Bayerische Landeszentrale 3 | 09 für politische Bildungsarbeit Einsichten undPerspektiven

Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte

Deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht Vietnam zwischen Gestern und Heute Neue Strategien zur Bekämpfung globaler Armut Westdeutsche Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren Einsichten und Perspektiven

Veranstaltungshinweis Impressum

Symposion: Einsichten „Georg Elser und der deutsche Widerstand – und Perspektiven ein Erbe deutscher Demokratie“ Verantwortlich: Donnerstag, 22. Oktober 2009 Werner Karg, Hochschule für Philosophie, München, Praterinsel 2, Kaulbachstraße 31 80538 München

15.30 Uhr Redaktion: Begrüßung – Dr.Ludwig Spaenle,Bayerischer Staatsminister für Monika Franz, Werner Karg Unterricht und Kultus, München Redaktionsassistent: Harald Sick 16.00 Uhr Zum aktuellen Stand der Widerstandsforschung in Gestaltung: Deutschland – Prof. Dr.Hans Mommsen,Feldafing Griesbeckdesign www.griesbeckdesign.de 17.30 Uhr Georg Elser –der unerwartete Widerstand „von unten“ – Druck: Prof. Dr.Peter Steinbach,Universität Mannheim creo Druck & Medienservice GmbH, 19.00 Uhr Gutenbergstraße 1, Kleiner Imbiss 96050 Bamberg

20.00 Uhr Titelbild: Podiumsdiskussion, Eröffnungsreferat: Der historische Prozess, Portraitfoto von Wera und das sittliche Gebot und der Bestand der Demokratie – Rolf, vermutlich Ende März Ralph Giordano,Hamburg, Publizist 1972inder C ˇ SSR aufge- Podium: Dr.Ludwig Spaenle, Dr.Hildegard Kronawitter, nommen. Ralph Giordano, Prof. Dr.Peter Steinbach, Schüler/in Foto: Archiv Stefan Appelius

Autoren dieses Heftes Die Landeszentrale konnte die Urhe- berrechte nicht bei allen Bildern dieser Ausgabe ermitteln. Sie ist aber bereit, Lutz Haarmann ist Doktorandund Mitarbeiter am Institut für glaubhaft gemachte Ansprüche nach- Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. träglich zu honorieren.

Dr.Stefan Appelius,apl. Professor für Politikwissenschaftan der Universität Oldenburg und Lehrbeauftragter an der Univer- sität Potsdam, ist auf zeitgeschichtliche Themen spezialisiert und arbeitet derzeit vor allem über die Aufarbeitung von DDR-Un- recht. Er lebt in Berlin.

Jörg Zedler M.A. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Histori- schen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Dr.Zdenek Zofka arbeitet in der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit.

154 Einsichten und Perspektiven 3|09 Einsichten und Perspektiven

Inhalt

Stefan Appelius 156 Wera und Rolf

Lutz Haarmann 178 Warten auf die Wiedervereinigung

Jörg Zedler 198 Vietnam

Zdenek Zofka 222 Globale Armut

Neue Webseite 238 „Bayern gegen Rechtsextremismus“

Einsichten und Perspektiven 3|09 155 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht Wera und Rolf Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichenFlucht

VonStefan Appelius

Portraitfoto von Wera und Rolf, vermutlich Ende März 1972 in der C ˇ SSR aufgenommen Alle Fotos: Archiv Stefan Appelius

156 Einsichten und Perspektiven 3|09 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

An der bulgarisch-jugoslawischen Grenze, am späten Abend des 23. August 1972, unweit des Grenzübergangs Kalotina, an der viel befahrenen Europastraße E80. Es ist bereits dunkel. In ein paar Tagen sollen in München die Olympischen Spiele eröffnet werden. Es ist der Abend, an dem Wera Sandner (26) aus Cottbus und ihr Verlobter Rolf Kühnle (32) aus Nürnberg sterben. Wasandiesem Abend geschah, darüber gibt nur ein schmales Schriftstück Aufschluss, geheim –nichtzur Veröffentlichung bestimmt, gut verwahrt im Auswärtigen Amt in Berlin.

Es ist von einem Oberst Vladimir Georgiev Momtschilov verfasst, Staatsanwalt bei der Militärstaatsanwaltschaft in Sofia. Darin heißt es, übersetzt aus der bulgarischen Spra- che*: „Gegen 22:30 Uhr hat der Grenzsoldat Petkov,der auf einem bestimmten Platz, zehn Meter vom Grenzkon- trollstreifen entfernt, die Grenze bewachte, Schritte gehört und erkannt, dass ein Mensch zur Grenze kommt. Einige Sekundenspäter hat er gesehen,dass ein Mensch aus dem Wald trat, der sich in Richtung Grenzstreifen bewegte. Er hat aber nicht erkennen können, ob das ein Mann oder eine Frau ist. Das Waldende ist etwa fünfzehn Meter vom Grenzkontrollstreifen entfernt gewesen. Wegen der kurzen Entfernung zum Wald, der bis dahin den Grenzverletzer zum Grenzstreifen verdeckte, musste der Grenzsoldat sehr schnell handeln, um dem Grenzverletzer nicht zu gestatten, Die frühere Grenzsicherungsanlage ist in Bulgarien bis heute vie- auf das fremde Territorium zu gelangen. Bei dieser Situation lerorts erhaltengeblieben. Im Sperrgebiet wurden vor allem viele hat der Grenzsoldatlaut ‚Halt’ gerufen und mit seiner bulgarische Flüchtlinge getötet. Maschinenpistole einige Warnschüsse in die Luft abgege- ben. Der Grenzverletzer ist nicht stehen geblieben, sondern Nach diesem Beschluss kam der Grenzsoldatnäher zu der etwas nach links zum Waldende gegangen und [hat] sich Stelle, wo sich der Grenzverletzer versteckt hatte und gab weiterbewegt. drei Salven mit der Maschinenpistole in seiner Richtung. Diese Schießerei gehört kamen zum Grenzer der Streifen- Dann hat der Grenzsoldat wiederholt ‚Halt’ gerufen führer und noch ein Grenzsoldat. Sie wurden von ihm über und erneut einige Warnschüsse in die Luft abgegeben. die Lage informiert und der ankommende Grenzsoldat gab Auch diesesMal ist der Grenzverletzer nicht stehen noch einige Salven in dieselbe Richtung in die der erste geblieben, sondern in den Wald getreten und [hat] sich Grenzsoldat geschossen hat. Beide Grenzsoldaten haben vom Blick des Soldaten versteckt. Nach diesem Unge- also einige Salven aus ihren Maschinenpistolen in diese horsamhat der Grenzsoldat beschlossen, die Waffe rich- Richtung abgegeben, ohne eine menschliche Figur gesehen tig zu benutzen, da die reelle Gefahr bestand, dass der und ohne eine menschlicheStimme oder Stöhnen gehört zu Grenzverletzer mit ein paar Sprüngen ins fremde haben. Nach dem Aufhören des Schießens kam zum Tatort Territorium flüchten könnte. die Alarmgruppe, die den Wald beleuchtete und in Richtung

*Die oftmalsfehlerhafte Rechtschreibung entspricht der Originaltextlage.

Einsichten und Perspektiven 3|09 157 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht der Schießerei ging. Sie fand dort zwei Leichen, drei Meter voneinander entfernt. Die eine war eine Frau, die Hosen aus blauem Stoff trug, und die andere ein Mann.“1

Wenige Tage später wird der Vorfall in der Bundes- republik Deutschland bekannt. Er schlägt für ein paar Tage hohe Wellen, zumal in Bayern, der Heimat des jungen Mannes. Ein Liebespaar ist gemeinsam auf der Flucht erschossen worden, schreiben die Zeitungen in der Bundesrepublik. Sogar die „Tagesschau“ berichtet über den Vorfall. Ganz anders auf der anderen Seite der Mauer.Inder DDR wird über den Toddes Paares kein Wort veröffentlicht.

In Weras Heimatort erscheint keine Todesanzeige, eine Trauerfeier findet nicht statt. Sie darf nicht stattfinden, dafür sorgt das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). Bis heute lässt der Fall viele Fragen offen. Wiehaben sich die junge Frau aus dem Osten und der junge Mann aus dem Westen über den Eisernen Vorhang hinweg kennengelernt? Wie kamen die Beziehung und der spätere Fluchtplan zustande? Warum liegen Weras sterbliche Überreste bis zum heutigen TaginBulgarien? Warum gelten Wera und Rolf bis heute in der Bundesrepublik nicht als Maueropfer?Vor allemaber: Washat sich damals tatsächlich ereignet? Das soll im hier folgenden Text auf der Basis zahlreicher Dokumente aus mehreren Archiven und Befragungsprotokollen mit Zeit- Portraitfoto von Wera Sandner,aufgenommen in Klingenthal, zeugen rekonstruiert werden. etwa 1968

Wera Wenn es in der DDR je so etwas wie eine Aufbruchstim- Sie ist Mitte 20, sportlich,attraktiv,hat lange dunkle Haare mung gegeben hat, dann konnte man sie wahrscheinlich in undfährt morgensschon in allerFrühe mitihrem kleinen Cottbus spüren, jedenfalls wenn man in dieser Zeit beim Klappfahrrad ins Büro. Eine lebenslustige Frau, die gerne „Textilkombinat Cottbus“ (TKC) beschäftigt war,einem und oft Tanzen geht und sich am Wochenende in einem der größten Arbeitgeberinder Stadt. Hier rühmte man sich Zwei-Jahres-Lehrgang an der Volkshochschule zur Indus- der Verarbeitung von synthetischen Fasern auf Großrund- triekauffrau ausbilden lässt, weil sie nicht immer Verwal- strickmaschinen und fühlte sich mit der dort entworfenen tungsangestelltebleiben will. Sie lacht oft, kocht gerne und Produktpalette „Präsent 20“ technisch auf Augenhöhe mit gut. Kinder hat sie noch keine –und seit einer Weile ist sie dem Westen. auch wieder solo.2 Ob sich Wera von der Euphorie anstecken lässt? Wohl eher nicht. Sie liebt modische Kleidung. Röcke, Ho- Wirbefinden uns in Cottbus, einer aufstrebenden Be- sen, Mäntel, Unterwäsche. Davon kann sie gar nicht genug zirkshauptstadt in der DDR, die im Frühjahr 1971 auf bekommen. Ob diese Kleidung im Osten oder im Westen dem besten Wege ist, zur Großstadt zu werden. Wera hergestelltwird, das ist ihr herzlich egal. Waskann sie dafür, Sandner hat ein eigenes Zimmer in einer –heute würde dass die Qualität der im Osten hergestellten Textilien ziem- man sagen –Frauen-Wohngemeinschaft. Damals in der lich schlecht ist? Wenn sie eine Möglichkeit hat, ein im DDR nanntesich das Zwischenbelegung, und zwar in Westen produziertes Kleidungsstück zu ergattern, kann einer Plattenbauwohnung. man es schon bald maßgeschneidert an ihr bewundern.

1Verordnung zur Einstellung der Voruntersuchungsakte Nr.53/1972 vom 25.09.1972, Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin). 2Persönlichkeitsbild nach Recherchen des Verfassers im Stadtarchiv Cottbus und in der Stadt Cottbus. Außerdem wurden persönliche Papiere von W. S. ausgewertet und mehr als Zeitzeugen befragt, darunter ihre Schwester,Freundinnen und Arbeitskollegen.

158 Einsichten und Perspektiven 3|09 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

Rückblende. Grenzen spieltenimLeben von Wera Sandner eine große Rolle. Sie wuchs in Klingenthalauf, einem klei- nen Städtchen im Vogtland, unmittelbar an der Grenze zwi- schen der DDR und der Tschechischen Republik (Cˇ SR). Geboren wurde Wera aber auf der anderen Seite des Zaunes. In Bublova, das damalsnoch Schwaderbach hieß und nach dem Zweiten Weltkrieg an die C ˇ SR gefallen ist. Hier stand Weras Elternhaus, in unmittelbarer Nähe des Grenzstrei- fens.

Im Juni 1946 musste ihre Familie dieses Haus verlassen –von einem Tagauf den anderen, pro Person nur mit so viel Gepäck, wie man gerade tragen konnte. Mehr war nicht erlaubt. In ihrem Lebenslauf nennt sie es „Auswanderung“,3 doch in Wahrheit war es eine Vertreibung.

Später wurde das Haus Nr.405 von den tschechischen Be- hörden eingeebnet.Ihren leiblichen Vater hat Wera nie ken- nengelernt. Viel weiß man nicht über ihn: Er war ein Tsche- che, stammte angeblich aus Prag. In Klingenthalhat ihre Mutter,die Anna, den Kurt kennengelernt. Der war Bergmann von Beruf. Sie heirateten 1949 und Kurt wurde Weras Stiefvater.Das war 1952, etwa zur selben Zeit, als die Demarkationslinie zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland von der DDR zum Kinderfoto von Rolf Kühnle ersten Mal ausgebaut wurde.

Wera wuchs in ganz einfachen Verhältnissen auf. Ihre könnten sie fragen, ob sie sich auch für Politik interessiere. Mutter war Näherin und arbeitete als Adlerstickerin. Die Antwort wäre ein klares „Nein“. Die Nähmaschine stand in der Küche der kleinen Zwei- Raum-Wohnung. Rolf

Hier ist Wera aufgewachsen, gemeinsam mit ihrer kleinen Er ist Anfang 30, groß und schlank, mit akkurat geschnitte- Schwester. nen kurzenHaaren. In seinerFreizeit trägt er am liebsten Anzüge, mit Krawatte. Vorein paar Monaten hat Rolf Große Sprünge konnte sich die Familie nicht leisten, Kühnle an der „Höheren Fachschule für Augenoptik“ in vom Wirtschaftswunder,wie drüben im Westen, keine München seine Ausbildung als staatlich geprüfter Augen- Spur.Aber es störte sich niemand daran bei den optiker beendet. Er ist seit fünf Jahren verheiratet, wohnt Sandners. Ganz im Gegenteil. Kurt Sandner,der vom mit seiner Frau in einem sehr angesagten Neubaugebietam Bergbau zum „VEB Blechblasinstrumente Klingenthal“ Rande von Nürnberg, interessiert sich für Fotografie, Fuß- wechselt, ist ein glühender Anhänger des „Arbeiter- ball und Reisen. In ein paar Wochen will er mit seiner Frau und Bauernstaates“. 1959 wird er Mitglied der SED.4 nach Jugoslawien, mit dem Auto.

Ein Zeitzeuge beschreibt ihn als kleinen, fast unscheinbaren Rolf fährt gerne Auto, auch lange Strecken. Und er ver- Mann, der in Diskussionengroß auftrumpfte und stets auf bringt seine Ferien am liebsten in Osteuropa, schon seit Parteilinie lag. Auf Wera hat das nicht abgefärbt. Ihr Herz Jahren. Nein, nicht, weil er sich für Politik interessiert. schlägt für Mode und Wintersport. Nehmen wir an, wir Weil man dort mit ein bisschen Westgeld richtig luxu-

3„Mit einem antifaschistischen Transport wanderten wir in die DDR aus“, schrieb Wera Sandner dazu in einem handschriftlichen Lebenslauf, o.J. [ca. 1966], in: Privatarchiv Appelius (Berlin) 4Karteikarte Kurt Sandner,SED-BL K-M-S, IV C-2/4-651, in: Sächsisches Staatsarchiv (Chemnitz).

Einsichten und Perspektiven 3|09 159 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

Das Bild zeigt Lisa und GerhardKühnle, die Eltern von Rolf Rolf Kühnle als Jugendlicher mit seiner Mutter,bei einer Reise Kühnle, bei ihrer Hochzeit im Jahre 1939. nach Österreich, etwa 1960

riös leben kann. Das gefällt ihm, denn er ist ein sparsa- später nahm sie sich eigene Wohnungen. Um dann irgend- mer Mensch.5 wann wieder zu ihrem Mann zurückzukehren und nach einer Weile zu erkennen, dass es auch diesmal nicht funk- Rolf Kühnle hat eine Menge Bekannte und Arbeitskollegen. tionierte. Gerhard Kühnle, als Pfarrerssohn in Stuttgart ge- Hat er auch richtige Freunde? Nein, da gibt es niemand. boren, war schon 1930 als junger Mann in die NSDAP ein- Nicht einen. Rolf ist ein Einzelgänger, das war er immer getreten.6 Da ahnten erst wenige, was die Nationalsozialis- schon. Ob es daran liegt, dass er als Kind sehr häufig umge- ten und ihr „Führer“ Adolf Hitler einmal anrichten würden. zogen ist? Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass er keine Im Vorjahr war Gerhard Kühnles großer Bruder mit dem Geschwister hat und immer dann, wenn es darauf ankam, Motorrad tödlich verunglückt.7 Dann kam die Wirtschafts- ganz auf sich allein gestellt war.Das kann einen Menschen krise und er selber fand –trotz Diplom –jahrelang keine prägen. Rolf Kühnle hat es geprägt. Er lebt sozusagen in sei- Arbeit. Das war zermürbend und hinterließ Spuren. ner eigenen Welt –und trifft seine Entscheidungen am lieb- Lisa war erst 19 Jahrealt, als sie Gerhard heiratete.8 sten ganz allein. Eine Kaufmannstochter aus Nürnberg, bildhübsch und Rückblende. Rolfs Eltern gerieten immer wieder äußerst selbstbewusst. Wenn Gerhard glaubte, sie werde aneinander.AmEnde packte seine Mutter stets ihren Koffer sich ihm unterordnen, schon weil er dreizehn Jahre älter war und zog aus. Sie verließ ihren Mann, ein ums andere Mal, als sie und weil es doch in der Bibel heißt, das Weib sei ihrem Jahr für Jahr.Zunächst schlüpfte sie bei ihren Eltern unter, eigenen Manne untertan, hatte er sich gründlich getäuscht.

5Persönlichkeitsbild nach Recherchen des Verfassers in der Stadt Nürnberg. Außerdem wurden persönliche Papiere von R.K. ausgewertet und Zeitzeugen befragt, darunter Arbeitskollegen und seine Ex-Frau. 6NSDAP-Mitgliederkartei, Berlin Document Center,in: Bundesarchiv (Berlin-Lichterfelde); Entnazifizierungsakte Gerhard Kühnle, in: Landesarchiv Baden-Württemberg (Stuttgart). 7Brief Landeskirchliches Archiv Stuttgart vom 16.06.2009 an den Verfasser,Privatarchiv Appelius (Berlin). 8Angabe nach beglaubigter Abschrift aus dem Sterbebuch des Standesamtes Mönchengladbach-Mitte Nr.993 vom 09.10.1964 (Gerhard Kühnle).

160 Einsichten und Perspektiven 3|09 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

Im Hinterzimmer dieser Gastwirtschaft in Bad Muskau, an der polnischen Grenze, wurde Wera Sandner 1971 vom Staatssicherheits- dienst angeworben. Hier fand im August 1972 ihre letzte Begegnung mit Unterleutnant Hans Woithe statt, den sie nur als „Genosse Meißner“ kannte.

An Sturheit standen sich Gerhard und seineangetraute Lisa im Spiel. Wasniemand weiß: Voretwas mehr als einer Wo- in nichts nach.Obsie bei all ihremStreit auch manchmal an che hat ihn seine Frau verlassen und sofort durch ihren An- ihrenSohn dachten? Wenig deutet darauf hin. Als seine walt die Scheidung eingereicht. Rolf ist völlig überrascht, Großeltern nicht mehr lebten, landete der kleine Rolfi mit glaubt, dass sie sich wieder „fangen“ und zu ihm zurück- zwölf Jahren zum ersten Mal im Städtischen Oberschü- kehren werde. Ist seine Mutter nicht auch nach dem lerheiminDinkelsbühl.9 Abgeschoben, so fühlte sich das an schlimmstenStreit immer zu seinem Vater zurückgekehrt? –und keine der vielen Tränen des kleinen Jungen konnte da- ran etwas ändern.Später,als Rolf schon ein Teenager war, Wasaber führt Wera an jenem Tage in die tschecho- haben sie eine Weile in Mönchengladbach zusammengelebt. slowakische Hauptstadt? Kurz gesagt: ein Auftrag des Aber eine „richtige Familie“, von der Rolf immer geträumt „Ministeriums für Staatssicherheit“ der DDR. Wera hatte? Das waren die Kühnles nie. hatte sich zwei Wochen vor ihrer Begegnung mit Rolf, nämlich am 13. August1971, als „InformelleMitarbei- Einezufällige Begegnung in Prag terin“(IM) anwerben lassen.

Am Montag, dem 30. August 1971, lernen sich Wera und In ihrer Verpflichtungserklärung heißt es: „Hiermit ver- Rolf in Prag kennen. Die Begegnung ereignet sich mittags, pflichte ich mich [auf] freiwilliger Grundlage mit dem MfS auf der Terrasse eines Restaurants. Rolf bittet Wera an sei- zusammenzuarbeiten.Ich bin belehrtworden,dass ich über nen Tisch und ist, wie er seinem Begleiter später erzählt, diese gemeinsame Arbeit zu keiner Personsprechen darf. ganz hingerissen von dem „sauberen Geschöpf“.10 Echte Das beziehtsich auch auf meine Angehörigen, Verwandten Gefühle waren an jenem Tagbei Rolf aber wohl noch nicht u. Bekannten. Meine Berichte und Mitteilungen […] werde

9Rolf Kühnle lebte ab dem 15.02.1952 in Dinkelsbühl. Vgl.: E-Mail des Stadtarchivs Nürnberg vom 05.05.2009 betreffend Rolf und Elisabeth Kühnle (AZ: 412-47.23.00-2/3/6), Privatarchiv Appelius (Berlin). 10 W. Schmitt, Das Ende einer deutschen Liebe, in: „Der Stern“ Nr.40vom 24.09.1972, S. 56.

