ich alles ausziehen und ab- eben jener Erreger, der seit dem „Hot als Patrouillen, die das Gewebe regene- legen, was ich mit reingebracht habe“, Zone“-Thriller des amerikanischen Au- rieren, biochemischen Müll entsorgen erläutert sein Kollege Steven Ostroff die tors Preston zum Inbegriff für tödliche und Krankheitskeime verschlingen. Das strenge Prozedur. Angetan mit nicht Virengefahr aus dem Buschgeworden ist. Ebola-Virus nutzt sie als Fähren, mit de- mehr als einem sterilisierten Chirurgen- Der nächste Schritt, das Virus dingfest ren Hilfe sie sich bis ins Innere aller Or- kittel steigen die Forscher in eine Art zu machen, ist der Blick ins Elektronen- gane befördern läßt. Raumanzug, den „Blue Suit“ aus blau- mikroskop. Nicht ohne Faszination stu- Schon nach kurzer Zeit zu einem Mil- em reißfestem Plastik mit drei Paar dieren die Forscher die Gestalt des Ebo- lionenheer angeschwollen, befallen die übereinandergezogenen Handschuhen la-Virus, ein Gewirr ineinander ver- viralen Eindringlinge nun auch die En- und Vollsichthelm. schlungener Schlangen und Schlaufen – dothelien, die Zelltapete der Blutgefä- Ventilatoren erzeugen einen ständi- jede von ihnen millionenfach kleiner als ße. Sie entern das Drainagesystem der gen Unterdruck in diesem Laborbe- das Opfer, das sie befallen. Niere, töten Leberzellen und nisten sich reich, damit beim Türöffnen kein To- Für sich genommen, istjede der Mikro- in der Nebennierenrinde ein. deskeim nach außen dringt. Ist der nudeln tot. Sie bewegt sich nicht, sie at- Wenn die Patienten knapp eine Wo- Atemschlauch des Schutzanzuges in die met nicht, sie ißt nicht, sie vermehrt sich che nach der Infektion erstmals über Sauerstoffventile an der Labordecke nicht. Die Ebola-Viren sind nichts als Ei- Fieber, Müdigkeit, Kopf- und Muskel-

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wollballen nisteten. Oder sie hatten im Kot der Fledermäuse gelauert, der am Boden neben Yu. G.s Schreibtisch ver- trocknete. Oder hatten sie bei einem Spinnenbiß den Weg in sein Blut gefun- den? Sicher ist nur, daß wenige Tage nach seinem Tod der nächste Arbeiter der Baumwollfabrik mit jenen rotgeränder- ten Geisteraugen zur Arbeit kam, mit denen sich die Infektion ankündigt; daß ein weiterer Mitarbeiter von Yu. G., ein Lebemann mit mehreren Freundinnen, das Virus in den Ort trug; und daß es dort zur richtigen Epidemie kam, als der erste Patient Hilfe im nahegelegenen Krankenhaus Maridi suchte. Gierig ergriff das Virus die sich plötz- lich bietenden Möglichkeiten der Aus- breitung. Erst sprang es von Patient zu Patient, im Zickzack breitete es sich dann in den Familien aus, schließlich starben Ärzte und Schwestern. Epidemiologen der WHO gelang es später, über 16 Infektionsgenerationen

BROMHALL / OKAPIA hin die tödliche Wanderung des Virus Ballungspunkt des Dschungellebens der Schlupfwinkel des Erregers? zurückzuverfolgen. Jeder zweite Kranke starb: eine Sterberate so hoch wie bei schmerzen klagen, hat in ihrem Körper Die letzte Bestandsaufnahme der in- der mittelalterlichen Pest. bereits das Virus die Macht übernom- neren Verwüstung bleibt dem Patholo- Doch anders als bei Aids, der Pest der men. Der Arzt wird nur noch hilfloser gen vorbehalten. Er kann rekonstruie- Gegenwart, die sich unsichtbar und Zeuge der wütenden Gewaltherrschaft ren, wie sich der Tod rund um kleine langsam wie ein Schwelbrand ausbreite- von Ebola. Herde in der Leber ausgebreitet hat, te, ging Ebola um wie ein Strohfeuer – Im Körper der Patienten lecken be- wie das Stützgewebe von Lymphknoten sichtbar, heftig und kurz. reits die ersten angefressenen Blutgefä- und Milz abgestorben ist. Gut 200 Infizierte, 124 Tote: So laute- ße, Blut rinnt ins Gewebe. Das die Or- Dieses gesamte Schreckensszenario te am Ende die Bilanz im Sudan. Dann gane zusammenhaltende Bindegewebe war auf dem afrikanischen Kontinent zog sich das Virus wieder zurück in die zerfällt. Ein Gemisch aggressiver Viren, schon einmal abgelaufen – bei jener Plantagen von Teakholz, Obst und von Zell-Leichen und Botenstoffen wird Ebola-Epidemie, die im Sommer 1976 Baumwolle, von denen Nzara umgeben ins Blut gespült und verwirrt Immunabwehr und Blutgerinnung. Im letzten Stadium kommt es zum DIC – ein Horror-Kürzel der Intensivmediziner und gleichbedeutend mit „hoffnungslos“. DIC steht für Disseminated Intravascular Coagula- tion, den Totalzusam- menbruch der Blutge- rinnung. Plötzlich bilden sich PRODUCERS überall in den Adern

des Patienten winzige FOTOS: ASS. Thrombosen, kleine Opfer des Marburg-Virus, Marburg-infizierter Affe (1967): Gefahr durch den Impfstoff? Gerinnsel, die das Blut in einen schwärzlichen Brei verwan- mehrere Monate lang im Sudan wütete ist; in die Wälder von Elefantengras an deln. Das ohnehin überstrapazierte (siehe Kasten Seite 154). den Ufern der Flüsse; oder in den un- Herz muß nun zähen Blutschlamm Zu ihren ersten Opfern zählte Yu. G. durchdringlichen Bergwald, zu dem sich pumpen, während das Restblut, jetzt al- – unter diesen Initialen ist er im kleinen die Savanne weiter südlich verdichtet. ler Fähigkeit zu gerinnen beraubt, die Kreis der Ebola-Experten bekannt. Der Wahrscheinlich wäre das tödliche Organe flutet. Mann war Lagerverwalter in einer Strohfeuer von Nzara im weit entfernten Das blutige Erscheinungsbild von Baumwollfabrik in der südsudanesi- Europa weitgehend unbemerkt geblie- Ebola-Patienten im Endstadium findet schen Kleinstadt Nzara. ben, die Stippvisite des Killers wäre in seine grausige Entsprechung im Innern Wie die Viren in seinen Körper ge- Vergessenheit geraten, wenn das Virus ihrer Körper: Das Bindegewebe wird langten, ist bis heute ungewiß. Viel- nicht 700 Kilometer weiter westlich fast von dem Virus verflüssigt, Blut spült in leicht stammten die Erreger von den gleichzeitig ein zweites Mal aus seinem Bauchfell, Herzbeutel und Rippenfell. Mäusen, die in den gestapelten Baum- Schlupfwinkel gekommen wäre – dies-

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TITEL „Leckende Adern, überall Viren“ Tropenmediziner Jürgen Knobloch über seinen Einsatz beim Ebola-Ausbruch 1976 im Sudan

Knobloch, 51, ist Direktor des Insti- bei Leichenöffnungen fand ich überall Krankheit und das Lassa-Fieber be- tuts für Tropenmedizin an der Univer- Wasser, überall Verwüstung. kannt. Da die Marburg-Krankheit in sität Tübingen. Es war offensichtlich, daß ich ei- Afrika aber nie epidemieartig aufgetre- ner der übelsten Infektionskrankhei- ten war, tippte ich auf eine schwere, m Sommer 1976 erhielt das Hambur- ten überhaupt gegenüberstand. Über- noch unbekannte Form von Lassa. ger Tropeninstitut, an dessen klini- raschend war vor allem die Fulminanz, Daß es das nicht war, stellte sich dann Ischer Abteilung ich damals tätig mit der sie den gesamten Körper erfaß- später heraus, nachdem es im Hambur- war, den Brief eines Missionars aus te: Völlig gesunde Menschen verfielen ger Tropeninstitut gelang, das Ebola- dem Sudan. Er schrieb, daß in seinem innerhalb von vier bis fünf Tagen. Virus elektronenmikroskopisch darzu- Wirkungsbereich, vor allem aber im Die Davongekommenen überlebten stellen –aus einem Leberstückchen, das Krankenhaus von Maridi relativ viele völlig ausgezehrt. Heute, nachdem das ich vor den Nachstellungen eines nach Menschen stürben. Es seien zwar nur Ebola-Virus bekannt ist, wissen wir mir in Khartoum angereisten britischen die Salmonellen, da sei er sich gewiß, auch, warum: Es ist nicht wählerisch, Forscherteams retten konnte. aber es wäre doch ganz Ich war, als die Quaran- gut, wenn einer von uns tänemaßnahmen in Maridi mal vorbeikäme. funktionierten, in die suda- Das war zwar – der Su- nesische Hauptstadt geflo- dan stand damals unter so- gen, um die dort lebende wjetischem Einfluß, und deutsche Kolonie zu beru- ganz in der Nähe liegt er ja higen. Die befand sich in auch nicht – ein etwas nai- Panik, die damals aus me- ver Gedanke. Aber ich be- dizinischer Sicht so unsin- schloß dennoch, mich nig war wie heute die War- über Khartoum nach Ma- nung des Auswärtigen Am- ridi durchzuschlagen, das tes, nicht nach Zaire zu rei- zwischen Dschungel und sen: Da das Ebola-Fieber Savanne im Süden des weder durch Stechmücken Landes liegt. Denn auf- (wieetwa Gelbfieber)noch grund der Symptome, die durch Tröpfcheninfektion der Missionar schilderte, (wie Grippe) übertragen war mir klar: Das ist etwas wird, sondern allein durch Interessantes. Körperflüssigkeiten, ist ei- In Maridi stieß ich auf ne Infektion nur durch eine ganze Reihe von To- Kontakt mit Blut, Exkre- ten. Das Krankenhaus war menten oder Geschlechts- fast leer, die Patienten wa- verkehr möglich. ren geflohen, weil sie im Die Briten, die – wie das Hospital den Seuchenherd Forscherschicksal so spielt

vermuteten – richtigerwei- ZEITENSPIEGEL – aus Khartoum nicht her- se, wie sich hinterher her- Mediziner Knobloch: „Wie kam das Virus über die Menschen?“ auskamen, waren scharf ausstellen sollte. Wie er- auf das Autopsiematerial, wartet als unrichtig erwies sich dage- greift fast alle Körperzellen an. Egal, das ich in Maridi gewonnen hatte. Des- gen schon nach flüchtiger Diagnose die von wo man Proben nimmt, überall ist halb überredeten sie Polizisten in Khar- Vermutung des Missionars: An was Virus drin. toum zubakschischinduziertem Verhal- auch immer die Patienten erkrankt Um die Verbreitung der Krankheit ten, worauf die mich mit vorgehaltener sein mochten, es war mit Sicherheit in Maridi stoppen zu können, galt es Maschinenpistole aufsuchten, mir die keine Salmonellose, sondern ein hä- als erstes, ihren Infektionsweg nachzu- Präparate abnahmen und sie den Briten morrhagisches Fieber bisher unbe- vollziehen. Blutuntersuchungen vor übergaben. MitHilfe dieser Gewebetei- kannter Art. Ort zeigten, daß ein Virus im Spiel le wäre es uns im Hamburger Tropenin- Und es war das Schrecklichste, das war; Recherchen über das Patienten- stitut wahrscheinlich gelungen, das ich bis dahin gesehen hatte: Die Pa- gut ergaben, daß alle Infektionen Ebola-Virus nicht nur darzustellen, tienten erbrachen ihre Eingeweide. durch Übertragung von Körperflüssig- sondern auch als erste zu isolieren. Unter schrecklichen Schmerzen schäl- keit stattgefunden haben mußten – wo- In Maridi waren damals über 200 Pa- ten sich ihre Schleimhäute, ihre Zun- für schon der Umstand sprach, daß das tienten erkrankt. Ich ließ Quarantäne- gen und Rachen lagen in Fetzen. Sämt- Krankenhauspersonal erkrankt und häuser aus Lehm und Elefantengras liche Organe vom Hirn bis zu den Ho- vielfach schon gestorben war. bauen und um dieQuartiere einen Zaun den waren befallen, alle Adern leck- Als hämorrhagische Fieber, die von ziehen, der streng bewacht wurde. 124 ten, Gewebsflüssigkeit strömte unter Mensch zu Mensch übertragen wer- Patienten starben, der Rest war am En- die Haut und in die Körperhöhlen – den, waren damals die Marburg- de der dreimonatigen Mission wieder

154 DER SPIEGEL 20/1995 mal in einer noch aggressiveren Varian- te. Wie bei dem Lagerverwalter Yu. G., so ist auch beim Dorflehrer von Yambu- ku im Dschungel von Zaire unbekannt, wie er sich – im September 1976 – an- steckte. Möglich, daß das Virus im Af- fen- oder im Antilopenfleisch steckte, das er auf einem Straßenmarkt im Nor- den des Landes Zaire erstanden hatte. Möglich aber auch, daß einer der Pa- tienten das Virus in sich trug, die vor ihm in der Schlange vor der Missionssta- tion von Yambuku standen. Weil er sich unwohl fühlte, glaubte der Lehrer einen Malaria-Anfall im An- marsch und ließ sich eine Chloroquin- Spritze geben – aus einer von fünf Sprit- zen, die verfügbar waren; sie mußten an diesem Tag für alle Patienten reichen, die aus den vielen längs des Ebola-Flus- ses verstreuten Dörfern zur Missionssta- tion kamen. Es begann in Yambuku das Drama, das sich wenig zuvor in Nzara abgespielt hatte – ein afrikanisches Drama, wie es sich heute auch in Kikwit wiederholt: Ebola-Patient im Sudan 1976*: „Die Davongekommenen waren ausgezehrt“ Erst starben die Patienten, die mit dem Dorflehrer die Spritze geteilt hatten. wohlauf. Wie aber, fragte ich mich, war hineingehört. Denn Mikroorganismen Dann erkrankten die Frauen, die ihre die Krankheit über die Menschen ge- sind nicht daran interessiert, ihren toten Ehemänner, Söhne oder Eltern kommen? Hauptwirt so schnell wie möglich umzu- aufgebahrt hatten. Schließlich ging das Bei meinen epidemiologischen Nach- bringen. Virus unter den belgischen Nonnen um. forschungen stieß ich schließlich auf den Der Ebola-Erreger tut aber so, alsha- Bis heute ist unter den Experten strit- Indexfall, den ersten Patienten, von be er den Menschen alsWirt nicht nötig; tig, ob das hochaggressive Virus damals dem die Seuche ausgegangen war. Es das hat er auch nicht, weil sein natürli- zum Sprung nach Europa hätte ansetzen handelte sich um einen infizierten Last- cher Verbreitungsträger ein anderes können. „Ebola hätte die Welt verän- kraftfahrer, der in das Hospital von Ma- Lebewesen ist – wohl ein Warmblütler, dern können“, sagte später der Ebola- ridi eingeliefert worden war. Das Kran- von denen es im tropischen Afrika eine Entdecker Karl Johnson vom CDC in kenhaus verfügte nur über eine einzige reichhaltige Auswahl gibt. Daher istda- Atlanta, der den mikrobischen Killer Spritze, und die bekam jeder neue Pa- von auszugehen, daß es noch lange dau- am 13. Oktober 1976 zum erstenmal im tient sozusagen als Aufnahmeritual in ern wird, bisdie Herkunft desEbola-Vi- den Hintern gejagt – ein Beispiel dafür, rus feststeht; wahrscheinlich handelt es wie westliche Medizin, wenn sie sich um ein Tier, das nicht im Umfeld Irgendwo im Dschungel schlecht organisiert ist, der Verbreitung des Menschen lebt. lebt der erste von Epidemien Vorschub leisten kann. Da in einem afrikanischen Dorf so Im Vergleich dazu ist die überlieferte ziemlich alles gegessen wird, was Wirt des Killervirus Seuchenhygiene der Einheimischen kreucht und fleucht, gerät das Virus im- vorbildlich. Stammesältere berichteten mer mal wieder aus seinem angestamm- Elektronenmikroskop gesichtet hatte. mir, ihnen seien die Symptome des Ebo- ten Habitat in den Humankreis, aus Die winzigen Würmer, die da auf den la-Fiebers gut bekannt; estrete zwar sel- dem es mit Tod oder Genesung der Infi- Aufnahmen verknäult waren, benannte ten, aber doch immer wieder auf und zierten dann wieder für längere Zeit er nach dem Fluß Ebola in Zaire, an werde folgendermaßen bekämpft: Der verschwindet. Deswegen ist die Zahl dessen Ufer sie aufgetaucht waren. Kranke wird in einer außerhalb des der Infizierten stets vergleichsweise ge- An diesem selben Tag taumelte 9900 Dorfes errichteten Hütte isoliert und ring, wobei ohnehin die Faustregel gilt: Kilometer weiter südöstlich eine Kran- von immer derselben alten Frau ver- Die Zahlen sind meist übertrieben –wie kenschwester durch die Metropole Kin- sorgt, die sozial gemieden wird – ge- etwa die Pest-Epidemie letztes Jahr in shasa. Tage zuvor hatte Ebola Besitz scheiter kann man bei einer von Mensch Indien beweist, wo von 5000 gemelde- von ihrem Körper ergriffen. Jetzt stand zu Mensch übertragenen Krankheit ten Fällen schließlich 50 übrigblieben. sie in der Schlange vor dem Außenmini- nicht vorgehen. Der Mangel an menschlichen Infekti- sterium, um eine Reisegenehmigung zu Daß Ebola so sporadisch auftritt, onsträgern sowie die Abwesenheiteines bekommen. dann aber einen derart fulminanten Ebola-tragenden Tierreservoirs istauch Die mit Ebola Infizierte fuhr Taxi und Verlauf nimmt, spricht dafür, daß das der Grund, weshalb Ebola in Europa saß im überfüllten Wartezimmer einer Virus extrem schlecht an den Menschen nicht auftreten, geschweige denn Fuß Notambulanz – gleichsam eine wandeln- adaptiert ist, also sozusagen nicht in ihn fassen kann – allen derzeit geäußerten de biologische Bombe inmitten einer Befürchtungen zum Trotz. Denn wo Großstadt der Dritten Welt. * Überlebender nach circa vier Wochen Krank- kein Erreger ist, gibt es höchstens Die Katastrophe war zum Greifen na- heit. Angst, niemals aber eine Krankheit. he. Die US-Behörden hatten sich ent- schlossen, 1000 amerikanische Bürger vorsorglich aus Zaire auszufliegen – ein

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unglaubliches Potential für eine Konti- ser Erreger wie die Mumps-, Masern- nente überspringende Ausbreitung der oder Grippeviren im Menschen. Als ein Seuche. schier unerschöpfliches Reservoir für Das Desaster blieb aus. Zwar hatte neue Viren haben die Wissenschaftler das Virus in Zaire noch schrecklicher den tropischen Regenwald erkannt. gewütet als kurz zuvor im Sudan. 318 Dort leben mehr als die Hälfte aller Menschen in 55 Urwalddörfern hatte es Tierarten des Planeten Erde. Und in je- befallen, neun von zehn Kranken hatte dem der Tausende von Nager-, Vogel- es dahingerafft. und Fledermausarten, injeder der Millio- Doch dann war es verschwunden. Die nen oft noch unbekannten Käfer- oder Krankenschwester in Kinshasa war ei- Ameisenarten stecken Viren. Sie leben nes seiner Opfer. Ihr Irrweg durch die im Urin der Ratten, in den Speicheldrü- Stadt war, für diesmal zumindest, nur sen von Mücken, im Darm von Huftie- eine Warnung vor der Gefahr einer neu- ren, in den Adern von Affen. Jedes von en, weltweiten Pest geblieben. ihnen könnte möglicherweise irgend- Nur einmal noch, drei Jahre später, wann auf den Menschen überspringen flackerte die Epidemie auf. Wieder lag und sich in einen heimtückischen Killer der Herd im sudanesischen Nzara. Wie- verwandeln. der war ein Krankenhaus der Ort, in Urwaldrodungen, neue Dschungelpi- dem vereinzelte Krankheitsfälle zur sten und das Schürfen nach Rohstoffen Epidemie wurden. Und wieder zog sich bringen den Menschen in Kontakt mit SPARACO FOTOS: P. Ebola-Opfer Sorti, Rondi (r.): Blut wurde zu schwärzlichem Brei

das Virus, nach kurzem Seuchenzug, ins den geheimnisvollen Erregern des Dunkel zurück. Buschs; Verstädterung, Flüchtlingswan- Dort blieb es 15 Jahre lang, bis der Dä- derungen, die Eröffnung von Buschkli- mon aufs neue von Richard Preston be- niken oder die Landwirtschaft können schworen wurde. Inzwischen hatten sich ihnen neue Übertragungswege eröffnen. Wissenschaftler in einem Dutzend Si- So war es, als 1953 das rätselhafte cherheitslabors in den USA, Europa und Erntefieber in Argentinien ausbrach, der Sowjetunion den großen Rätseln des weil die neuen Mähdrescher den Virus- Urwaldkillers zugewandt: Woher war er träger, eine in den Feldern nistende so plötzlich gekommen? Auf welchen Mäuseart, zerstückelten und die Bauern Wegen war er von Mensch zu Mensch mit einem feinen Staub aus Mäuseblut übertragen worden? Und würde sein töd- einnebelten. So war es auch, als 1962 licher Hunger auch das nächste Mal nach das Machupo-Virus in Bolivien auf den wenigen Wochen gesättigt sein? Menschen übersprang und als in West- Irgendwo im Dschungel von Zaire ver- afrika dem lebensgefährlichen Lassa-Vi- muten die Virologen den ursprünglichen rus der Sprung von der Maus zum Men- Wirt von Ebola, irgendeine Fledermaus-, schen gelang. Spinnen- oder Papageienart. Das Virus Doch alle Versuche, den Ur-Wirt von existiert in ihnen als weitgehend harmlo- Ebola aufzuspüren, schlugen fehl. Auch

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eine aufwendige Expe- dition der US-Armee 1988 blieb vergebens. Die Armeeforscher hatten einen Virus- Schlupfwinkel in der mineralhaltigen Ki- tum-Höhle am Fuße des Vulkans Elgon an der Grenze zwischen Uganda und Kenia vermutet. Bis zu die- sem Ballungspunkt des Dschungellebens hatten sich zwei Infek- tionen mit dem Mar- burg-Virus, einem na- hen Ebola-Verwand- ten, zurückverfolgen lassen. Auch Affen erkran- ken an Ebola und Marburg. Als Ur-Wirt kommen auch sie nicht in Frage. Auch bei ihnen verläuft die Krankheit zu heftig und zu rasch, um zur Seuche zu werden: Bevor sich das Virus

unter Affen oder WARNER BROS. Menschen stark aus- Killerviren-Film „Outbreak“*: „Kein sicherer Ort mehr auf der Erde“ breiten kann, hat es seine Opfer schon dahingerafft; die Männer und eine Frau in der Isolier- Wie ernst zudem die Gefahr ist, daß Seuche rottet sich damit gleichsam station der Uniklinik: Tierärzte, Affen- das Ebola-Virus mutieren und, wie Grip- selbst aus. pfleger, Laboranten. Alle hatten mit pe- oder Schnupfenviren, den Infektions- Deshalb hoffen die Experten, daß den Affen aus Uganda, mit ihrem Blut weg durch die Luft erobern könnten, Ebola auch in Zukunft auf kleine afri- oder ihren Zellen zu tun gehabt. wurde im November 1989 klar. kanische Herde beschränkt bleiben Das Affenblut, so fanden die Virolo- Bei einem Tierhändler in Reston, ei- wird – sofern nicht eine von zwei Hor- gen des Tropeninstituts in Hamburg nem Vorort von Washington, begannen ror-Varianten eintritt: heraus, war getränkt mit Milliarden fa- plötzlich Javaneraffen (Macaca fascicula- i Das Virus könnte mutieren und sich denförmiger Marburg-Viren, den er- ris) zu bluten, die von den Philippinen ge- damit neue Übertragungswege er- sten Viren des Ebola-Typs, die je ein liefert worden waren. In ihren Adern ver- schließen. Mensch zu Gesicht bekam. mehrte sich ein unbekanntes Virus, of- i Der Mensch könnte ihm, durch ver- Es war ein Schock für die Marburger fenbar eng verwandt mit Marburg und ändertes Verhalten oder Eingriffe in Forscher: Affenzellen dienten als Roh- Ebola. die Umwelt, neue Infektionswege stoff für Impfstoffe, die Millionen von Schockiert waren die Spezialisten der erschließen. Menschen verabreicht wurden. Was herbeigerufenen Seuchenspezialtruppe Unmöglich ist keine dieser beiden wäre geschehen, wenn keiner der Beh- der US-Armee, als sie feststellten, daß Schreckensvisionen. Zu einer Katastro- ring-Arbeiter erkrankt wäre? Wenn die Epidemie von Käfig zu Käfig sprang: phe hätte es schon 1967 kommen kön- womöglich virenverseuchte Impfstoffe Das Virus mußte durch die Atemluft nen – in dem deutschen Universitäts- ausgeliefert worden wären? übertragen worden sein. städtchen Marburg. Und wie groß erst wäre die Kata- Menschen erkrankten nicht. Doch im Anfangs hatte dort niemand an die strophe gewesen, so fragten sich später Blut von vier Tierpflegern, die keinen di- aus Afrika stammenden Affen gedacht, die Aidsforscher, wenn in den sechzi- rekten Kontakt mit dem Blut der Affen als sich Klaus F., Laborant bei den ger oder siebziger Jahren die noch un- gehabt hatten, fanden sich Antikörper Behringwerken, am Dienstag, dem 8. bekannten HI-Viren einen Weg von gegen das neue Virus: Auch siewaren be- August, krank meldete. Seine Aufgabe den Affenzellen in die Kinderläh- fallen. war es gewesen, die Schädel getöteter mungsimpfstoffe und von dort ins Blut Damit war bewiesen: Es gibt einen en- Affen zu zersägen und ihnen das Hirn der Geimpften gefunden hätten? gen Verwandten des hochgefährlichen zu entnehmen. Die Tiere, meist Grüne Die Propheten der medizinischen Ebola-Virus, der durch Tröpfcheninfek- Meerkatzen der Spezies Cercopithecus Vorbeugung hätten unwissentlich zu tion übertragen wird. aethiops, waren aus Uganda importiert den Verursachern der schrecklichsten Sollte es den beiden Verwandten je ge- worden. In Marburg wurden ihre Nie- aller Menschheitsseuchen werden kön- lingen, sich zu verbünden und ihre Eigen- renzellen kultiviert, um Impfstoffe ge- nen. Denn bis die ersten Kinder er- schaften zu vereinen, würde das Schrek- gen Kinderlähmung und Masern herzu- krankt wären, wäre es für die Eindäm- kensszenario des Hollywood-Schockers stellen. mung einer völkermordenden Aidsepi- „Outbreak“ Wirklichkeit. Als Klaus F., 15 Tage nachdem er demie längst zu spät gewesen. „Dann“, warnt Ebola-Entdecker erstmals über Kopfschmerzen geklagt Johnson, „gibt es keinen sicheren Ort hatte, starb, lagen bereits zehn weitere * Mit Dustin Hoffman. mehr auf der Erde.“

DER SPIEGEL 20/1995 157 TITEL Draußen wartet der Tod SPIEGEL-Reporter Erich Wiedemann über den Ausbruch der Killerseuche in Zaire

bola? „Merde, der Teufel soll ihn bei Verwandten aus dem Leben zu Kinshasa dringt, wird es eine Katastro- holen, den verdammten Dreck“, scheiden. phe geben.“ Die Leichenhalle dort hat Esagt Camionist Raphael Mahenge Auch in der Hauptstadt sind mehrere eine Kapazität von nur 150 Toten – und aus Kikwit. Ebola habe ihn schon fast beunruhigende Zwischenfälle gemeldet dabei sterben in den Krankenhäusern eine halbe Million neue Zaire gekostet, worden. Eine infizierte junge Frau, die schon zu normalen Zeiten täglich an die das sind umgerechnet 170 Mark. „Es bereits an starken Hautblutungen litt, 1000 Menschen. wird Zeit, daß die Regierung etwas da- war auf einem Maniok-Laster aus Kik- Am Mittwoch hat die Regierung die gegen tut.“ wit geflüchtet, in Kinshasa wieder einge- ganze Stadt Kikwit mit 500 000 Einwoh- Die Soldaten mit den weißen Helmen fangen und am Mittwoch in die Clinique nern unter Quarantäne gestellt. Auch an der Straßensperre grinsen und kassie- Pax eingeliefert worden. Am Donners- der Flughafen ist gesperrt. Nur medizi- ren ganz ungeniert. Ein Lkw-Fahrer, tag mittag war sie wieder weg. Sie litt nisches Personal darf angeblich noch der nicht schnell genug zahlt, um durch- unter dem Wahn, man wolle sie im passieren. Aber die private Air Kasai, gelassen zu werden, kriegt einen Hieb Krankenhaus umbringen. Nun liegt sie die mit einer fast 50 Jahre alten zweimo- mit dem Dienstknüppel. irgendwo in Kinshasa und stirbt – viel- torigen „Dakota“ die Städte im Norden Raphael Mahenge fährt Mais und Nordosten bedient, fliegt und Maniok auf der Strecke Freitag früh noch nach Plan. Kikwit–Kinshasa. Auf dem Die engere Innenstadt, in Rückweg aus der Hauptstadt der auch die Krankenhausba- nimmt er Eier oder Ersatzteile racken liegen, in denen die er- mit. Er rechnet pro Tour sten Krankheitsfälle auftraten, 150 000 bis 200 000 neue Zaire ist zum „Quartier dangereux“ an „Matabiche“, Wegzoll und erklärt worden, zum gefährli- Schutzgeld. Aber seit die Re- chen Viertel. Wer sich – ab- gierung die 500-Kilometer- sichtlich oder unbeabsichtigt – Straße östlich der Hauptstadt hineinbegibt, darf nicht wieder offiziell gesperrt hat, sind die hinaus. Der ganze Stadtteil ist Schmiergeldforderungen ex- praktisch eine einzige große plodiert. Seuchenstation. Doch als die Keine Frage, der Verkehr ersten westlichen Experten am zwischen Kinshasa und dem Donnerstag in das städtische Osten des Landes ist stark be- Krankenhaus von Kikwit ka- hindert. Die Nahrungsmittel- men, waren die 350 Betten fast preise in Kinshasa beginnen ra- alle leer – die Kranken waren pide zu steigen. Ein Sack Zuk- in Panik geflohen. ker wird am Freitag mit 40 000 Der katholische Bischof von Zaire notiert, das istdoppelt so- Kikwit, Monseigneur Edouard viel wie am Freitag der Vorwo- Mununu, hat einen dramati- che. Aber wer zahlen kann, Missionar Stark: Blutprobe in der Thermosflasche schen Appell an die Außen- kommt immer noch durch, welt gerichtet. Tenor: „Wenn dank Matabiche. Nur, mit den Maniok- leicht am Ebola-Virus, vielleicht an ei- wir nicht sofort umfassende Hilfe be- und Zuckerrohrladungen schaffen es ner banalen Infektion. kommen, wird hier jeder angesteckt auch Ebola-Kranke, aus der Seuchen- Die Tageszeitung La Cite´ Africaine werden.“ stadt Kikwit herauszukommen. Seit An- erscheint am Donnerstag mit der Auch außerhalb der Bannmeile wütet fang der Woche sind aus zwei anderen Schlagzeile: „Die Katastrophe steht an der schwarze Durchfall, wie sie die Städten Ebola-Fälle bestätigt worden, der Schwelle von Kinshasa“. An der Krankheit hier nennen. Die Stadtver- aus Musango und Yassa Bonga. In meh- Schwelle? waltung hat die Bevölkerung aufgefor- reren Ortschaften längs der Route Na- Zu normalen Zeiten kommen aus dert, Ebola-Kranke nicht mehr ins Hos- tionale 1 sind überdies verdächtige To- Kikwit und der umliegenden Region pital zu bringen, sondern sie zu Hause desfälle gemeldet worden, die noch kei- Bandundu, die als eine Art Kornkam- zu versorgen, so gut es gehe. Über hun- ner genau überprüfen konnte. mer für die Hauptstadt dient, vielleicht dert Menschen wurden unter Hausarrest Niemand weiß, was sich in den vielen 500 Autos pro Tag in die Stadt. Wenn es gestellt, weil sie mit dem Virus in Kon- hundert Dörfern und Weilern abseits jetzt nur noch zehn Prozent davon sind, takt geraten waren: Die meisten sind der Straße abspielt, in denen es nicht dann muß es schon Dutzende von Men- Angehörige eines Verstorbenen. einmal Sanitätsstationen gibt. Und bis- schen hier geben, die mit dem Todesvi- Wie versorgt man ohne Medikamente her hat sich auch niemand besonders rus infiziert sein können. einen Todkranken, der nur noch darauf darum gekümmert. Sterben ist in den Die Cite´ Africaine schreibt: „Selbst wartet, daß die Schmerzen aufhören, Dörfern Zentralafrikas eine zu alltägli- Gott in seiner unendlichen Güte kann während die Seuche seinen Körper von che Angelegenheit, als daß man deswe- nicht mehr verhindern, daß hier etwas innen her langsam zerfrißt? gen viel Aufhebens machte. Es heißt, passiert, was sich nicht reparieren läßt.“ Die Behörden haben kapituliert. Za- viele Ebola-Kranke hätten sich zu Fuß Gouverneur Bernardin Mungul Diaka ire gibt für die Gesundheit seiner Bürger aus Kikwit aufgemacht, um zu Hause ängstigt sich: „Wenn die Krankheit nach 1,50 Mark pro Kopf im Jahr aus. Profes-

158 DER SPIEGEL 20/1995 sor Miyembe Tamfun, Chef des Mikro- Kinshasa („Kin la belle“ nannten die piste. Die Seuche konnte deshalb biologischen Instituts an der Universität belgischen Kolonialherren die Stadt) er- ziemlich leicht eingedämmt werden. Kinshasa, hat sich im Krankenhaus von bebt derweil vor Angst. Eine irrwitzig Aber die Region Bandundu weist Kikwit umgesehen. Sein Urteil lautet: übervölkerte Hauptstadt mit fast fünf mehrere wichtige Fernstraßen auf. Sie keine Hoffnung. Im Vergleich zu dem, Millionen Einwohnern und fast ganz oh- verbinden die Hauptstadt mit dem Bal- was hier geschehe, sagt einer seiner ne Kanalisation – günstigere Bedingun- lungsgebiet an den großen Seen im Mitarbeiter, töte Aids geradezu human. gen kann die Todesseuche für ihre Aus- Osten und in der Region längs der an- Das Personal im Hospital von Kikwit breitung gar nicht finden. Kinshasa steht golanischen Grenze, in der die Dia- hat nicht einmal Gummihandschuhe am Rande der Panik. Wenn die Lage mantenminen liegen. und Mundtücher, sich zu schützen. Wer nicht schnell unter Kontrolle gebracht Nach amtlichen Angaben hat ein auf der Isolierstation arbeitet, hat eine wird, droht außerdem eine Hungersnot. 36jähriger Mann namens Kinfuma An- Überlebenschance von weniger als 50 Die Stadt bezieht 50 Prozent der Le- fang April die Krankheit aus Angola Prozent. bensmittel aus der Seuchenprovinz. eingeschleppt. Aber Stark berichtet, in Die Leute seien unvernünftig, erklärt Pater Stark versucht, von Kinshasa Kikwit grassiere schon seit Anfang Fe- ein Sprecher der Stadtverwaltung von aus den Nachschub an Medikamenten bruar irgendeine Seuche. Die Sterb- Kikwit. Sie könnten es nicht lassen, von nach Kikwit zu organisieren. Sein Or- lichkeit sei erheblich höher gewesen als ihren meist blutüberströmten Toten vor densbruder, Pater Franz Winkler, gibt sonst. Er selbst war mehrfach bei Be- dem Begräbnis durch inniges Umarmen abends aus Kikwit per Funk seine Be- erdigungen dabei. Er lacht: „Aber Abschied zu nehmen und den Dahinge- stellisten durch. Aber das Resultat der meine Inkubationsfrist ist um.“ schiedenen sogar zu küssen. Soviel ist Hilfsoperation, von den zwei Ordens- Kein Arzt hat sich zunächst die Mü- sicher: Wer einen Ebola-Toten küßt, brüdern in Eigeninitiative aufgezogen, he gemacht, die Ursachen des Massen- der küßt den Tod. ist bislang kümmerlich. Trotzdem, sagt sterbens zu überprüfen. Totenscheine Wenn sich die Leute wenigstens dar- Stark, „irgendeiner muß ja mal anfan- sind in Afrika nicht üblich. Wenn es an gewöhnen würden, die hochinfektiö- gen“. wirklich schon damals Ebola war, dann sen Leichen in Plastikbeuteln zu bestat- ten. Aber sie wehren sich dagegen, ihre Toten vor dem Antritt ihrer letzten Reise „einzutüten“ (envelopper), wie sie sagen. Immerhin, sie begrüßen sich wenigstens nicht mehr per Handschlag, auch wenn das nach Meinung aller Ex- perten ungefährlich ist. Die Stadtverwaltung hat erwogen, die Leichen zu verbrennen. Aber das Volk wehrt sich gegen die Feuerbestat- tung. Außerdem fehlt es an geeignetem Brennstoff. Weil es keine Zeitung und keinen lo- kalen Rundfunk gibt, hat der Steyler Missionar Franz Stark aus der Haupt- stadt einen Satz Megaphone beschafft, mit deren Hilfe die Menschen in der Stadt über die Entwicklung informiert werden. Die Botschaft ist immer die gleiche: Bleibt zu Hause, draußen war- tet der Tod. Franz Stark spielt eine Schlüsselrolle in der Tragödie. Er hat in einer Ther- Krankenhaus in der Nähe von Kikwit: Stadtteil als Seuchenstation mosflasche die Blutprobe mitgebracht, die den Medizinern an den Centers for Wenn die Epidemie erst einmal Kin- hätte das Virus inzwischen fast ein Disease Control and Prevention im shasa durchdrungen habe, werde sie Vierteljahr Zeit gehabt, um sich voll- amerikanischen Atlanta die Gewißheit auch die Grenzen überspringen, glaubt kommen ungehindert auszubreiten. gab, daß es sich um Ebola handelt. Er Stark. „Und dann kommt sie auch nach Am Donnerstag und Freitag treffen lebt seit 1969 in diesem Land, das unter Europa.“ Mit dieser Furcht steht er ganz gruppenweise Seuchenexperten aus Kennern als Synonym für Chaos und offensichtlich nicht allein. Die Flüge Antwerpen, Atlanta, Paris und Johan- Anarchie gilt, als Afrikas „Herz der nach Paris, Brüssel, Genf und Lissabon nesburg in Kinshasa ein. Sie haben Finsternis“: ein von seinem Diktator sind alle ausgebucht. Am Flughafen Schutzkleidung im Gepäck, die wie Mobutu seit Jahrzehnten ausgeplünder- Ndgill bei Kinshasa müssen sich Passa- Mondanzüge aussehen. Die Me´decins ter Staat, in dem Soldaten und Polizi- giere, die nach Europa wollen, schon ei- sans frontie`res wollen ein Zeltlager für sten oft monatelang keinen Sold be- ner medizinischen Untersuchung unter- die Helfer am Rande der Stadt errich- kommen und in dem eine geordnete ziehen, bevor sie einchecken können. ten. Aber die Hilfe läuft schleppend Verwaltung praktisch gar nicht exi- Es ist diesmal anders als 1976 beim an. Niemand drängt sich an die Ebola- stiert. Ausbruch der Seuche in Yambuku am Front. Auch dicke Schutzanzüge kön- Stark hat seine Vorstellung von Wür- Ebola-Fluß. Damals starben 290 Men- nen die Angst nicht besiegen. de und Zivilisation in all den Jahren schen. Daß die Katastrophe nicht viel Nur die schönen Mädchen von Kin- immer mehr zurücknehmen müssen. mehr Opfer forderte, hatte geographi- shasa haben keine Angst. Am Freitag Aber was hier jetzt drohe, meint er, sche Gründe: Yambuku liegt in einem abend findet im großen Saal des Ho- sprenge alle Dimensionen: „Bei ein gottverlassenen Waldgebiet, das vom tels Intercontinental am Ufer des Za- paar tausend Toten wird es nicht blei- Rest des Landes ziemlich abgeschnitten ire-Flusses planmäßig die Wahl der ben.“ ist. Es gibt dort nicht einmal eine Flug- Miß Zaire statt. Y

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AUSLAND PANORAMA

Tunesien tenen tunesischen Islamistenbewegung Ausländer würden vor allem dem Tou- El-Nahda (Erneuerung) ist oder ein rismus, einer der Hauptdevisenquellen Ausländer Ableger der Bewegung El-Dschihad des Mittelmeerlandes, einen schweren (Heiliger Krieg), die das Militärregime Schlag versetzen. im Fadenkreuz in Algier erbittert be- kämpft. Das Hauptak- Eine bislang unbekannte fundamenta- tionsgebiet der Extre- listische Gruppe fordert das Regime misten liegt in der Ge- des tunesischen Staatspräsidenten Sein gend von Sandas, nahe el-Abidin Ben Ali heraus: Die Islami- der algerischen Gren- sche Front in Tunis will alle Ausländer ze. Zu den zahlreichen aus dem Maghrebstaat vertreiben. Gewaltaktionen der „Solltet ihr das Land nicht so schnell letzten Wochen zählen wie möglich verlassen“, warnte die die Ermordung von Front in einem Schreiben alle Frem- vier Polizisten sowie den, „habt ihr die Folgen eurer Unein- die Entführung von sichtigkeit zu verantworten.“ Noch be- drei Sicherheitsbeam-

steht Unklarheit darüber, ob die Orga- ten nach Algerien. ACTION PRESS nisation eine Splittergruppe der verbo- Terroranschläge gegen Touristen in Tunesien

INTERVIEW

GUS fer heruntergespielt? Eben hat Jelzin wieder behauptet, der Krieg sei zu En- de, „das Aufbauwerk“ beginne. In „Ich weiche nur der Gewalt“ Grosny ist nichts mehr aufzubauen. Der Ort ist nur noch ein Seuchenherd Der russische General Alexander SPIEGEL: Sie fühlen sich ungerecht und gehört zugeschüttet. Danach muß Lebed, 44, über seinen Konflikt mit behandelt? dort ein Mahnmal hin: „Hier stand die Moskau. Lebed: Die 14. Armee hat die Dnjestr- Stadt Grosny, gegründet 1818 durch Region gerettet. Gratschows Vertrau- den russischen General Jermolow, ver- SPIEGEL: Sie drohen mit Demission. te, der Schwiegervater seines Sohnes nichtet 1995 vom russischen General Hat Verteidigungsminister Gratschow und sein Vorzimmer-Referent, wurden Gratschow“. seinen rebellischen General endlich jetzt Generaloberste. Generalleutnant SPIEGEL: Setzen Sie sich nun an die kleingekriegt? Rochlin, dessen Soldaten als erste im Spitze aller Unzufriedenen, um in Lebed: Ich bleibe auf meinem Posten Kessel von Grosny verheizt wurden, Rußland Ordnung zu schaffen? bei der mir unterstellten Armee und kriegt derweil vom Staat nicht mal Lebed: „Wenn du nicht eilest, werden weiche nur der Gewalt. Wir haben drei Grabsteine für seine Gefallenen. wir’s teuer büßen müssen“, heißt es Jahre lang alles getan, um Frieden zu SPIEGEL: Was werfen Sie Jelzin und bei Goethe. wahren auf dieser umstrittenen Erde Gratschow vor? SPIEGEL: Sie haben kürzlich einem Moldawiens. Die Konfliktparteien Lebed: Wie oft haben beide schon das „Kongreß der russischen Auslandsge- wußten: Hier sitzt ein gradliniger Kom- Ende der Kampfhandlungen verkün- meinden“ die Ehre gegeben. Sind die mandeur, der allen auf die Pfoten haut, det? Wie oft wurden Verluste unserer 25 Millionen Russen im angrenzenden die wieder zu den Waffen greifen. Truppen und die Zahl der zivilen Op- Ausland Ihre künftige Hausmacht? SPIEGEL: Nun wird Ihre 14. Lebed: Ein Volk unter geteiltem Him- Armee aufgelöst. Sie soll weg mel ist eine verkrüppelte Nation. Auch und Lebed auch. für die Russen gilt, was Willy Brandt Lebed: Ein Verbrechen. In 1989 den Deutschen gesagt hat – daß der Dnjestr-Region gibt es zusammenwächst, was zusammenge- keine endgültige politische hört. Wie die künstliche Trennung von Regelung, nur riesige Waffen- Menschen gleichen Blutes, gleichen lager. Legt Gratschow nicht Geistes auch begründet wird – der Sog noch den Rückwärtsgang ein, der Heimat wirkt doch auf sie . . . ist mein Rücktritt unvermeid- SPIEGEL: . . . und kann zu Konflik- lich. Mal sehen, wer von uns ten mit Rußlands Nachbarn führen. verloren hat. Lebed: Clinton bemüht sich in Tsche- SPIEGEL: Ist kein Ersatzpo- tschenien um einen vermißten Ameri- sten für Sie in Sicht? kaner. Der russische Präsident aber Lebed: Vom Minister gab es läßt Millionen ausgegrenzter Russen keine offiziellen Angebote. im Dreck sitzen. Und die inoffiziellen rochen SPIEGEL: Treten Sie zu den bevor- alle nach Verbannung: mög- stehenden Wahlen in Rußland an? lichst weit weg vom Gesche- Lebed: Erst mal durchhalten. Der Mi- hen nach Sibirien, an den Bai- nister drängt mich aus dem aktiven kalsee, wo mit verrosteten Dienst. Gelingt ihm das, ist mein Weg Gewehren die Abschreckung in die Politik frei. Ob die Russen mich

geübt wird und Zeitungen erst SIPA PRESS dort sehen wollen, werden sie sehr fünf Tage später eintreffen. Moskau-Kritiker Lebed bald selbst sagen.