Einsichten und Perspektiven 3|09 161 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht ich mit dem Decknamen „Regina“ abzeichnen. Wera Sand- ner.“11 Wiekonnte es dazu kommen? Wiewurde man in der DDR zum „IM“? Indem sich der Staatssicherheitsdienst von einer bestimmten Person aufgrund ihres Charakters, ihres Äußeren oder ihrer Funktion einen bestimmten Vorteil versprach.

Eine junge Frau, die kinderlos und ohne festen Partner lebte, war für das MfS grundsätzlich interessant, zumal, wenn sie gerne Menschen kennenlernte und vielleicht auch häufig wechselnde Beziehungenhatte. Solche Frauen konnten ganz gezielt auf Männer angesetzt werden, für die sich der ostdeutsche Geheimdienst interessierte.

Wiedie Bezirksverwaltung Cottbus des MfS auf Wera Sandner aufmerksam wurde, lässt sich ganz präzise beant- worten. Wera hatte sich mit einer Frau mittleren Alters angefreundet, die im gleichen Wohnblock lebte, und plauderte gelegentlich im Treppenhaus mit ihr.Der Lebensgefährte Unterleutnant Hans Woithe war der Führungsoffizier von Wera dieser Frau, ein Spitzel des MfS („IMS Bernd“), schnappte Sandner.Ertrat unter dem Decknamen „Genosse Meißner“ auf. auf, dass Wera von einem Bekannten aus Westdeutschland Foto: BSTU „reichlich“ Geschenke erhalte und ein Treffen in Prag plane. Wörtlich heißt es dann: „Bei dem Bekannten handelt es sich offensichtlich um einen sehr vermögenden Mann, das geht hen“.13 Drei Tage später,am29. Juni 1971, übernahm Unter- aus ihren Ausführungen hervor.Die S. ist sehr anspruchs- leutnant Hans Woithe den Fall.14 voll, legt Wert auf Bekanntschaften, die über reichlich finan- zielle Mittel verfügen. Sie hat ein sehr ansprechendes Äuße- Unterleutnant Hans Woithe res, geht gut gekleidet, Alter 25 Jahre, sie ist ledig, Kinder keine. In letzter Zeit nehmen die Hausbesuche bzw.die HansWoithe ist ein gelernter Tischler. 15 Er arbeitetschon Besuche bei den Bekannten zu. VonWD-Bekannten [west- seit mehr alszehn Jahren für den Staatssicherheitsdienst. deutschen Bekannten] wurde sie schon zur R-Flucht [= Re- Inzwischen ist er 47 Jahre alt. Die meisten seiner Kameraden publikflucht]angehalten bzw.unterbreitete man ihr Vor- sind in diesem Alter schon ziemlich weit oben auf der schläge. Durch ihren großen Bekanntenkreis weiß sie aber, Karriereleiter.Dawäre er auch gern, stattdessen hat er im- dass das bei manchen nicht geglückt ist und sie wird z.Z. mer noch den Dienstgrad eines Anfängers. noch davon abgehalten. Direktes Interesse besteht dafür durchaus. Die größten Chancen haben Männer mit PKW.“12 Besonders schmeichelhaft lesen sich seine bisherigen Dieser Bericht landete durch Vermittlung von MfS-Ober- Beurteilungen nicht gerade. Seine Genossen kreideten leutnant Siegfried Jäger,einem früheren Nachbarn von We- ihm an, dass die Ergebnisse seiner Ermittlungen„sehr ras Bekannter,auf dem Schreibtisch des Chefs der Spionage- oft nicht der Wirklichkeit entsprechen“.16 Seit 1963 ist er abwehr in der Cottbusser Bezirksverwaltung des MfS, als verantwortlicher Sachbearbeiter der inneren Ab- Major Fritz Koallick. Der war sofort interessiert, handelte wehr in erster Linie für die „Bekämpfung der Spionage- es sich doch laut der ihm vorliegendenInformationen um angriffe des amerikanischen Geheimdienstes“ CIA zu- „eine ledige Person ohne Anhang und mit gutem Ausse- ständig. Sehr erfolgreichwar er dabei allerdings nicht.

11 Verpflichtungserklärung vom 13.08.1971, in: MfS VI/1060/71, Bd. 1, BSTU (Berlin). 12 Bericht „IMS Bernd“ vom 26.06.1971, Kopie in MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 13 Aktennotiz vom 01.07.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 14 Suchauftrag vom 29.06.1971 betreffend Wera Sandner,MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 15 Personalakte Hans Woithe, Cottbus KS II 205/85, in: BSTU (Berlin). 16 Beurteilung vom 05.12.1962, Cottbus KS II 205/85, in: BSTU (Berlin).

162 Einsichten und Perspektiven 3|09 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

In diesemGebäude in Cott- bus befanden sich bis 1989 die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicher- heit und das Büro von Unter- leutnant Woithe. Foto von 2007

Wasdazu führte, dass ihn einer seiner Chefs im letzten Jahr um herauszufinden, ob sie bereit ist, die Arbeit des Staats- aus der operativen Arbeit herausnehmenund auf Dauer in sicherheitsdienstes zu unterstützen. Als Treffpunkt schlägt den Innendienst versetzen wollte: „Ihm sind in der operati- er die HO-Gaststätte „Friedensgrenze“ in Bad Muskau vor, ven Arbeit Grenzen gesetzt.“17 Das konnte Woithe erst im einem kleinen Städtchen an der polnischen Grenze. Der letzten Augenblick abbiegen. Doch statt die Genossen von Gastwirt und seine Frau sind als „IM Schulze“ registriert. seinenverborgenen Qualitäten zu überzeugen, muss er sich Sie haben ein separates Hinterzimmer gegen gutes Geld auf ein paar Monate später sturzbetrunken im Dienstwagen Dauer an die vermietet. „Es kommt darauf an, […] sie erwischen lassen. Hätte er sich doch bloß nicht mit dem [Wera Sandner] von der Notwendigkeit der Verbindung zu Volkspolizisten angelegt. Am Ende haben sie ihn auf Befehl uns zu überzeugen“,18 schreibt Woithe in einem Bericht. von General Mielke wieder zum Unterleutnant degradiert, Dann geht alles sehr schnell. den Führerscheinabgenommen und sogar vors Militärge- richt gestellt. Jetzt darf er sich wirklich nichts mehr zu Anfang August 1971 erhältWera in ihrem Büroden Schulden kommen lassen, sonst verliert er am Ende noch Anruf eines Mannes, der sich bei ihr als „Genosse seine Arbeit. Der Druck ist offensichtlich: Egal, was ihm Meißner“ vorstellt. Es ist Hans Woithe, dessen wahren Major Koallick jetzt an neuen Aufträgen zuteilt, es sollte Namen Wera niemals erfahren wird. Man möchte sich unbedingt ein Ergebnis dabei herauskommen. mit ihr über ihre Bekanntschaft zu einem gewissen westdeutschen Bürger unterhalten, von dem sie regel- Die Arbeitvon Hans Woithe besteht zunächst darin, mäßig Geschenke erhalte. alle verfügbaren Informationen über Wera Sandner zu beschaffen. Die Schulzeugnisse, dienstlicheBeurteilun- „Wir würden Sie gerne mit dem Auto abholen“, sagt „Ge- gen, die politische Einstellung ihrer Eltern. Einfach nosse Meißner“, um in Ruhe mit ihr darüber zu sprechen. alles, was man über die junge Frau innerhalb kurzer Anfang August 1971 kommt dieses Treffen zustande. Wera Zeit in Erfahrung bringenkann. spricht ganz offen zu den beiden Männern, nachdem sie er- fährt, dass der Westdeutsche möglicherweise für einen geg- Schon zwei Wochen später,am12. Juli 1971, schlägt Woithe nerischen Geheimdienst arbeite. Ja, sie sei zu einer Mitarbeit vor,man müsse sich mit Wera einmal in Ruhe unterhalten, bereit, verspricht sie.19 Selbstverständlich könne sie noch im

17 Aktennotiz vom 07.04.1970,Cottbus KS II 205/85, in: BSTU (Berlin). 18 Vorschlag für die Kontaktaufnahme, 12.07.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 19 Bericht über die Kontaktaufnahme, 06.08.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

Einsichten und Perspektiven 3|09 163 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

August nach Prag fahren, dort werde sie den verdächtigen kehrt. Wera war nach seiner Abreise bei einem in Prag Westdeutschen dann genau unter die Lupe nehmen. Die bei- lebenden früheren Arbeitskollegen untergekommen. Sie den Offiziere des MfS sind zufrieden. liebte diese Stadt, war schon früher mehrmals über verlän- Als sie sich am späten Nachmittag des 13. August gerte Wochenenden hier gewesen. Das Zusammentreffen 1971 erneut mit Wera in Bad Muskau treffen, glaubt die zwischen Wera und Rolf war ein Zufall, es hatte nichts mit junge Frau, es ginge bei der Abfassung ihrer Verpflichtungs- dem Auftrag zu tun, den sie in Prag als Gegenleistung für erklärung lediglich um eine einmalige Aktion. Sie freut sich die unverhoffte Ferienreise zu erfüllen hatte. Ganz offen- sogar,hat sich ihre Reisepapiere schon bei der Volkspolizei sichtlich sind sich Wera und Rolf von Anfang an sympa- abgeholt. Schließlichhatte sie gar nicht damit gerechnet, thisch. Sie verbringen den ganzen Tagzusammen. Abends schon so bald wieder nach Prag reisen zu dürfen. Das hat sie fragt sie ihn beim gemeinsamen Glas Wein in einer Bar,ob „Genosse Meißner“ zu verdanken. Wiehat er es nur ge- er nicht Lust habe, sie einmal in Ostberlin zu besuchen. Sie schafft, dass sie Urlaubbekommen hat? Sie hat doch erst vor gibt ihm ihre Adresse und schreibt ihm auch die Tele- ein paar Tagen an ihrem neuen Arbeitsplatz angefangen. fonnummer ihrer Nachbarin auf. Der Nachbarin aus dem Und dann gleich für mehr als zwei Wochen. Das ist ein gan- Wohnblock in der Hans-Beimler-Str.5,deren Lebensge- zer Jahresurlaub. Wera hält es für einen Glücksfall. Sie ahnt fährte schon seit vielenJahrenfür die Staatssicherheit spio- nicht, dass sie einen Pakt mit dem Teufel eingegangen ist. niert.Aber davon ahnt sie ja nichts. Es ist ein Urlaubsflirt, nicht mehr und nicht weniger.Wera nimmt die Bekannt- „Genosse Meißner“ hingegen denkt schon über den schaft zunächst nicht sehr ernst. In dem nach ihrer Rück- Taghinaus. In dem von ihm verfassten „Vorschlag zur kehr für den Staatssicherheitsdienst verfassten handschrift- Verpflichtung der Kandidatin“ erklärt er,wie es ihm lichen Reisebericht heißt es: „Nachdem wir also Wein ge- gelungen ist, Wera zu manipulieren: „Durch ihr Alter trunken hatten, sind wir uns persönlich näher gekommen bedingt lässt sie sich durch ältere Personen belehren und er hat sich in gewisser Hinsicht mir persönlich offen- und auch lenken u. leiten, d.h. sie ist leicht beeinfluss- bart in gewissen privaten Fragen. Dabei konnte ich erfah- bar.Einen stark ausgeprägten Willen hat sie nicht, was ren, dass er Geschäftsführer wird, in diesem Jahr noch, in beim ersten Gespräch erkannt wurde.“20 Wera soll Münchenstudiert hat und Verwandte in Wien hat. Auf zukünftig „Blickfeldarbeit“ für die Spionageabwehr meine persönliche Frage, ob er auch mal nach Berlinkom- leisten, schreibt Woithe. men würde, sagte er mir,dass es durchaus drin ist und er würde es sich auch gern einmal ansehen, den Aufbauusw. Wasman darunter zu verstehen hat? Dazu heißt es in sei- Wieich aus seinen Ausführungen entnehmen konnte, das nem Bericht wörtlich: „Entsprechend dem Alter der Kan- ergab sich auch aus dem Gespräch, ist er an einem Kontakt didatin ist vorgesehen, sie gerade an jüngere Personen anzu- mit meinerPerson interessiert. Das Alter diesesHerrn habe setzen, da in diesen Kreisen die Perspektive einer prophy- ich auf ca. 29 –30Jahre geschätzt. In Prag war er als Tourist laktischen Abwehrarbeit liegt. Bei einer qualifizierten und im persönlichen Gespräch ergab es sich, dass er mir Ausbildung und einem gewissen Stand der Qualifikation erzählte, dass er einen Skoda hat. In Nürnberg sagte er,fah- kann auch in Erwägung gezogen werden, sie in andere ren so neun bis zehn solcher Wagen und er wird schon als Städte oder Schwerpunkte zum Einsatz zu bringen. Die roter Kommunist verschrien,weil er einen Skoda hat. Bei bereits bestehenden Kontakte zu WD Bürgern müssen sys- der Verabschiedung haben wir vereinbart, dass er aus Wien tematischausgebautwerden, wobeibei ihr die Möglichkeit schreibt, eine Karte, worauf ich ihm antworten werde. Es ist gegeben ist, sie für ausländische Monteure auszunutzen.“21 abzuwarten,wie diese freundschaftliche Bekanntschaft sich weiterentwickelt.“22 Ein verdächtiger Urlaubsflirt… Unter normalen Umständen wäre diese Bekannt- schaftmit größter Wahrscheinlichkeit im Sande verlaufen. Aus den Akten des Staatssicherheitsdienstes der DDR ist Rolf war verheiratet, er hätte Wera bald vergessen. Und tat- ersichtlich,dass sich Wera nach der Erledigung ihres Auf- sächlich beschränkt er sich nach seiner Rückkehr aus Prag trags noch für ein paar Tage in Prag aufgehalten hat. Der zunächst darauf, nur ein paar Postkarten an Wera zu schrei- „verdächtige“ Westdeutsche, den sie auskundschaften soll- ben. Schließlich glaubt er,dass seine Frau in absehbarer Zeit te, ein junger Mann aus dem Raum Augsburg, war aus fami- zu ihm zurückkehren werde. Womit er sich jedoch täusch- liären Gründen vorzeitig in die Bundesrepublik zurückge- te.

20 Vorschlag zur Verpflichtung der Kandidatin, 03.09.1971, in: MfS VI/1060/71, Bd. 1, BSTU (Berlin). 21 Ebd. 22 Reisebericht von „IMS Regina“ vom 13.09.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

164 Einsichten und Perspektiven 3|09 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

Wera Sandner bei einem Be- such in Prag,vermutlich im August 1971, kurz nach ihrer Anwerbung für das MfS

Damit ist erklärt, warum es mehrere Wochen dauert, bis gesamte Post überwacht, ist er über die Entwicklung der Rolf Ende Oktober 1971 einen Besuch in Ostberlin ankün- Bekanntschaft genau im Bilde. digt. Je offensichtlicher das Scheitern seiner Ehe wird, desto intensiver wirbt er um Wera. Seine Strategie, mit dem …wird zur grenzenlose Liebe Schmerz der Trennung zurechtzukommen, ist denkbar ein- fach: Als Wera Ende Oktober 1971 ein Telegramm von Rolf erhält, der seinen Besuch in Ostberlin ankündigt, ist der Rolf Kühnle möchte so schnell wie möglich eine neue Staatssicherheitsdienst der DDR von Anfang an mit von der Beziehung aufbauen. Wera, die schöne junge Frau aus Partie. „Genosse Meißner“ erwartet von Wera, dass sie ihm der DDR, wird von TagzuTag wichtigerfür ihn. Eines nach ihrer Rückkehr in Cottbus genau über die Begegnung Tages sagt er seinem Chef, er glaube, die Frauen aus informiert. An ihrem Bericht ist ersichtlich,dass sie den dem Osten hätten „mehr Flair“ als die Frauen im Wes- Westdeutschen offenbar nicht für gefährlich hält: „Er foto- ten. Rolf idealisiert Wera, baut ihre Fotos und Postkar- grafierte sehr viel Sehenswürdigkeiten von Berlin. Vonmei- ten in seiner Wohnung „wie einen Altar“ auf, während ner Person wollte er nur private Dinge wissen. Er fragte die Scheidung von seiner Frau immer näher rückt.23 nicht nach Personen aus Cottbus u. erkundigte sich nicht nach meiner Arbeitsstelle. Mir persönlich berichtete er,dass Für Unterleutnant Hans Woithe ist dieses Interesse des er nur noch eine Mutter hat, eine eigene Wohnung besitzt „westdeutschen Bürgers“ an Wera Sandner sehr verdächtig. und als Geschäftsführer arbeitet (Optikergeschäft). Er Woithe weiß nichts über Kühnle, kennt dessen private selbsttrug eine neue Brille. Am 1.11. war ich gegen 20 Uhr Verhältnisse nicht. Sein Verdacht nährt sich ausschließlich wieder mit dem Zug in Cottbus. An persönlichenGeschen- aus Äußerlichkeiten: Je intensiver Rolf Kühnle in Briefen ken habe ich zwei Pullover bekommen u. eine Strumpfhose und Postkarten um Weras Zuneigung wirbt, desto miss- sowie Wäschereien [= Unterwäsche].“24 Unterleutnant trauischer wird der glücklose Unterleutnant von der ost- Woithe ist alarmiert, hat er doch zwischenzeitlich durch deutschen Spionageabwehr.Erhält Kühnle vermutlich für eine Bekannte von Wera, die unter dem Decknamen „Tanja“ den Agenten eines westlichen Geheimdienstes. Da der für die Cottbusser Spionageabwehr spitzelt, erfahren, dass Staatssicherheitsdienstnicht nur das Telefon von Weras sich Wera in Rolf verliebt habe.25 Das gefährdet seine Pläne Nachbarin, sondern seit ihrer „Verpflichtung“ auch Weras mit ihr.„Genosse Meißner“ sprichtWera deshalb direkt auf

23 MündlicheAuskunft der Ex-Frau von Rolf Kühnle an den Verfasser. 24 Mündlicher Bericht „IMS Regina“, 09.11.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 25 Bericht „IMS Tanja“, 04.11.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

Einsichten und Perspektiven 3|09 165 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

Wera und Rolf, vermutlich im Herbst 1971 in Ostberlin

seinen Verdacht an. Doch Woithe kommt nicht an Wera einem Wohnblock gegenüber dem Cottbusser Krankenhaus heran. Darüber heißt es in seinem Bericht: erneut mit Wera. In seinem Bericht heißt es dazu: „Um zu wissen, wie eng diese Verbindung vom IM aufgefasst wird, „Der IM berichtete über seineFahrtnach der Haupt- wurde er danachgefragt. Der IM versichertedem M.A. dass stadtder DDR. […] Der IM ist noch nichtsoweit,bzw. sie diese Verbindung nicht ernst nimmt u. auch nicht denkt, das Vertrauensverhältnis zum M.A. [= hauptamtlichen sich mit ihm zu verloben oder zu heiraten. Auf die Frage, Mitarbeiter,Woithe], dass er ungeschminkt alle peinli- [sic!] wie er so schreibt, antwortet der IM, dass er auf die chen [= intimen] Vorkommnisse erzählt. Er deutet sie Art und Weise der Liebesbeteuerungen sowieso nicht rein- nur an. Bei konkreter Befragung äußert er [sic!] sich fällt und das von den Männern kennt. Der IM wurde gebe- nur teilweise. Er [sic!] will den jetzigen Bekannten nicht ten zum nächsten Treff einen Brief u. ein Bild der WD- heiraten. Da der IM aber sehr schnell beeinflussbar ist, Person mitzubringen, mit der Begründung, dass der M.A. bestehtdie Möglichkeit einer Kurzschlusshandlung [= Woithe] den Kühnle mal kennenlernen will. Ohne zu (R-Flucht).“26 zögern stimmteder IM diesem Vorschlag des M.A. zu.“27 Wenn sich Woithe mit diesem derben Vorgehen Durch das gemeinsame Wochenende in Ostberlin hat sich versprach, zukünftig die Zügel in die Hand zu nehmen und das Verhältnis zwischen Wera und Rolf verändert. Aus der den „IM Regina“ zu lenken, so täuschte sich der Unterleut- Bekanntschaft ist eine gegenseitige Liebesbeziehung gewor- nant aus Cottbus gewaltig. Inzwischen weiß Wera Sandner den. Sie verabreden, dass sie sich schon Ende November er- ziemlich genau, was „Genosse Meißner“ von ihr hören will. neut in Ostberlin für ein verlängertes Wochenende wieder- Sie fährt zwar mit dem hochtrabenden Auftrag, „die Per- sehen wollen. Wera informiert auch „Genosse Meißner“ sönlichkeitdes Kühnle [zu] erforschen“ 28 nach Ostberlin, darüber.Sie ist noch immer arglos. Wera glaubt, wenn doch nur, um „Genossen Meißner“ nach ihrer Rückkehr er- „Meißner“ versteht, dass Rolf kein westlicher Spion ist, dür- neut von der Harmlosigkeit ihres Freundes zu überzeugen. fe sie eine „private“ Beziehung mit ihm haben. Diesmal muss sie dem „Genossen Meißner“ schon drei Tage Diesmal will es Woithe besser machen. Er trifft sich nach Rolfs Abreise Bericht erstatten. Der fällt erneut denk- am späten Nachmittag des 25. November 1971 in einer von bar knapp aus: „An beiden Tagen, als sie mit K. [Kühnle] seiner Dienststelle genutzten konspirativen Wohnung in zusammen war,gab es ihrer Meinung nach nichts, was auf

26 Treffbericht vom 18.11.1971, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 27 Ebd. 28 Ebd.

166 Einsichten und Perspektiven 3|09 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

fen. Sie lehnt auch die Version ab, dass, wenn er Pässe besor- gen würde, sie nie die DDR verlassen würde [sic!]. Ihr sind die Schwierigkeiten einer Flucht bekannt und das Risiko, welches sie eingehen würde.“31 Wera Sandner erlebte Anfang Dezember 1971 vermutlich ein Wechselbad der Gefühle. Einerseits hatte sie sich in den jungen Nürnberger verliebt und sehnt sich danach, ihn über die Silvestertage in Prag wieder zu sehen. Andererseitshatte der „Genosse Meißner“ keinen Zweifel darüber aufkom- men lassen, dass man sie seitens seiner Dienststelle niemals in den Westen gehen lassen würde.

Ein Fluchtplanentsteht

Als sich Wera und Rolf Ende Dezember 1971 in Prag wie- der sehen, ist Rolf fest entschlossen, Wera so bald wie mög- lich auf einem sicheren Wegzusich in den Westen zu holen. Das hat er gegenüber Bekannten in Nürnberg schon zu die- sem Zeitpunkt wiederholt verlauten lassen. Und auch Wera ist sich ihrer Gefühle für Rolf sicher.

Am Silvesterabend verlobt sich das Paar in Prag. Es gibt keinen Hinweis, dass Rolf zu irgendeinem Zeitpunkt die Möglichkeit einer Übersiedlung in die DDR erwogen Wera Sandner,aufgenommen von Rolf Kühnle am Brandenbur- haben könnte. Hingegen lässt sich aus Fotos in seinem ger Tor, Oktober 1971 Nachlass erkennen,dass er die österreichisch-tschecho- slowakische Grenze erkundete. eine bestimmteAbsicht des K. schließenlässt. Er interes- sierte sich nur für ihre Person. Bekleidung hatte er dem IM Dabei ist er offenbar zu der Einschätzung gelangt, dass eine wieder mitgebracht. Er gingauchnicht alleinewohin.“29 ÜberquerungdieserSperranlagen zu gefährlich wäre. Aus demselben Grunde lehnt er auch eine Flucht über die Mauer Woithe ist beunruhigt. Erneut konfrontiert er Wera ab. Einem Bekannten sagt er: „Über die innerdeutsche mit dem Inhalt von Briefen und Postkarten, die ihr Rolf Grenze brauchen wir überhaupt nicht zu reden.“32 Kühnle nach Cottbus geschrieben hat. Noch einmal will er von will also offensichtlich jedes Risiko vermeiden. Warum er ihr wissen, wie sie zu Rolf steht. Wera weicht dem Un- sich nicht an einen professionellen Fluchthelfer wendet, ob- terleutnant aus: „Sie versicherte wiederholt, dass ihrer- wohl er finanziell mit seinem hohen Gehalt dazu ohne wei- seits keine festen Absichten bestehen und sie der teres in der Lage gewesen wäre, bleibtunklar. Möglicher- Ausdrucksweise des K. [Kühnle] in den Briefen keine weise einfach deshalb, weil er sich nach seinen vielen Reisen Bedeutung beimisst. Die Männer schreiben alle so, war für einen Osteuropa-Kenner hielt und glaubte, die schwie- ihre Redewendung.“ 30 Dochdiesmal lässt sichWoithe rige Aufgabe am besten alleine zu lösen. Wera liefert dem mit weiblicher Raffinesse nicht mehr beruhigen. „Genossen Meißner“ auch diesmal nur einen sehr mageren Bericht, in dem es unter anderem heißt: „Von mir wollte er Er geht dazu über,Wera ganz unverhohlen zu bedrohen, erstmalig wissen, als was ich arbeite (Sekretärin), sonst aber wie sich aus seinem „Treffbericht“ entnehmen lässt: „Der nichts, auch nichtsüber den Betrieboder Cottbus. Alle Un- IM ist sich der Aussichtslosigkeit einer eventuellen Ver- kosten in Prag hat er bezahlt.“33 Sie berichtet dem Unter- bindung bewusst, er [sic!] gibt sich damit zufrieden, dass K. leutnant, dass sie in Cottbus mehrmals ausgegangen sei und [Kühnle] nach Berlin kommt und sie sich in der C ˇ SSR tref- eine neue Freundin kennengelernt habe.

29 Ebd. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Zeitzeugengespräch mit GeorgReinwald,21.03.2007 33 Bericht„IMSRegina“, 20.01.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU(Berlin).

Einsichten und Perspektiven 3|09 167 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

Handschriftliche Widmung auf dem links abgebildeten Passfoto von Rolf für Wera

erklärt, sie wolle über Ostern in Cottbus bleiben.34 Das ist nicht mehr und nicht weniger als ein offener Affront. Als sie Anfang April nach Cottbus zurückkehrt, wird sie von Woithe zur Rede gestellt. Ihre Antwort ist Passfoto von Rolf Kühnle, 1971 mehr als bezeichnend. Zwar räumt sie die Reise sofort ein und teilt dem Unterleutnant auf Nachfrage auch mehrere konkrete Einzelheiten über den Reiseverlauf mit, fügt aber Sie erwähnt auch eine neue Männerbekanntschaft und zugleich hinzu, dass sie nicht der Ansicht ist, dass diese fügt hinzu, mit diesem Mann habe sie angeblich eine Dinge den Staatssicherheitsdienst der DDR etwas angehen Nacht verbracht. Den Namen habe sie aber vergessen. würden. Sie hat längst herausgefunden,dass sie den „Genossen Meißner“mit der Preisgabe tatsächlicher oder erfunde- „Sie selbst sagte, dass es sich bei der Verbindung zu K. ner Informationen über sexuelle Aktivitäten in gewisser um eine ‚Liebesangelegenheit’ hat [sic!] u. alles privaten Weise manipulieren bzw.ablenken kann. Charakter trägt“,35 heißt es in dem von Woithe verfass- ten Treffbericht. Es ist eine klare Auflehnung. Sie hätte In den folgenden Wochen geht Wera Sandner dazu über,den auch sagen können: Ihr habt nichts in meinem Privat- Unterleutnant so entgegenkommend wie möglich zu be- leben zu suchen. handeln. Sie nimmt an mehreren Schulungen teil, in denen ihr Woithe die „Regeln der Konspiration“ beibringt. Und Offenbar hat sich das Paar während der gemeinsamen Os- sie erklärt ihre Bereitschaft, im Bedarfsfallfür einige Tage in terferien auf einen Fluchtplan verständigt.Rolf, der inzwi- Dresden und Leipzig „Aufträge“ auszuführen. VonRolf ist schen rechtskräftig von seiner Frau geschieden wurde, will in dieser Phase nur noch am Rande die Rede. Wera im August über die Volksrepublik Bulgarien in den So entsteht ein kleiner Freiraum für das Paar.Sie Westen holen. Er kauft nach seiner Rückkehr nach Nürn- treffen sich am 18. und 19. März 1972 auf der Leipziger berg ein Schlauchboot mit Außenbordmotor und erklärt Frühjahrsmesse. Rolf reist mit seinem Dienstwagenindie einem Bekannten, er wolle mit Wera von Bulgarien aus DDR, einem großen weißen Volvo. Schon in einer Woche nächtens in türkische Gewässer fahren und sein Auto in der will sich das Paar über die Osterferieninder C ˇ SSR wieder- Volksrepublik zurücklassen. „Dieser Plan stand absolut sehen. „Genosse Meißner“, der bisher von Wera über jede fest“,36 erinnert sich ein Zeitzeuge. Voneiner illegalen Über- ihrerBegegnungen mit Rolf unterrichtet wurde, weiß davon querung der Landgrenze habe Kühnle nie gesprochen. Im nichts. Wera hat ihm bewusst die Unwahrheit gesagt, ihm Gegenteil: „Vor der Landgrenze hatte er Angst.“37 Etwa zur

34 Treffbericht vom 20.03.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 35 Treffbericht vom 19.04.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 36 Zeitzeugengespräch mit Georg Reinwald, 21.03.2007. 37 Ebd.

168 Einsichten und Perspektiven 3|09 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht gleichen Zeit beschafft sich Kühnle den Reisepass der Ehe- frau einesArbeitskollegen. In diesen Ausweis –der mit We- ra etwa gleichaltrigen Frau –fügt er deren Passfoto und einen selbst angefertigten bulgarischen Einreisestempel ein. Wiesoetwas aussieht, hat er bei einer Kurzreise nach Bul- garien herausgefunden. Es ist ein zeitraubendes und äußerst kostspieligesVorhaben,bei dem sich Rolf von niemand hel- fen lässt. Schlauchboot und Reisepass deuten darauf hin, dass sich das Paar einen „Plan B“ überlegt hat: entweder mit dem Boot über das Schwarze Meer oder –notfalls –mit dem Auto und gefälschten Papieren ganz offen über den Grenz- übergang. Das birgt zwar die Gefahr einer Verhaftung in sich, ist aber nicht lebensgefährlich. WährendRolf in Nürn- berg mit den Vorbereitungen beschäftigt ist, bucht Wera in Cottbus im „Deutschen Reisebüro der DDR“ eine Ur- laubsreise nach Nessebar –einen Badeort an der südbulga- rischen Schwarzmeerküste. Dieses Foto von Rolf Kühnle entstand bei der heimlichen Reise Täuschungsmanöver des Paares in die C ˇ SSR über Ostern 1972.

Zum Fluchtplan gehört auch, dass Wera in ihrem Bekann- entstehen können, falls sie durch K. zu einer unbedachten tenkreis erzählt, sie habe sich mit Rolf verkracht und dieser Handlung verleitet wird. Ihr wurde in diesem Zusammen- werde seine Sommerferien nicht in Bulgarien, sondern in hang einiges über die Sicherung der Grenzen unseres Lagers Spanien verbringen. Es ist ein geschicktes Manöver und es gesagt. Dem IM war klar,dass eine Verbindung zwischen ihr scheint zunächst auch zu funktionieren. und dem K. [Kühnle] z.Zt. nicht möglich ist. Sie trägt sich auch generell nicht mit Heiratsgedanken da sie noch jung ist Durch einen Spitzelbericht von „IM Tanja“ erfährt u. durch die Qualifikation auch mehr verdienen wird.“40 Woithe außerdem, dass Wera gar nicht unter der angeb- Offensichtlich hat Rolf Kühnle die Postkontrolle lichen Trennung von Rolf leide, weil sie sich in Cottbus des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes unterschätzt. Er in einen DDR-Bürger verliebt habe.39 Doch Woithe glaubte, es genüge, die Briefe mit dem Absender eines mit lässt sichnicht täuschen. Die überWera verhängte ihm bekannten Ehepaares aus einer Nachbargemeinde zu Postkontrolle zeigt ihm, dass die Beziehung zwischen versehen.41 Dass die ostdeutsche Staatssicherheit im Rah- den beiden unverändert besteht. Kühnle schreibt „sehr men einer über eine bestimmte Person verhängten Postkon- intensive Liebesbriefe“ und macht auch Anspielungen, trolle sämtliche Briefe las, die diese Person erhielt, konnte die auf einenmöglichenFluchtplan hindeuten. er sich offenbar nicht vorstellen. Wera begann hingegen spä- testens jetzt zu ahnen, wie der Staatssicherheitsdienst arbei- Woithe schätzt die Situation für so gefährlich ein, dass er tete. Sie bat einen Bekannten, ihre Briefe an Rolf in Polen Wera, trotz deren unmittelbar bevorstehender Abschluss- und in der C ˇ SSR einzuwerfen.42 Sie wusste nicht, dass auch prüfung als Industriekauffrau, kurzfristig zu einem Ge- sämtliche Briefe mit ostdeutschenAbsendern, die an Adres- spräch auffordert. Daran nimmt auch sein Vorgesetzter,der sen in Westdeutschland gerichtet waren, von den Geheim- 34-jährige Oberleutnant Manfred Ebel, teil. Woithe notiert diensten der „Bruderländer“ im Rahmengegenseitiger Ver- über das Gespräch:„Der IM beteuerte, das er nichtdaran einbarungengrundsätzlich dem MfS zur Verfügung gestellt denkt den K. [Kühnle] zu heiraten u. nur wegen der Ge- wurden. schenke u. den schönen Reisen u. Urlaubstagendie Verbin- Im Anschluss an das Treffen mit Woithe und Ebel dung hält. Sie hat persönliche Vorteile, die sie nicht missen weist Weras bis dahin recht akribisch geführte Akte ein auf- möchte. Dem IM wurde aufgezeigt welche Folgen für sie fälliges „Loch“ auf.

38 Belegüber den Abschlussder AuslandsreiseNr. 60-03-376vom 13.04.1972 nach Nessebar,NLWera Sandner,in: Privatarchiv Appelius (Berlin). 39 Bericht „IMS Tanja“, 11.05.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 40 Aussprachebericht vom 19.05.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 41 Zeitzeugengespräch mit Heinz Wyremba, 14.04.2007. 42 Zeitzeugengespräch mit Helmut Schulze, 03.07.2007.

Einsichten und Perspektiven 3|09 169 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

Im Zeitraum von Mitte Mai bis Anfang August 1972 gibt es keinen einzigen Treffbericht. Es hat den An- schein, als ob die Akte in diesem Zeitraum nicht voll- ständig ist bzw.nachträglich bereinigt wurde. Ganz offensichtlich hat sich Wera verdächtig gemacht.

Dieser Eindruck wird auch dadurchbestärkt, dass die Cott- busser Spionageabwehr im Juni mehrere Tage lang einen ihrer erfolgreichsten Spitzel auf Wera ansetzt. Dabei handelt es sich um einen Mann Anfang Dreißig, geschieden, der nach außen hin als DTSB-Sportlehrer für Kinder auftritt und von den Menschen, denen er begegnet, als gänzlich harmlos eingestuft wird. Er ist ein so genannter „Führungs- IM“ mit dem Decknamen „Germano“,43 der ein ganzes Netz weiterer Spitzel anleitet und in späteren Jahren sogar zum hauptamtlichen Spitzel („H-IM“) aufsteigt. Doch auch „Germano“ gelingt es nicht, Wera aufs Glatteis zu führen. Sie erklärt ihm, sie habe die „Bekanntschaft“ mit ihrem Wera Sandner,von Rolf Kühnle aufgenommen, während der ge- „westdeutschen Bekannten“ abgebrochen, weil ihr dessen meinsamen Osterreise 1972 in der C ˇ SSR „charakterliche Eigenschaften“ nicht gefallen hätten.44 Of- fenbar hat sie den Briefwechsel mit Rolf als Reaktion auf die Drohungen von Woithe und Ebel komplett abgebrochen: einem französischen Ingenieur ein, mit dem sie in Senften- „In diesem Zusammenhang erzählte sie mir,dass man es bei berg mehrere gemeinsame Wochenenden verbringt, über uns [in der DDR] nicht allzu gerne sehe, dass man Brief- die sie den „Genossen Meißner“ unterrichtet.47 verkehr oder Brieffreundschaften in Westdeutschland habe –sie möchte sich keine weiteren Schwierigkeiten berei- Eine Woche vor ihrem Abflug nach Bulgarien kommt ten.“45 Ihre Ferien in der Volksrepublik Bulgarien werde sie es in dem von der Stasi angemieteten Hinterzimmerder alleine verbringen, erfährt „Germano“: „Namen nennt sie Gastwirtschaft in Bad Muskau zu einer letzten Begeg- nie.“46 nung zwischen Wera Sandner und ihrem Führungs- Das ist eine wichtige und zutreffende Beobachtung.Die offizier.Wera ist beunruhigt, dass sie ihre Reiseunter- Auswertung der Stasi-Aktenzeigt, dass Wera Sandner in lagen noch nicht erhalten hat. Sie übergibt Woithe ihren Gesprächen mit dem „Genossen Meißner“ niemand insgesamt vier Berichte, um ihn von ihrer Loyalität zu willentlich oder wissentlich geschadet hat. Sie „vergisst“ überzeugen. In einem dieser Berichte schildert sie auch regelmäßig Namen und Adressen und dort, wo sie Namen ihre Bekanntschaft mit „Germano“, nicht ahnend, dass nennt, ist grundsätzlich nur wenig von ihr zu erfahren. Es dieser gezielt auf sie angesetzt war. ist auch hervorzuheben, dass sie im Gegensatz zur großen Mehrzahl anderer informeller Mitarbeiter vom Typ Woithe doziert ihr über die angebliche Notwendigkeit einer „Bernd“, „Tanja“ oder „Germano“, die im Laufe ihrer Zu- vertrauensvollen Zusammenarbeit mit ihm und dass sie zu- sammenarbeitmit erheblichen Summenbezahlt wurden, künftig keine „privaten“ Dinge mehr vor ihm verheimlichen überhaupt kein Geld von der Stasi erhalten hat. dürfe.Wera gibt sich geläutert und verspricht, alles so zu Je näher ihre Abreisenach Bulgarien heranrückt, machen, wie es von ihr verlangt werde. Und dann macht sie desto stärker versucht Wera den „Genossen Meißner“ von ihrem Führungsoffizierein bemerkenswertes Angebot: ihrer angeblichenLoyalität zu überzeugen.Offenbar will „Der IM fragte den M.A. [Woithe]obdie Möglichkeit be- sie auf diese Weise das Risiko einer Entdeckung ihres steht, im kommenden Jahr hauptamtlich bei uns [Minis- Fluchtplanes reduzieren. Sie geht eine Bekanntschaft mit terium für Staatssicherheit] zu arbeiten. Es wurden die Ka-

43 „Germano“, geb. 1941 in einem Vorort von Cottbus, spionierte von 1971 bis 1989 in Cottbus für den Staatssicherheitsdienst der DDR, Abteilung Spionageabwehr.Erwurde bereits im April 1972 zum Führungs-IM umregistriert und hat im Laufe der Jahre mindestens 1.800 Seiten Berichte geliefert, die weitgehend vernichtet wurden. --- Er lehnt es ab, sich über seine damalige Tätigkeit zu äußern. 44 Ergänzungsbericht „FIM Germano“, 21.06.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin) 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Tonbandbericht „IMS Regina“, verschriftlicht am 30.08.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin)

170 Einsichten und Perspektiven 3|09 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

Dies ist das letzte Lebenszei- chen, das Wera ihren Eltern in die DDR schickte. Eine Post- karte aus dem Badeort Nesse- bar,datiert vom 15.08.1972

dervoraussetzungendurchgesprochen u. festgestellt, dass auf. Er hat ein Schlauchboot in seinem Gepäck und erklärt beim IM die Möglichkeitvorhanden ist, wenn sie Genn. Bekannten, er werde sich die OlympischenSpiele in Mün- [Genossin, d.h. SED-Mitglied] wird. Der Verdienst des IM chen gemeinsam mit seiner ostdeutschen Verlobten anse- ist ca. 400,- Mnetto. Der IM hat Lust u. ist gewillt bei uns hen. Wera fliegt am späten Abend des 14. August 1972 mit zu arbeiten, Versprechungen wurden keine gegeben.“48 einer Chartermaschine von Berlin-Schönefeld nach Bour- Tatsächlich ist die Mitgliedschaft in der SED eine Einstel- gas in Bulgarien. Am Nachmittag dieses 14. August ereig- lungsvoraussetzung für alle Bewerberinnen und Bewerber, net sich östlich von Berlin das schwerste Flugzeugunglück die hauptamtlich für das MfS tätig werden wollen, wie die in der Geschichte der DDR. Eine Linienmaschine der „In- Auswertung der Personalakten hauptamtlicher Mitarbeiter terflug“ vom Typ„Iljuschin IL 62“ auf dem Wegnach Bul- des MfS zeigt.Aus einem der Berichte des „Germano“ weiß garien stürzt kurz nach dem Start ab, wobei alle 156 Passa- Woithe, dass Wera bisher nicht daran denkt, Mitglied der giere und Besatzungsmitglieder ums Leben kommen. Aus Staatsparteizuwerden.49 den vorliegenden Reiseunterlagen ergibt sich, dass Wera mit Offenbar ist es Wera an diesem Taggelungen, Woi- dem Zug aus Cottbus nach Ostberlin reiste. Sie hatte ein the zu täuschen. Zum einen erwähnterinseinem Treffbe- Hotel der gehobenen „Kategorie I“ gebucht und wurde richt erstmals mit keinem Wort Rolf Kühnle, zum anderen kurz nach Mitternachtmit einem Transferbus vom Flug- zieht er offenbar tatsächlich eine hauptamtliche Mitarbeit hafen nach Nessebar gebracht. Am Dienstag, dem 15. Au- von Wera in Betracht: „Es muss mit der Ltg [Leitung] ge- gust 1972, erreichte Rolf Kühnle mit seinem Skoda aus klärt werdenwelcheMöglichkeitender Arbeitfür den IM Jugoslawien kommend die bulgarische Grenze und reiste bestehen u. wo er eingebaut werden soll. (Als Kader sind am Grenzübergang „Kalotina“ in die Volksrepublik ein. nur drei Personen aufzuklären). (Vater –Mutter,Schwester Über die jetzt folgenden Tage ist bisher fast gar 9. Klasse) (Keine Westverwandtschaft).“50 nichts bekannt. Wera schreibt ihren Eltern am 15. August 1972 eine Postkarte: DieReise nach Bulgarien „Viele liebe Grüße aus Nessebar sendetEuch Wera. Rolf Kühnle bricht bereits am Sonnabend, dem 12. August Habe den Flug gut überstanden. Hotel ist prima, 50 m 1972, mit einem blauen Skoda von Nürnberg nach Bulgarien vom Strand. Das Barometer zeigt 35 Grad Celsius, hof-

48 Treffbericht vom 09.08.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin) 49 „Sie ist parteilos und meinte,dass es nie passieren wird, dass sie Mitglied der SED wird, denn parteilos kommt man am besten weg.“ Bericht „F-IM Germano“, 19.06.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 50 Treffbericht vom 09.08.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin).