160 DER SPIEGEL 20/1995 Geheimdienste CIA-Mann lieferte Todesliste Über ein Jahr nach Aufdeckung des größten Verratsfalls in der amerikani- schen Geschichte wird jetzt enthüllt, daß der CIA-Beamte und KGB-Über- läufer Aldrich Ames, 53, die Schuld am Tod eines Moskauer Agenten in Deutschland trägt. Der Sowjetspion Gennadij Worenik hatte bis November 1985 in Bonn als Korrespondent der Nachrichtenagentur Tass gelebt. Tat- sächlich hatte der Geheimdienstoffi- zier, der Ende 1981 mit Familie an den Rhein gekommen war, als Mitarbeiter des KGB-Direktorats S (Sonderopera- tion) die Aufgabe, Agenten zu rekru- tieren und konspirative Wohnungen anzumieten – Deckbezeichnung: „Linie N“. Worenik, der Mitglied des Vereins der ausländischen Presse in

KGB-Agent Worenik der Bundesrepublik war, soll sich im März 1985 der CIA anvertraut haben, weil ihn 10 000 Mark Schulden drück- ten. Bonner Sicherheitskreise spekulie- ren, daß Worenik Namen und Kontakt- personen von 170 Offizieren des KGB sowie des militärischen Aufklärungs- dienstes GRU verraten hat. Als Ames, Chef der CIA-Abteilung Sowjetunion, 1985 die Seiten wechselte, präsentierte er Moskau eine Liste mit zehn Namen – darunter soll sich auch der von Worenik befunden haben. Der Major wurde am 7. November 1985 unter einem Vor- wand nach Moskau gelockt, vor Gericht gestellt und am 25. Februar 1987 hinge- richtet. Die Familie des Exekutierten glaubt immer noch an seine Unschuld; in Moskau versucht sie eine Wiederauf- nahme des Verfahrens zu erreichen. Neben Worenik sind auch andere von Ames verratene KGB-Offiziere hinge- richtet worden.

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AUSLAND

Frankreich Bulldozer im Elyse´e-Palast Jacques Chirac, nach zwei vergeblichen Anläufen endlich Präsident, rüstet zu einem furiosen Start. Er muß die Erwartungen der Arbeitslosen und die Hoffnungen der Jugend erfüllen. Der Tatmensch, durch Prüfungen und Blessuren angeblich geläutert, will nach dem linken Monarchen Mitterrand vor allem Bürgernähe demonstrieren.

ls Bürgerpräsident eines „Frank- terrand von der Schulter glitt, gab (Ehefrau Bernadette) endlich das Ziel reich für alle“, so der Titel seines Chirac den ersehnten Anlaß zu einer erreicht hatte. Und die Nation erblickte AWahlmanifests, wollte Jacques bürgernahen Geste in all dem Prunkze- einen neuen Chirac, dessen Gesicht vor Chirac, 62, mit dem höfischen Geprän- remoniell. Der neue Staatschef erhob Glück förmlich strahlte. ge des sozialistischen Sonnenkönigs sich von seinem Stuhl, beugte sich aufs Der Verfassung nach könnte Mitter- Franc¸ois vom ersten Tag an brechen. Straßenpflaster und reichte der bisheri- rand bis zum 20. Mai im Amt bleiben. Denn Mitterrands „Abdriften ins Mon- gen Premie`re Dame ihr Tuch. Im Fern- Aber nachdem der in der Vorwahl aus archische“, das sich über 14 Jahre be- sehen machte sich das prima. dem Rennen geflogene Chirac-Rivale schleunigte, scheint dem Gaullisten eine In Großaufnahme sahen die Franzo- Edouard Balladur völlig frustriert be- fatale Verzerrung der wichtigsten Insti- sen ihr neues Oberhaupt, das nach zwei reits vorigen Mittwoch sein Amt nieder- tution der Fünften Republik – des gescheiterten Anläufen auf das Elyse´e, legte, möchte auch Mitterrand schon Staatspräsidenten. nach einem einsamen Kreuzzug auf der diesen Mittwoch dem ewig eiligen Doch die Geschichte, die der Re´pu- Suche nach Frankreichs Seele und nach Chirac die höchste Staatswürde über- blique so viel bedeutet, arbeitete noch „schrecklichen persönlichen Prüfungen“ antworten. einmal für Mitterrand. Als Premierminister Am Tag nach Chiracs will der Elyse´e-Erbe Wahl zum neuen Staats- seinen engsten Vertrau- präsidenten feierte ten einsetzen, den bis- Frankreich die Kapitu- herigen Außenminister lation von Nazi- Alain Juppe´, 49. Der Deutschland. untadelige Gentleman Und so sah sich der mit exzellenter Ausbil- künftige Präsident am dung, der gleich zwei vergangenen Montag der elitären Grandes Seite an Seite mit dem Ecoles absolviert hat, alten absolutistischen erwarb sich nicht nur als Herrscher am Pariser Pariser Chefdiplomat Arc de Triomphe – Mit- zwischen Brüssel, Ex- telpunkt einer Orgie Jugoslawien und Burun- von Festivitäten, die di Respekt; als früherer sich Mitterrand zum Budgetminister kennt er Abschied inszeniert hat- sich auch mit den Staats- te. schulden aus. Juppe´, Marschmusik, das der seine Karriere aufs Pferdegetrappel der Spiel setzte, als er sich schimmernden Garde im vergangenen Sep- re´publicaine und die tember gegen Balladur Klänge der Marseillaise auf die Seite des damals mischten sich mit dem chancenlos scheinen- Gedröhn von Mirage- den Elyse´e-Kandidaten Jets, die im Tiefflug die Chirac schlug, soll auch Streifen der Trikolore in die Führung der Gaulli- den Himmel zogen. stenpartei RPR über- Nicht weniger als 66 nehmen: Präsident Staats- und Regierungs- Chirac zieht sich bereits chefs – vom Monaco- einen Kronprinzen her- Fürsten Rainier bis zu an. Bundeskanzler Helmut Dann geht es gleich Kohl, von afrikanischen rund, so recht nach dem Potentaten bis hin zu Gusto des Dynamikers Spaniens König Juan Chirac: „Wir sitzen auf Carlos – huldigten dem einer sozialen Bombe.“ alten und dem neuen Schon für die letzte Mai- Präsidenten. woche hat der öffentli-

Ein gelber Seiden- L. CHAMUSSY / SIPA PRESS che Dienst von der Post schal, der Danielle Mit- Mitterrand-Nachfolger Chirac: „Unbezahlbare Lehrjahre“ über Elektrizitätswerke

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zialist trickste ihn stän- dig aus. Rückblickend sieht ein Chirac-Freund die doppelte Premiers- fron positiv: „Unbezahl- bare Lehrjahre.“ Extreme Widersprü- che in der Europa-Poli- tik – 1978 verunglimpfte Chirac europafreudige Landsleute als „Partei des Auslands“, später stemmte er sich gegen den Beitritt Spaniens und Portugals zur Ge- meinschaft – haben dem Gaullisten den Ruf ei- ner Wetterfahne einge- tragen. Dennoch: Wenn Europa rief, war Fre`re

L. CHAMUSSY / SIPA PRESS Jacques da. 1986 befür- Siegesfeier auf der Place de la Concorde: „Woodstock an der Seine“ wortete er als Premier die Einheitliche Akte, bis zum Gesundheitswesen Lohnstreiks ein auvergnatischer Bauer, schon mehr- die den Binnenmarkt besiegelte; 1992 angekündigt. mals abblitzen lassen, ihm allerdings schlug er sich für den Maastricht-Ver- Rentner, Empfänger von Mindestlöh- auch Schnitzer vergeben, die anderen trag – gegen den Widerstand der gaulli- nen und Arbeiter erwarten die schnelle die Karriere zerbrochen hätten. stischen Mehrheit. Erfüllung leichtfertiger Wahlverspre- 1972 kam heraus, daß der damalige In Sachen Atomstreitmacht ist chen. Dabei klafft im Haushalt 1995 ein Minister Chirac sich ein Schloß, Chaˆ- Chirac Patriot total. Weil „ein großes Loch von 275 Milliarden Francs, das teau de Bity in seiner Heimat Corre`ze, Land wie Frankreich“ sich nicht selbst Juppe´ mit einer Erhöhung der Mehrwert- für einen Spottpreis gekauft hatte und aus dem exklusiven Nuklearklub aus- steuer stopfen will. Das verheißt Ärger. das historische Monument dann mit schließen könne, will er die von Mitter- Der Premier will in aller Eile ein Pro- Staatszuschüssen renovieren ließ. Seit- rand gestoppten Atomtests auf Muru- gramm zur Bekämpfung der Arbeitslo- dem trägt der Schloßherr wie ein edler roa im Südpazifik wieder aufnehmen – sigkeit – Hauptproblem der Franzosen – Wein den Spitznamen „Chaˆteau- bis sie im Labor simuliert werden kön- vorlegen. Chirac“. nen. Einen matten Start kann der Tat- 1988 raunte Premier Chirac in Brüssel Mit Bundeskanzler Helmut Kohl mensch Chirac sich nicht leisten: Am 11. bei zähen Europa-Verhandlungen mit (Lieblingsgericht: Saumagen) sieht sich und 18. Juni finden Kommunalwahlen der Kollegin Margaret Thatcher einem Chirac (Leibspeise: Kalbskopf) für die statt, bei denen auch das von Chirac 1977 Berater zu: „Was will diese Hausfrau ei- Zukunft auf gleicher Wellenlänge. In eroberte und nun aufgegebene Pariser gentlich – meine Eier auf einem Teller?“ einem Grundsatzpapier zur französisch- Rathaus neu besetzt wird. Die Eiserne Lady ließ sich die Frechheit deutschen Politik gelobte der Elyse´e- Aber Chirac ist zuversichtlich. Die übersetzen und schnaubte vor Wut. Kandidat letzten Dezember, er werde 52,6 Prozent, mit denen der Gaullist den 1991 forderten Bürgerrechtler den Kopf als Staatschef mit Kanzler Kohl die Sozialisten Jospin (47,4) schließlich nie- des Pariser Bürgermeisters, weil er den Achse Paris–Bonn stärken, „ohne die derkämpfte, waren ein besseres Resul- „Gestank“ von afrikanischen Immigran- in Europa nichts läuft“. tat, als es 1974 Vale´ry Giscard d’Estaing ten mit „drei oder vier Ehefrauen, 20 Frankreich liebe seine Präsidenten- (50,8 Prozent) und 1981 Mitterrand Kindern und 50 000 Francs Sozialhilfe“ anwärter erst, wenn sie „gelitten haben (51,8) erzielt hatten. aufs Korn genommen hatte. und Narben vorweisen“ können, Was Frankreich am meisten über- Mit „Jacques, l’anti-fataliste“ (Le Fi- schrieb Chirac-Biograph Franz-Olivier raschte, war der spontane Jubel, den die garo) hat die Republik einen Boß, der Giesbert. Danach verdienen Chirac Wahl des bis dahin notorisch unpopulä- Lehrzeit im Elyse´e kaum braucht. Der und Ehefrau Bernadette – eine gebore- ren Fernsehsteiflings auf der Straße aus- mehrfache Minister und „bulldozer“ des ne Adelige, Chodron de Courcel – die löste. Wie im Mai 1981, als die Linken 1974 verstorbenen Staatspräsidenten innige Zuneigung der Nation. Bei ei- nach dem Mitterrand-Sieg auf der Place Georges Pompidou hat in 36 Jahren Po- nem Autounfall 1978 brach Chirac sich de la Bastille tanzten, strömten Zehntau- litik – da ist er Mitterrand ähnlich – alle die Wirbelsäule; um ein Haar hätte er sende auf die Place de la Concorde (Paris Höhen und Tiefen durchlebt. Wie bei den Rest seines Lebens im Rollstuhl Match: „Woodstock an der Seine“) und Ex-Freund Balladur ist Chirac, den verbringen müssen. Die ältere Tochter vor das Chirac-Hauptquartier inder Ave- Kenner als von Natur aus gutmütig und Laurence, 36, ist seit Jahren schwer nue d’Ie´na. Dabei ließen Porträtfotogra- vertrauensselig charakterisieren, oft auf krank; der Ehemann von Tochter Clau- fen Chirac früher „oustiti sex“ sagen, da- falsche Freunde hereingefallen. de, 32, Chiracs allgegenwärtiger Image- mit seine Lippen ein Lächeln vortäusch- Als Regierungschef des Präsidenten beraterin, nahm sich 1993 das Leben. ten. Giscard d’Estaing (1974 bis 1976) und Chirac, so hatte Mitterrand einst Mit dem Chirac-Triumph hat sich als Kohabitationspremier des Linken über seinen Premier geurteilt, sei Frankreich zur Zwingburg der Konserva- Mitterrand (1986 bis 1988) lernte der „nicht fähig, Präsident zu werden“. tiven entwickelt: rechter Präsident, rech- Gaullist, Demütigungen wegzustecken. Der ungeliebte Nachfolger widerlegte te Regierung, absolute rechte Mehrhei- Der arrogante Rechte behinderte ihn den sterbenden König mit seiner seit ten in Nationalversammlung und Senat. derart beim Regieren (Chirac: „Ein Jahren beherzigten Devise: „Nur Doch die launischen Gallier haben den Chef muß cheffen“), daß er ihm das ho- Schlachten, die man nicht schlägt, sind ungestümen Chirac, der fluchen kann wie he Amt vor die Füße warf. Und der So- von vornherein verloren.“ Y

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AUSLAND „Die Dämme hielten“ Interview mit dem französischen Politologen Olivier Duhamel über Chirac und die versprochene Wende

SPIEGEL: Ist Jacques Chirac für Frank- konservativen Lager zu erringen, mußte SPIEGEL: Er hat sich früher selbst gern reich der richtige Mann zur richtigen Chirac eine typisch gaullistische Strate- als solchen gesehen. Zeit? gie einschlagen. Er rückte nach links, Duhamel: Ja, er war sektiererischer. In- Duhamel: Er entspricht den Erwartun- bekannte sich zum Reformzwang und zwischen hat er es geschafft, ein offene- gen der Franzosen und vielleicht auch zur Notwendigkeit eines Bruchs mit den res, ruhigeres, demokratischeres Bild den Bedürfnissen Frankreichs. Denn er sozialen Gegensätzen. von sich selbst zu entwerfen. Er ist zwar verkörpert politische Willenskraft; er SPIEGEL: Was bedeutet Gaullismus als Mann der Rechten gewählt worden, steht für die Idee, daß Politik mehr ist denn heute überhaupt noch? Ist er nicht aber auf seinem Weg zur Macht mußte als Verwalten, daß die Dinge geändert eher Mythologie als politisches Pro- er eine Abzweigung nach links nehmen. werden können und müssen. Chirac hat gramm? SPIEGEL: Für viele Partnerländer war es eine schöne Definition von Politik gege- Duhamel: Zunächst ist er eine Verbeu- ein Schock, daß Le Pen im ersten Wahl- ben: als der Kunst, das Notwendige gung vor General de Gaulle, der heute gang 15 Prozent der Stimmen erreichte. möglich zu machen. einhellig respektiert wird. In Frankreich Bleibt die extreme Rechte eine gefährli- SPIEGEL: Schlägt diese Wahl ein neues läßt sich kaum mehr jemand finden, der che Kraft? Kapitel auf, oder handelt es sich um ei- sich als antigaullistisch begreift. Inso- Duhamel: Der Schock war verständlich. nen normalen Pendelschwung, um die fern ist tatsächlich eine Art Mythos ent- Frankreich ist eine europäische Ausnah- Rückkehr der Rechten nach einem so- standen. Aber darüber hinaus war der me. Selbst die italienischen Neofaschi- zialistischen Interregnum? Gaullismus immer bemüht, die sozialen sten sind weitaus zivilisierter geworden Duhamel: Der Sozialismus war kein Gegensätze zu überwinden – durch die als die französischen Rechtsextremisten. Zwischenspiel. Frankreich ist seit gut Eingriffe eines starken Staats. Genau Unvorstellbar, daß Gianfranco Fini sich 20 Jahren in die Ära regelmäßiger das hat Chirac versprochen. am Wahlabend hinstellt und das Juden- demokratischer Macht- tum beschuldigt, wie es Le Pen am 7. wechsel eingetreten, wie Mai getan hat. Unsere radikale Rechte Großbritannien, Deutsch- ist gefährlich und verabscheuungswür- land und die USA. Jedes dig. Nur hat der zweite Wahlgang die Land hat seinen Rhythmus. Lage etwas gebessert. Le Pen wollte sich Eines Tages werden die So- als Schiedsrichter zwischen Chirac und zialisten Frankreich wieder Jospin aufspielen . . . regieren, so wie auch die SPIEGEL: . . . er wäre gern der Königs- SPD die Bundesrepublik macher gewesen. wieder regieren wird. Duhamel: Rein rechnerisch war er das SPIEGEL: Das kann noch auch. Denn sowohl Chirac wie Jospin lange dauern. brauchten Le-Pen-Wähler, um zu ge- Duhamel: Sicher. Auch die winnen. Aber beide haben der Erpres- Rechte war ja 14 Jahre aus sung widerstanden, sie haben Le Pen dem Elyse´e verbannt, und völlig ignoriert. Die Dämme hielten. mit Chirac kehrt nun die Chirac muß jetzt zusehen, Le Pen von gaullistische Bewegung zu- seinem 15-Prozent-Sockel herunterzu- rück, die seit 21 Jahren kei- holen und ihn zur Randfigur zu machen.

nen Präsidenten mehr ge- H. BAMBERGER Dazu bedarf es einer Politik, die dafür stellt hat. Politologe Duhamel sorgt, daß Le Pen sich nicht mehr an der SPIEGEL: Im ersten Wahl- „Linke Abzweigung auf dem Weg zur Macht“ Arbeitslosigkeit, den schwierigen Le- gang hat nur einer von fünf bensbedingungen in den Vorstädten und Wählern für Chirac gestimmt. Er be- SPIEGEL: Es gab mal eine Zeit, da wur- der Ausländerfrage päppeln kann. hauptet aber, Präsident aller Franzosen de er von seinen Gegnern als „Facho- SPIEGEL: Gibt es eine berechtigte Wut zu sein. Chirac“ geschmäht. Während des Wahl- in Frankreich, die Le Pen groß gemacht Duhamel: Chirac hat im ersten Wahl- kampfes ergriff er jetzt Partei für Haus- hat? gang das schlechteste Ergebnis in der besetzer. Taktik oder echte Verände- Duhamel: Die Wut auf Ausländer ist in gesamten Geschichte der Fünften Repu- rung? keiner Weise gerechtfertigt. Wenn 58 blik erzielt. Er hat also ein dünnes per- Duhamel: Seit vielen Jahren schon ver- Prozent der Franzosen der Meinung sönliches Fundament. Diese Schwäche weigert Chirac in sehr entschiedener sind, daß in Frankreich mehr für die verpflichtet ihn geradezu, sich weiter zu Weise jedes Anbändeln mit der extre- Ausländer als für sie selbst getan werde, öffnen, um alle Franzosen vertreten zu men Rechten von Jean-Marie Le Pen. dann ist das abwegig und absurd. Aber können. Allein weil er diese klare Grenze zieht, natürlich gibt es einen legitimen Zorn, SPIEGEL: War es also doch eher ein Er- verdient er es nicht, in die Nähe von Fa- wenn dreieinhalb Millionen Menschen folg der Rechten als ein persönlicher schisten gerückt zu werden. Und er hat ohne Arbeit sind, wenn die eigenen Kin- Sieg des Gaullisten Chirac? noch einen anderen Gesinnungstest be- der keinen Job finden, wenn das Leben Duhamel: Beides. Hätte sich allein die standen: Chirac verteidigte die Abschaf- morgen schlechter sein wird als heute. Rechte durchgesetzt, wäre Edouard fung der Todesstrafe – gegen sein eige- Und natürlich gibt es eine völlig berech- Balladur zum Präsidenten gewählt wor- nes Lager, gegen seine Wähler, gegen tigte Empörung, wenn die Wähler se- den. Um seinen Rivalen Balladur zu seine Freunde. Wie könnte er da ein hen, wie Politiker und politische Partei- schwächen und die Vorherrschaft im knallharter Rechter sein? en sich in der Korruption suhlen. Y

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Frankreich In Stein gemeißelt Der Publizist Thierry Pfister über den scheidenden Präsidenten Mitterrand

Pfister, 49, ist Autor zahlreicher Bü- Dadurch verlieh Mitterrand, ehemals cher über die Ära Mitterrand und die Hauptfeind der von General de Gaulle Regierungszeit der Linken. ausgearbeiteten Verfassung, den Insti- tutionen der Fünften Republik erst ihre enn Franc¸ois Mitterrand den Legitimität. Er bewies, daß diese sich Elyse´e-Palast verläßt, wird er in nicht nur wechselnden Mehrheiten an- Wdas Buch der Rekorde eingehen. passen konnten, sondern auch die Er ist der erste Präsident in der Ge- „Kohabitation“ zwischen einem soziali- schichte der Französischen Republik, stischen Präsidenten und einer konser- der ein zweites Siebenjahresmandat vativen Regierungsmehrheit zuließen. vollendet hat: eine Leistung, die selbst dem General de Gaulle nicht gelungen ist. Der Bann ist gebrochen. Seit über 20 Jahren sieht ein von der Nationalversammlung und vom Senat bereits verab- schiedetes Gesetz vor, die Amtszeit des Staatschefs auf fünf Jahre zu verkürzen. Aber es wurde von der Verfassungs- ändernden Versammlung nie bestätigt. Die Initiative dafür liegt beim Staatschef, und die jeweiligen Hausherren im Ely- se´e scheinen keine Eile zu ha- ben, die Dauer ihrer Vorrech- te zu beschränken. Allein schon durch sein Be- harrungsvermögen hat Mitter- rand sich also einen Platz in der französischen Geschichte gesichert. Er hat aber noch mehr getan, um in sie einzuge- hen. Das wichtigste Verdienst erwarb er sich womöglich, noch bevor er in das oberste Staatsamt gewählt wurde: in- dem er die Kommunistische Partei in die Bedeutungslosig- keit einer Randexistenz ab- drängte.

Seit Anfang der dreißiger P. ASLAN / SIPA PRESS Jahre hatte die KPF die fran- Mitterrand-Bummel durch Paris* zösische Linke beherrscht; erst Unsterblich im Gedächtnis der Franzosen die Bündnispolitik Mitterrands machte es den Sozialisten in den siebzi- Mitterrand hat nicht nur eine Verfas- ger Jahren möglich, nicht nur ihren sung verankert, die er zuvor heftig at- Rückstand aufzuholen, sondern einen tackierte, sondern die französischen In- großen Teil der kommunistischen Stim- stitutionen in zwei entscheidenden men zurückzuerobern. Seitdem liegt de- Punkten weiterentwickelt: ren Anteil unter zehn Prozent. i einem begrenzten, aber bedeutsamen Durch diese Umkehrung der Kräfte Abbau des alten Pariser Zentralismus innerhalb der Linken stieß Mitterrand durch eine Politik, die den Gemein- die Türen zur Macht auf. Sie war die den, Departements und Regionen Voraussetzung für die Wiederbelebung mehr Autonomie verleiht; der französischen Demokratie, für den ersten Machtwechsel von der Rechten * Mit seinem Arzt (r.) einen Tag vor den Präsi- zur Linken. dentschaftswahlen am 7. Mai.

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i einer Modernisierung der Justiz, de- ren spektakulärste Maßnahme die Abschaffung der Todesstrafe und der Ausnahmegerichte war. Diese Aussöhnung zwischen den Franzosen und dem Zeitgeist fand auch in der Wirtschaft statt. Der Rhetorik des Klassenkampfes, Erbe eines mehr oder weniger gut verarbeiteten Marxismus, folgte die Anerkennung unternehmeri- scher Werte. Im Namen dieses neuen Realismus, aber auch aufgrund der Fas- zination, die Frankreichs Elite für Deutschland empfand, brach das Land mit seiner traditionell laxen Einstellung gegenüber der Inflation. Die Unternehmen hörten auf, mehr Geld für die Verteilung von Dividenden auszugeben als für Investitionen, und die regierende Linke beschloß die Ab- koppelung der Gehälter vom Preisindex Von der moralischen Krise hat sich die Linke nie erholt

– eine Veränderung, welche die Rechte aus Angst vor Streiks nie durchzuset- zen gewagt hätte. Mitterrand hat sich nur widerwillig für diese Richtung entschieden; der Einfluß von Jacques Delors wird ent- scheidend gewesen sein. Aber es blei- ben die positiven Ergebnisse, die dem scheidenden Präsidenten zuzuschreiben sind. Sein Einsatz für Europa diente als Wall gegen die Irrungen eines französi- schen Sonderwegs zum Sozialismus. Es ist jedoch nicht sicher, ob diese Errungenschaften auch diejenigen sind, an denen Mitterrand am meisten hängt. In dem Buch „Me´moire a` deux voix“, das er vor kurzem zusammen mit dem Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel veröffentlicht hat, scheint seine Skepsis gegenüber der eigenen Bilanz und dem Urteil seiner Zeitgenossen durch. Besessen von der Idee, als unsterb- lich ins Gedächtnis der Franzosen ein- zugehen, hat er sich bewußt der langen Reihe monarchistischer Bauherren an- geschlossen, die zu begeisterten Archi- tekten ihrer Hauptstadt wurden. Selten in der Vergangenheit wurde Paris so sehr von Prestigebauten verwandelt wie unter Mitterrand: die des Louvre, die Arche de la De´fense, das Finanzministerium in Bercy, die Biblio- the`que nationale de France, die Oper an der Bastille. Nach dem Vorbild der Pharaonen oder des Sonnenkönigs Ludwig XIV. suchte Mitterrand seine Unsterblichkeit in Stein zu meißeln. Jede Medaille hat ihre Kehrseite: Seine traditionelle Vorstellung von Macht, deren Effekt durch die französi- sche Wahlmonarchie vergrößert wurde, verführte Mitterrand zu einer Staatspo-

168 DER SPIEGEL 20/1995 litik, die republikanische Regeln ver- höhnte. Zur Abgehobenheit des Staatschefs kamen schwerwiegende Vergehen der Exekutive. Eine prätorianische Privat- garde, die ausschließlich im Dienst des Staatschefs stand, konnte Nachfor- schungen vertuschen, den Verlauf ge- richtlicher Ermittlungen behindern und Telefongespräche Tausender von Politi- kern, Gewerkschaftern, Rechtsanwäl- ten, Journalisten abhören. Niemals zuvor haben Frankreichs Skandale ein solches Maß erreicht. Pa- radoxerweise war es die Linke, die frü- her von der Oppositionsbank aus diese Verstöße der Regierenden angeprangert hatte, unter der die Kungeleien einen Höhepunkt erreichten. Die verblüfften Franzosen bekamen außerdem am Ende der Amtszeit die Geliebte und das uneheliche Kind des Monarchen vorgeführt, beide bis dahin vor der Öffentlichkeit diskret verbor- gen. Bestürzt verfolgten sie, wie ein Fi- nanzskandal nach dem anderen aufge- deckt wurde und ans Licht kam, daß Amtsträger sich bereicherten und öf- fentliche Aufträge gegen Schmiergelder vergaben. Sie sahen hinter dem Minister den Geschäftsmann, während ehemali- ge Regierungsmitglieder vor Gericht lo- gen, um sich Alibis zu verschaffen. In der Anerkennung der Marktwirt- schaft durch die Linke lag auch eine Vergötzung des Geldes. Im Nachhall auf diese Jahre der Bereicherung fielen zwei Schüsse, die zwei Selbstmorde von höchster symbolischer Bedeutung im Freundeskreis des Staatschefs anzeig- ten: Den ehemaligen Premierminister Pierre Be´re´govoy fand man tot an einem Kanalufer; Mitterrands Freund und Ratgeber Franc¸ois de Grossouvre er- schoß sich in seinem Arbeitszimmer. Die Kehrseite der Medaille war den bei- den unerträglich geworden. Vetternwirtschaft, Korruption, Mani- pulation der Justiz und Tarnung der Schuldigen: diese Mißbräuche haben stark zur vernichtenden Niederlage der Sozialistischen Partei bei den Wahlen 1993 beigetragen. Dem Zusammen- bruch ging ein dramatischer Rückgang der großen Linksorganisationen, na- mentlich der Gewerkschaften voraus – als hätten sie die Widersprüche zwi- schen ihren rhetorischen Werten und der politischen Realität nicht mehr aus- gehalten. Von dieser moralischen Krise hat sich die Linke nicht erholt. Franc¸ois Mitterrand hat die Soziali- sten an die Macht geführt, aber beim Verlassen des Elyse´e hinterläßt er ge- waltige Trümmer. Vielleicht ist das ja der Grund, weshalb die französische Rechte den scheidenden Präsidenten so rücksichtsvoll behandelt – wie einen Großen, der vor allzu groben, kleinli- chen Attacken geschützt werden soll. Y . METTKE / DER SPIEGEL FOTOS: J. Siegesfeier im Wald von Juchnow: „Der einfache deutsche Soldat ist ja nicht freiwillig in unser Land eingefallen“

Rußland Verlorene Hoffnung SPIEGEL-Redakteur Jörg R. Mettke über die Ehrung eines Sowjetveteranen in der russischen Provinz

or einem Jahr, als der Schnee hoch Sterben zu zeugen, am 50. Siegestag – bei nicht fehlen lassen: Als 17jähriger lag in Koslowka und das Thermome- und ein wenig wohl auch aus Neugier, drehte er Granaten für die Front, erst in Vter 25 Grad minus zeigte, entschied was der neue Staat sich einfallen lassen Podolsk nahe Moskau, dann in Swerd- der liebe Gott der Russen, Alexej Gore- würde zum runden Jubiläum seiner Ve- lowsk im Ural, das heute Jekaterinburg low möge auch den 50. Siegestag noch er- teranen. heißt. leben. Gedient hat er dem alten Reich unter Von August 1942 bis zum legendären, Zwischen Stube und Stall war der alte der roten Fahne und an Hingabe es da- seither zum höchsten russischen Feier- Mann mit krankem Herzen zusammen- tag erstarrten Kriegsende im Mai 1945 gebrochen. Das Feuer im Herd erlosch, rückte er als MG-Schütze an den Feind, die Kuh brüllte vor Hunger, Hilfe war manchmal zu nahe. Dreimal wurde er nicht zu erwarten: Seine fast blinde Frau verwundet. Zwei deutsche Granatsplit- lag damals im Krankenhaus der Kreis- ter stecken noch immer in seinem linken stadt Juchnow. Und weil die jungen Leu- Arm. Aber er hat auch 18 Feinde für te lieber in der Stadt arbeiten, gibt es vor ewig unter die russische Erde gebracht. allem im Winter nur noch wenige Nach- Den Orden des Roten Sterns dafür be- barn in Koslowka, ältere Rentner zu- kam er erst 1950, sechs Jahre später. meist und vom eigenen Überleben ganz Da war Unterleutnant Gorelow be- in Anspruch genommen. reits demobilisiert, zurück in der Hei- Vor allem an den Krieg habe er ge- mat und Träger einer neuen Uniform, dacht in diesen langen Stunden zwischen jener der sowjetischen Polizei. Die Ka- Leben und Tod, gesteht Gorelow, 71, derabteilung der Partei, die ihn in den den sie im Dorf respektvoll beim Vater- Reihen der 502. Schützendivision als namen Jakowlewitsch nennen. Noch ein- würdigen Kandidaten ausgemacht hatte, mal alle Kraft zusammenraffen, mit einer wollte ihn eigentlich in die Landwirt- letzten Anstrengung den weißgetünchten schaft schicken. Herd inder Mitte der hölzernen Kate hei- Aber bei der Polizei gab es 1949 im- zen, ein Töpfchen Kascha kochen, 100 merhin schon 425 Rubel im Monat – und Gramm Selbstgebrannten einnehmen – als „Abschnittsbevollmächtigter“ für im kleinen vaterländischen Frieden der Koslowka und Umgebung waren auch russischen Provinz trennt vom Tod nur Naturalien zu erwarten: „Von dem ein Weniges und sehr Einfaches. paar Eier, vom anderen ein Huhn, vom Jakowlewitsch ist am Leben geblieben. Kriegsveteran Gorelow dritten ein Stück Wurst“ – Jakowle- Aus Trotz, um einmal noch vom großen Eine Springdeckeluhr zum Jubiläum witsch ist in seinen bescheidenen An-

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sprüchen als Respektsperson der So- wjetmacht nicht betrogen worden, bis Barents- er 1972 früh in Pension ging. see Sowjetmensch ist er bis heute geblie- ben, wie die meisten seiner Landsleute in den unwegsamen Dörfern im Norden des Gebiets Kaluga, wo in den Einöden noch manchmal, in trockenen Som- Moskau mern, die Türme deutscher Panzer aus Podolsk Jekaterinburg den Sümpfen auftauchen. (früher Swerdlowsk) Was im 200 Kilometer entfernten Koslowka Moskau an neuen Ordnungen entwor- russland fen und im gnadenlosen Machtkampf der Bürokratencliquen sogleich wieder verschlissen wird – an der stoischen Selbstgenügsamkeit der vom Zentrum stets betrogenen, stets ausgeplünderten Provinz prallt es ebenso wirkungslos ab legt haben, werden glänzende Taschen- wie die westseligen Serienschnulzen des uhren übergeben. Das Staatsgeschenk Staatsfernsehens, die in die Dörfer baumelt nun an Jakowlewitschs Katen- dringen: bunte Zerrbilder einer ande- fenster. ren, einer fremden und ungeliebten Der Springdeckel zeigt das Konterfei Welt. des Marschalls Schukow. Drüben, Die eigene Welt, angeschlagen und gleich auf der anderen Seite des Flüß- ausgezehrt zwar, ist die alte geblieben. chens Sochna, hatte Stalins Schlachten- Im Kulturhaus des benachbarten lenker für wenige Tage Anfang 1942 in Sowchos Beljajewo teilt Oberst Tonko- der ehemaligen Dorfschule seinen Be- nog, der Militärkommissar des Kreises, fehlsstand. die zum 50. Jubiläum geprägte Medaille Die dichten Wälder hinüber nach samt Jelzin-Urkunde an alle 130 Vete- Juchnow bewahren hartnäckig die Spu- ranen aus, auch an die Kameraden von ren der Kämpfe, in denen zwei Moskau- der Heimatfront. er Armeen die 4. Armee des deutschen Dazu gibt es diskret im Umschlag ein Generals Gotthard Heinrici endgültig ärmliches Ehrengeld von 41 000 Rubel; aus der strategisch bedeutsamen Kreis- 103 000 weitere sollen noch aus dem stadt hinauswarfen: verfallene Unter- Sozialfonds fließen: Zusammen reicht stände, Laufgräben, Schützenlöcher, die Spende für einen Laib Brot an je- zerschossene Stahlhelme, dazwischen dem zweiten Tag oder eine Halbliter- Schädel, Munitionskisten, verrostete Flasche Wodka alle drei Wochen auf Gewehrläufe. die Dauer eines Jahres. Dutzende Dörfer rund um Koslowka An 15 Ordenskavaliere, die ihre me- verschwanden in diesem Krieg von der daillenklirrenden Sonntagsjacken ange- Landkarte: Ihnen galt keine der am

Kameradentreffen in Sowchos Beljajewo: „Wir sind ein großes Land“

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9. Mai vom ostpreußischen Kaliningrad bis zum fernöstlichen Wladiwostok ab- gefeuerten Salutsalven, von ihren Über- lebenden saß natürlich niemand im Kreml-Bankettsaal, wo sich Jelzin vor den Großen dieser Welt aus dem Sieg von gestern die Staatsräson für heute zu schneidern suchte. Dabei hätten alte Frauen wie Pras- kowja Martynowa aus Kuwschinowo auch nur empfindlich gestört, weil ihr Resümee ebenso kurz wie bitter aus- fällt: Was das Kriegsende kennzeichne- te, das war „Hoffnung, und heute ist auch die verloren“. Alten Kriegern wie Gorelow fällt Vergessen und Verzeihen leichter als je- nen Nachbarn, die als Zivilisten schutz- und hilflos der Besatzerwillkür ausgelie- fert waren. Nie spricht er von Faschisten, wie Sta- lins Propaganda ihn gelehrt hat, immer von den „Deutschen“, vom „Gegner“, vom „einfachen Soldaten, der ja nicht freiwillig in unser Land eingefallen ist“. „Von mir aus hätten die Deutschen ihr Haus mitnehmen können“