Einsichten und Perspektiven 3|09 171 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

Das Bild zeigt einen „Skoda“, der Rolf Kühnle gehörte, vor dessen Wohnhaus in Nürnberg Zerzabelshof.Mit einem bau- gleichen Wagen fuhr Kühnle nach Bulgarien, um Wera ab- zuholen.

fentlich bleibt es so. So eine Reise müsst ihr auch mal dass ihre Akte nach ihrem Todnoch einmal komplett neu machen.“51 Es ist ihr letztes Lebenszeichen. Ihre Familie angelegt wurde. weiß nichtsvon den Fluchtabsichten und hat auch Inzwischen hatte aber auch Rolf Kühnle sein Rei- keine Kenntnis von dem westdeutschen Verlobten. seziel,den BadeortNessebar,erreicht. NachAngabendes BulgarischenStaatssicherheitsdienstes wohntenbeide ge- Dafür ist der ostdeutsche Staatssicherheitsdienst über ihr meinsam zunächst in einem Hotel am Sonnenstrand und Eintreffen in Bulgarien unterrichtet. In der Volksrepublik wechselten dann in ein Hotel in Nessebar.Esist kaum anzu- ist schon seit Jahren eine so genannte „Operativgruppe“ des nehmen, dass die „Operativgruppe“ mit ihrem weit ver- MfS stationiert, zu deren Aufgaben es zählt,Urlauber zu zweigten Spitzelnetz davon nicht innerhalb kürzester Zeit beobachten und Fluchtversuche von DDR-Bürgernzuver- Kenntnis hatte, zumal die von westlichen Ausländern be- hindern. Dieser „Operativgruppe“ wurde die Ankunft von wohnten Urlauberhotels an der bulgarischen Schwarzmeer- Wera Sandner mitgeteilt. Unterleutnant Woithe hat Wera küste auch systematisch abgehört wurden. nämlich mit einem „Komplexauftrag der Abt. VI“ nach Bul- garien geschickt. Das ist ein übliches Verfahren: Im Inland Nach der offiziellenDarstellungverließen Wera und „bewährte“ IM reisen –häufig auch zur Belohnung –mit Rolf am frühen Morgen des 23. August 1972 mit dem Spitzelaufträgen der Abteilung VI des MfS (Grenzkon- Skoda ihren Urlaubsort und durchquerten ganz Bul- trollen, Reise- und Touristenverkehr) in die „Bruderlän- garien. Am späten Abend des fraglichen Tages wurden der“, um dort während der Ferien Urlauber zu überwachen. sie angeblich in der Nähe der Grenzübergangsstelle Auffällig ist allerdings, dass der betreffende Komplexauf- Kalotina von einem Grenzsoldaten namens „Petkov“ trag nicht in Weras Akte enthalten ist, obwohl Woithe dies bei einem Fluchtversuch erschossen. in seinem„Treffbericht“ ausdrücklichvermerkt hat. Noch auffälliger ist, dass Weras gesamte Stasi-Akte eine Regis- Abgesehen davon, dass der Name „Petkov“ in Bulgarien et- trierung der Abteilung VI (Grenzkontrollen)trägt,obwohl wa so selten ist wie der Name „Müller“ in Deutschland, sie für die Abteilung II (Spionageabwehr) tätig war.Daraus waren die Grenzer auch in der Volksrepublik Bulgarien lässt sich schließen, dass die in Bulgarien stationierten Mit- grundsätzlich nicht einzeln postiert. Angeblich trug der im glieder der „Operativgruppe“ des MfS wie in solchen Fällen Gelände erfahrene frühere Soldat Rolf Kühnle zum Zeit- üblichmit Wera in Verbindung traten, nachdem diese dort punkt seines Todes eine weiße (!) Sportjacke. Kaum glaub- eintraf. Möglicherweise lässt sich daraus auch schließen, haft ist auch die Darstellung, dass Kühnle einen mit einem

51 PostkarteWera Sandner vom 15.08.1972 an Kurt Sandner,Privatarchiv Appelius (Berlin).

172 Einsichten und Perspektiven 3|09 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

Diese Todesanzeige veröffentlichte Lisa Kühnle in Nürnberg. Der Name von Wera ist darin falsch geschrieben.

Maschinengewehrbewaffneten Soldatenmit Erdklumpen Wie man im Westen von dem beworfen habe, wie es wenige Tage nach dem Ereignis in Ereignis erfährt einer vom bulgarischen Innenministerium herausgegebenen Wochenzeitung offiziös behauptet wurde.52 Zwei Tage nach dem Toddes Paares, am Vormittag des Und es ergebensich noch weitereFragen:Nach 25. August 1972, informiert das Bulgarische Außenmi- amtlichen Angaben aus Bulgarien war die Todesursache von nisterium die Handelsvertretungder Bundesrepublik Rolf Kühnle „Schusswunden im Magen“.53 Wieist ein sol- Deutschland in Sofia,dass der Bundesbürger Rolf ches Verletzungsmuster mit der Schilderung des angebli- Kühnle bei einemZwischenfall an der bulgarisch-jugo- chen Tatablaufs in Übereinstimmung zu bringen? Waswar slawischen Grenze erschossen worden sei. mit ihrem Schlauchboot geschehen und warum haben sie nicht den aufwändig hergestellten falschen Pass („Plan B“) Sofort bemüht man sich in der Handelsvertretung, mög- verwendet? Signifikant ist auch, dass die Leichen von Wera lichst vieleEinzelheiten über den Vorfall in Erfahrung zu und Rolf nicht, wie bei Fluchten üblich, im Militärkran- bringen. Man erhält Einsicht in ein richterliches Protokoll. kenhaus in Sofia obduziert wurden, wie bei den Recherchen Am Samstag, dem 26. August1972, um genau 11:58 Uhr herauskam. Sie wurden auch nicht in einer Liste mit den deutscher Zeit, weiß man durch ein Fernschreiben aus Sofia Namen in Bulgarien getöteter deutscher Republikflücht- auch im Auswärtigen Amt in Bonn Bescheid. In drei Stun- linge aufgeführt,die von der bulgarischen Regierung kurz den sollen in München die Olympischen Spiele eröffnet nach dem Fall der Mauer zusammengestellt wurde.52 werden. Innerhalb kürzester Zeit sind die Kriminalpolizei

52 Eine Augustnachtohne Morgendämmerung,„Antenni“ (Sofia), 01.09.1972. 53 Todesurkunde Nr.925 für Rolf Kühnle, nach Angaben aus Aktenband 938 im Bestand B83zum Fall Kühnle/Sandner,Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin).

Einsichten und Perspektiven 3|09 173 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht in Nürnberg und das Landeskriminalamt in München ein- entgegnet, dass „der Grenzbeamte“ in „rechtmäßiger geschaltet. Sie sollen Kontakt mit Rolfs Mutter aufnehmen, Weise“ eingeschritten sei. um diese vom Todihres Sohnes zu informieren. Die Be- amten finden heraus, dass Lisa Kühnle für einige Tage nach Auch dieseDarstellung wirft rückblickend Fragenauf.Die Prag gereist ist. Dort, im sozialistischen Ausland, ist sie für bulgarischen Grenzen wurden nämlich nichtvon Beamten, die westdeutschen Behörden unerreichbar. Es vergehen sondern von Soldaten,häufig Wehrpflichtigen, bewacht. mehrere Tage, bis sie nach Nürnberg zurückkehrt, wo sie Falls an dem Vorfall tatsächlich Beamte beteiligt waren, am Dienstagnachmittagsofort nach ihrer Ankunftvon dürfte es sich um Angehörige des BulgarischenStaats- Polizeibeamten aufgesucht wird. Am nächsten Tag, es ist sicherheitsdienstes gehandelt haben. der 30. August 1972, wird in Bonn eine Erklärung zu dem Nachdem die Leiche von Rolf Kühnle per Flug- Vorfall veröffentlicht. Darin heißt es: „Die Bundesregierung zeug am Abend des 2. September 1972 wieder in Nürnberg verurteilt das Vorgehen der bulgarischen Grenzorgane, das eingetroffen ist, findet seine Beerdigung bereits am Diens- zum tragischen Verlust von Menschenleben geführt hat, ein tag, dem 5. September 1972, statt. Die Presse berichtet meh- Verhalten, das in seiner Schwere durch den Sachverhalt rere Tage lang sehr ausführlich über das Ereignis und nimmt nichtgerechtfertigt ist. Die Bundesregierung erwartet,dass auch an der Trauerfeier auf dem Nürnberger Westfriedhof Vorkehrungen getroffen werden, die eine Wiederholung teil. Pfarrer Bernd Seufert erklärt in seiner Predigt, dass von derartig schweren Zwischenfällen verhindern, die zu Wera und Rolf sterben mussten, weil sie sich liebten, und einer ernsthaften Beeinträchtigung der Beziehungen zwi- fragt: „Wann werdenOst und West verstehen, dass der schen beiden Ländernführen müssen.“54 Verschiedene Ra- Mensch wichtiger ist als alle politischenSysteme?“58 diosender und auch die „Tagesschau“ berichten über den Vorfall. Die Parteien in der Bundesrepublik nehmen Stel- Wie man im Osten lung. Der außenpolitische Experte der CDU/CSU-Bun- vondem Ereignis erfährt destagsfraktion,Werner Marx, erklärt in Bonn, der „Mord“ an den beiden deutschen Staatsangehörigen habe erneut Die Öffentlichkeit in der DDR wurde überhaupt nicht deutlich gemacht, wie wenig das „Entspannungsgerede“ mit über den Vorfall unterrichtet. Wera Sandner durfte der Wirklichkeit übereinstimme.55 Auch die Berliner SPD nicht in der DDR beerdigt werden. Eine Trauerfeier nimmt zu dem Vorfall Stellung: „Zwei junge Menschen durfte nicht stattfinden,eine Todesanzeige nicht wurden getötet, weil sie gemeinsam ein Leben in Freiheit veröffentlicht werden. anstrebten.“ 56 Inzwischen bemühtsichdas BayerischeInnenmi- Doch beginnen wir der Reihe nach: Am Vormittag des 25. nisterium um die Rückführung der sterblichen Überreste August 1972 informiert ein Mitarbeiter der „Operativ- von Rolf Kühnle, während die Bundesregierung hinter ver- gruppe“ des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes in Bul- schlossenen Türen einen diplomatischen Vertreter der garien das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten in Volksrepublik Bulgarien in das Auswärtige Amt einbestellt. Ostberlin, dass eine namentlich nicht genannte DDR-Bür- Da es noch keine gegenseitigen diplomatischen Bezie- gerin in Bulgarien erschossen wurde. Drei Tage später,am hungen gibt, handelt es sich nur um den Stellvertretenden Montag, dem 28. August 1972, soll DDR-Konsul Dr.Peter Leiter der BulgarischenHandelsvertretung in Frankfurt am Krause die Leiche von Wera Sandner bereits zur Beerdigung Main. Staatssekretär Günther van Well erklärt dem Bulga- in Sofia freigegebenhaben, wie man in der Handels- ren, dass die Bundesregierung die Härte des Vorgehens vertretung der Bundesrepublik DeutschlandinErfahrung nichtakzeptieren könne. bringt.59 Es ist offensichtlich nicht daran gedacht, die sterb- Wörtlich sagt Staatssekretär van Well: „Zweifellos gebe lichen Überreste der jungen Frau in die DDR zurückzuho- es in der Welt viele illegale Grenzübertretungen, ohne len, denn zu diesem Zeitpunkt wissen Weras Familienan- dass tödliche Schüsse abgegeben werden.“57 Der Bulgare gehörige noch nicht, was geschehen ist.

54 Bundesregierungverurteilt Vorgehen der bulgarischen Grenzorgane, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Bonn, 05.09.1972. 55 Empörung über die Todesschüsse, in: Nürnberger Nachrichten, 01.09.1972, S. 25 56 Ebd. 57 Aktenband 938 im BestandB83zum Fall Kühnle/Sandner,Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin). 58 Zum Abschied ein Strauß roter Rosen, „Abendzeitung“ (Nürnberg), 06.09.1972, S. 1. 59 Aktenband 938 im BestandB83zum Fall Kühnle/Sandner,Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin). --- In einer Befragung durch den Verfasser erklärte Dr.Krause im Sommer 2006, er könne sich nicht mehr an den Vorgang erinnern.

174 Einsichten und Perspektiven 3|09 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

garien erschossen worden sei. Das hatte der Jugendliche zu- vor im Radiosender „Rias Berlin“ gehört. Weras Eltern sind fassungslos, können es nicht glauben. Sie versuchen Wera in Cottbus zu erreichen, was nicht gelingt. Daraufhin wendetsich Kurt Sandnersofortan die „Abteilung Inneres“ beim Rat des Kreises in Klingen- thal, doch niemandvermagihm eine Auskunft zu geben.

Bereitsamnächsten Tag, dem 1. September 1972, wird Wera auf dem Friedhof „Bakarena Fabrika“ in einem Vorort von Sofia beerdigt, während ihre Eltern in Klin- genthal noch immer keinerlei offizielle Nachricht über den Vorfall erhalten haben.

Auch Journalisten des in West-Berlin erscheinenden „Ta- gesspiegel“wollen herausfinden, was aus Weras Leiche geworden ist. Die Bulgaren verweigern ihnen die Auskunft, da es sich um eine „Staatsangehörige der DDR“ handele.60 Kurt Sandner will sich damitnichtzufriedengeben. Er nimmtsich frei und fährtmit dem Auto nach Ostberlin. Sandner wendet sich direkt an die Botschaft der Volksre- publik Bulgarien, wo er mündlich erfährt, dass seine Toch- ter „auf der Flucht erschossen“ und bereits in Bulgarien „verscharrt“ wordensei.61 Ob er vorher auch in Cottbus war,lässt sich nicht zweifelsfrei belegen. Sicher ist nur,dass Weras Zimmer in der Zwischenbelegung bereits vom Staats- Die Sterbeurkunde von Wera Sandner enthält den Hinweis auf sicherheitsdienstdurchsucht und anschließend versiegelt die Grenzübergangsstelle „Kalotina“. wurde.Bei dieserDurchsuchung wurdenohne Ausnahme sämtliche Schriftstücke und Dokumente, Briefe und Foto- grafien aus dem Zimmer entfernt, wie sich aus einer von Anni Sandner nach der Freigabe des Zimmers angefertigten Erstam29. August 1972taucht der Namevon Wera Protokoll-Liste ergibt.62 Sandner erstmals im Zusammenhang mit dem Grenz- zwischenfall in einemostdeutschen Dokument auf. Erst zehn Wochen später,Ende November 1972, erfah- ren Weras Eltern, wo man die junge Frau in Bulgarien Nachdem das Fernsehenund das Radioinder Bundesre- beerdigt hat. Damit sind sie –ohne es zu wissen – publik über den Vorfall berichten und dabei auch erwähnen, gegenüber anderen Eltern ostdeutscher Opfer sogar dass eine DDR-Bürgerin namens Sandneraus Cottbus in noch im Vorteil, denn es war bis 1975 eine Praxis in der Bulgarien getötet wurde, beginnt sich die Nachricht auch im Volksrepublik Bulgarien, ostdeutsche „Grenzverletzer“ Kreise der Freundeund Arbeitskollegen von Wera zu ver- direkt im Grenzgebiet zu verscharren. breiten, zumal diese nicht zum angegebenen Termin aus einem Urlaub nach Cottbus zurückgekehrt ist. Auf diese „Jetzt dürfen sie rüber: Weise erhält auch Weras Familie in Klingenthal Kenntnis Die Bräute aus dem Osten“ von dem Ereignis. Weras Schwester wird am 31. August 1972 auf einem Jahrmarkt von einem Mitschüler angespro- Am 9. September 1972, anlässlichdes Jahrestages der kom- chen, der sie fragt, ob sie gehört habe, dass die Wera in Bul- munistischen Machtergreifung, begnadigte das Regime in

60 Bulgarische Behörden gabenLeiche des erschossenen Nürnbergers frei,„Tagesspiegel“ (Berlin),01.09.1972 61 Brief Kurt Sandner vom 20.11.1990 an den Bund stalinistisch Verfolgter,in: Privatarchiv Appelius (Berlin); Bericht „F-IM Germano“ vom 13.09.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 62 Protokoll-Liste vom 14.09.1972, in: Privatarchiv Appelius.

Einsichten und Perspektiven 3|09 175 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

Sofia sechs deutsche Fluchthelfer.Diese Begnadigung kann Wera in die DDR verboten haben. In ihrem gemeinsamen als eine Geste des guten Willens gegenüber der Bundesre- Schmerz beschließen sie, die bulgarischen Behörden zu bit- publikinterpretiert werden. ten, Weras Leiche in die Bundesrepublik auszufliegen. In einer Petition an das Auswärtige Amt in Bonn schreibt Lisa Ganz offensichtlich sollten die bilateralenWirtschafts- Kühnle: „Während ich meinen toten Sohn nach Nürnberg beziehungen, in erster Linie der Strom westdeutscher überführen durfte, ist es mir bisher noch nicht gelungen, Urlauber mit ihren in der Volksrepublik hoch willkom- auch die Leiche seiner Braut nach Nürnberg zu bringen. Da menen Devisen, nicht gefährdet werden.Esgalt, die es nicht nur mein Wunsch ist, die Kinder im Tode vereint zu Tötung von Wera Sandner und Rolf Kühnle so rasch wissen, sondern auch der ausdrückliche Wunsch von Weras wie möglichvergessen zu machen.Daran war auch das Mutter,Frau Anni Sandner aus Klingenthal [...], spreche ich, SED-Regime interessiert,nachdemdie Hamburger zugleich in ihrem Namen, die Bitte aus und stelle den An- Illustrierte„Der Stern“ die Geschichte von Wera und trag doch alles Menschenmögliche zu unternehmen, dass Rolf einige Wochen nach dem Vorfall, Ende September wir die tote Wera hierher überführen dürfen und neben mei- 1972, auf mehreren Seiten erzählte und für zusätzliche nem Sohn im Nürnberger St. Johannis Friedhof bestatten Publizität sorgte.63 dürfen.Der große Schmerz von uns Müttern, der ein Leben lang fortdauern wird, wäre etwas gemildert, wenn wir unse- Vermutlich befürchtete man in Ostberlin, durch den Vorfall re Kinderbeisammen wüssten. Weras Grab, einsam und ver- unfreiwillig Wahlhilfe für die CDU/CSU geleistet zu lassen in fremder Erde, ist eine schwere Last. Ob wir Weras haben.ImNovember 1972 standendie vorgezogenen Leiche oder eventl. Urne bekommen, ob Flug- oder Kurier- Neuwahlen zum Deutschen Bundestag bevor.Umden post, ist unwichtig, wichtig alleinist, dass wir sie hier zur Vorfall vergessen und die Früchte der deutsch-deutschen letzten Ruhe bettenkönnen. [...] Bitte helfenSie uns und Entspannungspolitik sichtbar zu machen, verkündete das behandeln Sie unseren Antragwohlwollend.“66 SED-Regime im Oktober 1972, dass die DDR als „Geste Doch die Bundesregierung vermag diese Entschei- des guten Willens“ fünfundzwanzig ostdeutsche Frauen zu dung nicht herbeizuführen, obwohlsich der Leiter der bun- ihren Verlobten nach Westdeutschland ausreisen lassen desdeutschen Handelsvertretung in Sofia, Kaiser,persön- wolle. Auch diesmal berichtete die Hamburger Illustrierte lich dafür einsetzt. Nach wochenlangen Bemühungen tele- „Der Stern“ sehr ausführlich.Ineiner reich illustrierten Ti- grafiert er nach Bonn: telgeschichte („Jetzt dürfen sie rüber: Die Bräute aus dem Osten“) erklärte Egon Franke (SPD), der Bundesminister „Einem Mitarbeiterder Handelsvertretung wurde bei für innerdeutsche Beziehungen, euphorisch: „Meiner An- einer Rücksprache in der Konsularabteilung des hiesi- sicht nach ist dies eine großzügige Leistung der DDR, die gen Außenministeriums auf unsere Bitte um Freigabe großzügigere Lösungen in der Zukunft erwarten lässt.“64 der Leiche von Wera Sandner erklärt, das Einverständ- Davon aber konnte keine Rede sein: Tatsächlich kam es – nis der Eltern der Verstorbenen sei hierfür und für die abgesehen von diesem Ostberliner Wahlgeschenk für die Überführung in die BRD nicht ausreichend.Hierzu sei sozialliberale Koalition –bis zum Fall der Mauer im Herbst vielmehr eine Genehmigung der DDR-Behörden erfor- 1989 nie wieder zu einer vergleichbaren Aktion der DDR- derlich, die seinerzeit die Beerdigung in Bulgarien ver- Regierung. Im Gegenteil. Ab 1976 verweigertedie DDR für langt hätten (!). Die Eltern der Verstorbenen müssten einzelne Personen die Einreise in die DDR. Besonders be- deshalb einen entsprechenden Antraginder DDR stel- troffen waren Personen mit Verlobten oder Angehörigen in len. der DDR, die nach Westdeutschland übersiedeln wollten.65 Im FalleeinerpositivenEntscheidung würden die dortigen Einsam und verlassen in fremderErde Behörden die bulgarischeSeite über die hiesige DDR-Bot- schaft verständigen. Ein anderer Wegsei leider ausgeschlos- Im Herbst 1972 entsteht über die Mauer hinweg eine Ver- sen. Der Einwand, dass die Handelsvertretung nicht verste- bindungzwischen Weras Eltern in Klingenthal und Rolfs hen könne, warum für die Freigabe der Leiche und deren MutterinNürnberg. Lisa Kühnleerfährt, dass die DDR- Überführung in die Bundesrepublik eine Genehmigungder Behörden eineÜberführung der sterblichen Überreste von Behörden der DDR erforderlich sei, da sich die Leiche auf

63 W. Schmitt, Das Ende einer deutschen Liebe, in: „Der Stern“ Nr.40vom 24.09.1972, S. 56. 64 Jetzt dürfen sie rüber: Die Bräute aus dem Osten, in: „Der Stern“ (Hamburg), Nr.46vom 05.11.1972, S. 18 ff. 65 Auskünfte A–Zzum Stand der innerdeutschen Beziehungen, Bonn 1978, S. 64, siehe: Reisebeschränkungen. 66 Brief Elisabeth Kühnle vom 08.12.1972 an das Auswärtige Amt, in: Aktenband 938 im BestandB83zum Fall Kühnle/Sandner,Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin).

176 Einsichten und Perspektiven 3|09 Wera und Rolf. Die deutsch-deutsche Geschichte einer tödlichen Flucht

Bis zu ihrem Tod(2004) bewahrte Anni Sandner ihrer Tochter Wera ein ehrendes Andenken. Auf der Kommo- de, vor Weras Bild, musste immer ein Strauß frischer Blumen stehen.

bulgarischem Territorium befinde und die Eltern zuge- dem Mann, den sie liebte, in seinerHeimatzuwohnen und stimmthätten,war dem bulgarischen Gesprächspartner zu leben. Wirfordern die Rehabilitierung unserer Tochter offensichtlich peinlich. Er erklärte, er habe sich persönlich [...].“69 Ein ganz einfaches, selbstverständliches Unterfan- um die Angelegenheit gekümmert und übersehe auch nicht gen? Nein. Eine Rehabilitierung der ostdeutschen Opfer ihren humanitären Aspekt. Leiderkönne er aber keine an- der „verlängerten Mauer“ ist auch zwanzig Jahre nach dem dere Auskunft geben. Es darf als sicher angenommen wer- Mauerfall noch nicht in Sicht. Den Standpunkt der Bundes- den, dass die hiesige DDR-Botschaft einer Freigabe der regierung erläutert Lutz Diwell, Staatssekretär im Bundes- Leiche widersprochen hat und die Bulgaren sich diesem ministeriumder Justiz, in einem Schreiben an den FDP- Einspruch beugen.“67 Abgeordneten Hans-Joachim Otto: „Eine Rehabilitierung von DDR-Bürgern, die bei dem Versuch, über die Grenzen Rehabilitierung„nichtmöglich“ anderer Staaten des ehemaligen Ostblocks nach Westeuropa oder in die Bundesrepublik zu gelangen, erschossen wur- Kurt Sandner hat sich mit dieser Entwicklung nie ab- den, ist nicht möglich.“70 Maueropfer ist also nicht gleich finden können. Er hatte nicht nur seine Tochter verlo- Maueropfer.Und wie sieht es mit der Rückholung der Lei- ren, sondern auch den Glauben an die Gerechtigkeit im che von Wera Sandner in die Bundesrepublik aus? Nach „Arbeiter-und Bauernstaat“. Am 31. August1973 dem Bundesgräbergesetz sind Gräber von Personen, die auf wurde er wegen „parteifeindlicher Handlungen und Grund von rechtsstaatswidrigen Maßnahmen als Opfer des Verleumdung bulgarischer Klassengenossen“ aus der kommunistischen Regimes ums Leben gekommen sind SED ausgeschlossen.68 ebenso wie Kriegsgräber zu erhalten, um für zukünftige Generationen die Erinnerung daran wach zu halten, welche Doch er gab die Hoffnung nie auf, glaubte nach dem Fall schrecklichen Folgen Gewaltherrschaft hat. Ein auf dieses der Mauer,imHerbst 1989, jetzt werde man sich im Westen Gesetz Bezug nehmender Antrag liegt der Bundesregierung endlich der Sache annehmen: „Wir erheben hiermit Anklage seit Mai 2007 vor.Bisher hüllt man sich dazu in Schweigen. gegen die Mörder unserer Tochter,welche mit 26 Jahren ihr Die Aufarbeitung von DDR-Unrechtist noch lange nicht Leben lassen musste, weil sie nichts weiter wollte, als mit abgeschlossen.❙

67 Bericht der HV in Sofia vom 08.03.1973 an das Auswärtige Amt, in: Aktenband938 im Bestand B83zum Fall Kühnle/Sandner,Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes (Berlin). 68 Karteikarte Kurt Sandner,SED-BL K-M-S, IV C-2/4-651, in: Sächsisches Staatsarchiv (Chemnitz) 69 Brief Kurt Sandnervom 20.11.1990 an den Bund stalinistischVerfolgter,in: Privatarchiv Appelius (Berlin); Bericht „F-IM Germano“ vom 13.09.1972, MfS VI/1060/71, Bd. 1, in: BSTU (Berlin). 70 Brief Staatssekretär Lutz Diwell vom 07.09.2009 an MdB Hans-Joachim Otto mit Begleitbrief Hans-Joachim Otto vom 08.09.2009 an den Verfasser,in: Privatarchiv Appelius (Berlin).

Einsichten und Perspektiven 3|09 177 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren Warten auf die Wiedervereinigung?

Diewestdeutschen Parteien unddie Deutsche Frage in denachtziger Jahren

VonLutz Haarmann, Bonn

Verlegung der Mauer durch DDR-Grenzpioniere im Rahmen einer Vereinbarung zum Gebietsaustausch: Das Gelände an der Lohmühlenbrücke (Bezirk Neukölln) fällt an West-Berlin –25.05.1988. Alle Fotos: ullstein bild

178 Einsichten und Perspektiven 3|09 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

Einleitung stark antikommunistische Sozialdemokratie gegenüber den SED-Vertretern verhalten. Im zweiten Teil wird es vor allem Der 20. Jahrestagdes Mauerfalls am 9. November regt dazu um die so genannte „Nebenaußenpolitik“ der größtenOp- an, die Positionen der etablierten Parteien in den Jahren vor positionspartei im Deutschen Bundestag der achtziger Jahre der deutschen Herbstrevolution noch einmal zu reflektie- gehen. Die FDP als kleinerer Regierungspartner sah sich vor ren. Noch einmal? Wenn man den jüngsten Äußerungen der allem nach dem Wechsel 1982 von der SPD zur Union als ehemaligen DDR-Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley Glauben Bewahrer des sozialliberalen Erbes der Ost- und Deutsch- schenken darf, verkehrt sich diese Frage immerhin zu einem landpolitik (dritter Abschnitt). Im viertenAbschnitt wer- regelrechten Imperativ für die Fortsetzung der Aufarbei- den die stärksten Befürworter einer deutschen Zweistaat- tung der zweiten deutschen Diktatur.Diese sei, so Bohley, lichkeit im westdeutschen Parteiensystem, die Grünen, un- noch längst nicht abgeschlossen. Vielmehr seien die Prägun- tersucht. gen des DDR-Systems noch viel zu intensiv,umnach fast Die im Herbst 1989 entscheidenden nationalen und 20 Jahren deutscher Einheit die DDR-Geschichte ad acta zu internationalen Faktoren zur Beendigung der deutschen legen.1 Zweistaatlichkeit werden schließlichkontrastierend zu den Wasfür die frühere DDR gilt, könnte vielleicht westdeutschen Parteien im fünften Abschnitt behandelt. ebenso für den westlichen Part der ehemals zweigeteilten Wichtigste Anknüpfungspunkte für eine Lageanalyse sind deutschen Nation zutreffen. Wiestand es in den politischen neben dem „Gorbatschow-Faktor“ (Archie Brown) die dis- Parteien der Bundesrepublik in der Dekade vor dem Mau- kutierenden und demonstrierenden Teile der Oppositions- erfall eigentlich um das grundgesetzlich verankerte Ziel der bewegung in der DDR.3 Zudem wird in diesem fünften Ab- Wiedervereinigung? Auf diesem Feld soll noch einmal den schnitt nochmals auf die eingangs gestellteFragenach der –vielleicht bis heute andauernden –Haltungen zur verei- westdeutschen Gemütslage in Politik und Bevölkerung be- nigten deutschen Nation –wenige Jahre vor dem so überra- züglich einermöglichendeutschenWiedervereinigungein- schenden Ereignis der deutschen Einheit –nachgegangen zugehen sein: Befand sich die Bundesrepublik, wie die De- werden. moskopin Elisabeth Noelle-Neumann in den achtziger Jah- Hat die alte Bundesrepublik, also Westdeutsch- ren bezüglich der Deutschen Frage prophezeite, in einem land, einen originären Beitrag zur gesellschaftlichen Aufar- „Wartesaal der Geschichte“?4 beitung beizusteuern? Galten nicht diejenigen als Kalte Krieger,die den insbesondere unter den westdeutschen 1. Kontinuität in der Deutschlandpolitik? – Linken verbreiteten Behauptungen, Frieden gehe vor Wie- die Union und die Deutsche Frage in den dervereinigung und eine Stabilisierung führe zu einer Libe- achtziger Jahren ralisierung der DDR, entschieden entgegentraten?2 In Form einer Skizze des westdeutschen Parteien- „Deutschlandpolitik war Chefsache.“5 Mit dieser Fest- panoramas in Bezug zur Deutschen Frage in den achtziger stellung des Politikwissenschaftlers Karl-Rudolf Korte – Jahren werden im Folgenden zunächst die Kanzlerpartei bezogen auf Helmut Kohls Kanzlerschaft –ließe sich CDU und ihre Schwester CSU in den Fokus genommen. auch der Einfluss des Bundeskanzlers auf seine Partei, Ihre Vorsitzenden, und Franz Josef Strauß, die CDU, beschreiben. Jedoch war die Außen- und haben auf der gouvernementalen Ebene –pflichtgemäß – Deutschlandpolitik der Bundesrepublik in den Zeiten mit den Vertretern der DDR Geschäfte machen müssen. des Ost-West-Konfliktes von dem jeweils aktuellen Ganz anders hat sich hingegen die früher unter Schumacher Zustand der Beziehungen der beiden Supermächte USA

1Vgl. das Interview mit Bärbel Bohley „Wir sind Gejagte gewesen.“ In: Spiegel-Online v. 07. 09. 2009 (http://einestages.spiegel.de/static/ authoralbumbackground/4910/_wir_sind_gejagte_gewesen.html) (Stand: 07. 09. 2009). 2Vgl. Tilman Mayer,Kontroversen zur deutschen Frage, in: Werner Weidenfeld/Karl-Rudolf Korte (Hg.), Handbuch zur deutschen Einheit 1949–1989–1999, Bonn 1999, S. 501–509. Vonden in den achtziger Jahren vertretenen Bundestagsparteien haben sich –ausgerechnet die vehementestenZweistaatlichkeitsbefürworter –Sozialdemokratie (1993) und Grüne Partei (1994) in Symposien mit ihrer deutschlandpoliti- schen Vergangenheit auseinandergesetzt. Siehe für die SPD Dieter Dowe, Die Ost- und Deutschlandpolitik der SPD in der Opposition 1982 –1989, Bonn 1993. Zu den Grünen siehe die unveröffentlichte Dokumentation von Ursula Jaerisch und Elisabeth Weber,Die Deutschlandpolitik der Grünen in den 80er Jahren. Dokumentation eines Diskussionsforums am 10. März 1994 in der Hessischen Landes- vertretung in Bonn, Bonn 1994. 3Dass schließlich auch die Westmächte 1989/90 zu ihren Verträgen standen und somit eine wichtige Unterstützung im Rahmen des Eini- gungsprozesses lieferten, kann an dieser Stelle nur gestreift werden. Vgl. ausführlich zu diesem Thema Andreas Rödder,Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009. 4Elisabeth Noelle-Neumann, Demoskopische Geschichtsstunde. VomWartesaal der Geschichte zur Deutschen Einheit, Zürich 1991. 5Karl-Rudolf Korte, Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen 1982–1989, Stuttgart 1998, S. 7.

Einsichten und Perspektiven 3|09 179 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

ten in einem Gespräch mit dem DDR-Volkskammerpräsi- denten Horst Sindermann als „Störenfried“ und „Psycho- pathen“.8 Aber was waren nun Strauß‘ wirkliche deutsch- landpolitische Leistungen?War er es nicht, der 1973 die bayerische Staatsregierung unter Ministerpräsident Alfons Goppel angehalten hatte, vor dem Bundesverfassungsge- richt gegen den Grundlagenvertrag zu klagen? Wurde das Ergebnis diese Klage nicht zu einer erneuerten Grundlage für die westdeutsche Deutschlandpolitik, in der die Bundes- regierung aufgefordert wurde, alles zu unterlassen, was die deutsche Teilung zementieren könnte? Warder Zeitgeist 1983 über den bayerischen Minis- terpräsidenten hinweggegangen und hatte ihn als Kalten Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) trifft Krieger zurückgelassen? Oder hatte Strauß in diesem Fall sich mit ,dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, nur seine Worte zu scharf gewählt? Die Beurteilung seines auf Schloss Hubertusstock in Brandenburg –24.07.1983. deutschlandpolitischen Wirkens muss auch weitere Facet- ten berücksichtigen. So war er es, der 1983 die erste Milliar- und UdSSR abhängig.6 Bei ihrem Amtsantritt 1982 denbürgschaft für die DDR von westdeutscher Seite einfä- lehnte die RegierungKohl/GenscherimBereich der delte. Während eines Besuchs bei Erich Honecker am Wer- Deutschlandpolitik eine „Wende“explizit ab. Die Leit- bellinsee im Sommer 1983 entschuldigte sich der bayerische linie für ihre Außen- und Deutschlandpolitik lautete Ministerpräsidentdann auch förmlich für seine Aussagen dagegen „Kontinuität“. Dennoch sorgte Kohl für eine im Zusammenhangmit der „Burkert-Affäre“.9 stärkere normative Distanzzum SED-Regime –bei- spielsweise bei seinen Berichten zur Lage der Nation, Höhepunkt der offiziellen und sozusagen normalisier- die er erstmals wieder mit dem Zusatz „im geteilten ten deutsch-deutschen Beziehungen war der Honecker- Deutschland“ versah. 7 Besuch im September 1987 in Bonn. Zwei Jahre vor dem Mauerfall ließen sich an diesem Ereignis die deutsch- Für den ersten handfesten deutschlandpolitischen Konflikt landpolitischen Leitlinien Helmut Kohls ablesen. So im Regierungslager sorgte der Toddes Geschäftsmannes wurde bei Honeckers Begrüßung im Bundeskanzleramt Rudolf Burkert an der Grenzübergangsstelle Drewitz. Die- auf die Anwesenheit von Bundesaußenminister ser erlitt am 10. April 1983 bei Befragungendurch DDR- Hans-Dietrich Genscher verzichtet,umdem Gast zu Grenzbeamteeinen Herzinfarkt. Bundeskanzler Kohl for- demonstrieren, dass die DDR aus Sicht der Bundes- derte die Aufklärung des Vorfalls und äußerte gleichzeitig, regierung nicht als Ausland angesehen wurde. zügig wieder zur normalen Fortsetzung der innerdeutschen Beziehungen zurückkehren zu wollen. Der bayerische Mi- Ebenso musste DDR-Außenminister Oskar Fischer mit ei- nisterpräsident und CSU-Vorsitzende Franz Josef Strauß nem Arbeitsgespräch mit der Ministerin für innerdeutsche hingegen bezeichnete–ohne den offiziellenBericht der Beziehungen Dorothee Wilms vorliebnehmen. Mit Gen- DDR-Organe und der Verdener Staatsanwaltschaft abzu- scher traf Fischer späternur in dessenArbeitszimmer zu- warten –das Ereignis als „Mordfall“. Zudem ärgerte sich sammen, nicht aber im Gästehaus der Bundesregierung.10 Strauß über die Vorgehensweise der Bundesregierung, die er Dass die DDR für die Bundesregierung Kohl kein Ausland in einem Interview mit der Bild-Zeitung als „ängstlicheLei- war,machteder Bundeskanzler auch bei seinerTischanspra- setreterei“ kritisierte. In der CDU war indes die „Ratlosig- chebeim Abendessen mit Erich Honecker,die vom keit“ über das Verhalten von Strauß‘ groß. Gleichwohl ver- west- und ostdeutschenFernsehen live übertragen wurde, fügte dieser im Regierungslager offenbar nur über eine deutlich. So betonte Kohl, dass die Präambel des Grundge- Minderheitenposition; so bezeichnete Bundespräsident setzesfür ihn nicht zur Dispositionstehe, und bezeichnete Richard von Weizsäcker den bayerischen Ministerpräsiden- die Deutsche Frage als „offen“.11

6Vgl. Andreas Wirsching, Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2006, S. 499. 7Vgl. ebd., S. 593–594. 8Vgl. ebd., S. 594–595. 9Vgl. ebd., S. 597. 10 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, Bonn 2009, S. 92. 11 Vgl. ebd., S. 103.

180 Einsichten und Perspektiven 3|09 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

Ende derachtziger Jahrewurde zudemdas parteiamtliche Deutschlandbildder CDUbrüchig.Ineinem Entwurfdes CDU-Generalsekretärs Heiner Geißlerfür einen Leitan- trag zur christdemokratischen Außen- und Deutschland- politik im Jahre 1988 hieß es: „Die Überwindung der Tei- lung Europas und damit Deutschlands setzt eine Überwin- dung des Ost-West-Konflikts voraus. Die Lösung der deut- schen Frage ist daher gegenwärtignicht zu erreichen.“15 Ne- ben der Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, Wilms, zählte auch der Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble zu den Personen in der CDU, die sich mit diesen Formulierungen identifizierten. Nach Protesten aus der Partei wurde von einer Kommission unter Leitung des Staatssekretärs im innerdeutschen Ministeriums, Ottfried Hennig, ein korrigierter Leitantrag für den CDU-Bundes- parteitag 1988 eingebracht.16 Dem Deutschland-Teil des Antrages wurde jetzt ein Zitat Adenauers vorangestellt: „Die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit war und ist das vordringlichste Ziel unserer Politik…“17.Ebenso wurde nun Bezug auf die Präambel des Grundgesetzes ge- nommenund betont: „Deutschlandbesteht fort, und die Menschen in Deutschland gehören zusammen, obwohl das deutsche Volk heute gegen seinen Willen staatlich getrennt Der DDR-Staatsratsvorsitzende Erich Honecker und Bundes- leben muß [sic!]. Die Deutschen sind nicht bereit, sich mit kanzler Helmut Kohl hören am 8.9.1987 in Bonn den National- dieser Trennung abzufinden. Kern der Deutschlandpolitik hymnenzu. der CDU bleibt deshalb, die nationale und staatliche Ein- heit zu wahren‘ (Präambel des Grundgesetzes).“18 In den Jahren 1987/88 kam es in der Union –angestoßen durch die Entwicklungeninder Sowjetunion –zuneuen 2. Abschied von der Neuen Ostpolitik? deutschlandpolitischen Diskussionen.Ende 1986 wies bei- Die SPD und die Deutsche Frage in den spielsweise der CDU-Bundestagsabgeordnete Bernhard achtziger Jahren Friedmann auf neue Möglichkeitenfür eine operative Wie- dervereinigungspolitik hin, die sich aus einer veränderten Nach dem Kanzlerwechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Interessenlage der Sowjetunion ergeben hätten.12 Helmut Kohl Ende 1982 nahm die SPD Kurs auf die Friedensbewe- Kohl hingegen wischte die Vorschläge seines Abgeordne- gung. Die Parteiverabschiedete sich auf dem so genannten ten-Kollegen barsch als „blühenden Unsinn“ vom Tisch.13 „Raketenparteitag“ 1983 in Köln endgültig von der Linie ih- Hoffnungslos in der Minderheit, so waren diese Stimmen res ehemaligen Bundeskanzlers, der vehement –inPartei doch der „moralisch[e] Stachel im Fleisch des deutschland- und Bevölkerung –für den NATO-Doppelbeschluss ge- politischenKonsenses“. 14 kämpft hatte.19

12 Vgl. Wirsching (wie Anm. 6), S. 624–625. 13 Vgl. Karl Hugo Pruys, Helmut Kohl. Der Mythos vom Kanzler der Einheit, Berlin 2004, S. 46. 14 Wirsching (wie Anm. 6), S. 627. Zu weiteren deutschlandpolitischen Dissidenten vgl. Lutz Haarmann, „Die deutsche Einheit kommt bestimmt!“ Zum Spannungsverhältnis von Deutscher Frage, Geschichtspolitik und westdeutscher Dissidenz in den 1980er Jahren, Berlin 2005. 15 Diskussionsentwurf „Unsere Verantwortung in der Welt –Christlich-Demokratische Perspektiven zur Außen-, Sicherheits-, Europa-und Deutschlandpolitik“ vom 18. Februar 1988, zit. n. Jens Hacker,Deutsche Irrtümer.Schönfärber und Helfershelferder SED-Diktaturim Westen, Frankfurt/M. und Berlin 1994, S. 186. 16 Vgl. ebd., S. 187. 17 Beschluss des 36. CDU-Bundesparteitages „Unsere Verantwortung in der Welt. Christlich-demokratische Perspektiven zur Deutschland-, Außen-, Sicherheits-,Europa- und Entwicklungspolitik“ vom 13.–15. Juni 1988, in: http://www.kas.de/upload/themen/programmatik_ der_cdu/programme/1988_Beschluss-des-Wiesbadener-Bundesparteitages.pdf (Stand 03. 09. 2009). 18 Ebd. 19 Vgl. Daniel Friedrich Sturm, Uneinig in die Einheit. Die Sozialdemokratie und die Vereinigung Deutschlands 1989/90, Bonn 2006,S.64.