Veteran Gorelow ähnelt durchaus je- nem Rotarmisten Wassilij Tjorkin, den der Autor Alexander Twardowski mit seinem gleichnamigen Versepos nach dem Krieg im Sowjetland populärer machte als alle Marschälle: verschmitzt, praktisch, tapfer, kein Held, aber einer, der von Heldentaten anderer endlos be- richten kann. Nur Stalin kommt dabei nicht vor. Wo Moskau pathetisch und von oben herab feiert, bleibt die Erinnerung der Provinz bei aller Gefühligkeit gelassen und genau. Gerade drei Zeilen stehen jedem Opfer auf der langen Liste zu, welche die Juchnower Kreiszeitung seit Wochen veröffentlicht – gefallen, er- schlagen, verbrannt, zu Tode gequält, erschossen. Allein 60 Männer, die entweder zu alt oder zu jung waren für den Krieg, verlo- ren ihr Leben bei einer deutschen „Strafaktion“ gegen vermeintliche Parti- sanen im Dörfchen Pupowka, das mit seinen Bewohnern für immer vom Erd- boden verschwand. Vierzehn Jahre alt war Klawdija Maslowa, als sie von den Eroberern aus dem vier Kilometer von Koslowka ent- fernten Rubichino nach Belorußland de- portiert wurde. Dort hatte die SS gerade ein Haus für neue Zwangsarbeiter frei- gemacht; die vormaligen jüdischen Be- wohner wurden vor Klawdijas Augen le- bendig begraben. Wer noch nicht entkräftet war bei 50 Gramm Brot und einer Kelle Kohlsuppe am Tag, wurde zur Sklavenarbeit nach Deutschland weitertransportiert. Wer genügend Mut aufbrachte, floh zu den Partisanen ins Moor und lebte bei ihnen fortan von Sauerampfersuppe, gekocht in deutschen Stahlhelmen. Als Alexej Gorelow in seine Waldhei- mat zurückkehrte, hauste seine Mutter in einer Erdhöhle. Er heiratete, baute sein Haus, zog zwei Söhne groß und leg- te an allen Siegestagen seine Auszeich- nungen an: Es war doch, sagt er müde, „immer der Tag, an dem alle spürten: Wir sind ein großes Land“. Die Bürde dieser zerbrochenen Grö- ße hat er so richtig erst in den letzten Jahren erfahren: Versorgung und sozia- le Dienste der Region verfallen wie Gordelows kleines Holzhaus. Die Rente hat die Inflation zwar zu einer Viertel- million anschwellen lassen, aber sie reicht zu weit weniger als in der guten alten Breschnew-Zeit. Ein Jahr brauchte die Verwaltung, um den zusammengestürzten Dorfbrun- nen zu reparieren. Für Brot läuft Ja- kowlewitsch zweimal die Woche vier Ki- lometer in den Nachbarort, doch mitun- ter reicht selbst diese Hauptnahrung des russischen Landmanns nicht für alle. Schon fehlt dem Kreis das Geld, seine Bürger wenigstens ausreichend mit Brennholz zu versorgen. Solange die Nachbarn helfen, solange die Kraft reicht zum Eigenanbau von Kartoffeln und Gemüse und Futter für eine Kuh, wenn die Hechte noch stehen in der Sochna, die er früher mit der Hand gefangen hat, möchte der Alte mit niemandem tauschen in den großen Städten Rußlands, aus denen nach seiner Überzeugung „alles Unheil kommt“. Am runden Siegestag lädt die Verwal- tung wie immer zu feierlichem Essen und Trinken in die Sowchos-Hauptge- meinde. Wie jedesmal singen die Übrig- gebliebenen die Lieder vom „einfachen russischen Soldaten Aljoscha“ und von der „Katjuscha“. Ein weiteres Mal erzählt Jakowle- witsch die Geschichte seines persönli- chen Kriegsendes in Niederschlesien, als er die Deutschen vertrieben hat aus Liegnitz, von dieser „rein polnischen Erde“. Aber „human“ sei es dabei zugegan- gen, „auf die Ehre eines russischen Offi- ziers“: Nicht nur 16 Kilo Flüchtlingsge- päck, wie die „räuberischen Polen“ wollten, seien erlaubt gewesen; „von mir aus hätten die Deutschen ihr Haus mitnehmen können“. Berauscht wie immer wird Alexej Go- relow nach Koslowka zurückkehren. Er wird fallen und wieder aufstehen. Nur Kinder gibt es keine mehr in seinem sterbenden Dörfchen, die ihn wie früher freundlich fragen könnten: „Ach, Groß- väterchen Aljoscha, hast du wieder ge- kämpft?“ Y

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Tschetschenien „Eine Schande für Rußland“ Interview mit dem Schriftsteller Fasil Iskander über Moskaus Kaukasus-Feldzug

SPIEGEL: Moskaus Krieg in Tschetsche- Iskander: Wenn dieses Volk seine Ei- bei den Kriegsbefürwortern in Moskau, nien hat bereits Zehntausende Men- genständigkeit so sehr wünscht, hätte aber auch in Tschetschenien. schenleben gekostet. Ist das, was nahe man das akzeptieren müssen. In diesem SPIEGEL: Bis dahin kann die Parole Ihrer Heimat passiert, die Wiederher- Falle wäre Tschetschenien nach meiner „Los von Moskau“ längst auf andere stellung der verfassungsmäßigen Ord- festen Überzeugung binnen weniger Kaukasus-Völker übergegriffen haben. nung, wie die russische Regierung be- Jahre in die Russische Föderation zu- Iskander: Wird eine Nation erst einmal hauptet, oder ist es Völkermord? rückgekehrt, freiwillig und friedlich. vom Nationalismus erfaßt, gerät der ge- Iskander: Etwas unvorstellbar Schreck- SPIEGEL: Wo stehen in diesem Kampf sunde Menschenverstand ins Abseits. liches spielt sich ab, das weder zu er- Ihre Landsleute, die für die Unabhän- Kräfte der Vernunft können dann nichts klären noch zu entschuldigen ist. Doch gigkeit von Georgien kämpfenden Ab- mehr ausrichten. das gilt ja generell für jeden Krieg, die- chasen? Dieser irrationale Nationalismus er- se irrwitzige Konfliktform, die der Iskander: Einige Abchasen kämpfen scheint mir als eine Art Geisteskrank- Mensch eigentlich längst überwunden angeblich als Freiwillige auf tschetsche- heit, die in keinem medizinischen Lehr- haben müßte. nischer Seite. Das ist menschlich ver- buch beschrieben wird. Nationales Ge- SPIEGEL: Wer trägt die Hauptschuld? ständlich: Die Tschetschenen haben fühl kann zum Wahnsinn werden, in Iskander: Tschetschenien ist Teil Ruß- unserem Volk im abchasisch-georgi- dem nur noch eigenes Leid wahrnehm- lands. Aber Moskau hat versäumt, den schen Krieg große Solidarität bewiesen. bar ist, nicht aber jenes, das man ande- ersten tschetschenischen Absonde- Die abchasische Administration verhält ren zufügt. rungsschritten mit strengen Maßnah- sich strikt neutral, vor allem aus Vor- SPIEGEL: In den Flüchtlingslagern spie- men zu begegnen. Vergessen Sie nicht: sicht. len tschetschenische Kinder Krieg, ihr Die Tragödie begann damit, daß Tau- SPIEGEL: In Dagestan und Inguschien Feind ist immer „der Russe“. Wie kann sende Russen Tschetschenien verlassen wächst die Sorge, weitere russische Mi- Rußland diese verlorene Generation zu- mußten, weil ihnen das Leben immer litäraktionen könnten sich gegen diese rückgewinnen? unerträglicher gemacht wurde. Doch unmittelbaren Nachbarn Tschetsche- Iskander: Diese Kinder werden viel- statt klarer Worte, konsequenter War- niens richten. Läßt sich der russische leicht noch vergeben und vergessen kön- nungen, die damals noch Wirkung ge- Teil des Kaukasus nur noch mit Gewalt nen, kaum jedoch die Älteren. Zwei zeigt hätten, gab es nichts als Tot- beherrschen? Jahrzehnte mindestens wird es brau- schweigen. Und dann plötzlich Krieg – Iskander: Irgendwelche direkten Wi- chen, um diese Kränkung der tsche- das ist verbrecherisch und eine Schan- dersprüche zu Rußland bestehen bei tschenischen Seele zu heilen. Solange de für Rußland. diesen Völkern nicht, einmal abgese- wird die Empörung darüber lodern . . . SPIEGEL: Die Tschetschenen wollten hen davon, daß Inguschen und Tsche- SPIEGEL: . . . und mit ihr der Guerrilla- unbedingt den russischen Staatsver- tschenen eigentlich ein Volk sind und krieg? band verlassen. Wie hätte Moskau rea- dieselbe Sprache sprechen. Alles hängt Iskander: Das ist nicht auszuschließen. gieren sollen? davon ab, wie rasch Vernunft einkehrt In diesem Punkt stimme ich Alexander

Fasil A. Iskander stammt aus einer halb persischen, halb abchasischen Handwerkerfamilie in Su- chumi am Schwarzen Meer. Nach Litera- turstudium und journalistischer Arbeit veröffentlichte er 1957 seinen ersten Ly- rikband, dann mehrere Erzählungen und Romane um seinen abchasischen Bau- ernhelden Sandro. Dem russisch schrei- benden Autor verlieh die F.V.S.-Stiftung 1993 ihren Puschkin-Preis. Zuletzt veröf- fentlichte Iskander, 66, den Roman „Tschegemer Carmen“ (S. Fischer Ver- lag). Sein zumeist satirisches Werk kreist um die nationalen Leidenschaften und Vorurteile der Menschen in seiner kaukasischen Heimat. Mit anderen rus- sischen Intellektuellen warnte Iskander zu Beginn dieses Jahres vor der wachsen- den Gefahr „einer Machtergreifung der reaktionärsten Kräfte des Landes“. P. KASSIN

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Solschenizyn zu: Wenn die Tschetschenen partout nicht mit uns zusammenleben wol- len, sollten wir uns klar und eindeutig von ihnen abgren- zen. SPIEGEL: Tschetscheniens Städte wurden ausgelöscht. Archive, Museen und Biblio- theken sind vernichtet. Warum dieser Rückfall in die Barba- rei? Iskander: Wer den Krieg wählt, entscheidet sich auto- matisch für die Barbarei. Daß Kriege jemals ritterlich geführt worden wären – alles Legen- den. SPIEGEL: Die Russen verstan- den sich in ihren kolonialen Hinterhöfen stets als Kultur- bringer. Ist dieser Ruf im Kau- kasus für immer zerstört? Iskander: Alle Völker des Kaukasus sehen dieses Mor- den mit Schrecken und erfah-

ren täglich weitere Einzelhei- AFP / DPA ten, die sie erzittern lassen. Okkupationsopfer in Grosny: „Wer den Krieg wählt, entscheidet sich für die Barbarei“ Aber brutale Eroberungskrie- ge hat es in dieser Region auch früher tausende mußten dafür mit ihrem Leben SPIEGEL: Die Aufrufe der russischen gegeben. Tolstoi hat in seinem „Hadschi bezahlen. Demokraten gegen den Krieg fanden Murat“ darüber berichtet und viele an- SPIEGEL: Halten Sie es da nicht für ver- kaum Resonanz beim Volk. Sind die dere auch. ständlich, daß nun auch kleine Völker ih- Russen nur demonstrationsmüde, oder SPIEGEL: Doch gleichzeitig galt den rus- re Selbständigkeit verlangen? findet der Feldzug gegen die „Schwar- sischen Autoren des 19. Jahrhunderts – Iskander: Leider sind diese natürlichen zen“, wie Kaukasier im Moskauer Jar- Puschkin, Lermontow, Tolstoi – der wil- Forderungen oft begleitet von schlimmer gon heißen, insgeheim chauvinistischen de, kriegerische Tschetschene als Frei- Praxis. In den baltischen Republiken gibt Beifall? heitssymbol gegen das eigene Sklaven- es zwar antirussische Gesetze, aber der Iskander: Bei manchen sicherlich, selbst dasein. politische Alltag ist zivilisiert. Deshalb unter Demokraten. Viele sagen sich, Iskander: Typisch für diese romantische fliehen die Russen auch nicht aus dem wenn man heute die Tschetschenen ge- Verherrlichung ist Lermontow: einer- Baltikum; ihr Leben ist dort nicht be- hen läßt, bricht irgendwann das ganze seits verliebt in den Kaukasus und seine droht. Land auseinander. Morgen werden es Anders in Tschetschenien und auch in die Kalmücken, übermorgen die Tata- Mittelasien, wo nationalistische Radika- ren sein, die ihrer Wege gehen wollen. „Die Russen lassen sich le alle niederen Instinkte mobilisierten, SPIEGEL: Sie schreiben auf russisch, le- für Nationalitätenhaß um die Russen mit Gewalt zu vertreiben. ben überwiegend in Moskau. Fühlen Sie SPIEGEL: Die Stimmen der russischen In- sich heute schon als ungeliebter Frem- noch nicht begeistern“ telligenz gegen den Krieg in Tschetsche- der? nien sind so leise geworden wie die Prote- Iskander: Bisher habe ich davon nichts Menschen, andererseits ein brutaler, ste 1968 beim Einmarsch sowjetischer zu spüren bekommen. Bestimmt sind gnadenloser Soldat. Beides ließ sich Truppen in Prag. die Aversionen stärker geworden durch damals durchaus in einer großen russi- Iskander: Ich kann keine Zurückhaltung diesen Krieg. Aber noch lassen sich die schen Seele unterbringen. sehen. Unsere Medien haben überwie- Russen für Nationalitätenhaß nicht be- SPIEGEL: Mit dieser Ambivalenz hat gend kritisch und sogar tschetschenen- geistern. dann die Sowjetmacht kurzen Prozeß freundlich berichtet. Nur wenige Intel- SPIEGEL: Also gibt es keine politischen gemacht. lektuelle in Rußland sind für diesen Chancen für einen russischen National- Iskander: Ja, mit der Romantik war es Krieg. Sozialismus? bald vorbei. Doch selbst die ungeheu- SPIEGEL: Das kümmert den obersten Iskander: Jedenfalls keine großen. Bis- erliche Tyrannei Stalins hatte zwei Sei- Kriegsherrn im Kreml und seine Genera- lang hat das nationalistische Lager keine ten: Einerseits gerieten nationale Res- le wenig. wirklich starke Figur. sentiments tatsächlich für längere Zeit Iskander: Soistes.Denken Sienuranden SPIEGEL: Präsident Jelzin war lange Zeit in Vergessenheit. Der Kaukasus wurde Menschenrechtler Sergej Kowaljow: Er der Wunschkandidat der antistalinisti- zur Touristenregion, zum Vorteil für hat nun wirklich alles Menschenmögliche schen Moskauer Intelligenzija. Hat sein alle. Überall sprach man Russisch, getan, um den Krieg zu stoppen, verge- Schießbefehl gegen die Tschetschenen selbst im kleinsten Gebirgsdorf. bens. Die Tragik liegt darin, daß wir bis an dieser Zuneigung etwas geändert? Andererseits wurde alles, was auch nur zuletzt glaubten, wenigstens die oberste Iskander: Natürlich. Sein Verhalten war entfernt nach Nationalismus roch, un- Führung unseres Landes sei demokra- eine riesige Enttäuschung, ganz beson- barmherzig bestraft. Und wenn kein tisch gesinnt. Und plötzlich ließen sich ders für diejenigen, die in Jelzin den ein- Nationalismus auszumachen war, wur- Politiker, für die wir gestimmt hatten, auf zigen Garanten für eine demokratische de er einfach erfunden, und Hundert- solche Ungeheuerlichkeiten ein. Entwicklung sehen. Y

180 DER SPIEGEL 20/1995 Werbeseite

Werbeseite .

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Ägypten Dämme gebrochen Verbotene Bücher und Filme werden demonstrativ freigegeben – der Staat wehrt sich gegen fundamenta- listische Zensoren.

er Buchhändler Mohammed Mad- buli hatte einen solchen Ansturm Dlange nicht erlebt. „Das ist ja unge- heuerlich“, staunte er in seinem Laden am Suleiman-Pascha-Platz im Zentrum

von Kairo: „Jetzt bricht ein Boom in un- N. SCHILLER serer Branche aus.“ Kinobesucher, Polizei in Kairo*: Lob von der Ehefrau des Präsidenten Studenten in Jeans, Frauen mit Schleier und Greise in dunklen Anzügen Front gegen den wahren Islam“, grämte war Anfang Januar auf Druck islamischer rissen Madbuli die April-Nummer der sich der Prediger Abd el-Hamid Kischk. Ultras verboten worden, da in dem Strei- Zeitschrift El-Kahira aus der Hand. An- Dem Greis, der die Ermordung des Präsi- fen, einer Parabel auf die Josephsge- dere Kunden zogen gleich mehrere Ex- denten Anwar el-Sadat 1981 als „gutes schichte, angeblich alttestamentliche und emplare aus einem meterhohen Stapel, Werk“ begrüßt hatte, schwant Schlim- zugleich koranische Gestalten verun- den Madbulis Gehilfen neben anderen mes: „Den Vertretern der reinen Religi- glimpft würden. Neuerscheinungen auf dem breiten Bür- on wird der Kampf angesagt, die Men- „Der Sieg Schahins ist ein Sieg für Frei- gersteig vor dem Geschäft aufgetürmt schen sollen mit einem zahnlosen Islam heit und Vernunft“, pries der linke Verle- hatten. abgespeist werden.“ ger Ghali Schukri das „fortschrittliche Der Andrang galt einer literarischen „Der Schlagabtausch zwischen dem Verhalten der zuständigen Regierungs- Sensation. El-Kahira hatte aus seiner Staat und den Fundamentalisten hat ei- stellen und unserer unbestechlichen neuesten Ausgabe ein nen Höhepunkt er- Richter“. dickes Sonderheft ge- reicht“, erkannte auch Die neue Liberalität genießt allerhöch- macht – es enthielt den der prominente Islam- ste Protektion. Suzanne Mubarak, Ehe- kompletten Nachdruck Analytiker Mohammed frau des Staatspräsidenten, sah sich den eines Buches, das seit Imara. „Zum erstenmal freigegebenen Film mit großem Gefolge Jahrzehnten als gotteslä- brechen Dämme, die für an. „Die Kritiker haben ,El-Muhadschir‘ sterlich und frevelhaft die Ewigkeit gebaut offenbar gar nicht gesehen“, rügte die de- verpönt war: „Die vor- schienen.“ monstrativ ohne Kopftuch auftretende islamische Dichtung“ Tatsächlich scheint First Lady hinterher: „Das Werk ist gut.“ des verstorbenen blin- der ägyptische Staat ent- Über Nacht erschienen Bücher im den Islam-Wissenschaft- schlossen, der ideologi- Handel, die zum Teil jahrelang unter lers und Schriftstellers schen Offensive der Verschluß gehalten worden waren wie Taha Hussein. Fundamentalisten stär- die linguistisch wertvolle Studie „Einlei- Das Werk ist in Ägyp- keren Widerstand entge- tung zur Philologie der arabischen Spra- ten ungefähr so bekannt genzusetzen – gute Zei- che“. Die Abhandlung wurde bisher nur wie anderswo Salman ten für Freigeister am deswegen nicht verkauft, weil ihr Verfas-

Rushdies „Satanische NAHASSIA / SIPA Nil. Seit kurzem werden ser Louis Awad ein Christ war. Und Chri- Verse“. Fanatische Pre- Suzanne Mubarak sogar wieder die Bücher sten sollen sich nach Auffassung islami- diger hatten das Buch des liberalen Autors Fa- scher Radikaler nicht anmaßen, ein Ur- schon seit Königszeiten als Inbegriff an- rag Foda verkauft, der von Terroristen teil über die Sprache des Koran abzuge- geblicher islamfeindlicher Agitation ver- 1992 erschossen worden war, weil er ben. ketzert – der Titel gilt jedem Fellachen sich den radikalen Islamisten publizi- Dabei standen die unterdrückten Bü- als Symbol der Gottlosigkeit. stisch entgegengestellt hatte. cher und Filme oft gar nicht mal auf dem Dabei nahmen die religiösen Gralshü- Ausgerechnet am 15. April, dem Index der staatlichen Aufpasser, die eher ter lediglich Anstoß an einem Kapitel, Osterfest der von den Fundamentalisten an Nacktem Anstoß nehmen. Die litera- in dem das Arabisch des Koran kritisch bedrängten koptischen Christen, durfte rischen Zensoren wirken vielmehr in der untersucht und damit, wie sie meinen, auf richterlichen Entscheid zum ersten- Azhar-Universität, der einflußreichen entheiligt wird. Nach islamischem Glau- mal seit Monaten wieder der Film „El- Hochburg islamischer Gelehrsamkeit in ben hat der Erzengel Gabriel dem Pro- Muhadschir“ (Der Emigrant) des libera- Kairo. pheten Mohammed den heiligen Text len Regisseurs Jussuf Schahin in Kairoer Die über tausend Jahre alte Hochschu- übermittelt. Kinos gezeigt werden. Die Aufführung le, die Spenden wohlhabender Moslems Die unerwartete Publikation alar- aus aller Welt erhält, hat ihren Einfluß mierte die fundamentalistischen Wort- * Vor dem „Karim“; gezeigt wird der Film „Der auf das kulturelle Leben Ägyptens stän- führer. „Die Regierung macht heimlich Emigrant“ von Jussuf Schahin. dig verstärkt. Die Urteile einiger ihrer

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Korangelehrten fielen in letzter Zeit zu- nehmend restriktiver aus – und schienen eine geistige Rechtfertigung zu liefern für jene Fanatiker, die Ägypten mit Ge- walt in einen islamischen Gottesstaat verwandeln wollen. Liberale Intellektuelle beklagten, die Verdammung durch die Schriftgelehrten komme oft einem Todesurteil gleich. Sowohl Werke Fodas als auch des No- belpreisträgers Nagib Mahfus hatten keine Gnade vor den religiösen Scharf- richtern von Al-Azhar gefunden. Besonders peinlich für die Regierung war ein Gutachten des Großscheichs von Al-Azhar, Gadd el-Hakk, der die Beschneidung der Klitoris schon fast zur religiösen Pflicht für Frauen erklärte. Den grausamen Eingriff müssen allein in Ägypten täglich Tausende von Mäd- chen erdulden. Der für Familienplanung zuständige Bevölkerungsminister hat ein Verbot der weiblichen Beschnei- dung verlangt. Die Behörden, auf gutes Einverneh- men mit den Korangelehrten bedacht, nahmen deren Gutachten gewöhnlich respektvoll hin; die Beamten schritten auch nicht ein, wenn Azhar-Zensoren Werke konfiszierten. Neuerdings aber werden die Verbote der Islam-Hochschule, die landesweit die Ausbildung von einer Million Schü- lern und Studenten kontrolliert, nicht mehr ohne weiteres hingenommen. Prä- sident Husni Mubarak stellte öffentlich klar: „Al-Azhar ist nicht befugt, Bücher zu erlauben oder zu verbieten. Das ist ausschließlich Sache des Staates.“ Y N. SCHILLER Verhaftete Fundamentalisten Mit Gewalt zum Gottesstaat

DER SPIEGEL 20/1995 183 . S. SHERBELL / SABA Zeltlager für geflohene Kubaner auf dem Marinestützpunkt Guanta´namo Bay: Tabasco im Hintern

USA Letztes Floß nach Florida SPIEGEL-Reporter Carlos Widmann über das Ende des Asyls für fluchtwillige Kubaner

ie Füße waren blutig, aber die See- mir zu / Wir werden frei, wir finden einer acht Monate langen Gefangen- le atmete auf. Sekundenlang über- Ruh.“ Immerhin lieferte ein Kassetten- schaft ab, in der die Kubaner von Wa- Dtönte der Juchzer von Luis Alberto recorder gepfefferte Salsa. shington und Havanna wie Schachfigu- Pe´rez Molina das fröhliche Gekreisch Für die 21 000 Flüchtlinge in den Zelt- ren behandelt worden waren. von hundert anderen Kubanern. Dann lagern von Guanta´namo Bay, wo sich Dann kam aus dem Weißen Haus die erreichte der Berufstänzer, die Fußsoh- seit 1901 ein Marinestützpunkt der Erlösung: Entgegen einer früheren An- len aufgerissen vom Sturmlauf über Amerikaner befindet, war dies der erste ordnung dürfen fast alle „boat people“, scharfes Gestein, den Rand der Klippe. Vorgeschmack der Freiheit. Als die die seit August letzten Jahres von den Mit doppeltem Salto vorwärts stürzte er U. S. Navy Ende April den Zaun hinter Amerikanern aus dem Meer gefischt sich in die weißgrüne Gischt. Camp Foxtrot abreißen und die und auf dem Stützpunkt Guanta´namo Der Beifall für Luis Alberto, der noch Schmachtenden erstmals zu den Strän- Bay (zeitweise auch in Panama) inter- vor einem Jahr im „Tropicana“ auftrat, den laufen ließ, zeichnete sich das Ende niert worden waren, nun doch in ihr ge- Havannas größtem Nachtklub, klang lobtes Land. Sie werden in den nächsten schüchtern. Ungläubig, nur langsam zehn Monaten nach Florida gebracht sich vortastend, betraten immer mehr und können sich in den USA niederlas- Lagerinsassen das ungewohnte Terrain, sen. das bis dahin Sperrgebiet war. Lachend, Allerdings: Die Gestrandeten von kichernd, kopfschüttelnd stiegen sie in Guanta´namo sind auch die letzten „boat der Mittagshitze hinunter bis an die people“ aus Kuba, denen solches Glück Brandung, zu den perlgrauen Felsen, in zuteil wird – die letzten von Hunderttau- die winzigen Buchten und ins türkisblau senden verwegener oder verzweifelter lockende Wasser der Karibik. Flüchtlinge, die sich in den vergangenen „La locura, la libertad, la redencio´n!“ 35 Jahren mit abenteuerlichen Mitteln rief pathetisch ein Alter mit Bart, bevor nach Florida absetzten. In den Jahr- er ins Wasser stakste: der Wahnsinn, die zehnten des Kalten Kriegs sind sie von Freiheit, die Erlösung. In der Tat hätte den USA stets als Freiheitshelden emp- es nicht schlecht gepaßt, wenn nun fangen worden, weil sie der einzigen Beethoven erklungen wäre. Wie die kommunistischen Diktatur des Konti- bleichen Gefangenen im Fidelio, die der nents entflohen waren.

Kerkermeister erstmals an die frische SIPA PRESS Geschickt hat Bill Clinton damit von Luft läßt, hätten die Kubaner singen Kubanischer Staatschef Castro einem brutalen Beschluß abgelenkt: können: „Die Hoffnung flüstert sanft Kompromiß mit dem Feind Während die 21 000 von Guanta´namo

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nach spannender Wartezeit doch noch schärfung des Embargos verhindern das Visum in die USA bekommen, wer- wollte – wogegen der US-Präsident die den ihre Nachfolger schon jetzt vom US- Flüchtlingswelle kaltblütig parierte, in- Küstenschutz aufgegriffen und umge- dem er die „Flößer“ vor der Küste Flori- hend dem Castro-Regime ausgeliefert. das abfangen und zunächst in Guanta´na- Die Wende in der amerikanischen mo aufs Trockene setzen ließ. Kuba-Politik könnte schärfer kaum Dem Nervenkrieg der beiden Staats- sein. Seit dem Machtantritt Fidel Ca- chefs waren viele der Gestrandeten stros 1959 haben alle Vorgänger Clin- nicht gewachsen. Das Vegetieren in den tons den Kubanern Asyl garantiert und überfüllten Zeltlagern zehrte sie aus. sie damit zur Flucht ermuntert. Neben Tagsüber, von den stinkenden Latrinen, dem Handelsembargo galt die Exodus- konnten sie das Blau des Meeres erblik- förderung als wichtigste Waffe beim un- ken, und nachts war das verheißungsvol- ablässigen Versuch, dem kubanischen le Rauschen der Wellen zu vernehmen. Sozialismus ein Ende zu machen. War es ein von oben gewünschter Sadis- „Aber für Clinton waren wir auf ein- mus, der den Lagerkommandanten be- mal keine Freiheitshelden mehr, son- wog, seinen Schutzbefohlenen monate- dern nur noch Wirtschaftsflüchtlinge“, lang den Zugang zum greifbar nahen erzählt im Männerlager Camp Alpha Meer zu verwehren? der Journalist Jose´ Borrajo Lemus. Er Brigadegeneral John Allen gibt vor, ist wirklich kein Wirtschaftsflüchtling; in es sei ihm wirklich erst Ende April ein- Havanna saß er im Gefängnis, bevor das gefallen, den Zaun zwischen Camp Fox- Regime ihm vor neun Monaten die trot und den Meeresklippen abzureißen. Flucht nach Florida nahelegte. „Aber Bis dahin hatte der Lagerkoller schon an die Yankees schleppten uns erst nach die tausend Flüchtlinge eben dorthin zu- Panama, dann nach Guanta´namo. Der rückgetrieben, wo sie es vorher nicht Abschreckungszweck war klar: Wir soll- länger aushalten zu können glaubten: in ten unsere Landsleute vor weiteren ihre kubanische Heimat. General Allen Fluchtversuchen abhalten.“ nennt die zweimal Geflüchteten ohne Balseros nennen sie sich – „Flößer“ –, Ironie „Fälle von Selbstrepatriierung“. weil ihre grotesken, aus Sperrholz und Schwimmend oder sich durch Minen- Draht und Gummischläuchen gefertig- felder tastend (oder auch legal, auf ten Konstruktionen noch am ehesten ei- schriftlichen Antrag), sind ganze Hun- nem Floß ähneln. Der Funkjournalist dertschaften aus der öden amerikani- Borrajo nennt die Balseros in ihrer trau- schen Enklave auf das Staatsgebiet der rigen Doppelfunktion „Castros Schwert Republik Kuba zurückgekehrt – sicht- und Clintons Schild“: lich besser genährt als vor ihrer ersten Dem kubanischen Ma´ximo Lı´der ha- Flucht, aber verzweifelt und die Repres- ben die Fluchtwilligen als Waffe ge- salien des Castro-Regimes fatalistisch in dient, mit der er die Amerikaner unter Kauf nehmend. Solche Emissäre aus Druck setzen und eine weitere Ver- den Lagern müssen dem Weißen Haus S. SHERBELL Badende Lagerinsassen in Guanta´namo: „Wahnsinn, Freiheit, Erlösung“ AUSLAND

ganz recht gewesen sein – Menschen, die den anderen Kubanern von einem neuen Exodus nur abraten konnten. Viel häufiger war bei den Lagerinsas- sen der Drang, sich aus Guanta´namo herauszumogeln in Richtung Florida. „Die Amerikaner haben uns zu Lügnern und Simulanten erzogen“, beklagt sich lachend der schnauzbärtige Martı´n Gon- za´lez Fino, Lagerältester von Camp Al- pha. „Da nur Krankheit oder Schwan- gerschaft einen Flug nach Miami in Aus- sicht stellte, sind wir eben alle schwer krank oder schwanger geworden.“ Noch immer liegen in den Lazarett- Zelten erbarmungswürdig dreinblicken- de Männer, die geglaubt hatten, ein ent- zündetes Hinterteil werde sie am schnellsten nach Florida befördern. „Das sind Tabasco-Geschädigte“, erläu- tert trocken Oberst Celso Bolet, selbst Exilkubaner und Psychologe der U. S. Army. „Die Burschen haben sich diese teuflische Soße in die Arschkerbe ge- schmiert, aber das hat sie auch nicht weitergebracht. Im Rückblick ist ihnen die Sache natürlich besonders peinlich.“ Auch schlimme Versuche der Selbst- verstümmelung hat es gegeben – wie den des Mannes, der sich Benzin in die Venen spritzte und dem deshalb ein Teil des Fußes amputiert werden mußte. Viele Verzweifelte, die zuletzt in Ca- stros Reich heimgekehrt sind, fühlen sich nun arg düpiert, als Opfer der Ge- heimdiplomatie. Ihre Lebensplanung hätte anders ausgesehen, wäre ihnen im April gesagt worden, daß zwei Herren namens Tarnoff und Alarco´n sich da- mals in Toronto und New York zu inten- siven Verhandlungen zusammenfanden. Staatssekretär Peter Tarnoff, die Nummer drei im US-Außenministeri- um, und Kubas Parlamentspräsident Ri- Miamis Exilkubaner, karibische Besserwessis, wollen an die Macht

cardo Alarco´n haben dabei schwerwie- gende Entscheidungen herbeigeführt, die nun eine historische Wende einleiten könnten. Ausgangsbasis dafür war die 1994 getroffene Vereinbarung, wonach die USA jährlich 20 000 Kubanern die Einreise ermöglichen werden, sofern diese bei der US-Vertretung in Havanna Visa-Anträge gestellt haben. Nicht nur auf der Insel wirkt Clintons Pakt mit Fidel sensationell. Die Leiter der Kuba-Abteilung im State Depart- ment fühlten sich durch Tarnoff hinter- gangen und baten aus Protest um ihre Versetzung. Der alte Reaktionär Jesse Helms, der im Washingtoner Senat dem Auswärtigen Ausschuß vorsitzt, bezich- tigte Clinton der „Komplizenschaft mit dem Repressionsregime“ Castros.

186 DER SPIEGEL 20/1995 In Miami empörten sich Führer der 1,5 Millionen Amerikaner kubanischer Herkunft. Sie hatten gehofft, demnächst einen Kollaps des Regimes zu erleben – um dann selbst, als karibische Besser- wessis, die Macht auf der Insel zu über- nehmen. Clintons Kompromiß, so fürchten sie, verzögert nur die Erfüllung ihrer Ambitionen. Doch das Gezeter aus Miami stört den Präsidenten kaum. Er hat den Ame- rikanern gerade erst versprochen, alle il- legalen Einwanderer zu deportieren, ge- gen die wegen einer Straftat Anklage er- hoben wird – ohne das Urteil abzuwar- ten. Wie populär solche Maßnahmen gegen die Menschenflut aus Mexiko und dem übrigen Lateinamerika sind, hat letztes Jahr eine Volksabstimmung in Kalifornien bewiesen, wo sogar viele Asiaten und Latinos gegen illegale Ein- wanderung votierten. Clinton setzt nun die Kubaner, die wegen ihrer kommuni-

FLORIDA Miami a id or Fl von Straße Havanna KUBA

US-Marinestützpunkt 200 km Guantánamo Bay

stischen Diktatur bevorzugt waren, den anderen gleich. Soll also jetzt auch für die „boat people“ aus Kuba die Parole gelten: Das Boot ist voll? Martı´n Gonza´lez Fino, der Lagerälteste und Träger einer Marlbo- ro-Mütze, war vor kurzem noch ein re- gimetreuer, mit der „Umerziehung“ po- litischer Häftlinge befaßter Beamter des kubanischen Innenministeriums. Für ihn hat sich während der Monate in Gu- anta´namo mehrmals die Frage gestellt, ob er Asyl und politische Freiheit nicht lieber in Venezuela oder Belize in An- spruch nehmen wolle. Das hat Martı´n Gonza´lez abgelehnt: Nur die industriali- sierten Demokratien, sagt er, kämen für ihn und seine Kameraden in Frage. „Memoiren der Unterentwicklung“ hieß etwas herablassend einer der be- sten Spielfilme, die Castros Kuba nach der Revolution von 1959 – natürlich im Rückblick auf die Jahre davor – hervor- gebracht hatte. Die Menschen, die drei Jahrzehnte später immer noch die Insel Kuba verlassen wollen, scheinen vom Wunsch besessen, nicht nur dem Kom- munismus zu entrinnen, sondern der Unterentwicklung überhaupt. Ihre Ma- xime heißt heute: Nichts wie raus aus der Dritten Welt. Y

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Zeitgeschichte Der Geburtstag des Todes Am 8. Mai 1945 war der Zweite Weltkrieg nicht überall vorbei. Noch Wochen nach der deutschen Kapitulation wurde auf der holländischen Insel Texel ein ebenso brutaler wie absurder Kampf zwischen Deutschen und Georgiern geführt. Er forderte die letzten Opfer der Völkerschlacht in Europa.

er schöne kleine Friedhof, der auf dem sanft ansteigenden Hügel zwi- D schen mannshohen Hecken ver- borgen ist, könnte in St. Petersburg lie- gen, in Odessa oder in der Nähe von Kiew. Poliert wie zu Stalins besten Ta- gen glänzt ein goldener Sowjetstern auf der großen marmornen Gedenktafel, darunter stehen, in kyrillischer Schrift, Sätze, die mit Mut beginnen und mit Heldentod enden. Von „Widerstand“ ist da die Rede, von „gewaltiger Übermacht“ und immer wieder von „Tapferkeit“. Nicht nur die Inschrift zeigt Dank und Verehrung ge-

genüber denen, die hier bestattet sind: J. BANNING / LAIF Kein Blatt, kein Ast liegt auf den akku- Friedhof der Georgier: Der Frieden vergaß Texel ein zweites Mal rat geharkten Beeten. Die Rosensträu- cher auf den Gräbern sind wie mit dem Krieges“. Der Soldatenfriedhof liegt auf tisanenkrieg, der noch Wochen nach der Zentimetermaß beschnitten. Überall Texel, einer holländischen Nordseein- deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 brennen frische Kerzen. sel, nur einige Kilometer vom Festland Opfer forderte. Doch die über 500 Georgier, die hier und der Hafenstadt Den Helder ent- Es war ein Kampf ehemaliger Waf- geehrt werden, sind nicht in ihrer Hei- fernt. Hier fanden die letzten Kämpfe fenbrüder. Denn die Georgier waren mat gefallen, nicht an der russischen des Zweiten Weltkriegs auf europäi- Angehörige der „Georgischen Legion“, Front des „Großen Vaterländischen schem Boden statt, ein gnadenloser Par- einer der legendären „Ost-Legionen“, jenen Kampfeinheiten der deutschen Wehrmacht, die aus ehemaligen sowje- tischen Kriegsgefangenen und Freiwilligen aufge- stellt worden waren. Mehr als 3000 Men- schen kamen in diesem Gemetzel um. Trotzdem vermerkt kaum ein Ge- schichtsbuch die absurde und brutale Episode*. Und als die Holländer in diesem Jahr ihre 50jährige Befreiung feierten, taten sie es am 4. und 5. Mai, dem Tag der Kapitulation der deutschen Streitkräf- te in den Niederlanden. Der Frieden vergaß den Kampf um Texel ein zwei- tes Mal. Bis zum Frühjahr 1945 war Texel von Kampf-

* Ein Buch des holländischen Journalisten Dick van Reeuwijk mit dem Titel „Aufstand der Ge- orgier“ (71 Seiten; 21,50 Mark) gibt Bericht über diesen Kampf. Es wird nur von Buchhandlun- Holländische Zivilbevölkerung, deutsche Soldaten (hinten) 1945: Terror auch nach der Kapitulation gen auf Texel vertrieben.

188 DER SPIEGEL 20/1995 handlungen nahezu verschont geblie- ben. Deutsche Truppen hatten die Insel im Juni 1940 besetzt und mit gewaltigen Bunker- und Festungsanlagen als Teil des „Atlantikwalls“ ausgebaut, die hol- ländische Widerstandsbewegung hatte die Parole ausgegeben, auf der Insel Ru- he zu bewahren – sie hatte viele Mitglie- der dort versteckt. Und die holländische Nordseeküste war seit der Landung der Alliierten in Frankreich 1944 strategisch ins Abseits geraten. Hier gab es nichts mehr zu verteidigen und nichts zu er- obern. Die Georgier, insgesamt 800 Mann, kamen im Januar 1945 nach Texel. Sie bildeten zusammen mit 400 Deutschen das Georgische Infanteriebataillon 822 und standen unter deutscher Führung. Viele waren ehemalige Kriegsgefangene aus dem Rußlandfeldzug. Um den elen- den Bedingungen in den Gefangenenla- gern und dem damit fast sicheren Tod zu entgehen, hatten sich etliche von ihnen zur Kollaboration bereit erklärt. Als es hieß, ein Teil des Bataillons solle gegen die Alliierten auf dem hol- ländischen Festland eingesetzt werden, entschlossen sich die Georgier zur Re- bellion. Der Code-Name des Aufstan- des lautete: „Tag der Geburt“. Es wur- de für viele der Tag ihres Todes. Die Georgier überrumpelten die ah- nungslosen Deutschen im Schlaf oder auf der Wache. Sie töteten zumeist mit Dolchen und Bajonetten. Oft kannten sich Opfer und Täter: Sie hatten mona- telang zusammen Dienst getan, manch- mal sogar miteinander gefeiert. Der Aufstand überraschte die Deut- schen total. „Von Sabotage oder Auf- standsplänen haben wir nie etwas ge- merkt“, sagte Klaus Breitner, der deut- sche Kommandeur des Bataillons, als man ihn lange nach dem Krieg befragte. „Wir hielten das sogar für ganz ausge- schlossen, da die Georgier deutsche Uniformen trugen. Damit“, so Breitner mit unerschütterlicher Wehrmachtseh- re, „ist alles gesagt.“ Die Georgier hatten sich vorher „genau überlegt“, wie viele Deutsche je- der von ihnen töten mußte – Gefangene wurden in dieser Nacht nicht gemacht. Huug Snoek, ein Mitglied der holländi- schen Widerstandsbewegung, der sich den Georgiern anschloß, berichtet: „Wir hielten versprengte Deutsche an, fragten nach dem georgischen Losungs- wort, das natürlich niemand kannte. Es wurde kurzer Prozeß gemacht. Jeder Deutsche bekam die Kugel.“ Innerhalb weniger Stunden waren fast alle Deut- schen des Bataillons tot. Schnell war das deutsche Hauptquar- tier „Texla“ eingenommen, eine Bun- keranlage unweit Den Burg, der größ- ten Stadt auf Texel. Doch ihr Ziel, die gesamte Insel unter ihre Gewalt zu be- kommen, erreichten die Georgier nicht:

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Die stark gesicherten Küstenbatterien ten sich, ihre Waffen abzugeben. Statt im Norden und Süden blieben in deut- Nordsee dessen setzten sie die Jagd auf „Meute- scher Hand. rer“ und „Fahnenflüchtige“ fort. Von dort aus wurde auch mit der Zwei lange Wochen dauerte der Krieg „Sondermeldung Texel“ der Führerbun- nach dem Krieg: Die Holländer hatten ker in Berlin über den Aufstand infor- TEXEL die Straßen und Häuser geschmückt und miert. Die Antwort kam schnell: „Alle warteten auf die alliierten Befreier, die Georgier sofort liquidieren!“ Waddenzee nicht kamen. Statt dessen marschierten Um halb fünf begannen die beiden Den Burg deutsche Truppen, vollständig bewaff- schweren Batterien, Den Burg zu be- net und manchmal fröhlich singend, schießen, die Deutschen, die Verstär- Den Helder durch die Städte. Immer wieder gab es kung bekommen hatten, formierten sich Scharmützel mit Georgiern. zum Gegenangriff. „Jeder ahnte, wir Ijsselmeer Erst eine von Holländern organisierte waren im Begriff, den Krieg zu verlie- Regelung unterband die schlimmsten ren, aber vorher wollten wir uns an den Schießereien: Die Deutschen durften Georgiern rächen“, berichtete Breitner. NIEDERLANDE sich tagsüber frei – und mit Waffen – auf Dem gnadenlosen Vorgehen der der Insel bewegen, die Georgier nach Deutschen fielen auch viele Zivilisten Sonnenuntergang. zum Opfer. Die deutsche Artillerie Einer der letzten Toten der Schlacht schoß auf jede Siedlung, in der Georgier Amsterdam um Texel war der Bäcker Theo Smit. Er vermutet wurden. hatte einigen Georgiern während des Zwei Wochen tobte ein verbissener 50km Aufstandes geholfen, nun, am 17. Mai, Partisanenkampf, der fast die ganze In- kamen ein paar von ihnen vorbei, um sel verwüstete. Zum Schluß hatten die sich zu bedanken. Georgier, zahlenmäßig weit unterlegen, hineintrauten. Sie jagten lieber jene Unter ihnen war ein junger Soldat, nur noch den Leuchtturm im Norden meist verwundeten oder vollkommen der seinen Revolver offen am Halfter von Texel in ihrer Hand. erschöpften Georgier, die sich bei hol- trug. Smit bat ihn, „das Ding“ abzule- Ein ums andere Mal rannten die deut- ländischen Bauern versteckt hielten. Er- gen, „der Plunder jagt mir Angst ein“. schen Soldaten gegen die Höhe an. Sie wischte man sie, wurden die Höfe ihrer Darauf nahm der Georgier die Patronen waren den georgischen Scharfschützen Helfer abgebrannt, sie selber erschos- aus der Pistole, sagte noch „dann deckungslos ausgeliefert. Als es ihnen sen: Vorher mußten sie ihr eigenes Grab brauchst du keine Angst mehr zu ha- schließlich gelang, den Leuchtturm zu schaufeln und sich ausziehen – in einer ben“ und zog den Abzug durch. Die Ku- erobern, begingen die Georgier im deutschen Uniform, so der Befehl, durf- gel im Lauf, die er vergessen hatte, traf Turm Selbstmord. Es war der letzte Sieg ten sie nicht exekutiert werden. Theo Smit tödlich. der deutschen Wehrmacht. Überall auf Texel brannten Höfe, Erst als am 20. Mai kanadische Trup- Doch der texelanische Krieg war noch überall wurden neue Massengräber aus- pen auf der vergessenen Insel landeten, nicht zu Ende: Die Deutschen hatten gehoben, vermeintliche und echte Kol- wurden die deutschen Truppen entwaff- sich geschworen, „jeden Rebellen“ zu laborateure unter der Bevölkerung er- net. Der kanadische Kommandeur be- erwischen. Am 22. April veranstalteten schossen. Vor allem die deutschen Offi- zifferte die Verluste der Georgier auf sie eine Treibjagd: Mit mehr als 2000 ziere gebärdeten sich so fanatisch, als 470, die der Deutschen auf 2347 Mann. Mann, die in einer Kette mit ein paar gelte es, den Endsieg des Dritten Rei- In einem Brief an den sowjetischen Ge- Metern Abstand gingen, durchkämmten ches auf Texel zu erringen. neralstab erwähnte er den Heldenmut sie die ganze Insel. Auch die Kapitulation der deutschen und die Tapferkeit der Georgier. Er Etliche Georgier hatten sich noch in Truppen in Holland am 5. Mai änderte wußte um die Gefahr, die ihnen drohte. den Minenfeldern am Strand ver- daran nichts. Die Alliierten ließen sich Stalin ließ verkünden, alle sowjeti- schanzt, in die sich die Deutschen nicht nicht sehen, und die Deutschen weiger- schen Soldaten, die jemals mit den Deutschen kollaboriert hatten, zu be- strafen. 26 Georgier wurden mit ihren Familien deportiert, andere kamen ins Arbeitslager. Erst Mitte der fünfziger Jahre wurden sie rehabilitiert und in ih- re Heimat zurückgelassen. Ihren holländischen Helfern machte der Heldenmut gleichfalls Scherereien. Im Kalten Krieg wurden etliche von ih- nen, die versucht hatten, mit georgi- schen Freunden Kontakt zu halten, vom holländischen Geheimdienst überwacht und bedrängt. Auch deswegen ist, 50 Jahre nach dem Krieg, die Schlacht von Texel fast vergessen. Bis auf eine kleine Gruppe, die sich um den georgischen Friedhof kümmert und in einer kleinen Ecke des Heimatmuseums ein paar Fotos ausge- stellt hat, haben die meisten Texelaner die Geschichte erfolgreich verdrängt. Und die deutschen Touristen, die seit

ARCHIEF THEO TIMMER Jahrzehnten auf die Insel strömen, ken- Georgische Soldaten auf Texel: „Alle sofort liquidieren!“ nen sie eh nicht. Y

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dern der Welt anerkannt, natürlich auch Großbritannien in der Europäischen Union. Cauldwell hatte sich mit seiner „Alli- ance Intensive Driver Training School“ bislang auf einheimische Schüler spezia- Vor Glück lisiert, die ihre Lenkberechtigung in ein- wöchigen Crash-Kursen – fünf Tage lang fünf Fahrstunden täglich, dann die geheult Abschlußprüfung – erwerben wollten. Das Geschäft lief ganz gut. Da schick- Take it easy beim Führerscheintest: ten ihm Kumpels aus seinem Stamm- Von englischer Nachsicht profitieren pub, die gerade in der Bundesrepublik als Maurer und Zimmerleute in Bauko- prüfungsschwache Deutsche. lonnen malochten, vor einem halben Jahr erstmals einige deutsche Kollegen, atrick Cauldwell verfügt nur über die auf die Schnelle und völlig legal ih- bescheidene Deutschkenntnisse, ren Führerschein erwerben wollten. Paber die reichen für seine Zwecke: Seither hat Cauldwell bereits über 30 „Jetzt rechts abbiegen“ oder „Langsam, Bundesbürgern zur amtlichen „United Polizei“ kommt ebenso fließend über Kingdom Driving Licence“ verholfen. seine Lippen wie „Kupplung langsam Weitere 280 haben sich angemeldet. kommen lassen“ und – gleich darauf – „The Germans are coming“, titelte be- „Shit, Motor weg“. reits das Heimatblatt Wigan Reporter Cauldwell, 48, Fahrschullehrer im über den unerwarteten Ansturm in der nordwestenglischen Wigan, beherrscht verschlafenen Kleinstadt Wigan, die im S. FREEDMAN Fahrlehrer Cauldwell in Wigan: „Die Deutschen kommen“

auch technische Vokabeln wie „Brems- Land ausschließlich durch ihre grimmige weg“, „Straßenverkehrsordnung“ und Rugby-Mannschaft bekannt ist. „Vorfahrtsstraße“. Den Wortschatz ver- Jeden Montag holen Cauldwell oder dankt der Engländer einem neuen Kun- seine Frau Jenny vom Flughafen in denstamm: Deutsche, die ihren Führer- Manchester neue Fahrschüler ab. Das schein fernab von lästigen Wartezeiten Wochenarrangement inklusive Flug, und peinigenden Tests daheim lieber bei Hotel, Fahrstunden und Prüfungsge- den rechtslenkenden und linksfahren- bühren kostet etwa 2500 Mark. „Zu den Briten erwerben. Hause“, sagt Richard, 36, aus Leverku- Denn als einziges EU-Mitgliedsland sen, „würde mich das auch nicht weni- sieht das Vereinigte Königreich bei der ger kosten als hier.“ Zweimal war der Führerscheinprüfung keine schriftliche Schuhverkäufer bereits durch den deut- Examination vor, sondern einen etwa schen Theorietest gerasselt: „Ich bin 20minütigen Praxistest. Besser noch: wohl ein bißchen gedächtnisschwach.“ Statt wochenlanger Wartezeiten auf Die Prüfung in Wigan schaffte er – Prüfungstermine wie in Deutschland wie alle anderen deutschen Schüler bis- sind britische Führerscheine, zumal in lang auch – im ersten Anlauf. Liegt die- der Provinz, binnen weniger Tage zu ha- se astreine Erfolgsrate allein am „Eifer ben – und sie werden in fast allen Län- und der Disziplin der Deutschen“, wie

194 DER SPIEGEL 20/1995 Fahrlehrer Cauldwell seine Kunden vom Festland höflich rühmt? Oder bis- weilen auch an der hübschen Jane? Die College-Studentin, 17, verdient sich als Dolmetscherin bei den Prüfungen ein Zubrot und soll bei sympathischen Fahr- schülern falsche Antworten schon mal richtig übersetzen. Oder liegt die optimale Trefferquote doch eher am vergleichsweise „milden Verfahren der Prüfer“, wie Graham Fryer vom Verband der britischen Fahr- lehrer vermutet? Vor allem bei Fragen zur britischen Straßenverkehrsordnung zeigen sich die Prüfer traditionell nach- sichtig. Fryer: „Man kann fast jede Fra- ge falsch beantworten und dennoch sei- nen Schein kriegen.“ Die vor allem auf Verkehrsverhalten und Autobeherrschung ausgerichtete Prüfung ermöglicht sogar Analphabeten den Führerscheinerwerb. Zwei seiner deutschen Kunden, erinnert sich Cauld- well, konnten das Einschreibformular für seine Fahrschule nicht ausfüllen. Ei- ner davon, Schrotthändler aus Gießen, habe nach bestandener Prüfung „vor lauter Glück wie ein kleines Kind ge- heult“. Doch die Freude über den problemlo- sen Erwerb der Fahrberechtigung kann beim Umtausch des britischen in ein deutsches Dokument in Frust und Ärger umschlagen. Denn nach bundesdeut- schem Recht muß der deutsche Besitzer eines britischen Führerscheins seinen „ständigen Aufenthalt“ mindestens ein halbes Jahr in Großbritannien gehabt haben. Nur dann wird der Schein binnen eines Jahres nach der Rückkehr umge- schrieben. Im Reich der Queen gibt es, sehr praktisch, keine polizeiliche Melde- pflicht. Auch Sichtvermerke bei der Einreise sind für EU-Bürger nicht mehr vorgesehen. Deshalb geben sich miß- trauische Straßenverkehrsämter nur mit schriftlichen Erklärungen, etwa einer Bestätigung des Arbeitgebers, über die Verweildauer in Großbritannien zufrie- den. Doch so einen Brief zu besorgen, weiß Cauldwell, sei „wahrscheinlich kein Problem“. Er habe jedenfalls noch nie von einem Kunden gehört, der sei- nen Führerschein nicht habe umtau- schen können. Den Fahrschullehrer plagt vielmehr die Sorge, daß Großbri- tannien schon bald von der Europäi- schen Kommission in Brüssel gezwun- gen werden könnte, im Zuge der EU- Harmonisierung ebenfalls einen schrift- lichen Führerscheintest einzuführen. Das wäre schlecht für sein Geschäft, aber gut für die Verkehrssicherheit: Denn strengere Prüfungskriterien, be- haupten britische Experten übereinstim- mend, würden die tödliche Unfallrate gerade von jungen Fahrern „sofort dra- stisch senken“. Y .

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Fußball ERICH UND DIE INDIANER Als Bayer Leverkusen einen Nachfolger für den clownesken Dragoslav Stepanovic suchte, kam es den Konzernherren mehr auf die korrekte Grammatik denn auf die richtige Taktik an. Sie fanden in Erich Ribbeck den umstrittensten Fußballehrer der Bundesliga. Der neue Trainer hat alle Mühe, seine Fehlgriffe schönzureden.

ußballtennis heißt die Übung, die Erich Ribbeck so richtig ans Herz Fgewachsen ist. Wenn das Leder nach Tennisregeln über ein Netz gekickt wird, spielt der Trainer von Bayer Le- verkusen – immer um Basisnähe und ei- gene Fitneß bemüht – gern selber mit. Doch diesmal will sich der Spaß nicht so recht einstellen. Auf der anderen Sei- te steht Bernd Schuster, eine der letzten Kreativgestalten des deutschen Fuß- balls. Schuster hat Aufschlag und macht Punkt um Punkt. Immer wieder zirkelt der Bayer-Profi den Ball auf seinen Übungsleiter, der die Schlenzer und Aufsetzer auch mit den angestrengte- sten Verrenkungen nicht zu retournie- ren vermag. Ribbecks Verzweiflung läßt den Kik- ker kalt. „Trainer“, erklärt Schuster la- pidar seine erfolgreiche Taktik, „wir wollen gewinnen – also spiele ich immer

auf den schwächsten Mann.“ L. BAADER Was wie ein harmloser Flachs am Ar- Bayer-Profi Schuster: „Als Libero viel zu langsam“ beitsplatz wirkt, ist die Rache eines Ge- kränkten. Die streng hierarchische Fuß- Schuster, zuvor beim 1. FC Köln wie Daß Ribbeck dennoch bei seiner ballgesellschaft läßt den Profis kein beim FC Barcelona und bei Real Ma- Entscheidung blieb, hat nur einen Recht auf Widerspruch. Wer offen op- drid als Mittelfeldstratege zu Weltruhm Grund: Er hält sich selbst für einen poniert, wird vom Trainer schnell aus- gelangt, ist von Ribbeck in Leverkusen Erfolgstrainer. Daß ihm der Deutsche sortiert. Also bleibt den Kickern nur der auf den Liberoposten abgeschoben wor- Fußball-Bund 1984 bei der Ablösung rechtsfreie Raum des Spotts – und da den. Als der angejahrte Abwehrchef Jupp Derwalls nicht das Amt des Bun- kennt sich Bernd Schuster, 35, ebenso beim 0:3 gegen den AC Parma seinen destrainers, sondern die Betreuung der gut aus wie im Strafraum des Gegners. schnellen Gegenspielern nicht mehr fol- U16-Auswahl antrug, erscheint ihm Wieder einmal erlebt die Bundesliga, gen konnte, spottete Ribbeck noch süf- noch heute, als habe man „den Direk- wie ein neuer Trainer sich Autorität zu fisant: „Er ist ja nicht 17mal überlaufen tor zum Pförtner machen“ wollen. Und verschaffen sucht, indem er einen Gro- worden, er hat nur 3 Fehler gemacht.“ sein Scheitern beim FC Bayern Mün- ßen der Mannschaft kleinmacht. Doch Inzwischen muß sich der Leverkuse- chen ist für ihn nur „das Ergebnis ei- diesmal ist der Ausgang des Duells un- ner Chefdenker aber selber heftigster nes Intrigenspiels“. Dabei war sich das gewiß: Schuster, der seinen Status als Angriffe erwehren. Der ehemalige Köl- Bayern-Präsidium intern so einig wie Weltstar beschädigt sieht, hat schon vie- ner Nationalspieler Wolfgang Overath, nie gewesen: „Ribbeck ist der schlech- le solcher Kämpfe gewonnen. Und Rib- der am Ende seiner Karriere mit Trai- teste Trainer, der je bei uns war.“ beck, der erst vor wenigen Wochen als ner Hennes Weisweiler ähnliche Pro- Die sportliche Vita des Verkannten Cheftrainer in Leverkusen antrat, ist bleme hatte, meldete sich ebenso zu ist trotz einer mehr als vorsichtigen längst nicht so unantastbar, wie es die Wort („Was Schuster im Mittelfeld Auswahl seiner Vertragspartner eher vielen Lobeshymnen zu seinem Dienst- kann, kann kein anderer in Deutsch- arm an Triumphen. Ob bei Eintracht beginn glauben machten. land“) wie Ribbecks Vorgänger in Le- Frankfurt, dem 1. FC Kaiserslautern, Schon wird der Trainer von einem verkusen, Dragoslav Stepanovic Borussia Dortmund oder als Manager Verdacht eingeholt, den er in seiner („Schuster ist der geborene Regis- des Hamburger SV, stets suchte und Laufbahn nie ganz abschütteln konnte: seur“). Und selbst Udo Lattek, erklär- fand Ribbeck („Ich bin nicht sehr flei- Ribbeck, 57, in der Branche auch „der ter Freund Ribbecks, fand kein Ver- ßig“) einen Klub, der kaum noch tiefer schöne Erich“ genannt, vermöge zwar ständnis für Schusters Versetzung: „Er rutschen konnte. Den Gewinn des Ue- eloquent über Fußball zu sprechen, ver- kann nicht Libero spielen, dazu ist er fa-Cups 1988 mit Leverkusen, Rib- stehe aber in der Praxis nicht viel davon. viel zu langsam.“ becks einziger Erfolg, nennt selbst

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Doch die Fassade brök- kelt. Zwar habe, so erkann- te Freund Lattek, „der Erich geschickt die Stim- mung in der Mannschaft ausgelotet und herausge- funden, daß Schuster iso- liert ist“. Die gewünschte Souveränität hat ihm das je- doch nicht eingebracht. Ribbecks vorsorglicher Versuch, die Mannschaft auf Linientreue einzu- schwören („Wir machen es wie die Indianer: Intern pa- lavern wir, und nach außen reden wir mit einer Zun- ge“), scheiterte schon nach der Europapokalpleite. Heiko Scholz, in der näch- sten Saison für Werder Bre- men tätiger Bayer-Mittel- feldspieler, machte sich während des Trainings laut- stark über die Taktik lustig: „Künftig spielen wir mit dem berühmten Doppelli- bero, einem Libero und ei- nem Absicherungslibero.“ So ist der Trainer auch in Leverkusen wieder in Be- drängnis wie überall, nur daß die Halbwertzeit der Ribbeckschen Ausstrahlung gegen Null tendiert. In Dortmund blieb noch weit- gehend geheim, daß sich im Kampf um den Klassener- halt eine Handvoll Profis

FIRO unter Leitung des altgedien- Bayer-Trainer Ribbeck: „Schuster hat doch nur drei Fehler gemacht“ ten Rolf Rüßmann zusam- mensetzte und die Taktik Bayer-Manager Reiner Calmund eine Stil ist Ribbecks Programm. Als des Trainers korrigierte, „weil wir „Glückssache“. Charmeur der Gilde zieht er durch die sonst abgestiegen wären“. In München Besonders den Münchnern war Rib- Liga, graumeliert, distinguiert – selbst schoß erst Mehmet Scholl mit dem becks fußballerischer Sachverstand als der Trainingsanzug sitzt akkurat. „Sir Ball auf den dilettierenden Strategen, potemkinsches Gebilde erschienen. Der Erich“ nennen ihn die Boulevardblätter, ehe der sonst so stille Wouters dem sonst so wortgewaltige Trainer geriet ins weil er wie kein anderer den Small talk staunenden Ribbeck im Namen aller Stottern, als er der Mannschaft vor dem zur Konversation erheben kann. Kollegen während einer Mannschafts- Auswärtsspiel in Bremen mit Hilfe von Und weil er sich bei aller Noblesse sitzung erklärte: „Trainer, Sie sind der Milchdöschen und Kaffeetassen jenes noch erdnah gibt, jovial mit betrunke- einzige hier im Verein, der von Fuß- ominöse Abwehrgebilde namens Vie- ball nichts versteht.“ rerkette erklären wollte. Schließlich Schon einen Monat nach seiner griff Jan Wouters, damals Profi bei den „Der Trainerberuf Rückkehr aus dem Retiro in Teneriffa Bayern und 70maliger niederländischer ist für mich ist Ribbecks Freude über das neue En- Nationalspieler, ein und ordnete die gagement einer großen Gereiztheit ge- Tassen neu: „Trainer, Sie haben die Ab- Erziehungsauftrag“ wichen. Beim Training zuschauende sicherung nach hinten vergessen.“ Kinder blafft er ebenso an („Setz dich Doch die Branche übersah Ribbecks nen Fans plaudert oder bei einem Nach- hin und halt die Schnauze“) wie einen Defizite nur zu gern. Im Fußball, dem wuchsspiel inmitten der nörgelnden allzu forsch fragenden Lokalreporter. um gesellschaftliche Anerkennung be- Rentner Haltung bewahrt beim Verzehr „Sie machen das vollkommen verkehrt. mühten Proletensport, ist eine stilvolle einer fettigen Bratwurst, trauen ihm die Es heißt: Guten Tag, Herr Ribbeck, Maskerade mindestens ebenso wertvoll Leverkusener Macher den Spagat zwi- haben Sie mal fünf Minuten Zeit?“ wie ein an Titeln reicher Lebenslauf. schen noblem Weltkonzern und rustika- Sein Ansehen als Fußballsachver- Vor allem in Leverkusen, wo sie nach ler Fußballszene zu. Ribbeck, möchte ständiger schwand. Darauf bedacht, als dem clownesken Stepanovic eine Art der Sportbeauftragte des Bayer-Vor- letzte moralische Instanz der Szene Aufsichtsratsvorsitzenden als Trainer standes Jürgen von Einem glauben, aufzutreten („Der Trainerberuf ist für suchten, legten sie mehr Wert auf eine „verkörpert geradezu perfekt die kon- mich Erziehungsauftrag und soziale korrekte Satzstellung denn auf die rich- zeptionelle Einbindung des Sportvereins Verantwortung“), reklamierte er stets tige Aufstellung. in die Konzerninteressen“. für sich das Höchstmaß an Loyalität

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seinen Berufskollegen gegenüber. in der Saison 1992 schon das Präsidium „wieder die Sucht spüre“ und man ihm Doch als er im April bei Bayer in einer des FC Bayern München mit einem in Leverkusen vertraue. Schon bald scheinbaren Nacht-und-Nebel-Aktion ungewöhnlichen Ansinnen: Für das be- aber wurde publik, daß die Leverkuse- die Nachfolge Stepanovics antrat, er- reits gesicherte Erreichen des Uefa- ner ihr Vertrauen mit zwei Millionen füllte er nur ein Engagement, daß der Cups verlangte er – allerdings verge- Mark Gage ausgesprochen teuer bezah- Verein mit ihm schon im Dezember bens – eine höhere Prämie als für den len müssen. beschlossen hatte. Meistertitel. Doch als der Trainer die einsetzende Auch seine vorgebliche Bescheiden- Die Diskrepanz zwischen Ribbecks Gehaltsdebatte locker konterte, sahen heit („So viel Geld, wie man in der Schein und Sein müssen nun auch die sich die Leverkusener bestätigt, einen Bundesliga verdient, kann man ja gar Chefs von Bayer Leverkusen bewälti- Fußballehrer mit Niveau verpflichtet zu nicht ausgeben“) erlebten seine Ver- gen. Offiziell beteuert Ribbeck, er sei haben. Ribbeck: „Ich arbeite doch nicht tragspartner anders. So überraschte er ins Geschäft zurückgekehrt, weil er für Pfefferminzkes.“ Y

Bayern-Pate Edmund Stoiber sieht alles. Die Farbe Rot Gegen die Herrschaft der Schicke- ria gab es bis jetzt für den Fußballro- Nikolaus von Festenberg über den CDU-Wahlhelfer Otto Rehhagel mantiker immer noch Ottos Reich hoch drobenimNorden. Nicht gerade ein Neuschwanstein des Kickertums, egrüßet seist du, Traumgott gels Freundschaft mit Hamburgs eher eine Fischhandlung mit einem Fußball. Über dir schwebt der fortschrittlichem Thalia-Intendanten Hering (Willi Lemke) als Manager GHeilige Geist als Schwalbe, und 8.-Mai-Bock Jürgen Flimm, um- und Rehhagel als Oberbutt. deine Ewigkeit währt 90 Minuten, sonst des Trainers Sylter Disputatio- Aber Werder erregte immer auch deine Wahrheit erzählen Tore. Du nen mit Walter Jens, dem Emeritus die politische Phantasie: Der Verein warst vor aller Vernunft und du wirst für Korrektorik. Der Anstreicher erschien als Zitadelle sozialdemo- noch sein, wenn der letzte Fluß ver- aus Essen zeigt allen Linken die kratischer Solidarität. Drunten die giftet ist. Balleluja. Mit Pfeife, Kopf schwarze Karte: Nix rote Soccer, ihr Mannschaft, dienichtszusagen hatte. und ganzem Herz seist du geträumt. intellektuellen Fußballfreunde, die Darüber Rehhagel, der mit lupenrei- Jetzt und möglichst immerdar. Föss unterm Stutzen sind black. ner Kleine-Leute-Herkunft, theatra- Manchmal jedoch stört häßliche Nur zu gern orientiert sich der auf- lischer Gebärdensprache und vor al- Tageskunde uns Schlafes Brüder. geklärte Kickoman am Ideal. Elf lem tugendhaftem (latent antikapita- Nicht allein, daß Otto Reh- listischem) Gerede („ehrliche hagel, der Trainer-Nibelung Arbeit“) den proletarischen vom Weserstrand, nach 14 Gesamtfußballer gab. Ein Dienstjahren das hanseati- „demokratischer Diktator“ sche Nebelheim gen Mün- (Rehhagel), den die Vereins- chen flieht. Der Mann, der führung gern beim Bild-Boy- Rilke kennt und deutsches kott unterstützte, um um so Sportsprechen um die „kon- ungestörter die stink- trollierte Offensive“ berei- normalen Geschäfte eines chert hat, wagt sich jetzt Profivereins zu betreiben. auch verwirrend deutlich – Flankiert wurde die sozial- Herr, es ist Zeit – als Wahl- demokratische Werder-Flun- helfer in die Politik vor. der schließlich von der Intel-

„Was auch immer Sie DPA lektuellen-Anbetung des Ot- brauchen, meine Stimme ha- Wahlhelfer Rehhagel, Kanzler Kohl totums, dem andächtigen ben Sie“, sprach vorletzte „Meine Stimme haben Sie“ Staunen über einen Trainer, Woche der scheidende Trai- der in Ausstellungen geht und ner generös vor laufender TV-Ka- Freunde sollt ihr sein, genial wie ein Theater selbst dann betritt, wenn mera, und der Bremer CDU-Spit- Günter Netzer aus der Tiefe des dort nicht „Cats“ gegeben wird. zenkandidat Ulrich Nölle freute sich Raumes kommend, sozialengagiert Mit der politischen Willensbekun- sichtlich über die Vorlage. Auch wie Ewald Lienen, bärtig wie Paul dung des Staatsbürgers Otto Rehha- dem Kanzler gefiel der neue Mit- Breitner, bescheiden wie Fritz Wal- gel reißt der schöne linke Schleier. spieler, und Otto-Frau Beate, viel- ter und urig wie Ernst Kuzorra. Fußballspieler und Trainer blicken, leicht selbst bald Münchner CSU- Aber ausgerechnet nach München wennsiewählen, wiediemeistenSpit- Stadträtin oder Nachfolgerin des geht Otto, der Held aller Proleta- zenverdiener auf die Lohnsteuerta- Generalintendanten August Ever- rier. Dort regiert die Plutokratie, belle, lautet die schnöde Botschaft. ding, lächelte wissend dazu. blecken von den Ehrenlogen herab Irgendwo klingelt jetzt ein Wecker. Nur Toren, für die der Ball rund, die perlweißen Zähne aus braun- Wir aber wollen weiter träumen. das Tor eckig und Politik dreckig ist, gebrannten Dentisten-Gesichtern, Von Günter Netzer, auch wenn der dachten Böses dabei. Ihnen bedeu- dirndeln honorable Lodenfrei-Ma- nie so wild und frei war, wieer aussah; tete Ottos schwarzes Polit-Outing tronen, quietschen, Matthäus-Com- von Paul Breitner und Mao, obwohl die Umwertung aller Werder: Ver- passion, die Lolitas. Amexco, Ar- die nie zueinanderfanden. Und von gebens erschien auf einmal Rehha- mani, Amigo – man wählt CSU. Otto, dem Linken.

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echte Kriminelle“, erkannte Assistenz- Er haßt die Regeln seines Teams, die Basketball trainer Dave Cowens. ihm, sitzt er im Mannschaftsbus, Jackett Nach zwei Niederlagen holten die und Krawatte vorschreiben. Also steigt Spurs den verrückten Kerl zurück. Der er meistens erst gar nicht ein. Tut er es Außenseiter machte den Klub zum Mei- doch, trägt er zwar eine Jacke, aber Bissiger sterschaftsfavoriten in der laufenden nichts darunter. Play-off-Runde. Und ausgerechnet Er haßt die Anweisungen seines Trai- Rodman wurde zum amerikanischen ners, auf den er schon mal mit Eisbeu- Wurm Helden. teln wirft, und noch mehr haßt er seine Bedürfte es noch eines Beweises, daß Kollegen. Rodman grüßt nie; wird die Der amerikanische Profisport die Unterhaltungsbranche Profisport Taktik besprochen, schaltet er den huldigt einem neuen Idol: Keiner längst nach den Gesetzen der wüstesten Walkman ein. Beim Aufwärmtraining Rock- und Pop-Zeiten funktioniert, setzt er sich auf die Tribüne und schläft. spielt die Rolle des Bösewichts so Rodman lieferte ihn. Im US-Basketball, Jahrelang war dieser Schwarze mit eindrucksvoll wie Dennis Rodman. der nahezu jedem Jungprofi Millionen- den neun Tätowierungen und der im verträge garantiert, sind Disziplin und Wochentakt wechselnden Haarfarbe un- Teamgeist längst aus dem Spiel: „Der beliebt wie kein zweiter. Amerika ver- er März versprach ein ganz norma- Irrsinn regiert“ (Sports Illustrated). götterte Basketball-Alleskönner wie Mi- ler Monat zu werden. Den Mana- Und dem Mann, der es am wildesten chael Jordan und staunte über den Mul- Dger der San Antonio Spurs erreich- treibt, dem Mann, den die Kollegen ab- timedia-Profi Shaquille O’Neal, der ten nur Nachrichten, die für ihn längst schätzig „den Wurm“ nennen, huldigen Rap-CDs besingt, Filme dreht und den Alltagscharakter hatten. die Fans als neuem Idol. gewaltigsten Dunk beherrscht. So verschlief der Basketballprofi Der Rockstar des Sports führte Ma- Rodman hingegen galt als Müllmann Dennis Rodman, 33, ein Spiel der donna aus; als ihn seine Ehefrau nach der Liga, als dreckiger Spieler, der in Spurs, weil der „Elektriker vergessen nur zwei Jahren verließ, verspielte er in der Abwehr auf den Besten des Gegners hatte, den Strom anzustellen“. Das habe Las Vegas 35 000 Dollar. Rodman ließ angesetzt wurde, kratzend und knei- seinen Wecker lahmgelegt. sich das Bild seiner Tochter Alexis in die fend. „Ich liebe Schmerzen“, murmelte Ein paar Tage später rückte Rodman Haut tätowieren; ist er depressiv und er in seinem kaum verständlichen Slang, mit sechs Freunden bei einer Frau an, sieht sich von „schwarzen Löchern“ be- „ich mache den Job, den keiner will.“ der sein Papagei zugeflogen war. Wenn droht, schläft er, Gewehr unterm Auto- Die Rolle des „Nonkonformisten“ sie das Tier nicht sofort herausrücke, sitz, auf dem Parkplatz vor der Sporthal- (New York Times) machte ihn zum Hel- drohte der Sportler, kaufe er den gan- le. den, der im Jahr drei Millionen Dollar zen Häuserblock auf. Dann aber pas- Und Rodman haßt, alles und je- Rebellenlohn einstreicht. „Zur Hölle, sierte, was Manager Gregg Popovich den. wer sind andere Menschen, daß sie mir FOCUS ON SPORTS NBA

endgültig den Glauben nahm, sagen könnten, wie ich sein „das wilde Pferd“ sei irgendwie soll“, brummt Rodman. Wie ein doch noch zu bändigen. Dennis überforderter Spätpubertieren- Rodman fuhr seine Harley-Da- der kämpft er gegen die Er- vidson aus. Der Basketballstar wachsenenwelt: „Es gibt keine fand an seinem Motorrad die Regeln für Dennis Rodman.“ Bremse nicht und kugelte sich Der Mann, der so stolz darauf beim Sturz die Schulter aus. Da ist, den Schwarzenvierteln von beschlossen Popovich, Trainer Dallas entkommen zu sein, Bob Hill und die Spurs-Spieler, wähnt sich in seiner neuen Um- daß Rodman nicht mehr zum laufbahn auf einer Mission: Er Team gehören solle. müsse der Liga angst machen Doch ohne den Bad Boy mit und die Fans unterhalten. Viel- dem Nasenring verlor die Mann- leicht, sagt Rodman, springe er schaft. Ihr fehlte einer, der demnächst wieder einmal ins Weltstars wie Charles Barkley Publikum. Beim letztenmal ver- den Ellbogen in die Rippen letzte „der Wurm“ eine Zu-

rammte; niemand war mehr da, NBA schauerin so schwer, daß er der die Gegner bespuckte und Basketballprofi Rodman 60 000 Dollar zahlen mußte: Die biß. „Du brauchst da draußen Rebell mit wöchentlich wechselnder Haarfarbe Dame brauchte neue Zähne. Y

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Schach „Rambos verlieren“ Programmierer Marty Hirsch über die Macht der Computer

Der Kalifornier Hirsch, 38, Bach-Inter- sie eine Lernfunktion hat, also Fehler pret und ehemaliger Nasa-Ingenieur, nicht wiederholt. entwickelte das derzeit stärkste SPIEGEL: Wie reagieren die Profis auf Schachprogramm M-Chess. Ihre Software? Hirsch: Ziemlich beeindruckt. Vor zwei SPIEGEL: Herr Hirsch, im vergangenen Wochen hat M-Chess als erstes Pro- September verlor Weltmeister Garri gramm bei einem Turnier drei Großmei- Kasparow in London überraschend ge- ster besiegt, darunter mit Zsuzsa Polgar gen einen Schachcomputer. Am 20. Mai auch die Herausforderin der Weltmei- kommt es in Köln zur Revanche. Wird sterin. Die drei waren der Meinung, daß die Maschine wiederum siegen? meine Software schwerer zu berechnen Hirsch: Keinesfalls. Beim ersten Match ist als viele andere, die starr auf Sicher- hat Kasparow den Pentium-Prozessor heit spielen und ihre Vorteile im Mikro- mit dem Genius-Programm wohl unter- Bereich suchen. M-Chess ist es egal, ob schätzt. Diesmal hat er ausgezeichnete Chan- cen, weil er sich sorg- fältig vorbereiten wird. SPIEGEL: Seit Jahren versprechen Computer- firmen eine Software, die den Weltmeister bezwingt. Der Compu- terriese IBM hat be- reits Millionen Dollar in sein Programm Deep Blue gesteckt. Machen sich die Programmierer langsam lächerlich? Hirsch: Viele sind auf dem falschen Weg, weil sie von einer Rambo- Mentalität beherrscht werden. Sie glauben,

daß man mit immer J. H. DARCHINGER stärkeren und damit Tüftler Hirsch: „Kasparow hat Angst“ schnelleren Rechnern automatisch zum Sieg kommt. Doch es einen Bauern weniger hat. Hauptsa- das Problem liegt nicht beim Tempo. che, die Stellung stimmt. Entscheidend ist, daß die Programme SPIEGEL: Wieviel haben Sie bei ande- vor allem im Endspiel unglaubliche ren Programmen abgekupfert? Schwächen haben. Auch die Entwick- Hirsch: Nichts. Ich habe eine ganz an- ler von Deep Blue haben inzwischen dere Philosophie verfolgt. Über ein die Bedeutung des Positionsspiels ent- ästhetisch spielendes Programm bin ich deckt. fast zufällig zu einer neuen Form der SPIEGEL: Aber die Überlegenheit der Spielökonomie gelangt. Eleganz und Computer liegt doch in ihrer enormen Erfolg müssen keine Widersprüche Rechenkapazität, mit der die fehlende sein. Kreativität ausgeglichen werden soll. SPIEGEL: Wann wird sich denn der Entsteht da nicht ein unauflösbarer Weltmeister mit Ihrem Wunderpro- Widerspruch? gramm auseinandersetzen? Hirsch: Nicht unbedingt. M-Chess, das Hirsch: Ich fordere ihn heraus, hier ich anfangs gar nicht zum Verkauf, und jetzt. Vermutlich kennt er das sondern nur zum Spaß entwickelt ha- Programm längst und traut sich deswe- be, ist ein ungewöhnliches Programm. gen nicht. M-Chess hat die Kreativität Man kann es mit einem Spieler verglei- von Paul Morphy, die Geradlinigkeit chen, der erst einmal innehält und sich von Raul Capablanca und Kasparows die Stellung anschaut, anstatt wie wild Aggressivität. Wahrscheinlich hat der loszurechnen. Es ist eine sehr mensch- Weltmeister einfach Angst. Wer spielt liche Software, schon deswegen, weil schon gern gegen sich selbst? Y

200 DER SPIEGEL 20/1995 Werbeseite

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WISSENSCHAFT PRISMA

Doping Elektrosmog Schuldhafte Krebsrisiko Bakterien? angezweifelt Die Urinproben von Athletinnen bei Seit Jahren geht der Streit der Wissen- Dopingtests müssen sofort in sterilen schaftler und Gutachter darum, ob die Behältern schockgefroren werden. von Hochspannungsleitungen oder Sonst kann der Labortest häufig falsch Haushaltsgeräten verursachten elek- positive Ergebnisse liefern. Wie der tromagnetischen Felder für den Men- britische Medizinprofessor Rod Bilton schen schädlich sind, vor allem ob sie im Fachblatt The Lancet ausführt, kön- das Risiko erhöhen, etwa an Leukämie nen Bakterien in der Probe die in je- zu erkranken. Zwei voneinander unab- dem Urin enthaltenen Steroide, zum hängige Untersucherteams haben jetzt Beispiel Cholesterin und Gallensäu- im Wissenschaftsjournal Nature die Re- ren, in Androgene umwandeln, die sultate streng kontrollierter Versuche Vorformen des männlichen Hormons über den Einfluß dieser Felder auf Testosteron. Ein positives Ergebnis menschliche Zellkulturen veröffent- der Probe wäre dann nur ein Anzei- licht. Sowohl die US-Wissenschaftler chen von bakterieller Verschmutzung, kein Beweis für Doping. Mögliche Eh- renrettung für die deutsch-amerikani- sche Weitspringerin Susen Tiedtke- Greene, die erst jüngst trotz eines posi-

tiven Dopingtests erklärte, sie habe nie DPA Anabolika eingenommen? Weitspringerin Tiedtke-Greene

Atomrüstung D. HOPPE / NETZHAUT Laser statt Bombentests Hochspannungsleitungen

Den Bau eines Riesenlaser-Geräts, 60 sig. Das neue Lasergerät, das in einem vom Pacific Northwest Laboratory in Meter hoch und von der Größe zweier militärischen Forschungszentrum etwa Richland wie auch das britische Team Fußballfelder, hat die französische Re- 30Kilometer von Bordeaux entfernt er- von der University of Cambridge fan- gierung jetzt beschlossen. Die Super- richtet werden soll, enthält ein Laby- den „keinen Beweis für eine durch lichtmaschine, deren Kosten auf rund rinth von Spiegeln, die das Licht von 240 elektromagnetische Felder ausgelöste zwei Milliarden Mark geschätzt wer- Laserkanonen in einer kugelförmigen Änderung“ in der Zellstruktur. den, ist nahezu identisch mit einem ge- Versuchskammer konzentrieren. Dort planten amerikanischen Gerät beim wird eine supergekühlte, nur wenige Lawrence Livermore National Labora- Millimeter messende Pille aus Deuteri- Astronomie tory in Kalifornien. Beide Geräte sol- um und Tritium innerhalb von Nanose- len es ermöglichen, die Vorgänge in ei- kunden zusammengepreßt. In der auf ner explodierenden Wasserstoffbombe 100 Millionen Grad aufgeheizten Pille Suche nach zu simulieren; die bisher zur Moderni- kommt es dabei zu einer Kernfusion mit sierung dieser Waffen nötigen Atom- einer Temperatur von 400 Millionen dunklen Orten bombentests würden damit überflüs- Grad. Im Jahr 2005 soll der französische Aufgrund eines Satellitenfotos, das Laser seine volle Leistung Mitteleuropa bei Nacht zeigt, hat der erreichen. Ob die konserva- Amateurastronom Winfried Kräling tive Regierung unter dem mit Computerhilfe eine Lichtver- neuen Staatspräsidenten schmutzungskarte von Deutschland er- Jacques Chirac dann auf al- stellt. Die jetzt in der Zeitschrift Sterne le Atombombentests ver- und Weltraum veröffentlichte Karte zichtet, ist fraglich. Die zeigt, wo auch von Deutschland aus französischen Militärs wol- mit kleinen optischen Teleskopen len noch vor diesem Zeit- lichtschwache Kometen und weiter punkt ihr Atomarsenal mo- entfernte Sternensysteme beobachtet dernisieren. Es umfaßt der- werden können. Besonders zahlreich zeit 385 Sprengköpfe, mit sind derlei günstige Standorte vor al- denen die Interkontinental- lem in den dünnbesiedelten Gebieten raketen (ICBM) der franzö- Mecklenburgs oder des Bayerischen sischen U-Boot-Flotte be- Waldes. Zu Krälings Verblüffung fin- stückt sind. Weitere 115 det sich ein dunkler Fleck aber auch Sprengköpfe tragen die 18 am Vogelsberg, der nur 65 Kilometer

GINIES / SIPA auf dem Plateau d’Albion von der lichtübersäten Mainmetropole Französischer Atombombenversuch verbunkerten ICBM. Frankfurt entfernt ist.

202 DER SPIEGEL 20/1995 Werbeseite

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Kommunikation „WAS DEIN IST, GEHÖRT MIR“ Regierungschefs, Unternehmen und Sekten gehen gerichtlich gegen Debatten und Meinungsäußerungen im globa- len Datennetz Internet vor. Viele Nutzer des Systems, das weltweit rund 35 Millionen Menschen zum elektronischen Austausch von Informationen aller Art dient, fürchten ein Ende der freien Kommunikation im Cyberspace.

ie Wohnung von Johan Helsingius Für die Zukunft müssen die Onliner Anwälte beginnt.“ Doch Staatsanwälte unterscheidet sich kaum von einer mit weiteren Eingriffen in ihre bisher und Gerichte sind oft ratlos. Kein Staat DStudentenmansarde. Die Einrich- nahezu ungehemmte Kommunikation hat seine Gesetze der neuen Technik an- tung des Zweizimmerheims ist karg, rechnen. Nicht nur Sektenprediger und gepaßt: Allein ins Internet loggen sich das Mobiliar spärlich, in der Küche sta- Regimefürsten, sondern auch Firmen derzeit jeden Monat Hunderttausende pelt sich schmutziges Geschirr. und Verlage, die um ihre Rechte ban- neue Nutzer ein. Während mit der elek- Doch für Computerfreaks ist die Un- gen, haben dem zügellosen Informati- tronischen Revolution ein neues Zeital- terkunft im Zentrum der finnischen onsaustausch im weltweiten Datennetz ter der Information begonnen hat, ver- Hauptstadt Helsinki so etwas wie eine den Kampf angesagt. harren Parlamentarier und Ministerien Schweizer Bank. Der 33 Jahre alte Fin- Etliche Internet-Nutzer müssen sich in der Computersteinzeit. ne verschafft Kunden aus aller Welt bereits vor Gericht verantworten: we- Erst vor kurzem wollten Minister der diskreten Zugang zum Internet, dem gen Verleumdung, sexueller Belästi- sieben wichtigsten Industriestaaten auf weltweiten Datennetz mit etwa drei gung oder weil sie angeblich urheber- einem Gipfeltreffen in Brüssel die Gren- Millionen angeschlossenen Computern rechtlich geschütztes Material verbreitet zen des rechtsfreien Online-Raumes in Universitäten, Behörden sowie Un- hätten. „Das goldene Zeitalter im Cy- festlegen. Doch außer vagen Absichts- ternehmen und rund 35 Millionen Nut- berspace geht zu Ende“, sagt der ameri- erklärungen kam nichts heraus. zern. kanische Juraprofessor und Anwalt Für hartnäckigen Streit sorgen beson- Wer seine elektronischen Botschaf- Trotter Hardy, „die goldene Zeit der ders die elektronischen Foren. Zugang ten nicht direkt aus dem eigenen Rech- ner, sondern auf einem Umweg über den Heimcomputer von Helsingius ins Internet einspeist, bleibt anonym. Statt eines Namens und einer Adresse, wie sonst üblich, erscheint als Absender le- diglich eine Ziffernfolge. Das Nummernbüro im hohen Norden (elektronische Adresse: anon.penet.fi) nutzen bisher rund 200 000 Klienten – eine bunt gemischte Ansammlung von Unterdrückten, Verrückten und Drük- kebergern: Dissidenten aus Wohl- stands-Autokratien wie Singapur, die in elektronischen Foren ihr Regime attak- kieren; Sektenaussteiger, die über das Internet vor den Machenschaften der Gurus warnen; oder Anhänger der frei- en Liebe, die unerkannt über Phanta- sien und Perversionen plaudern wollen. Doch seit einiger Zeit ist die Sicher- heit dahin. Erstmals gelang es Ermitt- lern, den Finnen zur Herausgabe einer Adresse zu zwingen. Den Präzedenz- fall, der weltweiten Protest in den Tele- kommunikationsnetzen entfachte, schuf die Scientology-Sekte. Die kalifornische Konzernzentrale hatte die Durchsuchung bei Helsingius veranlaßt. Der Vorwurf: Einer der Klienten des Finnen habe urheberrecht- lich geschützte Texte aus Scientology- Büchern über das Internet verbreitet.