Einsichten und Perspektiven 3|09 181 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

Der Staatsratsvorsitzende der DDR,Erich Honecker (r.), mit Besuch von SED-Politbüromitglied Hermann Axen bei der SPD- demsaarländischenMinisterpräsidenten OskarLafontaine(SPD, Fraktion in Bonn. (V.l.) Egon Bahr,Manfred Uschner (persönli- l.)bei einem Besuch in Ost-Berlin, bei dem die wirtschaftlichen cher Referent von Axen), Hermann Axen und Karsten Voigt – und kulturellen Beziehungen des Saarlandes mit der DDR ver- 14.02.1986 tieft werden sollten –13.11.1985.

Wiestand es nun um die deutschlandpolitischen Positi- Scheer und Karsten Voigt. Für die SED nahmen das Polit- onen der SPD in der Opposition? In ihrem Bundestags- büromitglied Hermann Axen und der Mitarbeiter im Zen- wahlprogramm 1987 ging die Partei davon aus, dass die tralkomitee(ZK) der SED und persönlicheReferent Axens, Bundesrepublik Deutschland und die DDR als „vonein- Manfred Uschner,teil. In den Delegationen redete man sich ander unabhängige Staaten“ solange nebeneinander be- vertraulichmit „Du“ an und gratuliertesich auch gegensei- stehen würden, wie die jeweiligen Bündnisse existieren tig zum Geburtstag. Im Juli 1988 schließlich wurden Über- würden. Gleichwohl ließ man offen, wie die Durchset- legungen zu einer „Zone des Vertrauens und der Sicherheit zung des Selbstbestimmungsrechts verwirklicht werden in Zentraleuropa“ erstellt. Bis in das Jahr 1989 erfolgten Be- könnte.20 Honeckers Geraer Forderungen (Elbgrenze in ratungen zu einer strukturellen Nichtangriffsfähigkeit von der Strommitte,Auflösung der Erfassungsstelle Salz- NATO und Warschauer Pakt. Obwohl die o.g. Papiere nur gitter,Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und Parteidokumente darstellten, wurde doch durch ihre feier- Umwandlung der Ständigen Vertretungen in Bot- liche Verabschiedung der Anschein erweckt, es handele sich schaften) vermochte die SPD in Teilen nachzukommen. um zwischenstaatliche Verträge.22 Die zentrale Erfassungsstelle Salzgitter wollte man auf- lösen und die Staatsangehörigkeit „im Rahmen des Den Höhepunkt der Parteikontakte zwischen SPD und Grundgesetzes respektieren“. Die von der SPD regier- SED bildete das am 27. August 1987 zeitgleich in Bonn ten Länder stellten jedenfalls 1988/89 die Zahlungen für und Ost-Berlin vorgestellte Papier „Der Streit der diese Einrichtung ein.21 Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Die Ver- handlungen hierzu erfolgten seit 1983 zwischen der In den achtziger Jahren kam es –imRahmen der so genann- SPD-Grundwertekommission und der Akademie der ten „Nebenaußenpolitik“ der SPD –zuzahlreichenBegeg- Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED unter nungen von Sozialdemokraten und SED-Spitzenpolitikern. den Delegationsleitern Erhard Eppler (SPD) und Otto So entstand in den Jahren 1984/85 in einer gemeinsamen Ar- Reinhold (SED).23 beitsgruppe das Papier „Eine chemiewaffenfreie Zone in Europa“, der im Jahr 1986 „Grundsätzefür einen atomwaf- Der Inhalt dieses Papiers ist neben der allgemeinen Be- fenfreien Korridor in Mitteleuropa“folgten. Honecker und schreibung der weltpolitischen Lage die Feststellung, dass Brandt hatten diese zweite Arbeitsgruppe 1985 vereinbart. sich beide Seiten auf einen langen Zeitraum des Neben- Teilnehmer auf SPD-Seite waren u. a. Egon Bahr,Hermann einanders einstellen müssten und –notabene –keine Seite der

20 Vgl. ebd. 21 Vgl. ebd., S. 65. Hervorhebung durch den Verfasser.Honecker wollte die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft. Die SPD bot in ihrem Wahlprogramm maximal die Respektierung an. 22 Vgl.ebd., S. 88–89. 23 Vgl. ebd.,S.93.

182 Einsichten und Perspektiven 3|09 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

Hans-Dietrich Genscher trifft sich mit dem Außenminister der Hermann Axen (2.v.r.) empfängt den parlamentarischen Ge- DDR, OskarFischer,amRandeder Vollversammlung der Ver- schäftsführerder FDP-Fraktion im Bundestag, Torsten Wolf- einten Nationen in New York –09.10.1989. gramm (3.v.l.), zu einem Gespräch in Ost-Berlin; 2.v.l.: Hans OttoBräutigam –27.10.1987. anderen ihre Existenzberechtigung absprechen dürfe.Mög- keit der Deutschen in einer fortbestehenden Nation “sei.25 liche deutsch-deutscheKooperationenwurden in diesem Die deutschlandpolitischeEhre der SPD der achtzigerJahre Text nicht angesprochen. Neben der Bundestagsvizepräsi- konnte jedoch Erhard Eppler mit seiner Rede zum Tagder dentinund ehemaligen Mitarbeiterindes SPD-Vorsitzen- deutschen Einheit am 17. Juni 1989 zumindest teilweise ret- den Kurt Schumacher,Annemarie Renger,gehörte auch der ten. Auch wenn sich die Partei Kurt Schumachersund Willy Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidtzuden innerparteili- Brandts von den revisionistischen Elementen ihrer „Neuen chen Kritikern der Vereinbarung. So betonte er,dass man Ost- und Deutschlandpolitik“ der sechziger und siebziger zwar mit der SED auf staatlicherEbene Kontakte pflegen Jahre verabschiedet hatte, betonte Eppler,dass die Ge- müsse,die Grundwerte der Sozialdemokratie jedochvöllig schichte und somit auch die Deutsche Frage offen seien. verschieden von denen der SED seien und die Gespräche Ebenso hielt er in seiner Rede einen Zusammenbruch der eine –von ihm nicht gewollte –Anerkennung der SED DDR für möglich.26 bedeuteten. 24 Wieweit sich die Mehrheit der SPD in den achtzi- Fortsetzung der Entspannungspolitik – ger Jahren von dem Ziel der Wiedervereinigung verabschie- Die FDP und die Deutsche Frage in den det hatte, lässt sich –stellvertretend für die Gesamtpartei – 80erJahren an einer Pressemeldung des SPD-Bundestagsabgeordneten und früheren Bundesministers für Bildungund Wissen- Kennzeichnend für die liberale Deutschlandpolitik der schaft, JürgenSchmude, aus dem Jahr 1988 erkennen. In sei- achtziger Jahre war ihr Festhalten an der Westbindung nem Text „Gedenken an den 17. Juni“ äußerte er sich zum der Bundesrepublik im Verbund mit einer Politik der grundgesetzlich vorgegebenen Ziel der Wiedervereinigung: guten Nachbarschaft gegenüber dem Ostblock.27 In der „Ob und wann sie kommt, liegt in ferner Zukunft. Heute ist zweitenHälfte der achtziger Jahre verstärkte sich in der anderes wichtiger.“ Er betonte lediglich, dass die Grundlage Partei die Tendenz, nur noch die nationale Einheit und der Deutschlandpolitik weiterhin „die Zusammengehörig- nicht mehr die staatliche Einheit zu betonen.28

24 Vgl.ebd., S. 96–97. 25 Jürgen Schmude, Vordringlich ist nicht die Wiedervereinigung. Hervorhebung durch den Verfasser.Gedenken an den 17. Juni erfordert aktuelle Antworten, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, Nr.110 vom 13. Juni 1988. 26 Vgl. zu Epplers Rede und des Umfeldes Sturm (wie Anm. 19), S. 111–115. Zu den Befürwortern einer deutschen Wiedervereinigung gehörte schließlich –besonders wieder ab 1989/90 –auch der SPD-Ehrenvorsitzende Willy Brandt. 27 Vgl. Joachim Rottmann, Die Vorstellungen der Freien Demokratischen Partei (FDP) und der Liberaldemokratischen Partei (LDP) der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der späteren Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in der Wiedervereinigungsfrage, in: Dieter Blumenwitz/Gottfried Zieger (Hg.), Die deutsche Frage im Spiegel der Parteien, Köln 1989, S. 71–81, hier S. 80. 28 Vgl. Hacker (wie Anm. 15), S. 223. Siehe zur liberalen Deutschlandpolitik in den achtziger Jahren auch Michael Schmidt, Die FDPund die deutsche Frage1949–1990,Münster 1995,S.156–176.Schmidt sprichtauf S. 176von einerpragmatischen undwenig aufdas operativeZiel einer Wiedervereinigung ausgerichteten Deutschlandpolitik der FDP.

Einsichten und Perspektiven 3|09 183 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

man als wesentliche Voraussetzung, um auf einen Zustand in Europa hinzuarbeiten, in dem die Deutschen „in freier Selbstbestimmung über [ihre] nationale Einheit entschei- den“ könnten.31 Diese „Politik der Friedenssicherung“ soll- te „in kleinen, unspektakulären Schritten fortgeführtwer- den“. Dabei wurden etwa an Verbesserungen im innerdeut- schen Reiseverkehr sowie beim Jugendaustausch gedacht.32

Warinder FDP alles und jeder auf den Erhalt des deutschlandpolitischen Status quo gerichtet? Ab etwa 1987 wuchs auch in Teilen der Liberalen die Erkenntnis, dass es Gorbatschow mit seinem „neuen Denken“ in der Außenpolitik ernst meinen könnte. So forderte bei- spielsweise der FDP-Bundestagsabgeordnete Uwe Ron- Erich Honecker begrüßt die Bundestagsabgeordneten der Grü- neburger 1987 in einer Analyse die deutschlandpoliti- nen, Petra Kelly und Otto Schily,bei ihrem Besuch in Ost-Berlin sche Nutzung der „gegenwärtigen Tendenzen“. Zudem (Ost) –31.10.1983. bekannte er sich zum Ziel der deutschen Einheit. Er for- derte ein verstärktes Werben für die Lösung der Deut- Im FDP-Wahlprogramm zur Bundestagswahl 1983 war schen Frage auf der internationalen Ebene bei Berück- keine Rede von einer expliziten Wiedervereinigungspolitik. sichtigung der „europäischen Dimension“.33 Betont wurden dagegen –wenige Wochen nach dem Regie- rungswechsel von der Sozialdemokratie zur Union –die Zwischen Menschenrechten und früheren Erfolge der Westbindungspolitik mit der Union Anerkennungder Zweistaatlichkeit – und die Resultate der sozialliberalen Entspannungspolitik. dieGrünenund dieDeutscheFrage in den Die Kernaussage zur Deutschlandpolitik lautete:„Deutsch- achtziger Jahren landpolitik verstehen wir als europäische Friedenspolitik. Weil nie wieder vom deutschen Boden ein Krieg ausgehen In seiner 1987erschienenen Studie zur grünen Deutschland- darf, weil die beiden deutschen Staaten eine besondere politik äußert sich der Bonner Politikwissenschaftler Gerd Verantwortung für den Frieden in Europa tragen, haben die Langguth wie folgt: „Eine grüne Deutschlandpolitik gibt es Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland bisher nur in Ansätzen, jedenfalls kein ausformuliertes und der DDR für uns einen besonderen Rang.“29 Im Sinne Konzept.“34 Diese Aussage kann bis zur Wiedervereinigung der Fortsetzungund Erweiterung des bisherigen deutsch- 1990 fortgeschrieben werden. Diese grüne Vielstimmigkeit landpolitischen Pfades setzte man auf „regelmäßige Kon- in Bezug auf die nationale Frage war schließlich bei den sultationenauch auf höchster Ebene zwischen Bundesre- Bundestagswahlen 1990 einer der Hauptfaktoren für das publik Deutschlandund der DDR“.30 parlamentarische Verschwinden der Partei auf Bundesebene In der „Wahlplattform“ zur Bundestagswahl 1987 für die folgenden vier Jahre. sah die FDP eine „Neue Phase realistischer Entspannungs- Doch zunächst zu den Anfängen grüner Deutsch- politik“ heraufziehen. Als Ziel wurde eine „Europäische landpolitik. Welche Tendenzen lassen sich hier feststellen? Friedensordnung“ ausgerufen. Diese wurde damit begrün- det, dass „unsere Völker […] in Frieden und ohne Angst Langguth identifizierte drei grüne deutschlandpoliti- miteinander leben können [müssen], auch wenn sie unter- sche Strömungen. Demnach gab es erstens die „Natio- schiedliche Gesellschaftssysteme aufweisen“. So sollten die nal-Neutralisten“, die u. a. die Arbeitsgruppe Berlin- Beziehungen zur DDR verbessert werden bei „gegenseiti- und Deutschlandpolitik der Alternativen Liste Berlin ge[r] Interessenwahrung und Fairness“. Diese Politik sah (AG Berlin- und Deutschlandpolitik) und zum anderen

29 Freiheit braucht Mut. Wahlaussage 83 der Freien Demokratischen Partei für die Bundestagswahlen am 6. März 1983, Bonn 1983, S. 14. 30 Ebd., S. 16. Insgesamt umfasste das Wahlprogramm ganze drei Sätze in der Rubrik „innerdeutsche Beziehungen“. 31 Zukunft durch Leistung. Die Wahlplattform der FDP zur Bundestagswahl 1987, Bonn 1987, S. 7. 32 Vgl. ebd. Immerhin umfasste der deutschlandpolitische Teil des Wahlprogramms jetzt schon fünf Sätze, zwei mehr als 1983. 33 Vgl. Detlef Kühn: Die FDP und die Deutschlandpolitik, in: Dieter Blumenwitz/Gottfried Zieger (Hg.), Die deutsche Frage im Spiegel der Parteien, Köln 1989, S. 83–87, hier S. 85. 34 Gerd Langguth, Die Deutschlandpolitik der Grünen, in: Manfred Langner (Hg.), Die Grünen auf dem Prüfstand. Analyse einer Partei, Bergisch-Gladbach1987,S.423–480, hier S. 423. 35 Vgl.ebd., S. 427–431.

184 Einsichten und Perspektiven 3|09 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

DDR importiert Giftmüll gegen Devisen: Um die Devisenquelle nicht versiegen zu lassen, wehrt sich der Volkseigene Betrieb Deponie Schönberg gegen den Vorwurf, Sondermüll unsachgemäß zu lagern. Bundestagsabgeordnete der Grünen durften die Müllkippe im Sperrgebiet zur Bundesrepublik inspizieren. Einer Studie der Uni Greifswald zufolge bestand für Mitarbeiter der Giftmüllhalde einum 80 ProzenterhöhtesKrebsrisiko –04.09.1986. den Initiativkreis LinkeDeutschland-Diskussion (LDD) schen Blockkonfrontation die Deutsche Frage überflüssig umfassten.35 Beide Kreise hatten sich das Ziel der machen wollten. Hier ging man nicht mehr von einer ein- Wiedervereinigung auf ihre Fahnen geschrieben. heitlichen deutschen Staatsnation aus, sah jedoch noch An- satzpunkte einer Kulturnation. In der Bundestagsfraktion Zugleich sollte damit die Emanzipationder europäischen stellten diese Vertreter die Mehrheit.38 Staaten von der Vorherrschaft der beiden Supermächte USA Die politischen Ziele der LDD lassen sich exem- und Sowjetunioneinhergehen.36 Die zweite grüne deutsch- plarisch an ihren zur Bundestagswahl 1987 erstellten landpolitische Strömung war die „fundamental-bewe- „Wahlprüfsteinen“ darlegen. Diese umfassten „Truppenab- gungspolitische Tendenz“, die ihre Konzepte nicht allein zug“ und „Entmilitarisierung“,„Selbstbestimmung“, „Ab- theoretisch hielt, sondern vor allem mit konkreten Aktio- rüstung und Blockfreiheit“, „Einigung und Konföderation“ nen umsetzen wollte.37 Zu nennen wären hier Politiker wie sowie als letzten Punkt „Gesamteuropa, Regenbogeneuro- Petra Kelly und Gert Bastian, die mit ihren Demonstratio- pa“.39 Wiestellte sich dieser grüne Kreis eine mögliche Lö- nen in Ost-Berlin Anfang der 80er Jahre für Aufsehen sorg- sung der Deutschen Frage vor? Der Prüfstein „Einigung ten. Die dritte Strömung umfasste die „euroneutralistischen und Konföderation“ startete mit der Aussage, dass die Bun- Realos“, die mit ihrer Politik der Überwindung der europäi- desrepubliknicht Deutschlandsei. Hier wurde also über

36 Peter Fleischmann, Nation und Demokratie bei den Grünen. Eine Untersuchung der politischen Konzeptionen und Strategien der Partei Die Grünen von ihrer Gründung 1980 bis zur Wiedervereinigung Deutschlands 1990, Berlin 1995, S. 97. Die Berliner Gruppe war dabei eine innerparteiliche Vereinigung, während die LDD nicht an die Grüne Partei angeschlossen war.Inbeiden Kreisen arbeiteten neben grü- nen Parteimitgliedern auch Sozialdemokraten und parteilose Linke mit. 37 Vgl. Langguth (wie Anm. 34), S. 431–432. 38 Vgl.ebd., S. 433–434. 39 Wahlprüfsteine des Initiativkreises Linke Deutschland-Diskussion (LDD) zur Bundestagswahl 1987, in: Ursula Jaerisch und Elisabeth Weber,Materialien zur Deutschlandpolitik der Grünen in den 80er Jahren, Bonn 1994.

Einsichten und Perspektiven 3|09 185 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

Der Staatsratsvorsitzende der DDR empfängtFraktions- und Vorstandsmitglieder der Grünen. Die Delegation der Igelpartei be- dachte den Chef der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED) mit einem Friedensvertrag und dem Foto der Skulptur „Schwerter zu Pflugscharen“. Anschließendde- monstriertendie Aktivisten mit in der DDR verbotenen Symbolen der Friedensbewegung vor dem Staats- rat. Foto (v.l.n.r.): Antje Vollmer, Gustine Johannsen, Lukas Beck- mann, Erich Honecker (SED), Dirk Schneider,Otto Schily,Petra Kelly, GerdBastian –31.10.1983.

den seinerzeitigen territorialen Status des westdeutschen 1983 auf dem Ost-Berliner Alexanderplatz.Bei der De- Teilstaates hinausgedacht. Das deutschlandpolitische Ziel monstration setzten sie sich für „Frieden und Abrüstung in stellte demnach eine Konföderation aus Bundesrepublik Ost und West“42 ein. Nachdem sie vom Staatssicherheits- und DDR dar,inder die beiden Teilstaaten das „verwirkli- dienst verhaftet wurden, konnten sie im Amtssitz des chen [sollten], worüber Einigkeit zu erreichen ist“, darun- StaatsratsvorsitzendenErich Honecker eine Erklärung ab- ter eine gemeinsame deutsche Staatsbürgerschaft, die neben geben. 43 In dieser forderten sie von der DDR-Regierung, die „besondere[n]“ Separatstaatsbürgerschaften von Bun- sich innerhalbdes Warschauer Paktes „entschieden für desrepublik und DDR treten sollte. 40 Rüstungsverzicht und Abrüstung“ einzusetzen.44 Bei Dirk Täglichmit derbesonders in Berlin wahrnehmba- Schneider,dem deutschlandpolitischen Sprecher der grünen ren Teilung des Landes konfrontiert, entwickelte die Berli- Bundestagsfraktion –und wie man seit einigen Jahren weiß ner Gruppe der Grünen eine besondere Sensibilität für die –inoffiziellem Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssi- ungelöste Deutsche Frage. Das Grundsatzpapier der AG cherheit, regte sich deutlicher Widerspruch. Er beurteilte für Berlin- und Deutschlandpolitik waren ihre „25 Thesen die Aktion von Kellyund anderen als „Schwall Benzin auf für eine Grüne Deutschlandpolitik“. In diesen forderten einen Schwelbrand“. Die Lage der DDR-Führung schätzte auch sie u.a. die deutsche Konföderation als politische er als mit dem Rückenzur Wand stehend ein, nicht etwa we- Leitlinie. Der „janusköpfigen Herrschaftspolitik der beiden gen ihrer wirtschaftlichen Schwäche, sondern wegen „der deutschen Staaten“ sollte der emanzipatorische Ansatz ei- Kriegsvorbereitungen der Achse Bonn [-] Washington“.45 ner „konkrete[n]Utopie der Paktfreiheit und Konföderati- on“ entgegengestellt werden.41 Der sich dann bis Mitte der achtziger Jahre –entgegen Exemplarischfür den „bewegungspolitischen An- der Vorstellungen von LDD und AG Berlin- und satz“ der Grünen steht die Aktion von Petra Kelly und wei- Deutschlandpolitik –herausbildende grüne deutsch- teren Mitstreitern aus der Bundestagsfraktion am 6. März landpolitische Mainstream lässtsich exemplarisch an

40 Vgl. ebd.,S.31. 41 Arbeitsgemeinschaft für Berlin- und Deutschlandpolitik in der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz Berlin, 25 Thesen für eine Grüne Deutschlandpolitik, Januar 1984, in: Ursula Jaerisch und Elisabeth Weber,Materialien zur Deutschlandpolitik der Grünen in den 80er Jahren,Bonn 1994, S. 32. 42 Die Grünen im Bundestag, Grüne demonstrieren für Frieden und Abrüstung in Ostberlin, Pressemitteilung Nr.90/83 vom 12. Mai 1983, in: Jaerisch/Weber (wie Anm. 41), S. 191. 43 Vgl. Langguth (wie Anm. 34), S. 455. 44 Die Grünen im Bundestag,Grüne demonstrierenfür Friedenund Abrüstung in Ostberlin,PressemitteilungNr. 90/83 vom 12. Mai 1983, in: Jaerisch/Weber (wie Anm. 41), S. 191. 45 DirkSchneider:Die Demoauf dem Alex–Gedanken zur Deutschlandpolitik,in: Jaerisch/Weber (wie Anm. 41), S. 195–198, hier S. 195.