* In Columbus, Ohio, bei Compuserve. Amerikanische Datennetz-Zentrale*: „Das goldene Zeitalter im Cyberspace geht zu

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zu diesen virtuellen Versammlungen kann sich jeder verschaffen, der seinen Computer mit entsprechender Software bestückt und durch ein Modem ans Te- lefonnetz gestöpselt hat. Nachrichten, die in ein Forum gesendet werden, kön- nen von Millionen Netzkunden abgeru- fen und kommentiert werden – in Han- nover wie in New York, Teheran oder Katmandu. Die Herrscher in Singapur (2,8 Millio- nen Einwohner) haben bereits alle Computernutzer der Stadt aufgerufen, ihnen beim Kampf gegen kulturelle und politische Subversion in Internet-Foren zu helfen. Und die Scientologen ließen wenige Tage nach den Vorfällen bei Helsingius das Heim des Sekten-Kriti- kers Dennis Erlich durchsuchen. Erlich, bis 1982 selbst Scientologe, hatte in einem Internet-Forum (elektro-

nische Adresse: alt.religion.scientology) ACTION PRESS die Methoden der Sekte heftig kritisiert. Datenspezialist Helsingius: Wie eine Schweizer Bank Zum Beleg speiste er Zitate aus Sciento- logy-Material ein. weil Internet-Nutzer aus dem Ausland Sollte die Bank recht bekommen, wä- Die Sekte sah daraufhin ihre Urhe- in den Foren Details der Mordanklage re der Verkehr auf der Infobahn schwer berrechte verletzt und alarmierte die gegen die Britin Rosemary West veröf- beeinträchtigt: „Niemand will Polizeipa- Polizei. Die Argumentation genügte, fentlicht hatten – nach angelsächsischem trouillen auf dem Datenhighway“, sagt um einen Durchsuchungsbefehl zu be- Recht ein schweres Vergehen. Kent Stuckey, Manager beim kommer- kommen und Erlich gerichtlich zum Machtlos mußten die Behörden zuse- ziellen Datennetz Compuserve (2,5 Mil- Schweigen verurteilen zu lassen. hen, wie Tausende von Briten die De- lionen Nutzer). Da Online-Nachrichten Doch nicht immer ist der Ruf nach tails über Datenleitung auf die Bild- auf der ganzen Welt abrufbar sind, müß- Recht und Ordnung nur ein Vorwand, schirme ihrer Computer holten. Jede ten die Dienste nicht nur amerikanische, Kritiker zum Verstummen zu bringen: britische Fernseh- oder Zeitungsredakti- sondern etwa auch deutsche, japanische In England kam es zu Diskussionen, on, die den Stoff veröffentlichen würde, oder chinesische Gesetze beachten – ei- müßte sich wegen Beeinflussung der Ju- ne unmögliche Aufgabe. stiz vor Gericht verantworten. Hinzu kommt, daß das Internet an- Und im November vorigen Jahres ders als kommerzielle Netze wie Prodi- verklagte die amerikanische Invest- gy, Compuserve oder America Online ment-Bank Stratton Oakmont Inc. die keinen verantwortlichen Betreiber Firma Prodigy, die ein kommerzielles kennt. Es ist ein Zusammenschluß von Datennetz mit derzeit rund zwei Millio- Millionen Computern in aller Welt, die nen Nutzern betreibt, auf 200 Millionen zumeist von Firmen und Universitäten Dollar Schadensersatz. In einem Prodi- betrieben werden. „Weil das Internet gy-Forum hatte ein anonymer Diskutant von seinem Aufbau her anarchisch ist“, Äußerungen der Bank im Zusammen- sagt etwa der britische Technologiemini- hang mit ihrer neuesten Aktienemis- ster Ian Taylor, sei es für seine Regie- sion als „Betrug, Betrug, Betrug“ kriti- rung unmöglich, mit Gesetzen in die siert. Kommunikation einzugreifen. Ähnliche Fälle waren bisher meist Die Anarchie treibt immer buntere gütlich geregelt worden. Vor einiger Blüten – dank der ungeklärten Rechtsla- Zeit beschwerte sich ein Hundefutter- ge. Im Internet debattieren Extremisten hersteller beim Netz-Betreiber America die neuesten Rezepte zum Bombenbau. Online (AOL) wegen angeblich diffa- Amerikanische Rechtsradikale versen- mierender Äußerungen über seine Pro- den ihre Propaganda in alle Welt. Oder dukte in den Foren des Datendienstes. sie halten den berüchtigten Leuchter- Zur Wiedergutmachung durften sich Report online abrufbereit, dessen Autor Konzernmanager zehn Stunden lang im Fred Leuchter den Judenmord leugnet. Netz gegen die Vorwürfe zur Wehr set- Nahezu ungehindert verschicken Daten- zen – kostenlos. netz-Nutzer illegal kopierte Program- Im Fall Stratton aber muß nun ein me, vervielfältigen online abrufbare Ar- Gericht entscheiden. Die Bankmanager tikel, Bücher, Videoclips oder Musik- argumentieren, Prodigy hätte ähnlich stücke – nach dem gängigen Motto: wie eine Zeitungsredaktion darauf ach- „Was dein ist, gehört auch mir.“ ten müssen, daß keine gesetzeswidrigen Bestehende Gesetze passen häufig Nachrichten veröffentlicht werden. Pro- noch nicht für die neuartigen Cyberpira- digy hält dagegen, die herkömmlichen ten: Der 21 Jahre alte Amerikaner Da- Gesetze seien nicht anwendbar, da die vid LaMacchia etwa kam mit einer Mah-

T. HUBBARD / BLACK STAR Firma unmöglich die täglich rund 75 000 nung durch den Richter davon, obwohl Ende, die goldene Zeit der Anwälte beginnt“ Nachrichten überwachen könne. er auf elektronischem Weg Software im

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Wert von einer Million Dollar verteilt ternehmen sichern sich ihren Platz im hat. Weil er sich nicht selbst bereichern Netz. wollte, entschied der Richter, könne der Anders als in Amerika, wo Weißes Student am Bostoner Massachusetts In- Haus, Republikaner und Demokraten stitute for Technology nicht wegen Be- frühzeitig ihre Claims im Netz abstek- truges belangt werden. ken, haben politische Institutionen und Wenig Handhabe gibt es auch gegen Parteien in Deutschland noch nicht ih- Internet-Benutzer, die sich einen Spaß ren Anspruch auf Internet-Domains daraus machen, ihre elektronische angemeldet – Ausnahme: die SPD. Adresse unter Firmennamen anzumel- „CDU, FDP und Grüne“, sagt Sabine den. Etliche Unternehmen, die erst jetzt Dolderer, Leiterin des Deutschen Net- Zugang zum Netz beantragen, müssen work Information Center an der Uni- feststellen, daß ihr Logo schon belegt versität Karlsruhe, wo die Netzadres- ist. So könnte der SPIEGEL sein Ange- sen für den deutschen Internet-Bereich bot im Internet-Infosystem World Wide reserviert werden, „haben wohl noch Web nicht unter der Adresse „www. nicht begriffen, was da läuft.“ spiegel.com“ anbieten: Die ist schon be- Die zunehmenden Streitereien ums setzt – vom amerikanischen Versand- Internet stellen die Richter vor ganz haus-Multi Spiegel. neue Probleme. Häufig ist nicht einmal Auch die Adresse im Internet „mc- geklärt, welche Gerichte zuständig donalds.com“ gehörte nicht etwa sind. Ein kalifornisches Paar mußte der Hamburger-Kette, sondern zunächst ei- nem Privatmann na- mens Joshua Quittner. Der Amerikaner gab vor, er habe den Klops-Konzern schrift- lich um Genehmigung gefragt. Als eine Ant- wort ausgeblieben sei, habe er die Adresse unter dem McDonald- Rubrum angemeldet. Inzwischen gelang es den Buletten-Bratern jedoch, die Adresse zu blockieren. Und der Musiksen- der MTV mußte sei- nen Namen regelrecht Kommerzielles Internet-Angebot*: Wettlauf um Logos zurückklagen. Ein ehemaliger MTV-Diskjockey betrieb sich kürzlich in Tennessee verantwor- unter der Adresse „http://www.mtv. ten. com“ ein elektronisches Forum für Die beiden Mailbox-Betreiber hatten Nachrichten aus der Entertainment- per Computer Sexfotos versandt. Ein Be- Branche. Inzwischen hat der Popsen- amter in dem Bundesstaat, in dem sitten- der seine Rechte zurück und bietet den strengere Gesetze gelten als anderswo in Fans im Internet Musikbeispiele und den USA, erstattete Anzeige. Obwohl Video-Sequenzen an. die kalifornischen Behörden nichts gegen Ebenfalls auf der Infobahn überholt, den Service einzuwenden hatten, verur- von einer kleinen US-Firma, wurde teilten die Richter in Tennessee das Paar BMW. Die Automanager wollten das wegen Verbreitung von Pornographie zu vielen Amerikanern vertraute Kürzel Gefängnisstrafen. Nun soll ein Beru- der Nobelmarke als Internet-Adresse fungsgericht entscheiden, welches Recht („bmw.com“) anmelden. Doch Access wirklich angewendet werden muß. Info Systems im kalifornischen Fair- Während noch ungewiß ist, ob Gerich- field war schneller. Jetzt müssen sich te die zunehmenden Streitigkeiten in den die Bayern mit den amerikanischen Griff bekommen, funktioniert bereits die Online-Glücksrittern arrangieren. Selbstjustiz: Nachdem der amerikanische Ähnlich rasch wie in den USA Journalist David Pogue, 31, einen kriti- wächst das Internet auch in Deutsch- schen Artikel über Software-Piraten im land, wo inzwischen rund 1500 Infor- privaten Datennetz America Online ge- mationsanbieter mit eigenen Online-Fi- schrieben hatte, geriet sein Computer lialen („Domains“) registriert sind. plötzlich in Unordnung. Hacker löschten Über 500 sind seit Anfang des Jahres Briefe, versandten E-Mail mit Pogues neu hinzugekommen. Immer mehr Un- Absender und bedankten sich mit gifti- gen Drohungen. * Der Pop-TV-Sender MTV im Infosystem World Pogue: „Sie machten mir das Leben Wide Web. zur Hölle.“ Y

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WISSENSCHAFT

Netz verheddern, hat als erster der deut- Spinnen mit dem Urin von Schizophre- Tiere sche Pharmakologe Peter Witt beobach- nen, um anhand der Radnetze herauszu- tet. An einem Herbsttag des Jahres 1948 finden, ob die Geistesstörung eine orga- wollte der mit Witt befreundete Spin- nische Ursache hat. Witt, 76, der heute nenkundler Hans Peters für den Schul- als Rentner in North Carolina lebt, erin- Chaotisches unterricht filmen, wie Kreuzspinnen ihr nert sich: „Wir haben leider keinen Ef- Netz bauen. Die Aufnahme gestaltete fekt gefunden.“ sich äußerst schwierig, da die Tiere Auch Witt dachte schon an solche Geflecht es vorzogen, nachts zu weben. Der Schadstoff-Tests, wie sie nun die Nasa- Tierfilmer bat Witt deshalb, den Forscher vorhaben. Doch er fand bald Im Drogenrausch geraten ihnen die Spinnen einen Muntermacher zu ver- heraus, daß Menschen und Spinnen auf Netze aus der Form. Sind Spinnen abreichen. einige Substanzen sehr unterschiedlich Das Amphetamin, so berichtete Witt reagieren. als Versuchstiere geeignet, giftige später, wirkte anders als erwartet: Mit LSD im Blut beispielsweise schu- Stoffe zu testen? „Unter pharmakologischen Einfluß bau- fen die Spinnen vollkommen gleichmä- ten die Spinnen nicht zu einer früheren ßige Netze, Gebilde von nie zuvor er- Stunde; dafür aber waren ihre Netze reichter Perfektion. Schon nach Verzehr ie Kreuzspinne hat ihren Faden seltsam verzerrt.“ geringer Mengen von Koffein tobte in verloren. Benebelt von Marihua- Witt begann, den Spinnen systema- den Spinnenköpfen hingegen das Cha- Dna, hört sie einfach auf zu spinnen. tisch in Zuckerwasser gelöste Drogen os: Nichts klappte mehr, nichts paßte Sie läßt das halbfertige Radnetz im und Gifte einzuträufeln. Jede noch so zusammen. Steckt in Kaffee oder Coca- Wind flattern und fängt an zu dösen. Da kleine Veränderung an der hochsymme- Cola also ein Ultragift? freuen sich die Fliegen. trischen Netzarchitektur hat er genaue- „Man muß höllisch aufpassen, daß Die Disco-Droge Ecstasy hingegen, stens protokolliert. man aus den Verformungen der Spin- ein Aufputschmittel, macht die müde Der Pharmakologe ersann auch trick- nennetze keine falschen Rückschlüsse Spinne wieder munter: Viel schneller als reiche Anwendungen. So fütterte er auf den Menschen zieht“, warnt der sonst spult sie ihren klebrigen Zwirn ab. Spinnenexperte Fritz Vollrath Im Übereifer kommt dem Krabbeltier seine amerikanischen Kollegen. nur leider die Übersicht abhanden; Die Spinnerei hat bei der Na- faustgroße Löcher klaffen im hastig er- sa Tradition. Mit dem Welt- sponnenen Glitzer-Geflecht. raumlabor Skylab schickte die Experimente zeigen: Drogen und an- Nasa vor 20 Jahren die Kreuz- dere Gifte setzen auch den Spinnen zu. spinnen Arabella und Anita ins Forscher der US-Raumfahrtbehörde All. Die Tiere sollten unter Nasa haben deshalb jetzt vorgeschlagen, Schwerelosigkeit ihre Netze die konfusen Gliederfüßler für Tierver- spinnen. Bald nach dem Start suche einzuspannen – so könnten La- erfüllten sie brav ihren Job. Auf bormäuse geschont werden. einmal fiel den Astronauten je- „Je giftiger eine Substanz“, schreiben doch auf, daß sie das Futter für die Nasa-Forscher, „desto deformierter Arabella und Anita auf der Er- ist das Spinnennetz.“ Mit Spinnen ließe de vergessen hatten. sich demnach testen, ob neuartige Arz- Die Biologen in der Boden- neistoffe, Kosmetika oder Nahrungsmit- stationen empfahlen, den Spin- telzusätze für den Menschen unbedenk- nenweibchen saftige Fleisch- lich sind oder nicht. Im Rahmen eines stückchen ins Netz zu legen. Da Forschungsauftrags (der mit der Raum- begingen die Raumfahrer ihren fahrt nichts zu tun hat) basteln die Nasa- zweiten Fehler: Sie grillten die Experten für die Industrie bereits an ei- Mini-Steaks vorher in der Mi- nem Bildverarbeitungsprogramm, mit krowelle; dadurch wurde dem dem exakt analysiert werden könnte, Fleisch jegliche Flüssigkeit ent- wie stark ein unter Giftwirkung ge- zogen. knüpftes Netz vom normalen Erschei- Arabella und Anita vertrock-

nungsbild abweicht (siehe Grafik). H. D. BRANDL / OKAPIA neten und standen für weitere Daß sich Spinnen, die ein Rauschmit- Kreuzspinne Experimente nicht mehr zur tel schlürfen, jählings in ihrem eigenen Steckt im Kaffee ein Ultragift? Verfügung. Y

Unter Einfluß verschiedener Drogen entartete Spinnennetze

ohne Drogen Marihuana Benzedrin Koffein Chloralhydrat

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TECHNIK

apparat. Der Roboter sucht zunächst Landwirtschaft nach einer „Orientierungszitze“. Dann stülpt er pulsierende Gummischläuche über alle vier Zitzen. Bevor der Melk- vorgang beginnt, wird jede Zitze gewa- Piepen um schen und das Euter auf eventuelle Ver- letzungen abgesucht. Auch die Analyse der gezapften Milch erfolgt automatisch. halb vier „Etwas unpersönlich“ sei der Melk- roboter schon, räumt Wim Nugteren Glückliche Niederlande: Kühe sollen von der Herstellerfirma Prolion ein. dort künftig selber entscheiden, „Doch die Tiere scheinen ihn zu mö- gen.“ wann sie gemolken werden. Von ähnlichen Akzeptanzmeldungen der Rindviecher, die auf diese Weise je- reiheit für die Kuh. Freiheit für den derzeit ihre drückende Milchlast loswer- Bauern.“ Mit diesem Werbespruch den können, berichtet auch der Prolion- Fkündigt die niederländische Land- Konkurrent, die niederländische Firma maschinenfabrik Prolion ihre Neuheit Lely Industries. Sie hat inzwischen 33 für den Kuhstall an: einen Roboter na- Exemplare ihres Melkroboters „Astro- mens „Freiheit“, der es der Milchkuh naut“ verkauft, der sich die Zitzen mit erlaubt, den Zeitpunkt für das Melken Hilfe von Laserstrahlen sucht. selber zu bestimmen. Der Bauer kann „In unserem System“, sagt Lely-Ver- dann morgens länger schlafen. kaufschef Marcel van Leeuwen, „fühlen sich die Kühe wohl.“ Die „Astronauten“- Box gewährt den Tie- ren beim Selbermel- ken zumindest ein we- nig Bewegungsfreiheit – einen Schritt nach vorn und einen zurück. Unklar ist bislang, ob sich die Melkrobo- ter für die Bauern rechnen. So kostet ei- ne Dreiereinheit von „Freiheit“-Robotern, wie sie für einen Hof mit bis zu 100 Milchkü- hen geeignet ist, rund 350 000 Mark, doppelt soviel wie eine her- kömmliche Melkma- schine vergleichbarer Leistung. Darüber hinaus ha-

WERKFOTO MEKO ben die Herstellerfir- Melk-Roboter: „Etwas unpersönlich“ men noch Mühe, ihr Versprechen einzulö- In rund einem Dutzend niederländi- sen, die neuen Maschinen würden die scher Bauernhöfe sind Prolions Roboter Bauern nachhaltig entlasten. Der Proli- derzeit im Einsatz, beispielsweise im on-Roboter etwa, befand das Wall Street Stall des Bauern Frank Miezenbeek im Journal, das über das niederländische nordholländischen Vijfhuizen. Jedes- Melksystem berichtete, sei bei „Kühen mal, wenn seine Holsteiner Catie, mit prallen und tiefhängenden Eutern Trijnte oder Janke spüren, daß sich ihr überfordert“. Die Software des Roboters Euter gefüllt hat, trotten sie zu einer ist darauf ausgelegt, nach dem fünften von drei Robotboxen. vergeblichen Kontaktversuch seiner Sen- Ein Computerchip im Halsband der sorendiemelkwillige Kuh in ein anliegen- Kühe signalisiert, welches der Tiere sich des Spezialgatter zu drängen. Dann muß der Box nähert. Sobald der Zentralrech- wieder der Bauer ran. ner des Melkroboters befindet, daß die Das könnte, wie Bauer Miezenbeek Kuhentscheidung zum Melken gerecht- sinniert, zu einer Plage werden. Denn je- fertigt erscheint und das Tier nicht etwa de vom Roboter abgewiesene ungemol- nur an dem Lockbonbon interessiert ist, kene Kuh macht sich mit einem durch- der es zum Sich-melken-Lassen ermun- dringenden Piepton bemerkbar. Miezen- tern soll, schließen sich die Boxengatter. beek: „Das passiert durchschnittlich Sodann nähert sich von unten der mit zehnmal am Tag, auch um halb vier Uhr Ultraschallsensoren bestückte Melk- morgens.“ Y .

WISSENSCHAFT

Ärzte Gedeih oder Verderb Zittern und Zagen bei den ostdeut- schen Kassenärzten: Droht ihnen durch Honorar-Rückforderungen neuerlich die Armut?

olange Erich Honecker regierte, kannte der ostdeutsche Medikus Sweder Geldnot noch Goldrausch. Der Staat honorierte sein Tun mit 1200 bis 1500 Mark im Monat, das war rund doppelt soviel, wie ein Arbeiter ver-

diente. Die Doktoren waren zufrieden. SOMMARIVA / OSTWESTBILD Seit ein Bayer, der Bonner Gesund- Ärztefunktionär Penndorf: „Massiver Ausgabenschub bei den Kollegen“ heitsminister Horst Seehofer, den Me- dizinern die Beutel füllt, verdienen die Damit sich die Kassenärzte, deren Re- Spitzenreiter sind die 3115 Kassenärz- praktizierenden Kassenärzte im Durch- zepte und Verordnungen das Karussell te in Sachsen-Anhalt. Deren Chef, der schnitt 15 000 Mark im Monat, richti- der Kostensteigerung in Schwung hal- 63jährige KV-Vorsitzende Klaus Penn- ges Westgeld, keine Ost-„Aluchips“ ten, der neuen Haushaltsdisziplin fügen, dorf, hat sich die Mühe gemacht, her- mehr. Nun sind sie sehr unzufrieden. haben die Bonner eine kollektive Haf- auszufinden, wie es dazu kommen konn- Wenn nicht bald etwas passiere, tung eingeführt. te. Penndorf ist ein erfahrener Prakti- mahnt der Naumburger praktische Überschreitet die in den 23 regionalen ker: Während die allermeisten Kollegen Arzt Hans-Joachim Klingebiel, dann Kassenärztlichen Vereinigungen (KV) zu DDR-Zeiten in staatlichen Poliklini- seien „die möglichen Folgen unabseh- versammelte Kassenärzteschaft das ge- ken tätig waren, arbeitete Penndorf un- bar“. Er denkt an das „Aus für fast al- deckelte „Arznei- und Heilmittelbud- verdrossen seit 1966 in eigener Praxis – le Praxen“ und damit an das „Ende get“, so wird sie in Regreß genommen. was die SED sehr ungern sah, aber tole- qualifizierter ärztlicher Grundversor- Jeder Kassenarzt, ob sparsam oder ver- rierte. gung“. schwenderisch, muß den Krankenkas- Als es mit der DDR zu Ende ging, Der Ost-Berliner Arzt Christian Hö- sen pauschal Wiedergutmachung leisten gab es in der ganzen Republik nur noch ver sieht noch viel Schlimmeres auf – mitgefangen, mitgehangen. 300 selbständige Ärzte. Jetzt sind es in Deutschland zukommen, nämlich Bisher ist das von den Ärzten als den östlichen Bundesländern wieder „neue Terrorismuswellen“, Ärzte im „Raubritter-“ und „Faustrecht“ ge- rund 18 000, die sich teils freudig, teils Kampf gegen das „Unrecht der Gegen- schmähte Modell noch nirgendwo exe- notgedrungen in das Abenteuer der wart“. Selbständigkeit stürzten. „Alarm“ schlägt deshalb Hans-Jür- Viele haben beträchtliche Schulden gen Thomas, der Vorsitzende des Hart- Mühelos sparten die wegen der Einrichtung ihrer eigenen mannbundes. Diese ärztliche Trutzge- Ärzte bei den Praxis; anderen fällt es schwer, die 7200 meinschaft hatte der Leipziger Sani- verschiedenen Positionen der Ärztli- tätsrat Hermann Hartmann „zur Wah- wirkungslosen Pillen chen Gebührenordnung so kunstvoll rung ihrer wirtschaftlichen Interessen“ miteinander zu verknüpfen, daß die 1900 gegründet. Dem Hartmann-Motto kutiert worden. Allein die Androhung Kassenscheine am Quartalsende, wie es – „Geld! Geld!“ – ist der Verein stets der Rückzahlungspflicht wirkte als Ab- im West-Jargon heißt, „optimal ausgela- treu geblieben. Sein Nachfolger nennt schreckung: Mühelos senkten die Kas- stet“ sind. Allen gemeinsam ist, daß sie als Stichwörter des neuen Elends in senärzte ihre Ausgaben, verordneten dem Rat westlicher Einflüsterer rasch Ostdeutschland: „ . . . herbe Einkom- seltener wirkungslose Pillen, obskure erliegen, auf Gedeih oder Verderb. mensverluste . . . düstere Zukunft . . . Venenmittel und modische Kombinati- Bis zum Herbst 1994 wurde das ge- Existenznot“. onspräparate. In den letzten zwei Jahren deckelte Arznei- und Heilmittelbudget Das Dilemma haben die Doktoren haben die Kassenärzte auf diese Weise in Sachsen-Anhalt, wie anderswo auch, selbst verschuldet. Seit eine große Ko- rund drei Milliarden Mark gespart. brav eingehalten, zum Teil sogar unter- alition aller Bonner Parteien im De- Die Fähigkeiten, sinnlose Ausgaben schritten. zember 1992 das Gesundheitsstruktur- zu vermeiden, weisen jedoch erstaunli- Nur mit Grausen erinnert sich Penn- gesetz verabschiedet hat, ist auf dem che regionale Unterschiede auf. Die dorf jedoch an das letzte Quartal 1994: großen Topf der Gesundheitsausgaben neueste Trendberechnung der Kassen- Da wurde von seinen Kollegen plötzlich ein Deckel. ärztlichen Bundesvereinigung in Köln zu ein „massiver Ausgabenschub produ- Seither darf, anders als in den golde- den Überschreitungen des Arznei- und ziert, der den Budgetrücklauf bewirk- nen Zeiten davor, für die Heilkunst Heilmittelbudgets für die Jahre 1994 und te“. Irgendeine medizinische Ursache, nur noch so viel Geld ausgegeben wer- 1995 zeigt die Ärzte der neuen Bundes- etwa eine Grippewelle, gab es dafür den, wie vorhanden ist – im letzten länder weit vorneweg (siehe Grafik Seite nicht. Der KV-Vorsitzende glaubt auch Jahr waren das 237 Milliarden Mark. 213). nicht daran, daß ausgerechnet am Ende

212 DER SPIEGEL 20/1995 des „dritten Jahres des neuen Verord- vorab, wieviel Prozent des Budgets nungssystems“ plötzlich irgendein durch sein nimmermüdes Rezeptschrei- „Nachholbedarf“ akut geworden sei. ben bereits ausgegeben sind. Weil die Die wahren Ursachen formulierte Kalkulationsgrundlage fehlt, tappen die Penndorf in zwei Kernsätzen: Kassenärzte im dunkeln. Ihre Sehnsucht i „Die Suggestibilität vieler Ärzte für nach einem Guru und der Erleuchtung unwissenschaftliche Verkaufsargu- ist groß. ABDA war das Irrlicht, das die mente von Arzneimittelanbietern immer noch autoritätsgläubigen Ost- könnte noch zu groß sein.“ Ärzte in den Sumpf führte. i „Pharmareferenten haben im Herbst Den Apothekern wollen die Kassen- 1994 auf der Grundlage firmeninter- ärzte nun nicht mehr über den Weg ner Umsatzstatistiken ,Luft‘ im Bud- trauen. Das ABDA-„Budget-Barome- get konstatiert und haben flächendek- ter“ hat seine Vorhersagen einge- kend in den Praxen erfolgreich für ein stellt, eine stille „Beerdigung ohne Be- Ende der Verschreibungszurückhal- gleitmusik und Sargträger“, wie die tung geworben.“ Ärztliche Praxis notierte. Penndorf Umgarnt von den mit Geschenken al- und die anderen Standesfürsten tou- ler Art aufwartenden Arzneimittelver- ren nun durch ihre Sprengel, um tretern, vergaßen offenbar viele Dokto- den verschreckten Kassenärzten die letztmögliche Medizin zu reichen: Vernunft Überdosis im Osten beim Rezeptieren, um Überschreitung des Arznei- und Heilmittelbudgets; das Defizit bis Weih- Regreßforderungen in Mark nachten wieder einzu- sparen. Penndorf hoff- 1994* 1995* nungsvoll: „Wir kön- 53174 nen noch viel wieder- Sachsen-Anhalt 11097 gutmachen.“ Gesundheitsminister 46722 Thüringen 9674 Seehofer will, so laut die Ärzte ihren Ruin 46689 Sachsen 9717 auch beschreien, hart bleiben. Der Deckel 43314 soll fest auf dem Topf Brandenburg 9026 bleiben, Rückforde- Mecklenburg- 40476 rungen werden kom- Vorpommern 8465 promißlos durchge- setzt. Im härter wer- Berlin (Ost) 29849 6174 *Trendrechnung denden Verteilungs- Quelle: KBV, Köln kampf um die Gesund- In den westlichen Bundesländern liegt die Überschreitung 1995 durchschnittlich heits-Milliarden versu- bei 5502 Mark. Die Kassenärztlichen Vereinigungen Saarland und Pfalz werden das Budget sogar um 17338 bzw. 24221 Mark unterschreiten. chen die Kassenärzte jetzt, den Apothekern in die Tasche zu fassen. ren, daß ihre Verschreibungen sich an Die KV von Gesamt-Berlin forderte den vier Geboten der gesetzlichen Kran- letzte Woche die „Reduzierung der kenkassen – „wirtschaftlich, notwendig, Apothekenhandelsspanne auf ein ange- zweckmäßig, ausreichend“ – zu orientie- messenes Maß“. So, wie es ist, ren haben. Manche rezeptierten „in ei- dürfe es nicht bleiben: „Die Apotheke nem einzigen Quartal zum Beispiel eines Normal-Internisten setzt mit ACE-Hemmer von bis zu 30 verschiede- dessen Patienten mehr um als dieser nen Firmen“, empört sich Penndorf selbst.“ über leichtsinnige Kollegen*. Solange es ein gedeckeltes Budget Die Bundesvereinigung Deutscher gebe, heißt es weiter, „zahlen die Ärz- Apothekerverbände (ABDA) hat die te die überzogenen Apothekerpreise“. großzügige Verschreibungsweise der Vorschlag der Berliner Kassenärzte: Kassenärzte nach Kräften angeheizt. „Standardmedikamente“ solle der Zwei Jahre lang publizierte ABDA so- Doktor künftig aus der eigenen Praxis- genannte „Budget-Barometer“, die den apotheke verkaufen dürfen. gutgläubigen Ärzten permanenten Son- Damit die Ärzte das Geschäft mit nenschein suggerierten: Eine Über- der Krankheit und den Umgang mit schreitung des Verordnungsbudgets sei den erzielten Erlösen besser beherr- nicht zu erwarten, mithin auch keine schen lernen, hat das Deutsche Ärzte- Rückzahlung. blatt seinen 317 000 Zwangsabonnen- Dieser Regreß wird rückwirkend er- ten Ende April ein separates Geldan- mittelt. Weder der gewissenhafte noch lage Magazin zugestellt. Selbst in der verschwenderische Doktor weiß der gebeutelten Diaspora Sachsen-An- halt ist bisher, sagt Penndorf, „noch * ACE-Hemmer: Medikamente gegen Bluthoch- kein einziger Kassenarzt Konkurs ge- druck. gangen“. Y

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TECHNIK

Automobile Saubere Ladung Der TÜV Rheinland eröffnete seine erste Solar-Tankstelle. Kann das Elektroauto mit Sonnenstrom aus dem Öko-Dilemma fahren?

olfgang Wiesner, Experte für Energienutzung beim TÜV WRheinland, hat die Zeichen der nahenden Katastrophe erkannt: „Nur noch von wenigen“ werde angezweifelt,

daß eine Erhöhung der Konzentration H. GUTMANN / FORMAT von Kohlendioxid in der Atmosphäre TÜV-Testwagen an der Solar-Zapfsäule: Kraft eines Rasenmähers „ernste Auswirkungen auf das Weltkli- ma haben wird“. Netz einspeisen, welche die beiden Ver- blitz“, will seinen Kunden bald die Mög- Das drohende Klimachaos ist der An- suchsfahrzeuge verbrauchen. lichkeit geben, Teilhaber von Alterna- laß für ein neues Forschungsprojekt der Bislang haftet strombetriebenen Au- tiv-Kraftwerken zu werden. Technikwächter am Rhein, das Wiesner tos, wie sie vereinzelt in Deutschland Für etwa 5000 Mark soll der Hotzen- am vorletzten Freitag vorstellte. Seit- bereits fahren, neben anderen Nachtei- blitz-Fahrer in ein Solar-, Wasser- oder dem saugen zwei elektrisch angetriebe- len (geringe Reichweite, hohes Fahr- Windkraftprojekt investieren können. ne Testwagen, ein City Stromer zeuggewicht) noch ein gravierender Ma- Dafür bekommt er Dividenden und die und der in Dänemark gebaute El-Jet 4, kel an: Auch sie tragen zur aufziehen- Zusage, daß der Strom, den sein Auto die Kraft der Sonne aus einer vor dem den Klimakatastrophe bei, und zwar in für eine bestimmte Zahl von Kilometern TÜV-Hochhaus in Köln-Poll installier- annähernd gleichem Maße wie Fahrzeu- verbraucht, nicht aus fossiler oder nu- ten Solar-Tankstelle. ge mit Verbrennungsmotor. klearer Produktion stammt. Die aus dem Fixstern gewonnene An- In einer jüngst erschienenen Diplom- Von solch kühnen Visionen wollen triebsenergie nimmt bei dem TÜV-Pro- arbeit analysierten die Studenten Dirk die schon von Berufs wegen vorsichtigen jekt allerdings einen Umweg: Die Son- Sommer und Thomas Hein an der Fach- Techniker des TÜV Rheinland aller- nenzellen-Paddel speisen den von ihnen hochschule Hannover die Kohlendioxid- dings nichts wissen. Kategorisch warnte erzeugten Strom zunächst ins allgemei- bilanz für ein Elektrofahrzeug, das aus Energie-Fachmann Wiesner vor allzu dem deutschen Strom- großem Solar-Optimismus: „Ein autar- netz gespeist wird. Er- kes, nur von Sonnenenergie angetriebe- Sonnenstrom auf Umwegen gebnis: Der getestete nes gebrauchstaugliches Auto halten wir Die Solartankstelle des TÜV Rheinland Wagen, ein Subaru Vi- schlicht für nicht machbar.“ vio in der E-Version, Solch pauschalen Pessimismus finden Steckdose sorgt unterm Strich für andere Experten unbegründet. Der ehe- „kaum weniger Koh- malige Rüstungstechniker und heutige Elektroauto Wechsel- lendioxid“ in der At- Solar-Forscher Ludwig Bölkow: „Um richter Die von den Solarzellen eingefangene mosphäre als das glei- Deutschland komplett mit Solar-Strom Sonnenenergie wird über einen Wech- che Fahrzeug mit kon- zu bedienen, brauchen wir nicht mehr selrichter ins Stromnetz eingespeist. ventionellem Benzin- Grundfläche, als die landwirtschaftliche Die Versuchsautos tanken aus dem antrieb. Sozialbrache ausmacht.“ Netz. Der TÜV will auf diese Weise Schuld am Öko-Di- Ob es allerdings sinnvoll wäre, mit errechnen, wieviele Solarzellen im lemma der E-Mobi- dem kostspielig gewonnenen Solar- Kölner Klima nötig sind, um ein Elek- Strom ausgerechnet teure Elektroautos troauto ausschließlich mit Sonnen- le hat die deutsche energie zu betreiben. Stromwirtschaft, die zu betreiben, bleibt umstritten. Die Stu- Solarzellen noch immer etwa 60 denten Hein und Sommer errechneten Prozent der Elektrizi- auch die Kosten eines konsequent um- ne Netz; so können sie arbeiten, auch tät in Kohlekraftwerken herstellt – sie weltfreundlichen Sonnenautos im Ver- wenn die Testwagen gerade umherstro- blasen große Mengen von Klimagasen in gleich zu anderen Antriebsarten. mern (siehe Grafik). die Luft. Der Fahrer eines Benzinautos muß Streng genommen ist die Solar- Wollte der Elektroautomobilist wirk- demnach (einschließlich Anschaffung Station also keine Tankstelle, sondern lich umweltfreundlich fahren, müßte er und aller Nebenkosten) für den Kilome- ein kleines Kraftwerk, das bei günstiger also Einfluß auf die Art der Gewinnung ter 75 Pfennig bezahlen. Beim aus dem Sonneneinstrahlung vier Kilowatt ablie- des Stroms nehmen, den sein Auto ver- derzeitigen Stromnetz gespeisten Elek- fert, entsprechend der Motorleistung ei- braucht. Auch dafür gibt es bereits ori- troauto sind es bereits 1,14 Mark, beim nes starken Rasenmähers. Im Jahres- ginelle Ideen. Der Schwarzwälder Elek- reinen Solar-Mobil wären es gar 2,66 durchschnitt soll die Anlage zumindest tromeister Thomas Albiez, Erfinder und Mark pro Kilometer – ein teurer einen großen Teil der Energiemenge ins Serienhersteller des E-Mobils „Hotzen- Traum. Y

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KULTUR

Autoren DIE GELIEBTE IM ZELT Bislang unbekannte Erzählungen kommen aus dem Nachlaß Bertolt Brechts ans Licht: erotische Miniaturen aus finsterer Zeit – entstanden im Exil, während der Autor mit Frau, Kindern und zwei Freundinnen vor den deutschen Truppen flüchtete. Brecht schreibt unbefangen, frech – und obszön.

esonders die „feinen Weiber“ ha- erstmals (siehe Seite 220), danach, in Tag nach dem Reichstagsbrand. Er war ben es dem Chauffeur angetan. Sie wenigen Tagen, im 18. Band der auf 30 über Prag, Wien und Zürich nach Kopen- Bwollen nur Komfort? Der Mann Bände angelegten Werkausgabe**. hagen geflohen. In Dänemark blieb er bis weiß es besser: „Sie scheuen auch die Aufgetaucht sind damit eine Reihe 1939. Dann lebte er fast ein Jahr lang auf größte Unbequemlichkeit nicht.“ Etwa erotischer, zuweilen pornographischer einer Insel bei Stockholm, im Haus einer die Bankiersfrau, die ihm, sexuell natür- Kabinettstücke, die in Brechts Prosa als Bildhauerin. lich, „ziemlich ausgehungert vorgekom- einzigartig gelten dürfen: Nie war der Brecht mußte nicht nur für sich Sorge men“ sei, oder die Tochter vom Bier- Erzähler Brecht drastischer, nie war er tragen: Seine Frau, die Schauspielerin brauer, die ihm im Daimler auf den so obszön. Helene Weigel, die beiden gemeinsamen Schoß gestiegen ist – und nicht nur, um Erstmals auch seit mehr als einem Kinder Barbara und Stefan begleiteten das Autofahren zu lernen. Jahrzehnt wird damit aus dem gewalti- ihn – und die junge Margarete Steffin, die „Sie können alles tun mit einer Gele- gen Nachlaß wirklich Neues und Spekta- er 1932 kennengelernt hatte. Diese Liai- genheit, nix ohne“, lautet die Quintes- kuläres von Brecht ans Licht gehoben. son hätte seine Ehe beinahe zerstört. senz des der Liebe allzu bedürftigen Wohl aus „sittlichen Gründen“, so ver- Schließlich war die Steffin von seiner Fahrers – eine schlichte Erkenntnis ge- mutet der Herausgeber und Brecht-For- Frau akzeptiert worden, offiziell als seine Mitarbeiterin. Vor allem trugen die Frauen Sorge um ihn, den Herrn und Meister: Die Gattin kochte zweimal am Tag warm, die Ge- liebte tippte unaufgefordert jedes Manu- skriptblatt ins reine. Im April 1940, deutsche Soldaten hat- ten Dänemark und Norwegen eingenom- men, zogdie kleine Brecht-Truppe hastig weiter nach Finnland. Dort stellte ihr die Unternehmerin und Schriftstellerin Hel- la Wuolijoki das Gut Marlebäck, rund 120 Kilometer nordöstlich von Helsinki, zur Verfügung. Der Dichter notierte ent- zückt: „Sie gibt uns eine Villa zwischen schönen Birken.“ Der Anhang hatte sich inzwischen ver- größert: Eine zweite Brecht-Freundin, Ruth Berlau, war nun mit von der Partie. Bis dahin hatten die Damen Weigel und Steffin noch gegen die dynamische Per- son zusammenhalten können, der Brecht 1933 in Dänemark begegnet und schon bald verfallen war. Von der Front der Frauen –auch Guts- herrin Wuolijoki zeigte sich über die An-

STILLS / STUDIO X reise empört – ließ sich die Berlau aber Brecht-Stück „Herr Puntila und sein Knecht Matti“*: „Chauffeure sind renitente Menschen“ keineswegs einschüchtern: Sie schlug im wahrsten Sinne des Wortes ihr Zelt in der wiß, die sich leicht auf andere Bereiche scher Jan Knopf, hätten die Hüter des Nähe des Hauses auf – und Brecht be- des Lebens übertragen ließe. Erbes bisher auf eine Drucklegung der suchte sie regelmäßig. Und so vieldeutig hat es Bertolt so delikaten wie unterhaltsamen Ge- Tatsächlich ließ sich der Exilant von all Brecht wohl auch gemeint, als er diese schichten verzichtet. den um ihn und um ihn herum geführten Geschichte „Über Gelegenheiten“ zu Geschrieben hat sie Brecht in Rollen- Papier brachte. Zusammen mit drei wei- prosa, in einem leicht künstlich wirken- * Mit Pierre Arditi und Marcel Mare´chal am Pari- teren bisher unbekannten erotischen den Proletarier-Jargon, und zwar wahr- ser The´aˆtre de Chaillot (1992). ** Bertolt Brecht: „Werke. Prosa 3. Sammlungen Texten des Meisters fand sie sich im scheinlich 1940 im Exil. Brecht hatte und Dialoge“. Aufbau Verlag, Berlin / Suhrkamp Nachlaß; im SPIEGEL erscheint sie Deutschland gleich 1933 verlassen, am Verlag, Frankfurt am Main; 704 Seiten, 88 Mark.