186 Einsichten und Perspektiven 3|09 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren einem Faltblatt der Bundestagsfraktion mit dem Titel Eine dritte Stimme,die jüngst diewichtigeRolle desKPd- „Wider die Mauernauch in den Köpfen“ ablesen. In die- SU-GeneralsekretärsGorbatschow für die Ereignissedes sem fordern sie eine „Anerkennungspolitik“, die von deutschen Herbsteshervorgehoben hat, stammtvom der „Existenz zweier gleichberechtigter deutscher Berliner Historiker Ilko-SaschaKowalczuk. Dieser erin- Staaten und Gesellschaften“ ausging.46 nert in seiner Geschichte der Revolution von 1989 in der DDR daran, dass der ostdeutsche Staat ein Teil des sowjeti- Zudem wolltendie Grünen in ihrer Deutschlandpolitik schen Imperiums gewesen sei. Die DDR sei unter Anleitung nicht mit „Stärke“ und „Druck“ gegenüber der DDR auf- der Sowjetunion1949 gegründet worden und deren Abhän- treten, sondern man setzteauf „vertrauensbildende Maß- gigkeit von der UdSSR sei bis 1989 bestehen geblieben.53 nahmen“. Gleichwohl wurdebetont, dass „Anerkennungs- Auch wenn Kowalczuk betont, dass der Untergang von Im- politik“ kein Verzicht auf die Kritik an „Unterdrückung, perien nicht im Zentrum beginne (dafür dann also durchaus Einparteien-Herrschaft“und „politischerVerfolgung“ be- 1980/81 im peripher gelegenen Polen), so unterstreicht er deuten würde.47 Die Grünen bezeichneten es als „wirklich- dennoch die These, dass „Veränderungen im Zentrum“ (al- keitsfremd“, von der „offenen deutschen Frage“ zu spre- so der Sowjetunion) erst recht zu „seismographisch wahr- chen. Sie befürchteten, dass man mit diesem Thema bei den nehmbaren Systemerschütterungen“ geführt hätten. Jedoch europäischen Nachbarn „neue Ängste“ vor einem „groß- sei davon 1985 bei Gorbatschows Machtantritt nichts zu deutschen Nationalstaat“ wecken könnte. Zudem seien spüren gewesen.54 Erst ab 1986 galt Gorbatschow im Westen Auschwitz und die Millionen Toten des Zweiten Weltkrie- aufgrund seiner Abrüstungsbemühungen als Hoffnungsträ- ges „nicht vergessen“.48 ger.Innenpolitisch sah er sich dagegen als Erneuerer des Leninismus. WasGorbatschow genau darunter verstand, Internationale und nationale Faktoren des bliebjedoch offen.55 Gorbatschow verfügte 1985 über kein Deutschen Herbstes 1989 Programm, was ihm allerdings im Gegenzug ermöglichte, Korrekturen an seiner Politikvornehmen zu können,ohne Der Gorbatschow-Faktor49 dabei sein Gesicht zu verlieren.56 Gorbatschowdiagnostizierte der Sowjetunioneine „Am Anfang war Gorbatschow.“ 50 Mit dieser These er- schwere wirtschaftliche Krise, die er mit Reformen zu the- öffnet AndreasRödder seine „Geschichte der Wieder- rapieren gedachte. Er wollte mit diesen den Kommunismus vereinigung“.Gorbatschows Politikhabe einen „unge- verbessern, keineswegs das System auflösen. Der KPdSU- planten Prozess“ in Gang gesetzt, an deren Ende die Führer war also kein marktwirtschaftlich orientierterDe- deutsche Einheit möglich wurde.51 Auch der Kölner mokrat, in erster Linie könnteman ihn nach Rödder als Politikwissenschaftler und Sowjetunion-Experte, Fred „reformkommunistischen Idealisten“ bezeichnen. 57 S. Oldenburg, sieht in Gorbatschow einen, wenn nicht Fürseine ReformpolitikimInneren suchte er Ent- den Hauptfaktorfür die Ereignisse,die im Jahr 1990 die lastungimÄußeren.Umdie internen Wirtschaftsprobleme deutsche Wiedervereinigung ermöglichten. So hätten seines Landes zu therapieren, wollte Gorbatschowdie Sow- die „Aufgabe des Klassenkampfparadigmas“ und Gor- jetunion aus dem kräftezehrenden internationalen (Rüs- batschows „Akzeptanz ‚allgemein-menschlicher‘ Werte“ tungs-)Wettbewerb befreien. Dieser „doppelte Kurs“ zu bedeutenden Konsequenzengeführt. Ein ebenso (Martin Malia) bedeutete aber keinesfallsden Verzicht auf wichtiger Schritt war demnach der Verzicht auf das den Supermacht-Status. Die Wirtschaftsreformen im Inne- Lenin sche außenpolitische Dogma der Weltrevolu- ren waren nachgerade die wichtigste Voraussetzung, um tion. 52 auch zukünftig Weltmacht zu sein.58

46 Die Grünen im Bundestag, Wider die Mauern auch in den Köpfen, Bonn [1986]. 47 Ebd. 48 Ebd. 49 In Anlehnung an den Buchtitel von Archie Brown, Der Gorbatschow-Faktor.Wandeleiner Weltmacht, Frankfurt/M. –Leipzig 2000. 50 Rödder (wie Anm. 3), S. 15. 51 Vgl. ebd. 52 Vgl. Fred S. Oldenburg, Internationale Theorieund das Ende des Kalten Krieges, in: Heiner Timmermann (Hg.), Historische Erinnerung im Wandel. Neue Forschungen zur Zeitgeschichte, Münster 2006, S. 510-535, hier S. 513. 53 Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, Bonn 2009, S. 24. 54 Vgl. ebd., S. 25–26. 55 Vgl. ebd., S. 30. 56 Vgl. ebd., S. 32. 57 Vgl. Rödder (wie Anm. 3), S. 16. 58 Vgl. Martin Malia, Vollstreckter Wahn. Rußland 1917–1991, Berlin 1998, S. 478.

Einsichten und Perspektiven 3|09 187 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

Michail Gorbatschow in Bonn beim „Bad in der Menge“, rechts von ihm der Oberbürgermeister von Bonn, Hans Daniels, Raissa Gor- batschowa und der sowjetische Außenminister EduardSchewardnadse –Juni 1989

Innenpolitisch wollte Gorbatschow einen Neuanfang ver- Außenpolitik war die Erkenntnis, dass ein Atomkrieg we- suchen, der unter dem Namen „ Perestroika“(deutsch soviel der durchführbar noch gewinnbar sei.61 Folge war eine „Po- wie ‚Umbau‘, ‚Umstrukturierung‘) Geschichte machte. Im litik des Widerrufs“,62 zu deren Maßnahmen insbesondere April 1985, kurz nach dem April-Plenumder KPdSU, der sowjetische Abzug aus ab 1988 zählte. tauchte dieser Begriff erstmals auf. Mit diesem sollte die Auch das sowjetisch-amerikanische INF-Abkommen vom geplante radikale –später revolutionäre –Umwandlung der Winter 1987 zählt zu diesen Bemühungen, sich durch au- Institutionenund der innerenEinstellungender Sow- ßenpolitische Entlastung Luft für die innenpolitische Er- jetbürger bezeichnet werden.59 Nachdem aber die durchge- neuerung zu verschaffen.ImDezember 1988 sprach Gor- führten Wirtschaftsreformen wenig Erfolg zeitigten und ein batschow vor den Vereinten Nationen von einer „Entideo- umfangreicher Kaderaustausch ebenfalls nicht die ge- logisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen“, was fak- wünschte Reformdynamik entfachte, erfand Gorbatschow tisch die Beendigung des Kalten Krieges bedeutete.63 Mit 1986 mit „ Glasnost“(‚Offenheit‘,‚Transparenz‘) eine Un- dieser Rede gab Gorbatschow den ideologischen Stand- terform der Perestroika. Nun durfteinder Sowjetunion punkt des Klassenkampfes auf, der eine zentrale Säule der erstmals über „weiße Flecken“ in der Geschichte debattiert sowjetischen Herrschaft gewesen war. 64 werden, wie etwa den Stalinismus.60 Auch in der Außenpolitiksetzte Gorbatschow Intern äußerte Gorbatschow im Sommer 1989,dass, neue Maßstäbe. Das Fundament des neuen Denkens in der wenn der europäische Annäherungsprozess weiter er-

59 Vgl. ebd.,S.484. 60 Vgl.ebd., S. 488–490. 61 Vgl. ebd.,S.482. 62 Ebd., S. 483. 63 Vgl. Rödder (wie Anm. 3), S. 18. 64 Vgl. Malia (wie Anm. 58), S. 483.

188 Einsichten und Perspektiven 3|09 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

liner im Politbüro gezählt werden, sondernauch die unter seiner Ägide freigelassenen Radikalreformer wie beispiels- weise Andrej Sacharow.Diesen waren die Vorstellungen Gorbatschows einer „Zivilgesellschaft“ nicht weitgehend genug realisiert worden.68 Für Osteuropa hatte Gorbatschow eine Politik im Sinn, die zu einer Liberalisierung führen sollte.Dazusollte jedes Bruderland seinen eigenen Wegzueiner Perestroika im eigenen Lande gehen. Keineswegs hätten aber die Terri- torialgewinne aus dem Zweiten Weltkrieg aufgegeben wer- den dürfen; ebenso wenig war eine Auflösung des War- schauer Paktes intendiert. Unter dem Druck der Ereignisse im Herbst 1989 verlor Gorbatschowjedoch die Kontrolle über den von ihm in Gang gesetzten Prozess, an deren Ende Michail Gorbatschow,Generalsekretär der KPdSU, spricht im eine „unbeabsichtigte Revolution“(Martin Malia) stand.69 Kreml zum Jahrestag der Oktoberrevolution–02.11.1987. Für die Sowjetunion schien also im Herbstdie Gewaltan- wendung das letzte Mittel, um ihren Herrschaftsbereich zu retten. Dass dagegen gerade Gewaltverzicht geübt worden folgreich verlaufe, sich eines Tages die Frage nach der ist, könnte man mit Andreas Rödder auch als das „eigentli- Wiedervereinigung Deutschlands stellen könne. Jedoch che Mirakel des Jahres1989“ bezeichnen. 70 sei dies zu diesem Zeitpunkt noch kein Thema. Offiziell betonte er die Zweistaatlichkeit Deutschlands, hielt DieDDR-Oppositionsbewegung in denachtziger somit am Status quo fest. Bis in den November 1989 Jahren unddas Ende derSED-Diktatur glaubte er an den Erfolg der sowjetischen Umgestal- tung, wie er dem neu gewählten SED-Generalsekretär, „DieMauer wirdnoch50oder100 Jahre stehen,solange Egon Krenz, gegenüber bekannte.65 wie die Bedingungen noch existieren, die zu ihrer Er- richtung geführt haben.“71 Diese Feststellung in einer Die Fragilität der von der Sowjetunion ausgehenden Re- von SED-Generalsekretär und DDR-Staatsratsvorsit- formprozesse, die auf das Engste mit der Person Gorba- zenden Erich Honecker zu Beginn des Jahres 1989 tschows verbundenwaren, lassen für den britischen Histo- gehaltenen Rede verhieß für das anbrechende neue Jahr riker Archie Brown den Schluss zu, dass sich bei einem Kontinuität. Implizit enthielt sie auch die SED-interne Sturz Gorbatschows der Reformprozess nicht beschleunigt, Losung bezüglich einer Wiedervereinigung Deutsch- sondern –imGegenteil –umgekehrt hätte.66 Ebenso irrig ist lands. Diese sollte –wenn überhaupt –nur unter für Brown die Annahme einer Unvermeidlichkeit eines sozialistischen Vorzeichen und mit dem Produkt Wandels in der Sowjetunion ab Mitte der achtziger Jahre. eines sozialistischen Gesamtdeutschlands erfolgen. Gerade autoritäre und totalitäre Regime hätten vielfältige Die Geschichte verlief bekanntlich anders. Möglichkeiten, die Opposition zu unterdrücken,und seien in der Lage, einige Jahre der wirtschaftlichen Depression zu Waswar die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands überstehen. Hätte Gorbatschows Vorgänger im Amt des (SED) im Jahre 1989? Einerseits war die Partei keine Partei, Generalsekretärs, Konstantin Tschernenko, bei besserer sondern eine Glaubensgemeinschaft. Die Mitglieder glaub- Gesundheit länger gelebt, hätte es demnach keine Reformen ten getreu Marx und Engels an die Gesetzmäßigkeiten der in der Sowjetunion gegeben.67 Zu den innenpolitischen geschichtlichen Entwicklung, die in das menschliche Para- Gegnern Gorbatschowsmüssen aber nicht nur die Hard- dies des Kommunismus führen würde. Andererseits war die

65 Vgl. Rödder (wie Anm. 3), S. 19. 66 Vgl. Brown(wie Anm. 49), S. 201. 67 Vgl. Archie Brown, Aufstieg und Fall des Kommunismus, Berlin 2009,S.648–649. 68 Vgl. BerndStöver,Der KalteKrieg1947–1991. Geschichte einesradikalenZeitalters, Bonn 2007,S.439. 69 Vgl. Malia(wie Anm. 58), S. 528. 70 Vgl. Rödder (wie Anm. 3), S. 60. 71 ErichHonecker in einerRede am 19.1.89, abgedruckt in NeuesDeutschland v. 20. 1. 1989, zit. n. Erhart Neubert: Unserer Revolution.Die Geschichte der Jahre 1989/90, München 2008, S. 25. Honecker bezeichnete die Bundesrepublik 1972 als „imperialistisches Ausland“ und ließ 1974 aus der Verfassung seiner Arbeiter-und Bauernrepublik den Deutschlandbezug streichen. Vgl. ebd.

Einsichten und Perspektiven 3|09 189 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

Bild oben: Nicht genehmigte Demonstration am Alexanderplatz gegen den Wahlbetrug bei den Kommunalwahlen vom 07.05.1989 und für demokratischeReformen am Tagder Feier des 40. Jahrestages der Gründung der DDR –07.10.1989 Bild unten: In der überfüllten Erlöser-Kirche solidarisierten sich die Musiker der Rock- und Pop-Elite der DDR offen mit der Opposi- tion. Über 3.000 Besucher hörten bei dem Konzert gegen Gewalt unter anderem die Girlgroup Mona Lisa sowie die Bands Pankow und Silly.Lehrer forderten während der Informationsveranstaltung eine Neuausrichtung der Erziehung.

190 Einsichten und Perspektiven 3|09 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

SED in den achtziger Jahren auch eine „Gemeinschaft der Verzweifelten“ (Kowalczuk), in der von den Mitgliedern von der jeweiligen Führungsebene unbedingter Parteige- horsam verlangt wurde und eine strenge Parteidisziplin galt. Ebenso war die SED für viele ihrer 2,3 Millionen Mitglieder eine Karriereschleuse, da ihnen ohne Parteibuch viele Pos- ten in der Republik verschlossen blieben.72 Jedoch gärte es bereitsseit Ende der siebziger Jahre im SED-Staat. In kirchlichen Kreisen bildete sich die unab- hängige Friedensbewegung heraus. Diese oppositionellen Kreise, deren Höhepunkt 1983/84 erreicht war,beschäftig- ten sich mit Themen wie innerem und äußerem Frieden, Umweltschutz sowie den allgemeinen Menschenrechten. 1985 wurde die bekannteste DDR-Oppositionsgruppe,die Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM), gegründet. Initiatoren waren u.a. Wolfgang Templin, Ulrike Poppe, Reinhard Weißhuhn und Bärbel Bohley.Diese Friedens- gruppe definierte sich von Beginn an als kirchenunabhängig und orientierte sich in ihren Strukturen an der tschechoslo- wakischen Oppositionsgruppe Charta 77. Ihre Hauptlo- sung war,dass es ohne inneren Frieden auch keinen äuße- ren geben könne.Mittelsihres Organs „Grenzfall“, offenen Briefen und ihren Kontakten zu westlichen Medien sowie den westdeutschen Grünen machten sie ihre Anliegen deutschland- und europaweit bekannt. Die Gruppen der unabhängigen Friedensbewegung wurden allesamt von der SED und ihrem Organ, dem Ministerium für Staatssicher- heit (MfS), beobachtet und verfolgt.73 Einen weiteren wichtigen Strang der DDR-Oppo- Bild oben: Die Mitbegründerin des Neuen Forum, Bärbel Bohley, sition bildete die Umweltbewegung, die sich ebenfalls gegen in ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg –15.09.1989 Ende der siebziger Jahre herausbildete. Auch hier bot die Bild unten: Wolfgang Rüddenklau in der Umweltbibliothek in evangelischeKircheRaum. Der Protestder Umweltbewe- der Zionskirche (Prenzlauer Berg). Auf den Stühlensind die im gunggegen die vielfachen Naturzerstörungen in derDDR, Untergrund gedruckten Umweltblätterzusehen –25.06.1987. wie beispielsweise in Bitterfeld, war immer auch ein Protest gegen das politische System. Im September 1986 wurde in könnte. Vonihrem Ablauf hatten sie sich aber keine Ost-Berlin die Umweltbibliothek gegründet, die zu einen Vorstellungen machen können. Voneinigen Akteuren der zentralen Anlaufpunkte für die in der DDR zerstreuten wurde auch die Deutsche Frage thematisiert. Die Lö- oppositionellen Kreise wurde. Die von der Umweltbiblio- sungsvorschläge reichten von der Verbindung von Frei- thek publizierte Zeitschrift, die „Umweltblätter“, war eines heit und Sozialismus(Edelbert Richter) bis hin zur Ab- der bekanntesten Oppositionsorgane. Wichtige Akteure schaffung der DDR (Günter Nooke). Jedoch befand der Umweltbibliothekwaren Wolfgang Rüddenklau und sich die DDR-Opposition bei der Formulierung system- Carlo Jordan. Ebenso wie die unabhängige Friedensbewe- überwindender Ziele in einem fast unauflösbaren gung beobachtete die Staatssicherheit auch die Umweltbe- Dilemma angesichts ihrer gleichzeitigen Rolle als wegung intensiv und versuchtediesezuzerschlagen.74 systemimmanente Kraft.75

Im Sommer 1989 warensich die meisten DDR-Opposi- Als weitere wichtige Station auf dem Weginden revolutio- tionellenbewusst, dass es zu Veränderungen kommen nären deutschen Herbst können das Verbot der sowjeti-

72 Vgl. Kowalczuk (wie Anm. 53), S. 38–39. 73 Vgl. ebd.,S.234–236. 74 Vgl. ebd.,S.238–240. 75 Vgl. Neubert (wie Anm. 71), S. 50–51.