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Mitunter ist auch in diesen Prosastücken jenes „männlichkeits- bewußte, herrenwitz- nahe Schmunzeln“ zu spüren, das Rein- hard Baumgart schon an einigen porno- graphischen Gedich- ten Brechts entdeckte (SPIEGEL 49/1982). Der vorgebliche Knecht-Blick Brechts auf die leicht verführ- bare Weiblichkeit ent- tarnt sich nicht selten als pseudo-proletari- sche Kraftmeierei, als LUCHTERHAND Steffin (1941) Maskenspiel für eigene Ängste und Bedrohun- gen. Das Schema ist zu durchsichtig: Frauen wollen immer, und

LUCHTERHAND wenn die Ehemänner Berlau (1938) aus dem Haus sind, darf es auch der Die- Schlachten in seiner li- ner oder Chauffeur terarischen Produktivi- sein – Pornoheftchen tät nicht hemmen. In leben bis heute von gemeinsamer Arbeit solchen Angst-Lust- mit der Kollegin Wuoli- Phantasien. joki entstand im Spät- Ist es verwunderlich, sommer 1940 ein daß Brecht, am Radio „Volksstück“, das am die Schlachten des Ende den Titel „Herr Zweiten Weltkriegs Puntila und sein genau verfolgend, Ge- Knecht Matti“ trug. schmack an solchen

Etwa zur gleichen W. SCHLOSKE SUHRKAMP erotischen Narreteien Zeit („ich habe vom Brecht (1940) Weigel (um 1940) fand? In einer um 1940 ,Puntila‘ noch den Ton Autor Brecht, Brecht-Begleiterinnen: „Schnell in die Badehütte“ geschriebenen, frag- im Ohr“) machte er mentarischen Gedicht- sich an die „Flüchtlingsgespräche“, den Der Held der vier Prosastücke, der zeile hat er diese Frage an sich selbst kraß Dialog zweier Gestrandeter im Bahn- Chauffeur, erinnert allerdings eher an formuliert: „Juckten / Die Fotzen im hofsrestaurant von Helsinki. Ziffel und seinen Kollegen aus dem „Puntila“- Schatten der Bomber so lustig?“ Deutli- Kalle heißen die beiden, Naturwissen- Stück, der von sich sagt: „Die Chauffeu- cher und erschreckender ließ sich die irri- schaftler der eine, Arbeiter der andere re sind bekannt als renitente Menschen, tierende Gleichzeitigkeit von Sinnenkit- – Kalle lautete in der ersten Fassung die keine Achtung vor die besseren Leut zel und Kriegsgemetzel kaum zum Aus- des „Puntila“-Dramas der Name des haben. Das kommt daher, daß wir die druck bringen. Knechts und Chauffeurs, der dann end- besseren Leut hinter uns im Wagen mit- Seit 1938 hoffte Brecht auf ein Visum gültig Matti genannt wurde. einander reden hören.“ in die USA. Im Mai 1941 traf es endlich Die beiden Flüchtlinge reden über Und noch etwas verbindet die beiden ein. Mit der Bahn fuhren die Brecht-Fa- Gott und die Weltläufte: „Über den Fahrer, auch Matti spricht gern von den milie und die beiden Brecht-Geliebten Begriff des Guten / Die deutschen Gelegenheiten für die Liebe: „Jetzt ist zunächst nach Moskau, wo Brecht seine Greuel“ oder „Über die Ordnungslie- Sommer, da ist man gut aufgelegt. And- Grete in einem Krankenhaus zurücklas- be“ – oder „Über Pässe“. rerseits sind überall Leut. Da geht man sen mußte. Er hinterließ 940 Dollar, da- Für die Annahme des Brecht-Her- eben schnell in die Badehütte.“ Etwa mit sie später mit einem anderen Schiff ausgebers Jan Knopf, daß es sich bei mit der Tochter einer Bierbrauerin: nachkommen könnte. den vier gefundenen Texten um Episo- „Die hat mich in die Badestube gerufen, Noch bevor Brecht und die anderen am den oder Entwürfe aus dem Zusam- daß ich ihr einen Bademantel bring, 13. Juni 1941 in Wladiwostok den Frach- menhang der „Flüchtlingsgespräche“ weil sie so schamhaft war.“ ter „Annie Johnson“bestiegen, war Mar- handele, spricht nicht nur, daß die Brecht hat also womöglich seine eroti- garete Steffin gestorben, im Alter von ge- Mappe, in der sie entdeckt wurden, schen Miniaturen direkt aus dem „Pun- rade 33 Jahren. In Amerika vermißte auch zwei Fragmente mit der Figur tila“ abgeleitet. Was im Stück nur anzu- Brecht bald seine „kleine Lehrmeiste- Kalle enthielt, sondern auch, daß die deuten war, wird hier ausgesprochen, rin“, wie er sie in einem Gedicht liebe- Überschriften im Duktus jenen der derb und deutlich. In der Geschichte und hoheitsvoll nannte. Doch noch in „Gespräche“-Kapitel ähneln, etwa: „Was es mit Sodom und Gomorrha auf Wladiwostok hatte er auch daran ge- „Über Gelegenheiten / Erfindung sich hatte“ formuliert der Chauffeur das dacht, sich aus Moskau die 940 Dollar macht verliebt“ (so der vollständige Ti- entsprechende Fazit mit Blick auf die nachschicken zu lassen – und die Toten- tel des im folgenden abgedruckten Tex- weibliche Herrschaft: „Wenn sie einer maske erbeten, deren Herstellung er vor- tes). fickt, muß sies merken, sonst wozu?“ sorglich angeregt hatte.

DER SPIEGEL 20/1995 219 KULTUR Über Gelegenheiten Eine Geschichte aus dem Nachlaß von Bertolt Brecht (um 1940)

ie können nix machen ohne Gelegenheit. Eine schnittige Näh angestellt war und mit ihr nach Haus gefahren ist. Figur, eine erstaunliche Redegabe, eine brillante Technik Nicht ranzukommen also. Sie war keine von denen, dies in Snutzen Ihnen einen Dreck, wenns keine Gelegenheit ha- der Straßenbahn anreden können, wo sich gleich ein ani- ben. Die größten Feldherrn sind keine geworden, weils einen miertes Gespräch entwickelt mit witzigen Antworten, über faulen Frieden gegeben hat, wie sie gelebt haben, sie haben die alle lachen. Eher ein stiller Typ, was man anständig nix machen können. Sie sind aufm Lotterbett herumgelegen nennt, und mit Recht. und haben sich im Geist ausgedacht, was sie alles anstellen Die Sach ist faul gestanden, mein Freund hat schon ge- würden und wen sie alles ins Feuer führen würden, wenn ... dacht, er muß sie aufgeben, da hat sich endlich eine Gele- kurz, verpfuschte Existenzen. Oder ein geborener Rockefeller genheit gefunden. An einem Winterabend ist er hinter ihr ohne Anfangskapital! Was nutzen ihm die Fusionsplän? Wie auf die Trambahn aufgestiegen und sie war so voll, daß die soll er wen hereinlegen ohne Zugang zu den betreffenden zwei Mädchen haben auf der Plattform stehen müssen. Er Kreisen? Sie können keine Löhne kürzen, wenns keine aus- ist hinter der kleinen Blonden gestanden und zuerst hat er zahlen. Aber ich bin vom Thema abgekommen, ich wollt nur geflucht, weil er ausgerechnet an dem Tag zwei Paket ge- feststellen: Sie können alles tun mit einer Gelegenheit, nix oh- habt hat, aber glücklicherweis hats genügt, daß er eng hinter ne. ihr gestanden ist, wie er schnell gemerkt hat. Der langen Rede kurzer Sinn: Sie müssen eine Gelegenheit Die Trambahn ist durch Anlagen gefahren und an einer finden bei die Weiber, sonst ists Essig. Ein Freund von mir ist Haltestell hat sie ihrer Schwester zugerufen, sie hat was lie- einmal hinter einer kleinen Blonden hergewesen, einer Ver- genlassen und muß noch einmal zurück und ist abgestiegen. käuferin in einem von diesen winzigen Hutläden, wo sonst nur Er hat in einer Sekund seinen Entschluß fassen müssen. Es noch eine Direktrize ist, wo scharf aufpaßt. Und er hat natür- hätt schlecht ausgeschaut, wenn er hinter ihr ausgestiegen lich keine Hüt aufprobieren können, damit er ins Gespräch wär, mitten in den Anlagen, sie hätt sich vor ihrer Schwe- mit ihr gekommen wär. Nach Geschäftsschluß ist sie Tag für ster scheniert und so was spielt eine Roll. Besonders in Zeit- Tag von einer jüngeren Schwester abgeholt worden, wo in der not. So ist er stehen geblieben und hat das Risiko auf sich genommen. Warum, sie hätt gradsogut zur Besinnung kommen können, nach einer so flüchtigen Vorbereitung, mit zwei Paket in die Händ. Er ist an der nächsten Haltestell herunter und richtig, sie hat eben in die nächste Bahn auf- steigen wollen, wie er zurückgekommen ist. Im letzten Moment hat er sie noch erwischt und sie sind in die Anlagen gegangen. Der Schnee hat sie nicht wesentlich gehindert, es sind immer nur die Menschen, die das Hindernis ausmachen, das ist ja bekannt. Die Bosheit und der Neid von die Menschen ist unglaublich. Wie ich einmal bei einem Bankier in das Badezimmer eine Telefonleitung gelegt hab, und die Frau des Bankiers zuschauen gekommen ist, ist die Zof drei Mal hereingekommen und hat gestört. Das zweite Mal hat sie sehen müssen, daß die Gnädige ihre Pyjamahosen nur mit knapper Not noch hat halb heraufziehen können, und ich hab mich an die Wand anpressen müssen wie ein Heftpflaster und doch ist sie noch ein drittes Mal hereingekommen. Das sind Gemeinheiten, die ei- nen zum Menschenfeind machen können. Es ist nicht gesagt, daß die feinen Weiber den Komfort über alles schätzen, sie schätzen ihn nicht über alles. Sie scheuen auch die größte Un- bequemlichkeit nicht, wenns nicht anders geht, aber natürlich ein gewisses Nachaußenhin müs- sens aufrecht erhalten. Das ist das einzige, was von ihnen verlangt wird, das müssens beherzigen. Ich bin, wenns hart auf hart geht, auf der Seit von den Dienstboten und nicht von der Herr- schaft, aber man braucht die Politik nicht in das

Brecht-Karikatur*: „Zwischen die Beine gegriffen“ * Von David Levine; Quelle: New York Review.

220 DER SPIEGEL 20/1995 Badezimmer tragen, und zumindest hätt das Aas auf mich Rück- nicht am nächsten Morgen. Aber wies schon geht, grad das hat sicht nehmen können, ich zwiebel sie doch nicht so wie die Gnä- die Gelegenheit ergeben. Ich wasch eben meine Händ an der dige. Sie kann vielleicht einen Hut kriegen von ihr auf die Weis, Pumpe in der Garage, da kommt sie herein und stracks auf was auch noch nicht sicher ist, weil, wer glaubt ihr schon? –Aber mich zu und langt mir hin und es ist mir eine liebe Erinne- wie gesagt, ich finds unmenschlich. rung. Die Bankiersfrau, eine sportliche Person, aber mit bissel zu Aber wie gesagt, manchmal macht sich der Standesunter- weichem Fleischam Hintern undeinem störenden Lachen,weils schied stark geltend wie bei der Baronin Gelstetten, die mir überflüssig war, ist mir ziemlich ausgehungert vorgekommen, parduh hat einreden wollen, ich bin kein Schofför, sondern ein nur, das kann täuschen, denn unser Major im Krieg, der 270 Gentleman, der nur die Stellung genommen hat, daß er ihr Pfund gewogen hat, und schon zum Frühstück habens ihm einen nah ist. Ohne die Illusion hätt sies nicht machen können. jungen Hahn gebraten und dazu hat er drei, vier Eier verdrückt, Manchmal freilich wundert man sich auch, wie eine Gele- war am Mittag auch schon wieder so ausgehungert, daß er in die genheit entstehen kann, wo mans nicht gedacht hätt. Ihre Zof Küch gegangen ist und vom Topf Suppe geschöpft hat. Trotz- hat mir von der Frau von einem Reeder erzählt, der die Frau dem, Sie müssen sich die Gelegenheiten suchen und sind drauf mit seinem Geiz und seiner Eifersucht zur Verzweiflung ge- angewiesen, daß was Unvorgesehenes auftaucht. trieben hat; er war aus lauter Geiz eifersüchtig und hat sie auf Schritt und Tritt bewachen lassen. ie gesagt, die Strapazen scheuens nicht. Ich habs mit einer Sie war am Schluß so mit den Nerven herunten, daß sie ei- W auf der Trepp gemacht, sie ist nicht einmal bis zum Teppich nen Spezialisten hat aufsuchen müssen, der sie von allen Sei- gerutscht, sondern hat sich auf den blanken Marmor gesetzt und ten anilisiert hat, und dafür hat er noch 100 Mark für jedes eine istauf der niedern, eisernen Einfassung von einem Blumen- Mal berechnet! beet in einem Park dabei gesessen und hat sich mit den beiden Das erinnert mich an die Geschicht von der Frau, die ihr Händen nach hinten aufm Gras stützen müssen; die Hos hat sie Mann, obgleich sie die schwarzen Blattern gehabt hat, in Koh- sich mit einem einzigen Griff einfach aufgerissen, nicht erst aus- lenkeller gesperrt hat, wie er Biertrinken gegangen ist, damit gezogen. sie ihm nicht verführt wird, und im Kohlenkeller war zufällig Und wir hättens bequem im Cardillac machen können, aber ein Landstreicher, der bei der versperrten Kellertür nicht hat da hätt sie mich hinten in den Fond hereinrufen müssen und sie fliehen können, wie sie ihn überfallen hat, und außerdem hat ist lieber ausgestiegen und hat sich an den Wegrand gestellt und sie ausnützen können, daß er in der Dunkelheit nichts gesehen den Mond angeschaut und zum Zurückgehn haben wir keine hat. Zeit gehabt. Aber im allgemeinen gibts, wie gesagt, zu wenig Gelegen- Die Gelegenheiten sind dünn gesät. heiten und darum müssens die Leut auf die unbequemste Art Wenn ich allein dran denk, was der Standesunterschied aus- machen, im Kino, aufm Küchentisch, im Wasser, im Lift und macht! Ich hab extra die Beispiele aus den höheren Kreisen ge- unter Umständen auf die Bäum. nommen, weil der Standes- Ich hab übrigens festge- unterschied auch wieder ei- stellt, daß die Menschen ne Schranke ausmacht, wo „Sie hat mir unbedingt aufm sinnlich werden, wenns was manchmal unübersteiglich erfinden. ist. Es findet und findet sich Boden einen Geist zeigen Umgekehrt ist es gewöhn- keine Gelegenheit. Eine lich, nämlich daß Liebe er- Tochter von einem Bier- müssen, der sie erschreckt hat“ finderisch macht, so daß brauer, bei dem ich ein hal- sterbende Großmütter und bes Jahr Schofför war, hab was weiß ich erfunden wer- ich schon so weit gehabt, daß sie mich hat in einer Buchhand- den, nur daß man ins Bett kommt und im Bett Stellungen, lung eine Kollektion von schlüpfrigen Bücheln abholen lassen, daß es einem Akrobaten grausen könnt, aber eine Gouber- und wie ich sie ihr ins Boudoir gebracht hab, hat sie mich nach nant bei dem Bankier war anders herum. Mit der bin ich al- meiner Meinung gefragt und ob ich auch find, daß solches lein im Wagen in einen Kurort gefahren und wir haben im Zeug in Wirklichkeit gar nicht aufregend ist heutzutage, und Gasthof übernachtet und kein Mensch hätt uns dreinreden wie ich eben antworten wollte, daß ich die Sachen nicht können und nichts war mit ihr zu machen. schlecht find, besonders einige, ist ihre Mutter hereingekom- men, und da haben natürlich die zwei die Bücheln allein ange- schaut und ich hab abziehen können mit den Erinnerungen. ber bei einer Gesellschaft, wo ich immerfort hab Herr- Zwei Wochen hab ich sie nicht allein getroffen, dann hab ich Aschaften bringen müssen und sie nach ihr die Gnädige ge- ihr an einem Vormittag auf der Chaussee das Fahren gelernt. schrieen hat, hat sie mir unbedingt aufm Hausboden einen Sie hat sich auf meinen Schoß gesetzt, daß ich das Volant hab Geist zeigen müssen, der sie erschreckt hat, und so fein sie kontrollieren können, und ich kann Ihnen versichern, die hat war, hat sie mir doch zwischen die Beine gegriffen, wie ich ei- ihren Hintern mehr gedreht als das Volant und ganz andere ne Leiter hinaufgestiegen bin, und auch nachher ist sie nur Kurven damit genommen als die vom Weg, wie ein Motorrad- warm geworden, wenn ich mich erst auf den Linoleum gelegt fahrer vorbeigekommen ist, und was soll ich Ihnen sagen, er und ihr von unten untern Rock geschaut hab, und dabei hat hat die Frechheit und hält an und steigt ab zum Zuschauen. sie noch gern was grad in der Hand gehabt, das sie nicht hat Das hat ihr einen Chok versetzt und sie hat gesagt, sie muß in weglegen können. einer richtigen Fahrschul weiterlernen, kein Wunder! Eine Vielleicht wars, weil sie religiös erzogen war, so daß ihre Kleine, Füllige. Fantasie verdorben gewesen ist. Sie hat einen Verlobten gehabt, einen Referendar, und wie- Andere habens gern gehabt, wenn ich was erfunden hab. der ein paar Wochen später haben sie einen Ausflug mitm Die Tochter von dem Bierbrauer hab ich schon drei Mal Daimler gemacht und wie wir am Abend zurückgefahren sind, durchgezogen gehabt und sie hat sich immer noch gestellt, als hab ich gemerkt, daß hinten was vorgeht. Ich hab den Spiegel kennt sie mich nur ganz oberflächlich, auch wenn wir allein nicht extra rücken wollen, das wär aufgefallen, so war ich auf waren, und ich hab sagen müssen, daß das Benzin ausgegan- meine Ohren angewiesen, aber ich hör ausgezeichnet. Es hat gen ist, damit sie mit in die Büsch gegangen ist. Wahrschein- mich verärgert, sie haben schließlich genug Örter gehabt zur lich hat sie eben nur das für eine gute Gelegenheit gehalten. Verfügung, es hat nicht im Auto sein müssen. Eine Taxe ist Wie gesagt, Sie können nichts machen mit die Weiber ohne was andres, da kennt man den Schofför nicht und sieht ihn eine Gelegenheit. Y

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KULTUR

Heinz Berggruen, Kunstsammler 81, deutsch-jüdischer Emigrant mit Wohnsitz in Paris, besitzt das al- les noch: Der farben- Sehr froh gezeichnete „Kopf eines Fauns“ ist ebenso wie die bemalte „Ab- schmackhaft sinthglas“-Plastik und auch ein bronzenes Emigrant Heinz Berggruen gibt Mei- „Frauenkopf“-Exem- sterwerke der klassischen Moderne plar in seine Privat- sammlung eingegangen nach Berlin – und treibt damit das – eine exquisite Kollek- tion von Werken der Antikenmuseum aus dem Haus. klassischen Moderne. Ein beträchtlicher Teil, icasso war ihm gewogen, und auch rund 90 Stücke, darun- mit dem Gefolge des Genies hielt ter etwa 55 von Picasso, Per besten Kontakt. Der Händler kann vom nächsten und Sammler Heinz Berggruen kann das Jahr an in Berggruens mit mancher Anekdote glaubhaft ma- Geburtsstadt Berlin be- chen. sichtigt werden. Nur neun handschriftliche Zeilen Das stopft eine Lük- Berggruens, vom Künstler anstandslos ke der öffentlichen unterzeichnet, genügten dem Galeristen Kunstbestände, die Ende der fünfziger Jahre als Genehmi- Berlins Staatliche Mu- gung, eine Zweitauflage des epochalen seen „aus eigener Kraft „Frauenkopfs“ von 1909 in Bronze zu niemals schließen gießen. könnten“, so ihr Gene- Eine andere Picasso-Skulptur trieb raldirektor Wolf-Dieter

Berggruen bei einem Händler-Erben Dube. Private Gönner FOTOS: B. HIEPE auf, der dafür lieber ein Segelboot ha- sind dringend gefragt – Ausstellungsort Stüler-Bau: Ein Museum wird eingemottet ben wollte. Und dem Chauffeur einer hier ebenso wie bei- Picasso-Verehrerin, dessen gelegentli- spielsweise in Köln, wo der En-gros- nen Erben (Frau und vier Kinder) jede che Fahrdienste der Meister mit einer Sammler Peter Ludwig generös die Entscheidung offenbleiben. Großzügig Wachskreidezeichnung belohnt hatte, Schausäle füllt, aber die Kulturpolitiker geschenkt hat Berggruen Werke von kaufte er das Blatt ab, nicht ohne Picas- auch mächtig unter Druck setzt: Lud- Klee: im Jahr 1972 an das Pariser Muse´e so davon zu erzählen. Der scherzte: wigs Angebot einer umfangreichen Pi- national d’art moderne und 1984 an das „Dann kann sich der Mann ja selber ei- casso-Schenkung ist an die Bedingung Metropolitan Museum in New York. nen Chauffeur halten.“ geknüpft, daß der bislang gemeinsam Die meisten der für Berlin ausgewähl- genutzte Museumsbau von äl- ten Stücke sind noch bis Anfang 1996 in terer Kunst geräumt wird. der National Gallery zu sehen; etliche, Über diese andere Picasso- zumal Zeichnungen und Ölbilder von Kollektion möchte sich Berg- Georges Seurat, bleiben auch für unbe- gruen „nicht weiter äußern“. stimmte Zeit darüber hinaus. Seine Sammlung ist feiner, mit Nach Berlin kommen zum Ausgleich weitaus größerer Sorgfalt aus- in London nicht gezeigte Werke, etwa gewählt, ohne die bei Ludwig Klees und Giacomettis sowie ein 1904 unverkennbaren Qualitäts- von Picasso gemaltes Porträt seines schwankungen. Aber auch sei- Freundes Sabarte´s – ein freilich glatteres ne Offerte schafft Platzproble- Gegenstück zu jenem Bildnis des Fer- me. Und: Ludwig will schen- na´ndez de Soto (SPIEGEL 19/1995), ken, zumindest einen Teil. das vergangene Woche bei einer New Berggruen leiht. Yorker Auktion 29 Millionen Dollar ge- Zehn Jahre lang, bis 2006, bracht hat. Über den Ankauf eines Pi- dürfen sich nach der vergange- casso-„Harlekin“ aus der etwas späteren ne Woche bekanntgemachten Rosa Periode verhandelt Berggruen ge- Vereinbarung die Berliner an rade; mit weiterem Leihgaben-Zuwachs Berggruens Schätzen freuen – muß gerechnet werden. so wie das 1991 der National Museums-Oberherr Dube hat den Se- Gallery in London für fünf gen zielstrebig nach Berlin geleitet. Jahre garantiert worden war. Schon bei der Londoner Eröffnung der „Andeutungen“, die Kostbar- Berggruen-Kollektion trug er dem keiten „blieben für immer Sammler seine Wünsche vor – und hier“, wie die Financial Times machte sie ihm, wie der fand, bald „sehr sie registrierte, will der Samm- schmackhaft“. Dube lud ihn ein und ler nie gemacht haben. führte ihn in ein Haus, das Berggruen Auch nach Ablauf des Berli- „wie maßgeschneidert“ für die intimen Leihgeber Berggruen: Skulptur gegen Segelboot ner Vertrags wird ihm oder sei- Bildformate seiner Kollektion fand: in

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einen der nach ihrem spätklassizisti- matstadt freilich noch keiner war und solvierte, nahm er nie einen französi- schen Architekten genannten Stüler- der auch keinerlei prägende Museums- schen Paß an, sondern, um 1950, wieder Bauten, ehemaligen Gardekasernen ge- eindrücke aus ihr mitgenommen hat, einen deutschen. genüber dem Charlottenburger Schloß. hegt freundliche Gefühle für Berlin. Das war die Zeit, zu der Berggruen Für 90 Kunstwerke bietet das Gebäu- Sogar die Zeit 1935/36, nach seiner den Picasso-Faunskopf von dem Chauf- de, das vom Land Berlin an die Stiftung Rückkehr von einem Kunstgeschichts- feur erwarb – nach seiner Erinnerung der ehemals preußischen Museen ver- studium in Toulouse, hat er als „sehr für ungefähr 2000 Dollar. Immerhin mietet ist, mehr als reichlich Platz. Nur glücklich“ in Erinnerung – „Ich bin nie zweifelhaft, ob sich der Verkäufer da- dieser Köder habe ihn „verführt“, sagt verprügelt worden“. Erst allmählich von einen eigenen Fahrer hätte leisten Berggruen. „Es hätte mir keinen Spaß spürte er, daß „politische Wolken können. gemacht, wenn meine Sammlung in der dräuten“, schiffte sich nach Amerika Nun könnte er: Auch auf dem derzeit Nationalgalerie untergegangen wäre.“ ein, landete schließlich beim San Fran- „sehr angeknacksten Markt“, meint Daß im fraglichen Stüler-Bau das cisco Museum of Art und legte ein für Berggruen, würde das 27 mal 21 Zenti- staatliche Antikenmuseum mit seinen allemal den Umlaut in seinem Namen meter kleine Blatt seine halbe Million Vasen und Bronzen zu Hause war, Berggrün ab. Mark kosten; der Wert der gesamten mochte 1991 nicht weiter hinderlich er- Der US-Soldat Berggruen sah 1945 Leihgabe wird auf 600 Millionen ge- scheinen: Nach kurz zuvor festgelegten Berlin als „Trümmerfeld“ wieder. Er schätzt. Bei solchen Summen hat das Plänen sollte diese Sammlung ohnehin arbeitete kurz als Journalist in Mün- Vorkaufsrecht, das den Berliner Mu- rechtzeitig ausziehen, um sich auf der chen, und obwohl er seine glänzende seen zusteht, wohl wenig praktische Be- Museumsinsel im Stadtzentrum mit der Kunsthändlerkarriere dann in Paris ab- deutung. Y entsprechenden Ost-Kollektion wieder- zuvereinigen. Inzwischen aber haben genaue Baubestandsaufnahmen sowie Bonner Etatkürzungen die komplizierte Neuordnung der Berliner Staatlichen Museen gründlich aus dem Zeitplan ge- bracht. Folglich muß Antiken-Direktor Wolf- Dieter Heilmeyer nun „jeden Tag wei- nende Mitarbeiter trösten“, die „ein funktionierendes Museum einzumotten haben“: Damit der Stüler-Bau termin- gerecht für die Sammlung Berggruen hergerichtet werden kann, ist er seit vor- voriger Woche geschlossen, die Bestän- de wandern ins Depot des Pergamon- Museums. Denn ihr angestammtes und auch künftiges Haus, Schinkels Altes Museum, ist noch durch längst abge- sprochene Wechselausstellungen blok- kiert. Dort werden, falls diesmal die Termi- 1995 1995 ne halten, die Antiken 1997 wenigstens in Auswahl wieder ans Licht kommen – und zu einer nötigen Grundsanierung

dieses Gebäudes nach der Jahrtausend- VG BILDKUNST BONN VG BILDKUNST BONN wende abermals verschwinden. Daß Pablo Picasso: „Kopf eines Fauns“ (1937), „Das Absinthglas“ (1914) Heilmeyer so bald aus Charlottenburg weg- müsse, hat ihm sein Generaldirektor erst im Herbst 1994 verra- ten. Berggruen fühlt sich von den „inneren Ent- scheidungen der Muse- umswelt“ wenig tan- giert, und Dube wertet den vorzeitigen Anti- ken-Auszug souverän als „Schritt in die Zu- kunft“. Daß aber ein „Berliner Sammler“ gerade jetzt seinen Be- sitz den Berlinern an- vertraue, kann er als „Signalwirkung gar nicht hoch genug schätzen“. Der Samm- Vincent van Gogh: „Der Herbstgarten“ (1888) Paul Ce´zanne: „Mädchen mit Puppe“ (1902/4) ler, der in seiner Hei- Berggruen-Leihgaben für Berlin: „Von unschätzbarer Signalwirkung“

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KULTUR

Museen „Weil wir sie brauchen“ Interview mit Ägyptens Kulturminister Faruk Husni über seine Forderung nach Rückgabe von Altertümern

Husni, 50, arbeitete als Kulturattache´ Regierungen zu intervenieren, um die seines Landes in Paris und als Direktor Rückführung der Altertümer in die We- der Ägyptischen Kunstakademie in ge zu leiten. Bis es soweit ist, wird aller- Rom, bevor er 1987 Kulturminister dings noch einige Zeit vergehen, weil wurde. vorher noch eine Reihe von Fragen zu klären sind. SPIEGEL: Vor wenigen Wochen schok- SPIEGEL: Wenn Ägyptens Wünschen kierten Sie die Museen Europas und stattgegeben wird, schafft das einen Prä- Amerikas mit der Erklärung, Kairo ver- zedenzfall, der Schule machen könnte. lange die Rückführung seiner Altertü- Die Griechen kämpfen bekanntlich mer aus aller Welt . . . schon seit Jahren um ihre Kulturdenk- Husni: . . . die Aufregung ist unbegrün- mäler im Ausland. det. Wir wollen nur einige wenige Zeu- Husni: In Griechenland selbst gibt es of- gen unserer großen Geschichte zurück- fenbar nicht mehr genug Altertümer. haben. Die Forderung erscheint mir daher ge- SPIEGEL: Wie etwa die Büste der ägypti- recht. schen Königin Nofretete in Berlin, die SPIEGEL: Für Ägypten kann dieses Ar- einst ganz legal in deutschen Besitz ge- gument nicht gelten. Ihr Land ist doch langte. Auch der „Stein von Rosette“, reichlich gesegnet mit jahrtausendealten der jetzt im Britischen Museum zu be- Zeitzeugen. Warum müssen bei dieser wundern ist, steht auf Ihrer Wunschli- Fülle Nofretete und Hatschepsut an den

ste. AP Nil zurück? Husni: Richtig. Und der Pariser Louvre Kulturpolitiker Husni Husni: Weil wir sie brauchen. Wir wer- sollte uns die Statue des ägyptischen „Die Aufregung ist unbegründet“ den demnächst das größte Museum „Schreibers“ wiedergeben und das Me- der Welt bauen. Übrigens nicht am Nil, tropolitan Museum in New York unsere Ausstellungsstücken ein Exponat zu sondern am Wüstenrand – unmittel- Hatschepsut. überlassen. bar gegenüber dem Plateau der welt- SPIEGEL: Und was wollen Sie sonst noch SPIEGEL: Sie nennen aber nicht irgend- berühmten Giseh-Pyramiden. Und haben? welche, sondern gleich die prominente- in diesem Museum, für das eine Husni: Wirklich nur einige der allerwich- sten Exponate. Handelt es sich hier nur Fläche von 60 Hektar vorgesehen ist, tigsten Stücke. Es ist doch sicher nicht um Ihre Wünsche oder schon um kon- sollen die heimkehrenden Altertü- zuviel verlangt, wenn wir die Staaten, in krete Forderungen? mer den ihnen gebührenden Platz denen ägyptische Altertümer ausgestellt Husni: Ich habe Außenminister Amr finden. Das alte Museum im Zen- werden, bitten, uns von jeweils tausend Mussa gebeten, bei den betreffenden trum von Kairo, das weiterbestehen wird, platzt jetzt schon aus den Nähten. SPIEGEL: Letzteres spricht doch eher dafür, Ägyptens an- tike Schätze, die im Ausland von Millionen bewundert wer- den, dort weiterhin zu belas- sen. Husni: Die Relikte unserer Vergangenheit sind die besten Botschafter unseres Landes, richtig. Tausende und Aber- tausende von Antiquitäten werden daher nach wie vor in aller Welt einem breiten Pu- blikum zugänglich sein, so- wohl in Ausstellungen, die Gegenstand von Fernseh- und Presseberichten sind, die den Ägyptentourismus fördern und Sympathie für unser Land wecken, als auch in den Mu- seen vieler Länder. Ägypten SÜDD. VERLAG BPK hat sozusagen Museen in der Alt-Ägyptische Kunstwerke Nofretete, Schreiber: Heimführung aus Berlin und Paris? ganzen Welt. Das darf uns

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aber nicht das Recht nehmen, einige be- sonders eindrucksvolle Altertümer nach Hause zu holen. SPIEGEL: Die Rückführung von Altertü- mern ist international umstritten. Rech- nen Sie sich denn tatsächlich Erfolgs- chancen aus? Husni: Die Verhandlungen mit Israel waren zum Beispiel ein Erfolg. Wir ha- ben sämtliche Altertümer zurückerhal- ten, die sich Israel während der Beset- zung der Sinai-Halbinsel angeeignet hat- te. SPIEGEL: Aber schaffen Sie sich mit dem Zurückholen von Antiquitäten nicht neue Probleme? Ägypten ist doch schon jetzt mit der Restaurierung seiner Altertümer überfordert. Husni: Seit ich dieses Amt übernahm, konzentriere ich mich auf die Erhaltung

und den Schutz unserer Altertümer. Wir H. SCHWARZBACH / ARGUS sind auf dem Gebiet deutlich vorange- Ägyptisches Nationalmuseum in Kairo*: „Zeugen einer großen Geschichte“ kommen, zum Teil in Zusammenarbeit mit dem Ausland. chen Grabungen aus, die durch Zufalls- Banden gestohlenen Altertümer nach SPIEGEL: Dafür werden immer mehr Ih- funde ermutigte „Wilderer“ in Gegen- Ägypten? rer Altertümer ins Ausland geschmug- den durchführen, die auf den Landkar- Husni: Weitgehend. Interpol und aus- gelt. ten der Archäologen nicht eingetragen ländische Sicherheitsorgane arbeiten Husni: Seit Jahrtausenden werden bei sind. mit uns zusammen. Außerdem beginnt uns Altertümer gestohlen. Absolute Si- SPIEGEL: Klappt denn wenigstens die die von mir angeregte drastische Straf- cherheit vor Diebstahl gibt es nicht, da- Rückführung der von spezialisierten anhebung für Antiquitätenraub zu grei- zu ist unser Land zu weitläufig. Er- fen. Raub von Altertümern ist ein ver- schwerend wirken sich auch die heimli- * Mit der Maske des Pharaos Tutanchamun. abscheuungswürdiges Verbrechen. Y .

KULTUR

chael Medved (unter der entsagungsvol- Kultfilme len Hilfe von Michaels Ehefrau Nancy) die „Golden Turkey Awards“ – die Prei- se für die schlechtesten Schauspieler, die schlechteste Darstellung einer Non- Schlecht, schlechter, ne, die lächerlichsten Monster, den mi- serabelsten Filmauftritt eines Schrift- stellers . . . Edward D. Wood siegte gleich in zwei am schlechtesten Sparten, den beiden wichtigsten. Er wurde postum als „schlechtester Regis- SPIEGEL-Redakteur Hellmuth Karasek über den Filmemacher Ed Wood seur aller Zeiten“ ausgezeichnet. Und er und dessen Wiederauferstehung gewann den welken Lorbeer für den „schlechtesten Film aller Zeiten“. Über- wältigende 393 Stimmen von Fans mise- n den sechziger Jahren, als das ameri- stellerin und ihm über den Tod hinaus rabler Filme fielen auf „Plan Nine from kanische Fernsehen jung und uner- treu, und vielen Hunden zwischen dem Outer Space“. Das Medved-Buch von Isättlich hungrig war (das Programm, angesammelten Müll seiner Filmjahre in 1980 über die schlechtesten Filme der fast rund um die Uhr, wollte gefüllt einer Einzimmerwohnung in Holly- Geschichte Hollywoods, witzig, kennt- sein), schüttete es in später Nacht und woods Yucca Street – einer herunterge- nisreich und liebevoll bösartig geschrie- am frühen Morgen Hollywoods Müllei- kommenen und berüchtigten Fixer-Ge- ben, ist inzwischen längst ein Kultbuch mer und Abfallsäcke aus – all die B-Mo- gend. der Filmfreaks. vies, D-, C-Movies, Z-Movies, die es im Wenn ein Film von ihm lief, rief der Und so gilt dieser Science-fiction- und Dutzend billiger gekauft hatte. Schlaflose seine Freunde an und weckte Horror-Film in einem, der von Außerir- Dann liefen auch, um drei oder vier sie stolz – sie sollten den Fernseher an- dischen erzählt, von fliegenden Unter- Uhr morgens, wenn Schlaflose und Un- machen. Weil er die Miete nicht bezah- tassen, von Toten, die aus kaliforni- ermüdliche, Partyleichen und Nacht- len konnte, setzte man schwärmer noch auf waren, die Filme Wood mitsamt Frau, von Edward D. Wood Jr.: „Glen or Hunden und Sperr- Glenda? / I Changed My Sex“ von 1953 müll auf die Straße, oder „Plan Nine from Outer Space“ von wo er tagelang im Frei- 1959 – Filme, die im Hollywood-Kino en kampierte, bevor erbarmungslos bruchgelandet waren. Es ihn ein Schauspieler- rauschte auch „Bride of the Monster“ Freund aufnahm. von 1952 über den nachtgrauen Bild- Bei diesem Freund schirm, ein Film, der im Kino das Pre- Peter Coe starb er am mierenpublikum so provoziert hatte, 10. Dezember 1978 im daß es erst den Kinosaal zertrümmerte, Alter von 54 Jahren. um dann das Auto des Regisseurs, Au- Er starb, wie es sich tors und Produzenten Ed Wood total zu gehört, vor dem Fern- demolieren. seher; er hatte sich ge- Wood, der Schöpfer dieser Filme, war rade ein Footballspiel später, in den Sechzigern und Siebzi- angeschaut. gern, völlig verarmt und dem Alkohol Zwei Jahre später

verfallen. Er schrieb Pornoheftchen, setzte sein Nachruhm EVERETT COLLECTION drehte Porno-Kurzfilme, lebte mit sei- ein. 1980 verliehen die Wood-Film „Glen or Glenda“ (1953)* ner Frau Kathy, einst seine Hauptdar- Brüder Harry und Mi- Künstlerische Notdurft

schen Friedhöfen gestohlen und reani- miert werden – so gilt „Plan Nine from Outer Space“ seither in Filmlexika und Filmgeschichten unangefochten als das absolute Meisterwerk der Filmstümpe- rei: ein einsamer Gipfel an „camp“, „trash“, Schund, Schamott und Schrott. Das zweifellos beste US-Filmlexikon von Ephraim Katz, „The Film Encyclo- pedia“, feiert den „unabhängigen Filme- macher“ Wood als „worst director of all time“, der „paradoxerweise eine loyale Kultgemeinde“ gefunden habe. Und auch Englands führendes Nachschlage- werk, der Halliwell, registriert, daß um Woods „Schlechtesten der Schlechten“ ein Kult entstanden sei. Genauso ist es. Woods Filme sind zwar mehr schlecht als recht in drei bis

TOUCHSTONE PICTURES * Oben: mit Dolores Fuller und Ed Wood; unten: Burton-Film „Ed Wood“ (1995)*: Leidenschaft in Angorawolle mit Sarah Jessica Parker und Johnny Depp.

226 DER SPIEGEL 20/1995 Werbeseite

Werbeseite KULTUR sechs Tagen heruntergedreht worden, Opfer die Plastiktentakeln des Meeres- aber das mit Herzblut, leidenschaftlicher ungeheuers selbst um sich schlingen, Filmbegeisterung und unbeirrbarem Op- wobei einer auch noch beim Stehlen ab- timismus. geknickt worden war. Aus dem Mord Seine Schauspielerinnen und Schau- wird der seltsamste Filmselbstmord, spieler sind oft so schlecht, daß es einem verübt im seichten Gewässer mit Hilfe die Tränen in die Augen treibt. Kein eines vielarmigen Gummitiers. Wunder, es waren die Frauen, die er be- Man sieht: Woods Filmkunst war eine setzte, nachdem sie ihm zuerst ihr Geld, Dennoch-Kunst, ein Sieg des filmischen dann ihr Herz und schließlich ihre Ango- Willens über sämtliche Widrigkeiten der ra-Pullover geschenkt hatten. Es waren Ringer wie der kolossale schwedische Kahlkopf Tor Johnson oder „Vampira“, erst finnisches Fotomodell, dann TV- BESTSELLER Gruselhexe. Und es war (wie in „Bride of the Mon- BELLETRISTIK ster“) der Sohn eines texanischen Fleischgroßhändlers, der die Hauptrolle Gaarder: Sofies Welt (1) spielte – der Vater hatte den Film nur un- 1 Hanser; 39,80 Mark ter der Bedingung finanziert, daß sein Sproß der tragenden Rolle Fleisch und Gaarder: Das (2) Blut geben durfte. 2 Kartengeheimnis Woods Meisterstück „Plan Nine from Hanser; 39,80 Mark Outer Space“ wurde durch eine religiöse Sekte finanziert. Um an den Klingelbeu- Allende: Paula (4) tel ranzukommen, mußten sich alle 3 Suhrkamp; 49,80 Mark Wood-Akteure in einem Swimming- pool taufen lassen – einer wäre um ein Eco: Die Insel (3) Haar dabei ertrunken; er konnte noch 4 des vorigen Tages schlechter schwimmen als schauspielern. Hanser; 49,80 Mark Wood, ein ungebrochener Filmenthu- siast und ein Stehaufmännchen auf Tamaro: Geh, wohin dein (5) dem Scherbenhaufen seiner Mißerfolge, 5 Herz dich trägt mußte seine Kino-Abenteuer mit den be- Diogenes; 32 Mark scheidensten Mitteln auf die Leinwand zaubern. Da er Ufos zeigen wollte, be- Fosnes Hansen: Choral (6) pinselte ihm seine rastlose Ehefrau 6 am Ende der Reise Pappteller mit Silberfarbe, die dann an Kiepenheuer & Witsch; Schnüren durchs Bild gezogen wurden. 45 Mark „Special effects“ zauberte er, indem er eine solche Pappe mit Benzin tränkte Høeg: Fräulein Smillas (7) und entzündete: eine fliegende Untertas- 7 Gespür für Schnee se, die über Hollywood schröcklich ver- Hanser; 45 Mark brannte. Haslinger: Opernball (8) Draculas späte 8 S. Fischer; 44 Mark Wiederkehr in die Proulx: Schiffsmeldungen (11) Plastikwelt der Fünfziger 9 List; 39,80 Mark Walters: Die Bildhauerin Seine Raumschiffe erinnern im In- (9) 10 Goldmann; 39,80 Mark nern fatal an Garagen. Ein hoher Penta- gon-General sitzt hinter einem wackli- Noll: Die Apothekerin gen Schreibtisch, dessen einzige Schub- (10) 11 Diogenes; 36 Mark lade, voll wichtiger Geheimdokumente, beim Aufziehen klemmt. Auf einem Morgan: Traumfänger Friedhof bestehen die Grabsteine aus (13) 12 Goldmann; 36 Mark leichter Pappe und werden dementspre- chend leicht umgekickt. Tag- und Nachtszenen wechseln verwirrenderwei- Pilcher: Das blaue Zimmer (12) 13 Wunderlich; 42 Mark se in Sekundenschnelle, weil Wood das Day-by-night-Verfahren offenbar nicht beherrschte. Follett: Die Pfeiler (14) 14 der Macht In einem seiner Filme wird der Held Lübbe; 46 Mark (Bela Lugosi) am Ende von einer Rie- sen-Meereskrake im Wasser erwürgt. Grisham: Der Klient Den Octopus hatte Wood des Nachts 15 Hoffmann und Campe; 44 Mark aus den Republic-Studios klauen lassen, allerdings ohne Motor. So mußte das Realität, als da sind: Geldnot, schau- rines im Zweiten Weltkrieg japanisch spielerische Notdurft, Tücke des gefilm- besetzte Küsten – unter der Uniform ten Objekts. Allen Fährnissen zum trug er weibliche Slips, Büstenhalter Trotz gab Wood alles. Und er gab sich und Spitzenunterwäsche. Seiner Verlob- selber. ten entwendete er heimlich deren Ango- Wood, mit seinem energischen Kirk- ra-Pullover, die sich wunderte, wie aus- Douglas-Kinn ein Liebling der Frauen, gebeult die weichen Wolldinger oft wa- war nämlich erst heimlicher und dann ren. leidenschaftlich überzeugter Transve- In „Glen or Glenda“, seinem ersten stit. Er stürmte als Soldat bei den Ma- Spielfilm über eine tragisch in Mann und Frau gespaltene Persönlichkeit, trug er seine Frauenfummelleidenschaft zum Filmmarkt – er gab sich auf der Lein- wand selber mit blonder Perücke und gelegentlich auf High-heels: Er landete SACHBÜCHER prompt seinen ersten Totalflop. Erschlichen hatte sich das Greenhorn Wickert: Der Ehrliche (1) den Regieauftrag für die Transvestiten- 1 ist der Dumme Moritat bei einem kleinen Schmuddel- Hoffmann und Campe; 38 Mark filmproduzenten, indem er ihm die Mit- wirkung von Bela Lugosi versprach. Be- 2 Carnegie & Assoc.: (2) la Lugosi, der große und einzig wahre Der Erfolg ist in dir! Dracula von 1931, war ein (in der Zwi- Scherz; 39,80 Mark schenzeit längst abgehalfterter) Star mit Carnegie: Sorge dich (3) schauerlichem Akzent, rollendem R 3 nicht, lebe! und rollenden Augen, der große Kon- Scherz; 44 Mark kurrent und Gegenspieler von Boris Karloff, dessen Ruhm er erst postum er- 4 Ehrhardt: Gute Mädchen (5) reichte. Als sich Wood und Lugosi tra- kommen in den Himmel, fen, war der große alte Dracula eine böse überall hin Ruine, dem Morphium und dem Alko- W. Krüger; 29,80 Mark hol verfallen und von Hollywood ver- Friedrichs, mit Wieser: (4) gessen. Er war so auf dem Hund, daß er 5 Journalistenleben bereits Formaldehyd konsumiert haben Droemer; 38 Mark soll. Die rührende Geschichte der beiden, Paungger/Poppe: Vom (6) die sich wechselseitig aus Not und Ver- 6 richtigen Zeitpunkt gessen ins Filmlicht und in den Glamour Hugendubel; 29,80 Mark zu stemmen und zu strampeln suchten, Gorbatschow: Erinnerungen (8) erzählt der Film „Ed Wood“ von Tim 7 Siedler; 78 Mark Burton, der jetzt auf dem Festival von Cannes zu sehen ist. Ogger: Das Kartell (7) Burton, der schon aus „Batman“, 8 der Kassierer aber vor allem aus „Edward Scissor- Droemer; 38 Mark hands“ anrührende Außenseitergestal- Preston: Hot Zone (9) ten formte, macht sich auch über Wood 9 Droemer; 39,80 Mark (den Johnny Depp voll mitreißender Unschuld spielt) und Lugosi nicht lustig. 10 Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (10) Vor allem Martin Landaus imposantes Integral; 19 Mark Lugosi-Wrack und anrührende Holly- Knopp: Das Ende 1945 (14) wood-Ruine macht deutlich, daß es 11 C. Bertelsmann; 48 Mark grandiose Augenblicke beim Drehen von Billigstfilmen gibt, in denen 12 Mandela: Der lange (12) Schmiere und Dilettantismus in Größe Weg zur Freiheit und Kunst umschlagen. S. Fischer; 58 Mark Der Film ist vom gleichen Geist, der Jong: Keine Angst (13) die Wood-Biographie von Rudolph 13 vor Fünfzig Grey beseelt. Sie erschien 1992 und be- Hoffmann und Campe; 44 Mark schreibt mit viel Verständnis die dreifa- che Lebenslast, die Wood in den engen 14 Paungger/Poppe: Aus (11) fünfziger Jahren Amerikas zu tragen eigener Kraft hatte: als Alkoholiker, als Transvestit Goldmann; 39,80 Mark und als unbeirrbarer Träumer und Ogger: Nieten in (15) Phantast*. 15 Nadelstreifen Auch Burton bringt das Kunststück Droemer; 38 Mark fertig, daß sein Schwarzweißfilm die Filmmittel Woods getreulich nachahmt Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin Buchreport * Rudolph Grey: „Nightmare of Ecstasy: The Life and Art of Edward D. Wood Jr.“. .

KULTUR

(inklusive der Grabsteine, die die chen-, Backfisch- oder Teenie-Roman Schauspielernamen tragen) und doch Film bewährt hat – wobei sich, zwangsläufig, nicht lächerlich wirkt. Eher wie ein ge- das zu seiner Zeit als emanzipatorisch treu komisches Bild der Kunstabsichten geltende Buch in ein Kultstück der Hei- und des Lebenswillens der USA in den le-Welt-Nostalgie verwandelt hat, das fünfziger Jahren, einer kitschigen Pla- Heiliger nicht trotz, sondern wegen seiner unge- stik-Belle-E´ poque – die, nicht zuletzt nierten Verkitschtheit geliebt wird. dank des importierten Kinos, auch un- Erstmals, so steht in Lexika, ist „Litt- sere Nierentischwelt inspirierte. Strohsack le Women“ 1917 verfilmt worden, zu- Kurz vor Beginn der Dreharbeiten letzt 1978 für das amerikanische Fernse- von Woods Gipfelsturm zu „Plan Nine „Betty und ihre Schwestern“. Spiel- hen. In der berühmtesten Kinofassung from Outer Space“ starb Lugosi. Eine film von Gillian Armstrong. USA spielte 1933 Katharine Hepburn die Beziehung totaler Freundschaft, ver- zweitälteste der vier Pfarrerstöchter, Jo querer Abhängigkeit und wechselseiti- 1994. (in der Louisa May Alcott sich selbst ger Ausbeutung war jäh zu Ende. porträtiert hat), in einer anderen Film- Aber Wood hatte vorgesorgt. Er hat- rüher war man etepetete, früher tru- version, 1949, tat sich Elizabeth Taylor te seinen klapprigen Freund in den letz- gen junge Damen in Gesellschaft als koketter Star-Teenager in der Rolle ten Lebenstagen gefilmt, „einfach so“. FHandschuhe, früher rief man, wenn der Jüngsten hervor. Wie dieser vor sein schäbiges Haus man sich mit einem deftigen Fluch Luft Und daß Louisa May Alcott – halb tritt, ein Blümchen pflückt, daran schaffen wollte: Heiliger Strohsack! Das Hedwig Courths-Mahler, halb Enid Bly- riecht, es wegwirft. Diese Winzszene, war die gute alte Zeit. ton – noch immer die Mädchenherzen keine Minute lang, baute er jetzt in sei- In dieser guten alten Zeit machte mit rührt, beweist der US-Erfolg des neuen nen Film ein – um später auf Plakaten frommem Fleiß die aus New England Films, der die Frömmelei des Buches und im Vorspann behaupten zu kön- stammende Louisa May Alcott (1832 bis dämpft, sich aber mit allem Willen zur nen, Lugosi habe eine tragende Rolle Treuherzigkeit dessen gespielt. biedermeierliche Mo- Und das ging so: Wood engagierte ral zu eigen macht: den Masseur und Chiropraktiker seiner Kinder, Küche, Kirche Darstellerin Vampira, Dr. Tom Mason, als höchstes Lebens- bei dem er, als der sich an deren Nak- ziel der Frau. Das wä- ken zu schaffen machte, eine frappante re nicht weiter von Be- Ähnlichkeit mit dem toten Lugosi aus- lang, wenn nicht lauter zumachen meinte. Die war zwar nicht Frauen (statt diesem vorhanden. Mason hatte ein total ande- Ziel nachzustreben) res Gesicht, andere Haare und war, zu das Filmprojekt zu ih- allem Überfluß, einen ganzen Kopf grö- rer Herzensangelegen- ßer. heit gemacht hätten: Aber jedenfalls läuft es im Film so, Drehbuchautorin, Pro- daß anfangs der echte Dracula a. D. duzentin, Regisseurin vors Haus tritt, an der Blume riecht sowie sieben Haupt- und sie wegwirft. Das hat zwar mit dem darstellerinnen mit Su- „Plan Nine“ und seiner Story eigentlich san Sarandon an der nichts zu tun, dennoch sehen wir das Spitze, die als Mutter geheimnisvolle Double kurz darauf, mit eine wahrhaft über- schwarzem Mantel und einen ganzen menschliche Back- Kopf größer, wieder als Lugosi auftre- ofenwärme ausstrahlt,

ten. Jetzt in die Handlung integriert. COLUMBIA TRI-STAR und mit Winona Ryder Total. Und total unähnlich. „Little Women“-Star Ryder: Süßholz raspeln als Jo, deren Rolle Und wenn er sich den Akteuren und durch Anleihen an der dem Zuschauer nähert, nimmt er den 1888, Tochter eines idealistischen, also Biographie von Louisa May Alcott zur schwarzen Mantel und schlägt ihn je- armen, aber honorigen Reformpädago- Zentralfigur ausgebaut wurde: desmal verhüllend um sein Gesicht, von gen und Philosophen) als Schriftstellerin Jo will Schriftstellerin werden, und dem man nur die Augen sieht. Auf die- Karriere. Unter ihren unglaublich zahl- damit sie das schafft, muß sie lernen, se abstruse Weise hält Wood einen To- reichen Werken, zu deren Stärken ge- sich zur Wahrhaftigkeit ihrer Gefühle zu ten einen ganzen Film lang am Schein- wiß in aller Regel die Rührseligkeit ge- bekennen – doch der Film, der das er- leben. Und es macht nichts. Denn auch hörte, hat eines, dem sie später mehrere zählt, gerät niemals auch nur in die Nä- die anderen Filmtoten steigen aus Grä- Fortsetzungen anhängte, ihren Nach- he eines Moments von Wahrhaftigkeit. bern, die erkennbar mit Plastikplanen ruhm gesichert: „Little Women“, er- Natürlich spielt Winona Ryder so innig, ausgelegt sind, und wenn sie ihre Opfer schienen 1868. daß kein Auge trocken bleibt, doch auf den Rasen werfen, liegen da, sicht- Es ist die – deutlich autobiographisch diesmal handelt es sich nur um die bar und offensichtlich, weiche Kissen, grundierte – Geschichte von vier Schwe- Kunst, Süßholz zu raspeln. damit sich niemand weh tut. stern, die allein mit ihrer Mutter im Übrigens heißt eines der vier Mäd- Es sind übrigens genau zwei (in Zah- ländlichen Massachusetts heranwach- chen Betty. Sie ist die Unauffälligste, len: 2) Außerirdische, die aus ihrer Un- sen, während der Vater als Pastor im die Stillste und still Kränkelnde, bis sie, tertasse Erde und Universum bedrohen Bürgerkrieg für Gott und die gute Sache schluchz, schluchz, von Gott zu sich ge- und genau zwei (in Zahlen: 2) Tote da- der Nordstaaten kämpft. Sie enthält so- rufen wird. Er also, wenn schon sonst zu vom Friedhof stehlen. viel Heiteres und Herzbewegendes, daß niemand, wird auch wissen, warum die- Kein Wunder, daß kein Film diesem sich „Little Women“ in den USA von ser Film auf deutsch „Betty und ihre Film den Rang nach unten ablaufen Generation zu Generation als Ever- Schwestern“ heißt. kann. Y green der Literaturgattung Jungmäd- Urs Jenny

230 DER SPIEGEL 20/1995 Werbeseite

Werbeseite Pop Klirrfaktor auf kölsch Schuld ist nur der Bossa Nova: Das Fahrstuhlgedudel der sechziger Jahre ist der jüngste Partyspaß.

ike Flowers gehört zu der Sorte Musiker,diebeimArbeitsamtun- Mter der Kategorie „schwer vermit- telbar“ landen. Auf Opernfestspielen hat der Autodidakt im Dirigentenberuf ebensowenig verloren wie in Bierzelten – nur in der Londoner Subkultur bekommt einer wie Mike Flowers eine echte Chan- ce. In einem ehemaligen Bordell in Soho tritt der 28jährige jeden Dienstag vor aus- verkauftem Haus auf, und wenn er den Taktstock in die Hand nimmt, wird es ganz still. Schon weil er ein zerzaustes Toupet trägt und über den Ohren riesige Kopfhörer. Dazu grinst der Dirigent leicht irre wie die Comicfigur Alfred E. Neuman. Mike Flowers führt seine zwölfköpfige Band durch ein Repertoire aus Songs, die sein Publikum meist in Fahrstühlen, Bil- lig-Kaufhäusern oder Charterflugzeugen kennengelernt hat: Stücke von James Last und Herb Alpert, von Henry Manci- ni und Burt Bacharach. Manchmal lassen sie sich auch zu Coverversionen von Prince oder Velvet Underground hinrei- ßen – garantiert verkitscht mit elektri- scher Harfe und Hammondorgel. Die Sehnsucht nach der Musik und dem Lebensstil jener Zeit, in der die Re- vers noch schmal und die Anzüge aus Po- lyester waren, als James Bond seinen Martini noch gerührt, nicht geschüttelt bestellte, als Autos und Eissorten noch einfach Capri hießen, beschränkt sich nicht auf London. In Berlin, München und Hamburg werden, beschallt von Diskjockeys wie dem Duo Le Hammond Inferno, soge- nannte Easy-Listening-Partys gefeiert, den musikalischen Rahmen bieten mo- numentale Orchestermelodien aus den sechziger Jahren. In Boston spielt ein Ex-Punk unter dem Namen Combustible Edison stilech- ten Cocktail-Jazz nach, in Tokio arbeitet die Gruppe Pizzicato Five an der Fusion aus Henry Mancini und House-Music. Auch andere Popbands wie Blur, Saint Etienne, Stereolab oder Portishead be- dienen sich aus dem Erbe des ehemals verpönten Fahrstuhlgedudels. Unter dem Namen „Get Easy“ veröf- fentlicht die Firma Motor Music jetzt

232 DER SPIEGEL 20/1995 .

KULTUR WALLI Diskjockeys Le Hammond Inferno: Platte mit tschechischem Porno-Georgel

Easy-Listening-Party-Einladung: Martini gerührt, nicht geschüttelt

zwei CDs. Die „Classic Collection“ prä- Woche für Woche die Flohmärkte. sentiert verlorengegangene Juwelen der Fundstücke waren eine Platte mit tsche- Vergangenheit, von Astrud Gilbertos chischem Porno-Georgel; eine Stereo- Bossa Nova „Windy“ über Ray Conniffs demonstrationsplatte, auf der ein Spre- „Music to watch Girls by“ bis zu Martin cher seine Wissenschaftlerprosa auf Böttchers „Sonderdezernat K 1“; „Fu- kölsch verliest und das Wesen des Klirr- ture Collection“ dokumentiert mühsam faktors erklärt; eine Vorführplatte des die Easy-Listening-Szene der Gegenwart Orgelherstellers Farfisa, wo auf dem – und beweist vor allem: Die Zukunft Modell „Nadine“ „When the Saints Go klang auch schon mal besser. In der Ent- Marchin’ in“ gespielt wird. stehungszeit der Classic-Collection etwa. Zur Zeit arbeitet das Duo ohne fe- Gründe, das Schmalz von gestern auch sten Standort, das bisherige Stammlo- heute zu mögen, gibt es viele. Für einige kal der beiden, die Ost-Berliner „Ha- Anhänger bietet der Sound, der einmal fenbar“ soll abgerissen werden, samt die vom Rock’n’Roll durcheinanderge- Bullaugen und Fischernetzen. „Ameri- wirbelte Welt beruhigen sollte, eine Ge- kanische Spekulanten“, sagt Markus, genströmung zu Techno. „Easy Listening „wollen einen Supermarkt dorthinstel- ist die logische Konsequenz aus Hektik, len.“ Krach, Sterilität und Kälte der Neunzi- Zusammen mit ihren britischen Kol- ger“, behauptet der Berliner Radiomo- legen, den Karminsky Brothers, starten derator Martin Petersdorf. Le Hammond Inferno im Juni eine Für die meisten Fans bedeuten die bi- Deutschlandtournee. Die Karminskys, zarren Modernismen von damals – Tech- benannt nach einem Londoner Delika- no hin, Techno her – jedoch vor allem ei- tessengeschäft, gehen mit sehr viel mehr nes: Spaß. „Am besten ist es“, sagt DJ Ernst ans Werk als ihre Kollegen: Sie Markus Liesefeld vom Hammond Infer- wollen Deutsche auf eine Reise in die no, „wenn auf einer Platte eine unglaub- glamouröse Vergangenheit der sechzi- lich miese Band ein unglaublich mieses ger Jahre schicken, „irgendwo zwischen Lied nachspielt, wenn man dazu tanzt, Frühstück bei Tiffany und St. Moritz“. sich dabei kranklacht und denkt: „Mein Mike Flowers aber bleibt zu Hause in Gott, was für ein gutes Lied.“ London. Nur eines könnte ihn von der Um ihrRepertoire spannendzuhalten, Insel locken: Ein Engagement auf ei- durchstöbern die beiden Inferno-DJs nem Kreuzfahrtschiff. Y

DER SPIEGEL 20/1995 233 . SZENE R. FRANK Frank-Foto „Mary and Pablo NYC“ (1951)

Fotografie lung, die bis zum 30. Juli im Kunsthaus Zürich zu sehen ist. Gleichzeitig erscheint ein opulentes Buch, in dem auch Licht der Tristesse Frühwerke des Fotografen veröffentlicht sind wie das Por- trät seiner ersten Frau Mary mit Baby und Katzen. Frank, Er haßt den Kunstbetrieb und hat sich erfolgreich den An- gebürtiger Schweizer, hatte überwältigenden Erfolg mit sei- forderungen des Ruhmes entzogen. Doch jetzt wird der ner Anthologie „Die Amerikaner“ (1958) – Stadt- und New Yorker Fotograf Robert Frank, 71, als exzentrische Landschaftsbildern, über denen immer ein graues Licht der Legende und einflußreichster Lichtbildner der Nachkriegs- Tristesse lag. Das zunächst umstrittene Buch gilt heute als zeit geehrt: „Moving Out“ heißt eine große Frank-Ausstel- Standardwerk der Fotografie.

arbeitern und einem Riesen- Theater erfolg. Weltweit 6,5 Millio- nen Fans vergnügten sich bis- Mamet gibt Rätsel auf her unter dem „Soleil“-Zelt. Nun gastiert der zirzensische Er ist Amerikas Dramatiker mit dem Großbetrieb in München, sichersten Instinkt für spektakuläre Berlin und Düsseldorf mit Zeitgeist-Stücke. David Mamet, 47, seiner neuen Show „Saltim- hat über Bodenspekulation („Hang- banco“ (Gaukler). Da wird lage Meerblick“) und sexuelle Belästi- nicht einfach die sonst im Zir- gung („Oleanna“) geschrieben – und kus übliche Nummernrevue meist waren die Theater proppenvoll. mit Clowns oder Jongleuren Jetzt aber hat er die Spürnase nicht zelebriert, sondern es wird ei- mehr im Wind. Im New Yorker „West-

AL SEIB ne durchgehende Geschichte side Theater Upstairs“ läuft sein neues Clown im „Cirque du Soleil“ erzählt: Ein kleiner Junge Werk „Kryptogramm“ vor mäßig be- wandert durch die Wunder- geistertem Publikum. Es ist ein verrät- Zirkus welt bunter Phantasiewesen, die flie- seltes, langweiliges Familiendrama aus gen, schweben, turnen, springen. monologischen Fetzen und Satztrüm- Märchen in der Manege Doch den Zuschauer läßt die rätsel- mern, die sich nie zu einer Geschichte hafte Odyssee des Kleinen unter der fügen. Den deutschen Mamet-Speziali- Die Geschichte des „Cirque du Soleil“ Zirkuskuppel zunehmend ratlos. Au- sten Dieter Giesing hat das nicht abge- klingt wie ein Märchen: Ein kanadi- ßerdem nervt der sentimentale Gla- schreckt. Er inszeniert das „Krypto- scher Feuerschlucker macht innerhalb mour, dessen aufgesetzte Kindlichkeit gramm“ als deutschsprachige Erstauf- von elf Jahren aus einem Zwergzirkus an den Zuckerguß von Roncalli erin- führung kommenden Samstag am Zür- ein Manegen-Hollywood mit 600 Mit- nert. cher Schauspielhaus.

234 DER SPIEGEL 20/1995 .

Ausstellungen Literatur Maleraufbruch Engel im Knast ins Ungewisse Der gelernte Rechtsanwalt John Gri- sham plaudert gern, bestsellerreif, aus Die Normen sind außer Kraft, der mis- der Welt der Strafjustiz. Erfolgreiche sionarische Eifer hat sich verflüchtigt – junge US-Anwälte schuften, laut Gri- geblieben ist „Das Abenteuer der Ma- sham, 18 bis 20 Stunden am Tag. lerei“. Mit dieser Botschaft und unter Schon ein Anfänger kassiert erfreuli- diesem Titel nimmt eine Doppelaus- che 60 000 Dollar im Jahr. In den stellung das alte, offenbar unverwüstli- Zuchthäusern, auch das weiß Gri- che Medium abermals ins Visier: Fast sham, qualmen die Todeskandidaten gleichzeitig zeigen die Kunstvereine in täglich drei bis vier Päckchen filterlose Düsseldorf (14. Mai bis 25. Juni) und Zigaretten – nur, um Stuttgart (18. Mai bis 2. Juli) eine ge- an Lungenkrebs, meinsam konzipierte Werkparade 34 nicht durch Henkers- im Durchschnitt etwa 40jähriger hand zu krepieren. Künstler aus Westeuropa und Ameri- Solche Nachrichten ka. Alle treten an beiden Schauplätzen kolportiert der

an, hier wie dort sind Bilder nicht nur K. SCHÖNE / ZEITENSPIEGEL „meistgelesene Au- an die Wand gehängt, sondern auch ad Platino bei der Arbeit tor der Welt“ (Ver- hoc gemalt worden – in Stuttgart etwa, lagswerbung) in sei- mit wolkigen Farbschichten, vom orts- Porträts. Das kuriose Parallelprojekt nem neuen Justiz- ansässigen Künstler Platino. Gegen- der Kunstvereinsdirektoren und einsti- thriller „Die Kam- standsloses überwiegt, ist aber in den gen Studienkollegen Raimund Stecker mer“. Der von Chri- Zeiten der Postmoderne kein Dogma und Martin Hentschel „begeistert“, stel Wiemken über- und kein Grund zum Zwist. Für die wie letzterer sagt, die Künstler durch setzte Wälzer variiert Veranstalter belegen beispielsweise wechselnde Raumbedingungen und Grishams Lieblings- John Grisham grau-abstrakte Schattenspiele den glei- soll auch das Publikum auf Trab brin- thema: den ewigen Die Kammer chen spontanen „Aufbruch ins Unge- gen: „Es lohnt sich, zu beiden Orten zu Widerspruch zwi- Hoffmann und Campe wisse“ wie naturfarben hingefetzte fahren.“ schen Recht und Ge- 48 Mark rechtigkeit. In der „Kammer“, gemeint Wettbewerbe ist die Gaskammer, kämpft des Autors Alter ego gegen die Todesstrafe. Es geht um Sam Cayhall, einen Ras- „Da fallen die Mädels um“ senfanatiker, der Mitte der sechziger Jahre an einem mörderischen Attentat Der Schriftsteller Christian Kracht, 28 SPIEGEL: Halten Sie die Jury-Ent- auf eine jüdische Anwaltskanzlei betei- („Faserland“), Mitstreiter um den scheidung für gerecht? ligt war. Der wahre Bombenleger ent- Montblanc-Literaturpreis, über den Kracht: Na ja, die Texte der anderen kam, Cayhall wollte den Kumpel nicht Verlauf des Wettdichtens in der kenne ich ja nicht, aber die Geschich- verpfeifen und wurde deshalb als Al- vergangenen Woche im Hamburger te von Doris Dörrie hat einen ersten leinschuldiger verurteilt. Nun sitzt er Hotel Atlantic. Preis natürlich verdient, sonst hätte in der Todeszelle. Aber da schickt der sie ihn ja nicht bekommen. Aber mitleidige Romancier Grisham einen SPIEGEL: Was war für Sie das Interes- mein Sieger ist Sten Nadolny, denn rettenden Engel in den Knast – den santeste in diesen drei Tagen? der ist ein absolutes Vorbild, er trägt jungen Anwalt Adam Hall, ein Enkel Kracht: Der Hemdkragen meines Kon- die wunderbarsten Cord-Anzüge und des bärbeißigen Faschisten. Und der kurrenten Martin Mosebach. Ich glau- nußbraune Brogue-Schuhe und ist tüchtige Advokat tut alles, um Opa vor be, das ist ein Haifischkragen, den er da zwei Meter groß. Wenn er in einen der Gaskammer zu retten. trug. Außerdem hat er sehr gute Jak- Raum kommt, dann fallen die Mädels Ein ehrgeiziger Einzelkämpfer gegen ketts. So braune, mit abfallender Schul- um. den mächtigen Justizapparat – das hät- ter. Er muß die in England SPIEGEL: Haben Sie was te nach bewährter Grisham-Masche kaufen, in Deutschland gelernt? wieder eine spannende Strandlektüre gibt es so einen Schnitt Kracht: Ich habe gelernt, werden können. Doch der Autor ent- nicht. daß man um vier Uhr mor- wickelt unverhofft betrüblichen litera- SPIEGEL: Warum haben gens in der Atlantic- rischen Ehrgeiz und ignoriert die Ge- Sie eigentlich nicht gewon- Bar mit Tilman Spengler, setze erfolgreicher Thriller. Der echte nen? Mosebach und Konsor- Bombenbösewicht, den Grisham als Kracht: Hmm, ich könnte ten keine Montecristo- Kontrastfigur hätte pflegen müssen, sagen: Weil mir nichts ein- Zigarren inhalieren darf, bleibt eine blasse Unperson, die sinn- gefallen ist zum vorgege- weil man sonst ganz los durch den Roman geistert und zwi- benen Thema „Die Ver- unglaublichen Durchfall schendurch irgendwo verschwindet. führung“, aber das stimmt bekommt und am näch- Statt turbulenter Action liefert der Au- überhaupt nicht. Deswe- sten Tag eben auch tor überwiegend blutleeres Juristenge-

gen sage ich: Weil ich gera- NICKEL nicht gescheit schreiben plänkel oder peinliche Etüden in Tie- de verliebt bin. Kracht kann. fenpsychologie.

DER SPIEGEL 20/1995 235 Werbeseite

Werbeseite .

SZENE

Henryk M. Broder über Literaturpreise für FAZ-Amigos Endlich Frieden im Lande! Was immer man der FAZ und ihrem 9. Mai erfuhr: daß die Akademie Feuilleton vorwerfen mag, Mangel an für Sprache und Dichtung in diesem Dankbarkeit und Lernfähigkeit ist es Jahr Durs Grünbein mit dem Georg- nicht. Jahrelang hat sich die Redakti- Büchner-Preis auszeichnen würde, on über die Deutsche Akademie für einen jungen Lyriker, über den Sprache und Dichtung in Darmstadt Seibt in der FAZ geschrieben hat, lustig gemacht, über die „hessische seit Hugo von Hofmannsthal habe es Gemütlichkeit“ eines Vereins „älterer in der deutschsprachigen Lyrik einen Herrschaften“, die sich auch schon solch „hinreißenden Götterliebling mal bei „Lübecker Marzipan und nicht mehr gegeben“. Damit nicht ge- Rotspon, den die Stadt sparsam aus- nug: Zugleich wurde der Sigmund- schenkte“, trafen um „auf ausgetrete- Freud-Preis für wissenschaftliche Pro- nen Pfaden“ zu wandeln, Jovialität sa Gustav Seibt zuerkannt, nicht „von Amts wegen“ ver- für den „hinreißenden breitend. War von den Götterliebling“, son- Leistungen der Akade- dern für sein Buch

mie die Rede, dann „Anonimo romano – D. KONNERTH / LICHTBLICK ging es vor allem um die Geschichtsschreibung Modelle von Rouditser Tagungskosten und die in Rom an der Schwel- Ausführungen des Aka- le zur Renaissance“, Mode demie-Präsidenten Her- Seibts Doktorarbeit bert Heckmann über und bisher einzige Sozialer Chic „die friedensstiftende Buchveröffentlichung. Wirkung des gemeinsa- Schließlich: Der Jo- Die kleidsame Pelle aus synthetischer men Essens“. hann-Heinrich-Merck- Schlangenhaut macht nicht dick und Doch plötzlich drehte Preis für literarische nicht arm. Nur 25 Mark kostet der sich der Wind. Ende Kritik ging an Michael schrille Schuppenfummel. In Berlin April lobte der Leiter Maar, einen weiteren stellt die Designerin Tamara Rouditser

der FAZ-Literaturre- DPA Mitarbeiter des FAZ- diese Woche eine Billigkollektion vor: daktion, Gustav Seibt, Grünbein Feuilletons. So konnte 120 Kreationen zu Dumpingpreisen die Akademie aus An- Frank Schirrmacher, von 10 bis 50 Mark. Auch Sozialhilfe- laß einer Tagung in Straßburg über der für Kultur zuständige FAZ-Her- empfängerinnen und alleinstehende den grünen Spargel. Den Hauptvor- ausgeber, zufrieden feststellen: „Die Mütter, meint die Modeschöpferin, trag der Tagung erhob er in den Rang Juroren der Darmstädter Akademie hätten ein Recht darauf, schick zu eines sakralen Kunstwerks: „Verfältet sind zu loben.“ sein. In Frauenhäusern und Altershei- wie ein Madonnenkleid des 15. Jahr- Mit dieser Meinung stand Schirrma- men führen Models ohne Gage ihre hunderts, gekräuselt wie Maßwerk, in- cher im Blätterwald ganz allein da. Kreationen vor. Die Modelle kosten nig wie ein Kirchenlied“. Dem Präsi- Der Frieden, den die Akademie und nur soviel wie der Stoff, aus dem sie denten Heckmann riet er, „ein bißchen die FAZ nach langem Zwist mitein- genäht sind. Auch die Herstellung der mehr gesunden Hochmut“ anzuneh- ander schlossen, war ein Insider- Seidenkostüme und Schlaghosen aus men, um den „Ansprüchen der eige- geschäft unter Literaturamigos – Spitze erfüllt einen sozialen Zweck: nen Sache gerecht“ zu werden. zum Wohle der Literatur und An den Berliner Nähmaschinen arbei- Gustav Seibt muß geahnt haben, was ein wenig auch zum beiderseitigen ten 16 Schneiderinnen als ABM-Kräf- der gewöhnliche FAZ-Leser erst am Nutzen. te.

NEU IM KINO

„Puppet Masters“. Der Kanadier Donald Sutherland „Die Maschine“. Der Nervenarzt Marc Lacroix leidet an ei- („Casanova“) ist ein anerkannt einsatzfreudiger, aber gele- ner schrecklichen Berufskrankheit: Seine arme Seele gentlich auch schwer gebeutelter Schauspieler – vor allem, schlüpft in den Körper eines inhaftierten Mädchenmörders, wenn er beruflich mit Außerirdi- im Gegenverkehr fährt der Geist schen zu tun hat. Erste aufreibende des Killers in den Irrenarzt und Kontakte mit extraterrestrischen buhlt um Madame Lacroix. Der Killerorganismen hatte er 1977 in Franzose Franc¸ois Dupeyron ist dem Monsterfilm „Die Körper- sichtlich bemüht, die bilaterale fresser kommen“. Jetzt ringt er Seelenwanderung als Grusel- wieder mit erdfremden Parasiten, stück vorzuführen. Doch nicht die sich tolldreist an ahnungslosen einmal Frankreichs illustre Knol- Menschen festsaugen und ihren lennase Ge´rard Depardieu als ja- Willen manipulieren. Die Sogwir- nusköpfiger Medizinmann be- kung des biederen amerikanischen wahrt den Film vor dem Absturz

Horrorfilms (Regie: Stuart Orme) CINETEXT ins Elend der unfreiwilligen Ko- ist sehr gering. Depardieu in „Die Maschine“ mik.

DER SPIEGEL 20/1995 237 Fernsehen Last und Lehre Zehn Jahre, 500 Folgen, sieben Mil- lionen Zuschauer – die Serie „Lin- denstraße“ hat sich vom Sorgenkind zum Goliath des Ersten entwickelt.

o barmen sonst nur Päpste: Die Welt sei in Gefahr, es drohe die SEntwertung von Religion und Mo- ral durch die Flut der Bilder. Und über- haupt die Medien – wo fragten die denn noch nach der Würde des Zuschauers? So wetterte vergangenen Donnerstag ein Mann, dessen Mitra die Strickmütze und dessen Petersplatz in den Kulissen von Köln-Bocklemünd liegt, mitten im Tempel des deutschen Seriengemüts: der „Lindenstraßen“-Schöpfer Hans W. Geissendörfer. Wider die Teufel des Privatfernsehens – so des Filmemachers urbi et orbi – walte nur Vater Beimer, Sohn Beimer und Heiliger Geist als Taube Beimer. Im Jahre zehn nach der Geburt der Serie, wenn im Juli die 500. Sendung auf die meist sieben Millionen Zuschauer herniedergeht, schien kein Wort zu klein, keine Assoziation zu kühn. „Ist es nicht merkwürdig“, fragte Geissendör- fer, „daß wir den 8. Mai beim Termin der ,Lindenstraße‘ feiern?“ Natürlich nicht: Trage doch keine Serie so an der „Last und der Lehre unserer deutschen Vergangenheit“. Selbst den scheidenden WDR-Inten- danten Friedrich Nowottny verließ bei so viel Selbstfeier der Humor: „Die ,Lindenstraße‘ ist das wirkliche Leben – fast, und deshalb ist sie aus unserem Le- ben auch nicht mehr wegzudenken.“ Zumindest nicht aus dem der ARD. Nur noch mit dem Flaggschiff „Tages- schau“ fährt die angeschlagene öffent- lich-rechtliche Anstalt regelmäßig so verläßlich hohe Marktanteile ein wie mit dieser wöchentlichen Serie: Mindestens 30 Prozent sind es Sonntag für Sonntag. Dabei hatte es zunächst gar nicht so ausgesehen: Im Entstehungsjahr 1985 war die Sendung intern und von der Presse bis an die Vernichtungsgrenze kritisiert worden. „Putzkübel – Schmie- rentheater“, wetterte Ponkie zunächst in der Münchner Abendzeitung,um dann aufzugeben: Die „Lindenstraße“ habe sich „in unser Leben hineingefres- sen wie ein Borkenkäferbataillon in den deutschen Wald“. Doch das fragile Weekly erstarkte zur tragenden Pro-

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KULTUR

grammsäule. 30 Fanklubs überziehen in- inden Niederungen des Serienlebensflat- zwischen das Land, Intellektuelle wie tern lassen, darf bezweifelt werden. der Zeit-Kolumnist Harry Rowohlt fin- Schließlich erreichen Daily Soaps wie den nichts dabei, den Penner im Geis- „Marienhof“ und „Gute Zeiten, schlech- sendörfer-Spiel zu geben. te Zeiten“ im härter umkämpften Vor- Die Serie hat Erfolg, und niemand abendprogramm auch ihre Zuschauer- weiß so recht, warum. Hundert wissen- millionen, ohne daß ehrenwerte Öko- schaftliche Untersuchungen, darunter Predigten, Gemeinsinnsappelle und Be- Magisterarbeiten und eine Habilitation kenntnisse wider die Unionspolitik ner- mit imposanten Titeln wie „,Lindenstra- ven. ße‘ als Symbol? Kritik am Dualismus Wohl eher speist sich der „Lindenstra- ßen“-Zuspruch aus Zonen, in denen der Verstand dem Menschen Urlaub ge- Scholz wohlauf, währt. Ein allwöchentlicher Schmacht Versöhnung im Bett, der Gewohnheit, ein Pawlowscher Re- flex beim Ertönen der Anfangsmelodie – Sarikakis gefoltert kein Wunder, daß dieSzenenmusik in der Serie immer wichtiger wird – erzeugen je- ,Realität – Fiktion‘ und dessen Überwin- ne wohlige Trance: So naht ihr wieder, dung durch das Symbol“ oder „Ge- schwankende Gestalten. schlecht und nonverbale Kommunikati- Und alle, die dem Lindwurm „Linden- on – eine Analyse unter machttheoreti- straße“ verfallen, verbindet die eine, ent- schen Aspekten“, können den Erfolg scheidende Frage: Wie geht es weiter? ebenso wenig erklären wieelegante FAZ- Verständlich, daß der Spinner der Feuilletons, welche die Dauerwurst zum Schicksalsfäden und seine beiden Parzen selbstreferentiellen System a` la Niklas dieses Geheimnis strengstens hüten: Mit- Luhmann adelten. arbeiter, die der neugierigen Presse Sto- Ob es die rührend atavistischen Alt- ryentwicklungen ausplaudern, werden 68er-Moral-Fähnchen sind, die Geissen- mit einer hohen Vertragsstrafe bedroht. dörfer und seine beiden Autorinnen Mar- Doch diesmal, zum Geburtstag, ließ tina Borger und Maria Elisabeth Straub Geissendörfer in die Juli-Folge 500 blik- ken: Taube Beimer und Erich Schiller versöhnt im Bett, der Griechen- wirt Sarikakis gefoltert zurück aus der Türkei, der nierenschwache Stotter-Detektiv Sch- Sch-Scholz anschei- nend wieder wohlauf. Klausi Beimer, ein Ve- getarier wie aus dem Zeitgeist-Katalog. Und die alte Haus- meister-Hexe Kling verzweifelt, weil sie in der 500. Sendung „Lindenstraße“ die ge-

P. ENGELMEIER liebte „Lindenstraße“ Lindenstraße 1. Folge (1985) (medienironische Vol- te) beinahe vollständig verpaßt. Einmal in Enthül- lungslaune, offenbarte Geissendörfer sein W. hinter dem Hans, das er bisher, wohl weil es ihm zu reaktionär er- schien, gekürzelt gelas- sen hatte. Wilhelm heißt der Mann auch. Der majestätische Na- me paßt zum neuen Glorienschein. Jetzt blüht der Lorbeer in der „Lindenstraße“. Y WDR Lindenstraße 500. Folge (1995) * Marie-Luise Marjan, Joa- chim Luger (o.), Bill Mock- Mutter Beimer, Partner*: Wie geht es weiter? ridge.

DER SPIEGEL 20/1995 239 Werbeseite

Werbeseite .

KULTUR

Regisseure „Zauber des Bildes“ Wim Wenders über hämische Kritiken, Humor und seinen neuen Film

SPIEGEL: Herr Wenders, in „Lisbon Wenders gereift, ein wenig gelassener Story“ verpassen Sie Ihrer Hauptfigur geworden? ein Gipsbein und lassen sie durch ver- Wenders: Na, ich hoffe doch, daß uns schiedene Slapstick-Einlagen stolpern. das im Lauf der Zeit gelingt. Seit wann haben Sie Humor? SPIEGEL: Der anderen Hauptfigur des Wenders: Es sollte eigentlich in allen Films – ebenfalls ein zu neuem Lein- meinen Filmen Humor geben, aber weil wandleben erweckter Wenders-Charak- die meist zu lang geraten waren, habe ter – fehlt dafür jedes Gespür für die ei- ich jedesmal die komischen Augenblik- gene Albernheit. Dieser Filmschaffende ke herausgeschnitten. Humor ist ja lei- namens Friedrich verbreitet ungefragt C. SCHULZ / PAPARAZZI der am leichtesten entbehrlich, weil er lauter alte, selbstquälerische Wenders- Wim Wenders die Handlung nicht vorwärtsträgt. Thesen: Den Bildern ist nicht mehr zu SPIEGEL: Wie schade. Wir hätten gern trauen, hinter den Bildern verschwindet legt mit seinem neuen Film „Lisbon auch früher bereits einen witzigen Wen- allmählich die Wirklichkeit. Noch ein Story“ nach mehreren Flops eine ders gesehen. Ihr Gipsbein-Held ist ein Alter ego? Selbstbesinnung und Zwischenbi- aus Ihren alten Filmen wohlbekannter Wenders: Aber ja. Allerdings ein unge- lanz vor. 1994 als Dokumentarfilm Charakter, ein Pechvogel namens Phil- liebtes. Den Friedrich hatte ich schon von der Stadt Lissabon angeregt, lip Winter, der stets so etwas wie Ihr Al- mal erschießen lassen . . . hat sich „Lisbon Story“ zu einem Es- ter ego war. Warum ist er diesmal eine SPIEGEL: . . . 1982 in „Der Stand der say des deutschen Autorenfilmers lächerliche Figur? Dinge„ . . . über Bilder und Klänge im Kino, ein Wenders: Lächerlich ist er sicher nicht. Wenders: . . . weil er damals schon ab- Jahrhundert Filmgeschichte und die Phillip Winter ist jemand, der einfach struse Theorien verbreitete. Es gilt, den portugiesische Hauptstadt entwik- immer weitermacht, ganz unbeirrt, auch Friedrich in mir zu bekämpfen. kelt. Die lockere Handlung des mit wenn er zwischendurch Pleiten erlebt. SPIEGEL: Warum denn das? bescheidenen Mitteln gedrehten Films setzt – nicht immer mit Erfolg – auf den spontanen Charme des Dilettantismus. Der deutsche Ton- techniker Phillip Winter (Rüdiger Vogler) fährt nach Lissabon, um dem Regisseur Friedrich Monroe (Patrick Bauchau) bei einem Film- projekt zu helfen. Doch Monroe ist verschwunden, und Winter vertreibt sich die Zeit damit, die Stadt zu er- kunden. Wenders, 49, wurde mit „Lisbon Story“ zum Festival in Cannes eingeladen.

beiden wie die Wilden mit einer uralten Ascania-Kamera in den Straßen von Lissabon. Wenders: Ja, ist die Kamera nicht wun- derbar? Wenn man eine solche alte Kur- belkiste in der Hand hält, die nur eine einzige Minute aufzeichnen kann, wird das Filmen auf einmal wieder ein ganz

PANDORA geheimnisvoller Vorgang. Und das, was Wenders-Film „Lisbon Story“*: „Unbeirrt von allen Pleiten“ in dieser einen Minute abläuft, ist dann auch wieder ganz einzigartig. Die Ma- In dieser Beharrlichkeit hat er stets et- Wenders: Er arbeitet zu sehr vom Intel- gie, die es gab, als der Film neu war und was Komisches besessen. In den siebzi- lekt her, geht zu sehr vom Kopf her an es den Menschen unfaßbar vorkam, daß ger Jahren hatten wir vielleicht nicht ge- die Sachen heran. Wenn er mit seinen man Zeit festhalten konnte – diese Ma- nug Abstand zu uns selbst, um das zu er- Thesen loslegt, muß man ihm wirklich in gie ist schlagartig wieder da. kennen. den Arsch treten. Und das tut Phillip Von dieser Kraft der Bilder wollte ich in SPIEGEL: Wer solchen Abstand zu sich Winter dann ganz kräftig. „Lisbon Story“ erzählen, davon, daß selbst hat, neigt dazu, sein Ego weniger SPIEGEL: Der Film endet sogar unge- das Kino heute noch alles kann, was es wichtig zu nehmen. Sind Winter und wohnt optimistisch und beschwingt. am Anfang konnte. Phillip gibt Friedrich seinen Glauben an SPIEGEL: Für diese Einsicht haben Sie * Mit Rüdiger Vogler (l.). die Bilder wieder, und dann kurbeln die aber lange gebraucht.

DER SPIEGEL 20/1995 241 .

KULTUR

Wenders: Ein jeder muß sich manchmal ganz einfache Dinge neu vor Augen hal- ten. Gerade wenn man, wie ich in den vergangenen Jahren, mehrere richtig große Filme hintereinander gedreht hat, wird man am Ende systemblind. Dann muß man sich klarmachen, daß der Zau- ber eines Bildes nicht davon abhängt, wieviel Geld in ihm steckt. SPIEGEL: Das haben Sie schmerzlich er- fahren: Ihre letzten beiden teuren Groß- filme waren in Deutschland Totalflops. Vor allen dem Berlin-Epos „Far Away, So Close“ von 1993 haben die deutschen Kritiker jeden Zauber der Bilder abge- sprochen. Wenders: „Far Away, So Close“ ist in der ganzen Welt gelaufen, und zwar zum Teil sehr gut. Ein Flop war er nur in Deutschland. Und die zwiespältigen Kritiken, die es woanders auch gab, wa- TOBIS-FILM Wenders-Flop „Far Away, So Close“* „Fast um die Existenz gebracht“

ren nicht dermaßen voller Häme wie die in Deutschland. Aber ich will gar nicht weiter darüber reden, sonst klingt es noch so, als wäre ich immer noch nicht drüber hinweg. SPIEGEL: Sind Sie denn drüber hinweg? Wenders: Wirtschaftlich leide ich noch immer unter den Folgen. Daß die bei- den Filme ausgerechnet in Deutschland so gnadenlos durchgefallen sind, hat mich fast um die Existenz gebracht. SPIEGEL: Auch „Lisbon Story“ ist nicht gerade kommerziell vielversprechend. Machen Sie eigentlich Ihre Filme vor al- lem für sich selbst oder für die Zuschau- er? Wenders: Ich glaube, es gibt nieman- den, der Filme für sich allein macht. Die Frage ist nur: In welcher Form will man die Zuschauer auf der Leinwand errei- chen? Dieses Gerede, Filme „für die Zuschauer“ zu machen, stammt meist von Produzenten oder Verleihern, die damit elegant umschreiben, daß sie lie- ber das Doppelte verdienen.

* Mit Otto Sander.

242 DER SPIEGEL 20/1995 SPIEGEL: Aber es gibt auch eine ganze Reihe junger deutscher Regisseure, die vehement alles ablehnen, was nach Ih- rer Art des Filmemachens aussieht. Wenders: Damit haben die Jungen ja auch ganz recht. Es gibt nichts Langwei- ligeres, als sich einfach in eine Tradition einzureihen, die von den Kinomachern der vorangegangenen Generation be- gründet wurde. Wir hatten damals das seltene Privileg, daß es niemanden vor uns gab. Als Fil- memacher vaterlos zu sein, das war wunderbar. SPIEGEL: Hat der Nachwuchs denn recht mit seiner Kritik an Papas Auto- renfilm? Wenders: Der Autorenfilm von damals ist sicher ein auslaufendes Modell. Auch ich mache meine Filme heute nicht mehr allein, sondern arbeite mit Produzenten und Drehbuchautoren zusammen. Hol- lywood ist nicht zuletzt deshalb im Au- genblick so stark, weil es die Gewalten- teilung der Aufgaben beim Film immer beibehalten hat. SPIEGEL: Als Chef der Europäischen Filmakademie, die unter anderem den Kinopreis „Felix“ vergibt, haben Sie häufig für Quoten gegen Hollywood plä- diert. Lassen sich die Zuschauer in euro- päische Filme treiben, indem man ihnen den Zugang zu amerikanischen Filmen erschwert? Wenders: Ich habe eher Quoten für eu- ropäische Filme als gegen amerikanische empfohlen. Und was Inhalte und For- men angeht, finde ich die Kategorien „europäischer Film“ und „amerikani- scher Film“ längst gequirlten Mist. In Amerika entstehen zahlreiche Filme, die nach allen ästhetischen Maßstäben europäisch wirken – und umgekehrt gilt das gleiche. SPIEGEL: Beispiele bitte. Wenders: Niemand macht europäische- re Filme als der New Yorker Jim Jar- musch. „Das Schweigen der Lämmer“ hätte von Truffaut stammen können, „Schindlers Liste“ von Andrzej Wajda. Das ist die ästhetische Ebene. Auf der Machtebene aber, auf der es um Markt- anteile geht, ist ein Krieg zwischen Amerika und Europa im Gange. SPIEGEL: Warum soll es überhaupt ein europäisches Kino geben, wenn die Zu- schauer doch zufrieden die US-Ware schlucken? Wenders: Für die Zukunft Europas wird es sehr wichtig sein, daß Europa ein Bild von sich selbst entwirft. Es muß seine ei- genen Mythen illustrieren. Bilder sind so wichtig geworden für jedes Heimat- gefühl, daß es ohne Bilder keine Idee von Europa geben wird. Diese Gefahr besteht, wenn wir Holly- wood das Feld überlassen. Und dann le- ben wir hier im nächsten Jahrhundert in der Dritten Welt. Kulturell und viel- leicht auch wirtschaftlich. Y

DER SPIEGEL 20/1995 243 . PERSONALIEN

genfrage des Kommandeurs: „Und Ih- re Prioritäten?“ Ohne lange zu überle- gen, antwortete der Amateur-Organist und -Dirigent Heath: „Selbstverständ- lich das Opernhaus!“

orst Seehofer, 45, Bundesgesund- Hheitsminister und stellvertretender CSU-Vorsitzender, sieht nach dem Rücktritt von Gerhard Bletschacher, bis Anfang vergangener Woche Chef der Münchener CSU-Stadtratsfrakti- on, seine Partei auf dem Weg der Besserung. Bletschacher, Eigentümer einer Käseschachtelfabrik, hatte 4,8 Millionen Mark Spenden der separa- tistischen „Stillen Hilfe Südtirol“ als „zinslosen Kredit“ in seine Firma ein- gebracht. Der Rücktritt Gerold Tand- lers als CSU-Vize wegen der Kredit- geschäfte mit dem Bäderkönig und „Amigo“ Zwick habe, so Seehofer, nach Bekanntwerden „noch 14 Tage gedauert“. Der Fall Bletschacher sei „in nur drei Tagen erledigt“ gewe- sen.

GALLERY aquel Welch, 54, amerikanische RFilmschauspielerin, korrigierte die- ser Tage alte Vorurteile. Wer sie nur als

FOTOS: SAATCHI „Sexsymbol“ wahrnehme, klagte sie, Weidle-Werk „Olympic Chickens“ wisse nicht, daß sie „sehr, sehr hart ar- beitet“ und anspruchsvolle Rollen auf arina Weidle, 29, in London leben- schüssen durchsiebten Konterfei in der Bühne spiele wie die Epifania in Cde Künstlerin aus Brasilien, hat mit Zeitungsanzeigen und auf Plakaten auf Bernard Shaws „Die Millionärin“. We- Tiefgefrorenem einen Sammler mo- einen Schock-Bildband aufmerksam zu der sei sie ein „Bikinigirl“ noch eine derner Kunst beeindruckt. Die Absol- machen. Titel: „Hundert Fotos für die „Plastiklady“ wie viele, die für „Sex- ventin des Londoner Goldsmith Col- Pressefreiheit“. Während andere TV- Göttinnen“ gehalten werden. Einen lege arrangierte aufgetaute Tiefkühl- Größen ihre Genehmigung für Schuß- Grund, warum es schwer für sie sei, an- hähnchen so, als würden sie allerlei Fotos aus Aberglauben oder Furcht spruchsvolle Rollen zu erhalten, fand sportliche Tätigkeiten vor Image-Beschädi- Raquel Welch im angelsächsischen So- ausüben wie Hürden- gung wieder zurückzo- zialklima: „In Amerika und England – lauf, Gewichtheben gen, freute sich Masure beides alte puritanische Länder – glau- oder Rennradfahren. („Ich bin mit ganzem ben die Menschen, daß körperliche Die Fotos des bizarr Herzen bei den ver- Ausstrahlung etwas Schlechtes ist, da- verformten Geflügels folgten Reportern“) her geht es ihnen schlecht, wenn sie sich zog die Künstlerin auf über die neue Darstel- davon angezogen fühlen.“ Aluminiumplatten auf. lung seines Gesichts: So entstanden insge- „Sonst wollen TV-Illu- samt zehn Artefakte strierte mich immer mit dem Titel „Olym- nur als Schönling pic Chickens (I – X)“. mit dümmlichem Lä- Die auf moderne Kunst cheln“. spezialisierte Londoner Sammlung Saatchi kaufte die Weidle- „Reporter ohne Grenzen“-Plakat ir Edward Heath, Hühner. Urteil der zu- S78, britischer Pre- ständigen Kuratorin von Saatchi über mierminister von 1970 bis 1974, erin- die Bilder vom mißbrauchten Feder- nerte sich zum 8. Mai an seine Besat- vieh: „Absolut brillant.“ zerzeit 1945 in Hannover. Als Major einer schweren Luftabwehrbatterie be- runo Masure, 47, französischer TV- kam er vom Kommandeur einer Pan- BStar, ließ sich aus Solidarität für ei- zerbrigade den Befehl, mit dem Wie- ne gute Sache durchlöchern. Der po- deraufbau der stark zerstörten Stadt zu puläre Abendmoderator des Staats- beginnen. Angesichts der Bomben- fernsehens France 2 gestattete dem in- schäden fragte er seinen Vorgesetzten

ternationalen Hilfsverein „Reporter nach dessen Prioritäten. „Zuerst der PHOTO SELECTION ohne Grenzen“, mit seinem von Ein- Rennplatz, natürlich.“ Dann die Ge- Welch

244 DER SPIEGEL 20/1995 .

ugustine „Jay Jay“ Okocha, 21, ni- Untersuchungsausschuß mit einer Agerianischer Fußballstar der Frank- Frau, der Richterin Erika Simm (Re- furter Eintracht, hat sich als Wahlhel- gensburg), besetzt werden sollte. Schar- fer engagieren lassen. Auf Plakaten ping-Vorgänger Hans-Jochen Vogel, so zeigt er sich neben dem SPD-Kandida- Schmidt, hätte den Frauenanteil auf je- ten für das Amt des Oberbürgermei- den Fall auf zwei Sitze „aufgerundet“. sters, Andreas von Schoeler, mit der In der Fraktion setzten sich dann die Sprechblase: „Wir Frankfurter gehen Frauen gegen den Vorstand durch: Die nicht immer den einfachsten Weg, Anwältin Ute Vogt (Pforzheim) wurde aber wir bleiben am zusätzlich als zweite Ball.“ Tatsächlich ver- Frau nominiert. Auf bindet die beiden eini- das Kompromißange- ges: Die Eintracht ist bot des Vorstandes, ähnlich von Krisen ge- drei Frauen als Stell- schüttelt wie die Frank- vertreterinnen zum furter SPD. Dem Fuß- Zuge kommen zu ballklub kam nach lassen, ließen sich Mißerfolgen in Serie die Quotenhüterin- der Trainer abhanden, nen nicht ein. der SPD ihr Oberbür- germeister. Doch Jay homas Klestil, 62, Jays Wahlhilfe für den Ex-OB Schoeler, der TÖsterreichs Bun- sich am 25. Juni einer despräsident, liebt die Direktwahl stellt, hat Insignien der Macht einen Schönheitsfeh- und die englische ler: Der nigerianische SPD-Wahlplakat Sprache. Seit kurzem Nationalspieler darf läßt der oberste Re- selbst nicht wählen – wie alle rund präsentant der Alpenrepublik bei sei- 190 000 Ausländer, die in Frankfurt nen Flugreisen einen fast mannsho- leben. hen Adler, das österreichische Staats- wappentier, an der Außenhaut der lla Schmidt, 45, SPD-MdB und benutzten Maschinen anbringen – per UGleichstellungsbeauftragte ihrer wiederabnehmbarer Folie, denn die Fraktion, mobilisierte Frauenpower Flugzeuge gehören der staatlichen gegen den Vorsitzenden Rudolf Schar- Fluggesellschaft AUA. Zum gut ping – und gewann. Im Fraktionsvor- sichtbaren Emblem gibt es – auch auf stand hatte sie vergebens dagegen pro- wiederverwendbarer Folie und in dik- testiert, daß nur einer jener vier der ken Buchstaben – die Erläuterung: SPD zustehenden Sitze im Plutonium- „Presidential Aircraft“. DAYLIGHT Kardinal Tonini (M.) ardinal Ersilio Tonini, 80, sucht Kontakt zur Jugend und nutzt dabei den SPIE- KGEL als Gesprächshilfe. Der mediengewandte Kirchenfürst, der eine wö- chentliche Kolumne über Ethik inder Zeitschrift Epoca veröffentlicht und Gast in vielen Talkshows ist, erschien kürzlich um 23Uhr im „Baccara`“, einer Disco in der norditalienischen Stadt Lugo di Ravenna. Diskutiert werden sollte das heiße The- ma Jugend, Sexund Drogen. Daß der alsliberal bekannte Kardinal dabei keine Li- bertinage predigen würde, war aus dem SPIEGEL-Titel abzuleiten, den er mitge- bracht hatte: „Die Ego-Gesellschaft“ (SPIEGEL 22/94), in dem die „die Hinwen- dung zur Bedürfnisbefriedigung um fast jeden Preis“ kritisiert wird. Werbeseite

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Gestorben winnik den Schülern zur Vorbereitung Rauch ins Gesicht. Die späteren Welt- Steffi Spira, 86.Als sieam 4. November meister Anatolij Karpow und Garri 1989 nach 14 Rednern als letzte bei der Kasparow gingen durch seine Schule. Massendemonstration gegen das DDR- Mit dem derzeitigen Titelträger Kas- Regime auf dem Ost-Berliner Alexan- derplatz zu Worte kam, beeindruckte die kleine Frau, die jahrzehntelang dem Regime die Treue gehalten hatte, die 500 000 Zuhörer mit der Bemerkung: „Aus Wandlitz machen wir ein Alters- heim“ und forderte damit die Alther- renriege der SED zum Abtreten auf. Fortan galt die aus einer jüdischen Wie- ner Schauspielerfamilie stammende Spira als „Mutter der Revolution“. Spi- ra, die mit ihrem Mann, dem kommuni-

stischen Dramaturgen Günter Ruschin, W. STECHE 1933 zunächst nach Zürich und Paris emigriert war, später mit der Hilfe von parow überwarf sich der Schachprofes- Anna Seghers ins mexikanische Exil sor jedoch. Beim Schnellschach, von flüchtete, wosieEgon Erwin Kisch ken- Kasparow und seinem Profiverband nenlernte, stand für politisches Thea- PCA wegen vermeintlicher Medien- ter. Im Gegensatz zu ihrer Schwester wirksamkeit gefördert, „geht es nur Camilla, einer bekannten Ufa-Schau- noch um Geld“, mäkelte Botwinnik. spielerin, die nach den Exiljahren nach Der Champion hieß seinen Lehrer ei- West-Berlin zurückkehrte und sich dort nen Stalinisten. Zur Trauerfeier, ver- eine gutbürgerliche Existenz aufbaute, fügte er, dürfe Kasparow nicht erschei- ging Steffi 1947 nach Ost-Berlin und nen. Michail Botwinnik starb am 5. Mai in Moskau.

Reza Abdoh, 31. In einem Palast in Te- heran kam er auf die Welt, in London begann er seine Wunderkind-Laufbahn als Theatermacher, in Kalifornien radi- kalisierte er sich zum apokalyptischen Chef-Wüterich der Avantgarde: In sei- nem Lebensanspruch wie in seiner

F. HENSEL / QUADRO-PRESS Kunstproduktion war Reza Abdoh un- geduldig, anmaßend, egoman, und da spielte für die Volksbühne am Rosa-Lu- er seit 1988 wußte, daß er HIV-positiv xemburg-Platz und für das Theater am war, gewann seine Arbeit die Dringlich- Schiffbauerdamm. Sie könne sich keit eines Amoklaufs gegen den Tod. „nichts Schöneres vorstellen, als Volks- Seine Anfänge in London waren, wie es schauspielerin zu sein“. Ihre Enttäu- scheint, die eines beflissenen Muster- schung über das DDR-Regime be- schülers, auch in den achtziger Jahren in schrieb sie in ihrem Buch „Rote Fahne Los Angeles fiel er vor allem als Klassi- mit Trauerflor“: „Und ich dumme Trut- ker-Regisseur auf, sche habe wirklich an einen Kommunis- erst Anfang der mus geglaubt, in dem der einzelne für neunziger Jahre das Wohl der anderen lebt.“ Steffi Spira kam der skandal- starb am vergangenen Mittwoch in Ber- umwitterte Durch- lin. bruch mit Tanz- theaterspektakeln, die in obszöner, Michail Botwinnik, 83. Wer seine Mos- brutaler Gewalt wü- kauer Schachschule besuchte, lernte, teten, um eine ge- daß Zufall eine Folge mangelnder Vor- waltgeile Gesell- bereitung sei und Schach kein Spiel, schaft mit sich sondern Wissenschaft. Der russische selbst zu konfron- E. SCHUH / CONTRAST Elektroingenieur, von 1948 bis 1963 mit tieren. 1993 ging Abdoh mit seiner Re- zwei kurzen Unterbrechungen Welt- vue „The Law of Remains“ auch auf meister, propagierte ein eigenwilliges Deutschland-Tournee, 1994 folgte Programm: Langwieriges Eröffnungs- „Quotations From a Ruined City“, En- studium wechselte ab mit Atemübun- de Mai sollte ein neues Werk uraufge- gen und Fitneßtraining. Stand ein ket- führt werden. Reza Abdoh starb am tenrauchender Gegner an, blies Bot- vergangenen Donnerstag in New York.

248 DER SPIEGEL 20/1995 Werbeseite

Werbeseite . FERNSEHEN

MONTAG ster Stefanie (Kathrin Wali- 19.25 – 21.00 Uhr ZDF gura) den Engeln in Weiß zu. Die Staatsanwältin Ein Berliner Richter wird 20.15 – 23.00 Uhr Kabel 1 auf offener Straße erschos- sen. Als seine Frau, eine For the Boys – Tage des Staatsanwältin (Lena Stol- Ruhms, Tage der Liebe ze), die Todesumstände un- Bette Midler produzierte tersucht, entdeckt sie das diesen 40-Millionen-Dollar- kriminelle Doppelleben ih- Film (USA 1991) und suchte res Mannes. Der so seriös mit Mark Rydell auch den wirkende Beamte war in dü- Regisseur aus. Erzählt wird stere Atomgeschäfte verwik- die Geschichte eines En- kelt. Ein Dreiteiler (weitere tertainer-Paares (Midler, Sendetermine: Mittwoch, James Caan), das die Boys

19.25 Uhr und Samstag, der US-Armee im Zweiten ARTE 20.15 Uhr) von Marlies Weltkrieg, in Korea und „Ein Sonntag auf dem Lande“-Darsteller Ducreux, Azema Ewald und Peter Probst Vietnam betreut. Der Film pressionismus, lehnt er ab. die Boulevardpresse weid- Als seine quirlige Tochter lich ausschlachtete. Frappie- Ire`ne (Sabine Azema) auf- rend ist die Wirkung der taucht, ist die eingefahrene Hauptdarstellerin Marie Idylle dahin: Ire`ne kritisiert Colbin. Ohne einen Hauch die Bilder des Alten als zu von Peinlichkeit spielt sie die steif und zu bieder. Bertrand rächende Mutter. Taverniers Film (Frankreich 1984) wurde in Cannes aus- gezeichnet. DIENSTAG 16.00 – 17.00 Uhr RTL 21.00 – 21.40 Uhr ARD Hans Meiser Report Thema: „Der junge Geliebte Aus Baden-Baden: Mari- – wenn er geht, sieht sie alt huana kann Kranken helfen aus“. Vielleicht tat sie es / Wie das Ölembargo gegen schon vorher, aber er hatte

U. RÖHNERT Serbien unterlaufen wird / es nur noch nicht gemerkt. „Staatsanwältin“-Darstellerin Stolze mit Christoph Waltz (r.) Nach den Landtagswahlen – wohin will die SPD / Wie 20.15 – 21.15 Uhr Sat 1 (Buch), Regie: Thomas Ja- weidet sich nicht nur an den Versicherungen künftige cob. Showauftritten, sondern ver- Mitarbeiter durchleuchten. A. S. sucht, in den Beziehungen Die Serie mit Klaus J. Beh- 20.00 – 20.30 Uhr Arte hinter der Bühne den Wech- 21.45 – 23.20 Uhr Südwest III rendt und seinem Ruhrpott- sel der Zeitstimmungen zu Charme gehört zu den Licht- Der Pharao von Paris zeigen. Letzteres, so die Süd- Der Fall Bachmeier – blicken der TV-Krimi-Sze- Er ließ die Bastille-Oper bau- deutsche Zeitung, mißlang: Keine Zeit für Tränen ne. en und die Pyramide über „Jenes schamlose Posieren, „Es war nicht gut, daß der dem Eingang zum Louvre – das offen zur Schau gestellte Film so kurz nach dem Pro- 21.45 – 0.45 Uhr Arte der scheidende fran- Schielen nach Lachern, das zeß ins Kino kam. Jeder zösische Staatspräsident augenzwinkernde Spiel kön- Mensch glaubte sowieso, al- Themenabend: Karl Franc¸ois Mitterrand. In der nen die beiden auch privat les über den Fall zu wissen. Valentin Reportage von Heinz Cadera kaum ablegen. Man mimt Hinzu kam der blödsinnige Die Schwänke des hage- kommen Befürworter und den Beleidigten, Überrasch- Wettlauf zweier Filme. Alles ren Münchner Originals Kritiker der von Mitterrand ten, Ahnungslosen auf eine war Sensation.“ So sah Re- (1882 bis 1948) brachten Pa- geförderten Bauten zu Wort. Art, in der sich Schmiere und gisseur Hark Bohm die Ent- riser Theaterbesucher erst Überraschung treffen.“ stehungsgeschichte seines im November 1993 zum La- 20.15 – 22.10 Uhr Sat 1 Films, der 1984 fast gleich- chen. Der deutsche Schau- 20.40 – 22.20 Uhr Arte zeitig mit Burkhard Driests spieler und Regisseur Hans Für alle Fälle Stefanie „Annas Mutter“ auf den Peter Cloos inszenierte für Hinab auf der Fernseh-Him- Ein Sonntag auf dem Markt geworfen wurde. An- Je´roˆme Savarys „The´aˆtre melsleiter: Nachdem die Lande ders als Driest rekonstruier- national de Chaillot“ ein Halbgötter (Schwarzwaldkli- Der 76jährige Monsieur Lad- te Bohm möglichst authen- „Cabaret Valentin“, das Ar- nik, Praxis Bülowbogen, miral (Louis Ducreux) lebt tisch, wie es dazu kam, daß te in zwei Teilen (21.45 Uhr Frauenarzt Dr. Markus Anfang des Jahrhunderts ab- die Mutter Marianne Bach- und 22.50 Uhr) präsentiert. Merthin) verbraucht sind, geschieden in einem herr- meier am 6. März 1981 den Valentin im Orginal zeigen wendet sich diese 52teilige schaftlichen Haus. Seine Lie- Mörder ihrer Tochter in ei- drei Kurzfilme, u. a. „Der Serie (heute Pilotfilm) mit be gilt der Malerei, aktuelle nem Lübecker Gerichtssaal neue Schreibtisch“ von 1914 der Berliner Stationsschwe- Strömungen, wie den Im- erschoß – eine Tat, welche (22.40 Uhr).

250 DER SPIEGEL 20/1995 .

15. bis 21. Mai 1995

MITTWOCH ihres Gatten (Benoıˆt Re´- 20.15 – 21.50 Uhr Premiere gent), der sie seit langem liebt, vollendet sie das Werk. Drei Farben: Blau Nicht nur die Handlung Fernsehpremiere für den er- ist schicksalsfadendick ge- sten Teil der triumpha- strickt, der ganze Film er- len Trikolore-Trilogie von stickt passagenweise vor Krzysztof Kieslowski, der Selbstergriffenheit. 1993 in Venedig mit dem „Goldenen Löwen“ ausge- 22.15 – 23.00 Uhr ZDF zeichnet wurde. Eine Frau (Juliette Binoche) versucht Kennzeichen D sich von allen Erinnerungen Themen: USA verschossen an die Vergangenheit zu be- hochtoxische Uran-Munition freien. Sie hat ihre kleine im Golfkrieg – Giftgranaten Tochter und ihren Mann, ei- lagern auch in Deutschland /

nen berühmten Komponi- Die Mütter von Lidice – Ber- TELEBUNK sten, bei einem Autounfall liner Studenten finden Spu- „Haben und Nichthaben“-Darsteller Bacall, Bogart (r.) verloren. Nun löst sie ihren ren der verschleppten Kin- Besitz auf und taucht in die der. Humphrey Bogart und Lau- Cali, der kolumbianischen Anonymität unter. Ein Stra- ren Bacall gemeinsam vor der Drogenmetropole, geblie- ßenmusikant spielt Passagen 0.55 – 2.30 Uhr ARD Kamera standen. Auf Marti- ben. Der deutsche Jesuiten- aus dem unvollendeten nique gerät der Liebe wegen pater Alfred Welker hat „Konzert für Europa“ ihres Haben und Nichthaben ein Kapitän zwischen die Schulen gebaut, Kindergär- Mannes. Gemeinsam mit ei- Auf jeden Fall sehen. Denn Fronten von Vichy-Anhän- ten gegründet und den Ärm- nem ehemaligen Mitarbeiter dies ist der erste Film, in dem gern und Re´sistance. Ho- sten der Armen ein Einkom- ward Hawks inszenierte die men besorgt. Eine Reportage KIOSK Abenteuer-Love-Story 1944 von Bodo Witzke. nach Ernest Hemingway. ZDF demnächst weltweit 22.10 – 0.35 Uhr Pro Sieben DONNERSTAG Tödliche Fragen Schon seit einigen Jahren hat 15.00 – 16.00 Uhr RTL Der Romanstoff stammt von ZDF-Intendant Dieter Stolte, 60, dem New Yorker Richter die Vision, seinen Sender als Ilona Christen und Ex-Staatsanwalt Edwin „deutsche BBC“ zu profilieren. An- Thema: „Schuldgefühle – Torres, der für die Wirklich- fang 1993 jedoch scheiterte sein dein Verfolger, das schlech- keitsnähe bürgt, und der Ju- Versuch, dieses Ziel mit Zuliefe- te Gewissen“. Das wär’s: stizfilm-Profi Sidney Lumet rungen an den weltweiten US- einfach mit der inneren typisiert diese Wirklichkeit News-Kanal CNN zu erreichen. Stimme talken. Macht das genau. In seinem New-York- Nun hat Stolte einen neuen Dreh Leben leichter. Thriller (USA 1990) agieren gefunden. Der Fernsehstratege zwischen Polizeirevier und vom Mainzer Lerchenberg verein- 20.15 – 21.15 Uhr ZDF Drogenszene nicht Amerika- barte eine weitgehende Koopera- ner, sondern Iren, Juden, tion mit Dieter Weirich, 50, dem Hitparade Schwarze, Italiener und Pu- ACTION PRESS Intendanten der Deutschen Wel- Stolte Nicole singt: „Und außer- ertoricaner. Lumets Themen le. Das Abkommen, das vom 1. dem hab’ ich dich lieb“. sind Korruption und alltägli- Juli an für zunächst fast anderthalb Jahre laufen soll, sichert die Freddy Breck singt: „Lieb cher Rassismus. Zwei verbie- Verbreitung von ZDF-Sendungen – inklusive des hauseigenen mich so, wie ich bin“. Sage sterte Saubermänner, beide Logos – über das riesige Netz des Auslandsfernsehens der Deut- noch einer, der deutsche irische Dickköpfe, prallen schen Welle. Schlager sei einfallslos. aufeinander: ein naiver Jung- Die Kölner Staats-TV-Sendeanstalt erreicht über Satellit, Kabel- Staatsanwalt (Timothy Hut- netze (etwa in Mexico City), die Hausantenne (etwa Kanarische 21.00 – 21.45 Uhr ARD ton), der an Gerechtigkeit Inseln) sowie das Bordprogramm von Flugfirmen wie Lufthansa glaubt, und ein abgebrühter global mehrere hundert Millionen Menschen. Kontraste Streifencop, der als Killer Zum Start seines neuen 24-Stunden-Programms im Juli kann Themen: Ein Leben in jenseits der Legalität gegen Weirich nun etwa Zuschauer in den USA mit dem ZDF-„Länder- Angst – illegale Ausländer in das Böse kämpft. Der Film spiegel“ bedienen, der dafür eigens englisch synchronisiert Berlin / Der Fall des Jägers ist, wie immer bei Lumet, wird. Auch der „Sportspiegel“, das „Politbarometer“, die ZDF- N.: Rechtsradikalismus bei moralisierend, aber redlich. „Reportage“ sowie 18 Fernsehspiele gehören zu dem Paket, das den Fallschirmjägern. die Programmhandelstochter ZDF Enterprises dem ambitionier- 23.15 – 0.40 Uhr West III ten Kölner Nachrichten- und Informationskanal verkauft hat. Das gesamte Volumen liegt zunächst bei rund 140 Stunden, Preis FREITAG Rocklife Special – Pete Townshend wird 50 rund 15,5 Millionen Mark. Über den Verkauf von Programmkon- 21.15 – 21.45 Uhr ZDF serven, wie jetzt an die Deutsche Welle, sei einiges zu machen, Special über den Vater der um die Finanzlöcher des ZDF auszugleichen, glaubt Stolte. Jacquelines Tod Kult-Oper „Tommy“ und „Jede Mark, für die wir weniger Kredit aufnehmen müssen“, so Sechs Mordanschläge hat er einstigen Gitarrenzertrüm- der Intendant, „ist eine gute Mark.“ überlebt, dennoch ist er in merer.

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FERNSEHEN

SAMSTAG herrschen. Sogar die Heldin drei Vierbeiner-Fräuleins DIENSTAG 22.15 – 0.20 Uhr Pro Sieben Ellen Ripley (Sigourney zur Kopulation in einer en- 23.00 – 23.40 Uhr Sat 1 Weaver) trägt ein Monster- gen Badewanne; vor Polizi- SPIEGEL TV REPORTAGE Alien 3 Embryo im Bauch. sten, die hier leibhaftige Killer-Virus Ebola: Angriff aus Auch der dritte Teil des Schweine sind, verbirgt er dem Dschungel. Eine ganze Alien-Triptychons von 1992 1.15 – 2.30 Uhr ZDF sich listig im Klo. Ein Kat- Stadt wurde unter Quarantäne – in der 50-Millionen-Dollar- zensprung durch die Sechzi- gestellt. SPIEGEL TV REPOR- Produktion führte der Vi- Fritz the Cat ger-Jahre-Subkultur. TAGE berichtet, wie Wissen- deo-Clip-Macher David Fin- Er ist possierlich, und er ist schaftler im Wettlauf mit der cher Regie – ist eine an- höllisch potent – bei Katzen Zeit versuchen, das Rätsel um spruchsvolle apokalyptische und Kühen und Füchsen. SONNTAG Ebola zu lösen. 20.15 – 21.39 Uhr ARD MITTWOCH Tatort: Tödliche 21.55 – 23.55 Uhr Vox Freundschaft Die Nordkommissare Stoe- SPIEGEL TV THEMA ver (Manfred Krug) und Zum Amüsement der Men- Brockmöller (Charles Brau- schen oder zur Erforschung er) müssen im Krimi des Ex- der intelligenten Meeressäu- Defa-Regisseurs Herrmann ger vegetieren weltweit noch Zschoche ihren Geist aufs über 1500 Delphine in Delphi- Fleisch verwenden. Es geht narien. Geliebt, dressiert, ge- um Hormone, echte und tötet: SPIEGEL TV THEMA menschliche Schweine sowie zeigt unter anderem eine Vox- zwei Morde an armen Würst- Dokumentation über die Ge- chen. fahren für Delphine beim Thunfischfang. Außerdem wurden Taucher begleitet, die 20.15 – 22.10 Uhr RTL mit den Meeressäugern Liebling, ich muß auf schwimmen. Zu sehen auch Geschäftsreise der ehemalige „Flipper“-Trai- Fahr dahin, Peter Kraus, und ner Ric O-Barry, der versucht, Delphine wieder an ihren na- U. RÖHNERT nimm diese Thailand- „Alien 3“-Darstellerin Weaver Schmonzette mit Dolly Dol- türlichen Lebensraum zu ge- lar und Gila von Weitershau- wöhnen. Parabel auf das Amerika am Vor allem war der vom ein- sen gleich mit. FREITAG Ende des zweiten Jahrtau- stigen Underground-Karika- 22.05 – 22.35 Uhr Vox sends. In „Alien 3“ kämpfen turisten Robert Crumb ent- 20.15 – 22.10 Uhr Vox kahlgeschorene Mönche statt worfene Kater die erste SPIEGEL TV INTERVIEW Marines; auf dem Planet Fio- Trickfilm-Gestalt, die für Ju- Sein oder Nichtsein Mit dem berühmten Kirk Dou- rina 161 funktioniert nichts. gendliche verboten war. In Fein oder nicht fein, war die glas, 78, einem der letzten Die Video-Überwachung ist diesem Lichtspiel (USA Frage, als Regisseur Mel Hollywood-Stars, sprach SPIE- schon seit Jahren ausgefal- 1972) nach dem Drehbuch Brooks 1983 den Versuch un- GEL TV bei dessen Besuch in len. Alle Überreste techni- und unter der Regie von ternahm, ein Remake zu München. scher Zivilisation sind zerfal- Ralph Bakshi verführt Fritz Ernst Lubitschs Komödie len. Hier kann das Monster mit gleisnerischen Worten von 1942 über aufgeblasene SAMSTAG Nazis und Schmierenkomö- 22.10 – 23.45 Uhr Vox dianten im besetzten War- SPIEGEL TV SPECIAL schau zu machen. Brooks konnte nicht ganz überzeu- Von Krenz bis Kohl, von Wai- gen. Bei Lubitsch trafen sich gel bis Engholm: SPIEGEL TV die realen Nazis mit übertrei- SPECIAL dokumentiert sieben benden Provinz-Schauspie- Jahre Erfahrungen der SPIE- lern, dieneben den „Heil Hit- GEL-TV-Reporter mit der deut- ler“ rasselnden Stiefel-Trä- schen Polit-Elite in Originaltö- gern wie Koryphäen des gu- nen. ten Geschmacks wirken. SONNTAG („Heil mich selbst“, erwidert 22.10 – 22.57 Uhr RTL Hitler mit Komödienlogik den Hitler-Gruß.) Bei SPIEGEL TV MAGAZIN Brooks – die Nazis gehören Geboren, für tot erklärt, nach inzwischen zum Standard- Amerika entführt – Babyhan- Repertoire von Grotesk-Ka- del in der Ukraine / Aufstand baretts –kann man den Hitler der Gartenzwerge – ein Nach- nur noch steppen, tanzen und barschaftsstreit im Schatten singen sehen. Feinere Dar- des Jägerzauns / Rechte Fol-

TELEBUNK stellungsmittel sind Mangel- ter hinter Gittern – der Ju- „Fritz the Cat“-Szene ware. gendknast von Halle.

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Das Bremerhavener Sonntagsjournal Der SPIEGEL berichtete . . . über Mike Krüger: „Der norddeutsche Blödelbarde nimmt seine neue CD in . . . in Nr. 7/1995 SPIEGEL-TITEL: MILLI- der Nordenhamer Jahnhalle auf. Dafür ARDENGRAB „AUFSCHWUNG OST“ und in kommt der 43jährige Quickborner ei- Nr. 8/1995 VERSCHWENDUNG – DIE gens nach Nordenham.“ STUNDE DER HEUCHLER über den Um- gang mit Steuergeldern beim Aufbau Y Ost. Bis Ende vergangenen Jahres sind rund 650 Milliarden Mark öffentlicher Gelder in die neuen Bundesländer ge- flossen. Fehlplanungen gab es beson- ders beim Bau von zu vielen und zu gro- ßen Gewerbegebieten, die nur mäßig Aus der Saarbrücker Zeitung ausgelastet sind.

Y Die Landesregierung Brandenburg, die zunächst der SPIEGEL-Darstellung wi- dersprach, hat jetzt beschlossen, daß Gewerbeflächen auf der grünen Wiese „grundsätzlich nicht mehr gefördert werden“. Es gebe mittlerweile einen „Sättigungsgrad“, sagte die Sprecherin des brandenburgischen Wirtschaftsmi- nisteriums, Patricia Schubert. In Bran- denburg sind nach der Wende 161 Ge- werbeflächen mit staatlicher Förderung Aus der Welt am Sonntag eingerichtet worden. Ein Teil davon ist nur zu 40 Prozent von Firmen belegt. Y Aus der Wochenpost: „Jede dritte Ehe . . . in Nr. 12/1995 PROZESSE: „GEZIELT in Deutschland wird geschieden, in UND PLANMÄSSIG“, SPIEGEL-Reporterin Großstädten sogar jede vierte.“ Gisela Friedrichsen über den Münchner Verteidiger im „Flachslanden-Komplex“, Y Peter Weitzdörfer, der von der Jugend- kammer des Landgerichts Ansbach we- gen der ihm unterstellten Absicht, „die Durchführung eines Strafverfahrens in der Sache schlechthin“ verhindern zu wollen, als Pflicht- und Wahlverteidiger Anfang März ausgeschlossen wurde. Mit diesem einmaligen Vorgang reagierte das Gericht auf das für es unbequeme Verhalten des Pflichtverteidigers Weitz- dörfer, der Verfahrensvorgänge, unter anderem bei der Zeugenbefragung der Kinder, anzweifelte und sich für seinen Mandanten einsetzte.

Weitzdörfer hatte mit einer Beschwer- de gegen seinen Hinauswurf vor dem Oberlandesgericht Nürnberg Erfolg. Die Beschlüsse der Jugendkammer wurden jetzt in vollem Umfang aufge- Aus der Süddeutschen Zeitung hoben und die für den Verteidiger ent- standenen Kosten der Staatskasse auf- Y erlegt. Nachdem die Jugendkammer ih- re eventuelle Befangenheit prüft, sind die in dieser Sache vorgesehenen Ter- mine vorläufig abgesagt worden. Der Deutsche Anwaltverein, der sich hinter Aus einer Wurfsendung des Penny- Weitzdörfer gestellt und die Staatsan- Marktes, Hannover waltschaft aufgefordert hatte, wegen Rechtsbeugung zu ermitteln, hat aus Y diesem Anlaß beschlossen, eine „Stif- Aus der Hamburger Morgenpost: „Ein tung Strafverteidigung“ zu gründen, mit Drittel der Anrufer sind Frauen, zwei deren Mitteln bedrängten Bürgern und Drittel Männer, darunter auch Lesben ihren Verteidigern geholfen werden und Schwule.“ soll.

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