Einsichten und Perspektiven 3|09 191 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

Unbeeindruckt von Massen- fluchtund dem Ruf nach Re- formen ziehen Partei- und Staatsführung der DDR die Feierlichkeiten zum 40. Jah- restag der Staatsgründung durch. Nach der Ehrenparade der Nationalen Volksarmee (NVA) kam es in der Stadt zwischen Jugendlichenund Sicherheitskräften zu Range- leien. Foto (v.l.n.r.): Wojciech Jaruzelski (Polen), Milos Jakes (Cˇ SSR), Michail Gorba- tschow,Erich Honecker (SED), Verteidigungsminister Heinz Kessler (SED) beim Vorbeimarsch –07.10.1989.

schen Zeitschrift „Sputnik“ in der DDR im November1988 Zudem waren westliche Massenmedien im Lande, von sowie die gefälschten Kommunalwahlen vom Mai 1989 ge- denen Honecker annehmen musste, dass ihre Bilder von wertet werden.76 Die DDR-Opposition konstituiertesich einem gewaltsamen Niederringen der Herbstdemons- mit ihrenHauptgruppen im aufziehenden Herbst 1989, trationen auf den Straßen von Leipzig und anderswo – dem Neuen Forum, Demokratie Jetzt und später dem De- übertragen in die ganze Welt –zueinem raschen finan- mokratischenAufbruch, neu. Die am 7. Oktober 1989 in ziellen Bankrott der Republik führenwürden.Hinzu Schwante gegründete Sozialdemokratische Partei (SDP) kamen Versorgungsschwierigkeiten, Verschuldung und verstand sich dagegen ausdrücklichals politische Partei.77 eine stärker werdende allgemeine Unzufriedenheit. Im Wastat die kommunistische Geheimpolizei, das Verbund mit den Flüchtlingsströmen in die bundes- Ministerium für Staatssicherheit, um die SED-Herrschaft deutschen Botschaften in Osteuropa und Ost-Berlin zu retten? Trotz ihrer zutreffenden Lageanalysen konnte sowie einer entschlossenen Opposition waren die das MfS sein grundsätzliches Unverständnis gegenüber den „Drohpotentiale des Regimes unterhalb der Schwelle oppositionellen Gruppen nicht ablegen. Obwohlselbst mit gewaltsamer Unterdrückung offenkundig erschöpft“.79 zahlreichen inoffiziellen Mitarbeitern in der Opposition mit am Tisch sitzend, wirkten die Mitarbeiter –umnicht aufzu- Die Aktualität des Wiedervereinigungs- fallen–eher am Untergang der DDR mit, anstatt ihn zu ver- gedankens in der Bundesrepublik hindern.78 Zusätzlich zu den oben genannten Faktoren bildete die Wasführte nun zum Untergang der SED-Diktatur? öffentlicheMeinung in Westdeutschland, in der der Gedan- Zutreffend könnte man mit Andreas Rödder von einer ke an die Einheitein aktualisierbares Thema geblieben war, „spezifischen Konstellation“ im Herbst 1989 sprechen, einen weiteren wichtigen (nationalen) Faktor im deutschen in der sich strukturelle und aktuelle Faktoren zu einer Herbst 1989, der den Prozessder Wiedervereinigung flan- Melange verbanden, die letztlich die kommunistische kierte.80 Herrschaft in Ostdeutschland untergrub. Anders als beim Volksaufstand im Juni 1953 kamen der SED im Betrachtet man die Haltung der bundesdeutschen Be- Herbst 1989 nicht die sowjetischen Truppen zu Hilfe. völkerung in den achtziger Jahren zu einer möglichen

76 Vgl. Rödder (wie Anm. 3), S. 64–65. 77 Vgl.ebd., S. 66–70. 78 Vgl.ebd., S. 82. 79 Ebd., S. 83. 80 Vgl. Tilman Mayer,Warum es zur Wiedervereinigungschance kam, in: Karl Eckart/Jens Hacker/Siegfried Mampel (Hg.), Wiedervereinigung Deutschlands, Berlin 1998, S. 233–241, hier S. 233.

192 Einsichten und Perspektiven 3|09 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

„Montags-Demonstration“ in der Leipziger Innenstadt: Kundgebungsteilnehmer fordern mit einem Transparent die deutsche Einheit.

Wiedervereinigung, fallen zunächst die hohen Zustim- Ebenso glaubten von den Anhängern der Unionspar- mungsraten zur Präambel des Grundgesetzes auf, in teien 62 Prozent, gefolgt von 53 Prozent der FDP- der das Ziel der Wiedererlangung der deutschen Einheit Anhänger an die Möglichkeit einer Wiedervereinigung. festgelegt war.Die zeitweilig im linken politischen Die Anhänger von SPD und Grünenhieltendiese mit Spektrum erhobene Forderung nach einer Streichung jeweils 45 und 32 Prozent für deutlich unwahrscheinli- des Wiedervereinigungsgebotes aus der Präambel fand cher. 82 keine Mehrheit in der öffentlichenMeinung. Im Gegen- teil: Für nahezu drei von vier befragten Westdeutschen Der Gedanke an diedeutscheEinheit warder westdeut- sollte in den siebziger und achtziger Jahren die Präam- schen Bevölkerung –selbst bei den Anhängern von SPD bel nicht geändert werden.81 Mit der gleichen Tendenz und Grünen –inden achtziger Jahren also keineswegs völ- wurde die Offenheit der Deutschen Frage befürwortet. lig fremd. Wiestand es jedoch kurz vor dem Mauerfall, im Für eine Mehrheit in der westdeutschen Bevölkerung Sommer 1989, in der Bundespolitik um dieses Thema? Der war diese 1989 offen (51 ProzentZustimmung). Jedoch Kieler Juraprofessor und Publizist Wolfgang Seiffert wies lassen sich hier Abstufungen nach Alter und Parteiprä- schon im August 1989 in der F.A.Z. auf eine „Krise der ferenz feststellen. So war die Zustimmung zur Offen- Deutschlandpolitik“ hin. Angesichts der Ausreisebewe- heit der Deutschen Frage beispielsweise bei der Alters- gung und den Botschaftsflüchtlingen in den osteuropäi- gruppe 60 Jahre und älter mit 63 Prozent am höchsten. schen bundesdeutschen Botschaften in Osteuropa kam er

81 Vgl. Noelle-Neumann (wie Anm. 4), S. 20. 82 Vgl. ebd. S. 66.

Einsichten und Perspektiven 3|09 193 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

Bundesgebiet mit West-Berlin, Bevölkerung ab 16 Jahren

Frage: „Hier steht ein Satz aus dem Grundgesetz –wenn Sie ihn bitte einmal lesen: Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert,infreier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. –Was meinen Sie: Soll dieser Satz auch weiterhin im Grundgesetz stehen, oder finden Sie, er sollte gestrichen werden?“

April Jan. Jan. Mai Juni Okt./Nov. März Dez. Juni Dez./Jan.

1973 1976 1978 1979 1982 1983 1985 1985 1988 88/89

% % % % % % % % % % Sollte weiterhin im Grund- 73 72 75 76 77 79 72 69 69 75 gesetz stehen… Sollte gestrichen 11 12 11 10 9 7 13 12 16 12 werden… Unentschieden… 16 16 14 14 14 14 15 19 15 13 100 100 100 100 100 100 100 100 100 100

Quelle:AllensbacherArchiv, IfD-Umfragen 2093,3023, 3052,3079, 4010,4034, 4055,4066, 5007,5014 Zit.n.Elisabeth Noelle-Neumann: DemoskopischeGeschichtsstunde: S. 20

Frankreich, Großbritannien Bevölkerung ab 15 Jahren, USA Bevölkerung ab 18 Jahren. Die Ansichten der Franzosen, Engländer und Amerikaner 1984

Deutschland: besser geteilt oder wiedervereinigt? Frage: „Deutschland ist ja geteilt in die Bundesrepublik und die DDR. Darüber,obesfür den Frieden in der Welt besser ist, wenn Deutschland geteilt bleibt oder wiedervereinigt wird, gibt es verschiedene Meinungen. Welcher dieser beiden Meinungen würden Sie eher zustimmen?“ (Vorlage einer Liste)

Frankreich 1984 Großbritannien USA % % % „Wenn ein Land gegen seinen Willen geteilt ist, entstehen dort besonders leicht Spannungen. Deshalb wäre für den Frieden in der Welt ein wiedervereinigtes Deutschland besser“… 43 51 54 „Ein wiedervereinigtes Deutschland wäre zu stark und könnte das internationale Kräftegleichgewicht stören. Für den Frieden der Welt ist daher ein geteiltes Deutschland besser“… 25 26 31 Unentschieden… 32 23 15 100 100 100 n= 2000 1889 1255

Quelle:Institut für DemoskopieAllensbach: Das Ansehender Deutschen.EineRepräsentativbefragunginden Vereinigten Staa- ten, Großbritannien und Frankreich im Auftrag des STERN. Allensbacher Archiv,IfD-Bericht 2970/I, Tabelle 7. Die Umfragen wurden durchgeführt von den folgenden Institutionen: Institut Français des Demoscopie, Paris, NOP Market Research Ltd., Lon- don, Louis Harris and Ass., Inc., New York Zit. n. Elisabeth Noelle-Neumann: Demoskopische Geschichtsstunde: S. 63

194 Einsichten und Perspektiven 3|09 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

Bundesrepublik mit West-Berlin, Bevölkerung ab 16 Jahren

Frage: „Wie ist Ihre Meinung: Ist die deutsche Frage noch offen, oder ist sie nicht mehr offen?“

Bevölkerung Pers. der folgenden Altersgruppen: insgesamt % 16-29Jahre % 30-44 Jahre % 45-50 Jahre % 60 Jahre und älter % Noch offen… 51 37 43 60 63 Nicht mehr offen… 24 31 35 16 15 Unmöglich zu sagen… 25 32 22 24 22 100 100 100 100 100 n= 1081 300 253 260 268

Bevölkerung Anhänger der – insgesamt % CDU/CSU% SPD% FDP % Grünen % Noch offen… 51 62 45 53 32 Nicht mehr offen… 24 16 27 31 42 Unmöglich zu sagen… 25 22 28 16 26 100 100 100 100 100 n= 1081 395 472 64 99

Quelle:AllensbacherArchiv, IfD-Umfrage5014, Januar 1989 Zit.n.Elisabeth Noelle-Neumann: DemoskopischeGeschichtsstunde, S. 66

zu dem Schluss, dass deutschlandpolitisch „hier nicht lang- Kohl das Diktum Gorbatschows, wollte dessen Befürch- fristige, sondern mittelfristige, vielleicht sogar schnelle Lö- tungen nichtweitere Nahrung gebenund verhielt sich des- sungen notwendig sind“. Schließlich fügte Seiffert –noch halb in deutschlandpolitischen Fragen zurückhaltend.85 deutlicher –an: „Dies heißt auch Abschied zu nehmenvon Kohl jedenfalls setzte bis in den Oktober 1989 seine „beru- völkerrechtlichen Lösungen (Konföderation) und statt des- higende Sprache des pragmatischen Miteinanders und der sen auf staatsrechtlichezuorientieren.“83 gegenseitigen Anerkennung“86 in den Beziehungen zur DDR fort. Intern und bei nicht-offiziellen Anlässen jedoch Das Ende der SED-Diktatur im Herbst 1989 wurde von den Kabinettsmitgliedern eine andere Tonart und die westdeutschenParteien angestimmt. So betonten sie die normativen Aspekte in der Deutschlandpolitik stärker,mit der sie die DDR rhetorisch Die unionsgeführte Bundesregierung Kohl betonte hinge- stärkerunter Druck zu setzen versuchten.87 Beispielsweise gen im Sommer 1989, sie sei „nicht an einer Destabilisierung äußerte Kanzleramtsminister Rudolf Seiters gegenüber dem der DDR interessiert“.84 Wiekommt es zu dieser –schein- ungarischen Botschafter István Horváth, die Debatte um baren –Diskrepanz zwischen der öffentlichen Meinung und Stabilisierung bzw.Destabilisierung sei „zum großen Teil der deutschlandpolitischen Semantik der Bundesregierung? theoretisch“.88 Zum einen wurde Kohl von Gorbatschow davor gewarnt, Ende Oktober 1989 warnteder stellvertretende Einfluss auf die sich abzeichnendenVeränderungen im so- FDP-BundesvorsitzendeGerhart Baum vor einer Einmi- zialistischen Lager zu nehmen. Zum anderen akzeptierte schung in den sich abzeichnenden Reformprozess in der

83 Wolfgang Seiffert, Eine Perspektive statt kleiner Schritte. Die Krise der DDR ist auch eine Krise der Deutschlandpolitik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26. August 1989, S. 5. 84 Gespräch des Bundeskanzlers Kohl mit Generalsekretär Gorbatschow,Bonn, 12. Juni 1989, in: Deutsche Einheit, Sondereditionaus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bear.v.Hanns Jürgen Küsters, München 1998, Nr.2,zit. nach Andreas Wirsching (wie Anm, 6), S. 639. 85 Vgl. ebd., S. 639. 86 Ebd., S. 640. 87 Vgl. ebd. 88 Gespräch des Bundesminister Seiters mit Botschafter Horváth, Bonn, 19.9.1989, in: Deutsche Einheit, Sondereditionaus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90, bearb. v. Hanns Jürgen Küsters, München 1998, Nr.41, S. 407, zit. n. Wirsching (wie Anm. 6), S. 641.

Einsichten und Perspektiven 3|09 195 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

Die DDR öffnet die Grenzen für ihre Bürger zur BRD und Berlin-West: Kundgebung mit Politikern aller Parteien vor dem Rathaus Schöneberg: (V.l.) Willy Brandt, Hans- Dietrich Genscher (halb ver- deckt), Walter Momper,Ing- rid Stahmer,Helmut Kohl am Rednerpult, Theo Waigel und Jürgen Wohlrabe –10.11.1989

DDR. Der Fraktionsvorsitzende der Liberalen im Bundes- überholter denn je“ und sah im Gefolge des von ihr positiv tag, Wolfgang Mischnik, äußerte noch kurz vor dem Mauer- bewerteten Umsturzes in Ostdeutschland eine „DDR- fall, dass er in Egon Krenz nicht unbedingt einen Über- Identität“ im Entstehen begriffen.91 Die Grünen waren in gangskandidaten sehe. Bei aller Bereitschaft zur praktischen der Revolutionszeitaber nicht alle für den Fortbestand der Hilfestellungsolltesich die Bundesrepublik nicht als deutschen Zweistaatlichkeit.Einige Mitglieder der Alterna- „Oberlehreraufspielen“.89 tiven Liste Berlin erkannten schon im September 1989: „Die Im Herbst 1989 verließ die SPD den Kurs ihrer Welt ist in Bewegung. […] Die Teilung Deutschlands als ‚Nebenaußenpolitik‘. In der deutschlandpolitischen Dis- Folge der Blockkonfrontation verliert ihren Sinn.“92 kussion im SPD-Präsidium am 6. November 1989, also drei Werwar aber schließlich für den Mauerfall verant- Tage vor dem Mauerfall, zählte neben Anke Fuchs und wortlich, der neben dem Nichteingreifen der Sicherheits- Hans-Ulrich Klose der nordrhein-westfälische Minister- truppen bei der Leipziger Montagsdemonstration am 7. präsident Johannes Rau zu den stärksten Befürwortern Oktober 1989 den Rahmenfür den deutschen Herbst1989 einer sozialdemokratischen Wiedervereinigungspolitik. bildete? Waresder neue SED-Generalsekretär Egon Krenz, Rau wollte sich die Begriffe „Wiedervereinigung“ und der die Schlagbäumeander innerdeutschen Grenzeinder „Einheit“ nicht von den anderen politischen Kräften „weg- Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 öffnenließ? Für nehmen lassen“. Gegen Rau sprach der saarländische Minis- den Bürgerrechtler Erhart Neubert steht jedenfalls fest: terpräsident Oskar Lafontaine, der die Herstellung eines „Diewestliche Politikhatte daran keinen Anteil.“93 Fürihn einheitlichen deutschen Nationalstaates ausdrücklichnicht lässt sichder Vorgang am ehesten mit der aktiven Rolle der für ein sozialdemokratisches Ziel hielt.90 West- und Ostberliner Bevölkerung erklären. Informiert Noch einen Tagvor dem Mauerfall, am 8. Novem- durchdie westlichen Medien, die die Kommunikationspan- ber 1989, hielt die BundestagsabgeordneteAntje Vollmer ne Günter Schabowskis zuspitzten, fanden sich die Berliner bei der Debatte um Helmut Kohls „Bericht zur Lage der mit einemMassenansturmanden nun durchlässig gewor- Nation“ am grünen Konzept der deutschen Zweistaatlich- denen Grenzen ein.94 keit fest. Sie hielt die Wiedervereinigung für „historisch

89 Vgl.Schmidt(wieAnm.28),S.182. 90 Sturm (wie Anm. 19), S. 205–206. 91 Antje Vollmer,Rede zur Erklärung der Bundesregierung: „Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland“ vom 8. November 1989, in: Jaerisch/Weber (wie Anm. 41), S. 93–97, hier S. 94–95. 92 Wirwollen eine deutsche demokratische Republik, Erklärung für eine alternative Deutschlandpolitik von Mitgliedern der AL Berlin im September 1989, in: Archiv Grünes Gedächtnis, B.II.1,Akte 2085. 93 Neubert(wie Anm. 71), S. 225. 94 Vgl.ebd., S. 225–226.

196 Einsichten und Perspektiven 3|09 Warten auf die Wiedervereinigung? Die westdeutschen Parteien und die Deutsche Frage in den achtziger Jahren

MaueröffnungamBrandenburger Tor. Helmut Kohl, Hans Modrow,WalterMomper sowie Hans-Dietrich Genscher bei der Eröffnung des neuen Übergangs –22.12.1989

Erhart Neuberts wenig schmeichelhaftes Urteil über die renden Antikommunismus in der westlichen Welt. Dieser westdeutschen Aktivitäten zur Lösung der Deutschen hat –inForm von Schweigen und Stillhalten –mit dazu bei- Frage vor dem Herbst 1989 kann anhand der hier vor- getragen, eine drohende EntmachtungGorbatschows in der gelegten Analyseergebnisse der Deutschlandpolitik der Sowjetunion zu verhindern.96 Bundestagsparteien nur bestätigt werden. Allerdings besteht noch erheblicher Aufarbeitungsbedarf, was die Um abschließend die eingangs gestellte Frage aufzu- Positionen auf westdeutscher Seite betrifft.95 greifen, lässtsich feststellen, dass de factoalle relevan- ten westdeutschenpolitischen Kräfte auf dem Wegzur Warum ergab sich nun die Chance für die Wiedervereini- deutschen Einheit im „Wartesaal der Geschichte“ in den gung? Für den Bonner Politikwissenschaftler Tilman May- achtziger Jahrenihren Platz gefunden hatten.Allenfalls er bestand sie aus einem Zusammenspiel der beiden Fakto- die Unionsparteien und ihre Anhänger warenim ren „Gorbatschow“ und einem „latente[n]Wiedervereini- Herbst 1989 letztlich etwas dichter am Ausgang plat- gungswunsch in derwestdeutschen Bevölkerung“, zu dem ziert, der zur Weiterreise des Zuges der Geschichte noch ein dritter hinzutrat: der Verzicht auf einen triumphie- führte.❙

95 Der Verfasser arbeitet derzeit an einer Studie über die Befürworter einer aktiven Wiedervereinigungspolitik in Westdeutschland in Wissenschaft und Politik zwischen 1972 und 1989. 96 Vgl. Mayer (wie Anm. 80), S. 237. Auch Archie Brown beurteilt die Gefahr eines Putsches der Gegner Gorbatschows in seiner gesamten Amtszeit als sehr wahrscheinlich: „Diejenigen, die es im August 1991 für geboten hielten, Gorbatschow die Macht zu entreißen undihn zum Auftakt der Errichtung eines neuen, höchst autoritären Regimes unter Hausarrest stellten, hätten nur schwerlich gezögert, seine Politik schonfrüher zu hintertreiben, wenn sich eine Gelegenheit geboten hätte.“ Vgl. dazu Archie Brown(wie Anm. 49), S. 43.

Einsichten und Perspektiven 3|09 197 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam Zwischen Gestern und Heute

Ein Reisebericht aus Vietnam

VonJörg Zedler

Alle nicht anderweitiggekennzeichnetenAbbildungen: Jörg Zedler

198 Einsichten und Perspektiven 3|09 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

„Warum denn ausgerechnet Vietnam?“, war die übliche Reaktion auf die Verkündung meines Reiseziels. Und aus der Dehnung der letzten Silbeließ sich nie so rechtentneh- men, ob darinUnkenntnis über geschichtsträchtige Länder oder die Skepsis bezüglich des Erholungswerts überwog. Vermutlich aber gefiel sich mein Gegenüber einfach in seiner privaten Adrian-Cronauer-Attitüde.

Zugegeben, ich freute mich auf vier Wochen Südostasien, mord begangen als in Vietnam fielen3 –dürfen als gut die Menschen, die Küste, die fremde Landschaft und die erforscht gelten. Hingegen tappt man hinsichtlich der neue Kultur; aber dass ich meine Augen vor der jüngeren gesellschaftlichen Folgen für die ehemalige französische vietnamesischen Geschichte nicht verschließen wollte, ging Kolonie weitgehend im Dunkeln. Wieaber geht ein wohl schon aus dem Umstand hervor,dass ich im Vorfeld Land mit dem Erbe eines dreißigjährigen Krieges um? Interviews mit den Museumsdirektoren in Dien Bien Phu und Saigon –pardon: Stadt –vereinbart hatte. Waren es im französischen Krieg 800.000 Tote, die das Land Der Leser soll auf diese zweigeteilte Reise mitge- verkraften musste,soimzweiten eine Million tote Soldaten, nommen werden. In einem ersten Teil wird das Land por- je zwei Millionen tote Zivilisten und Verstümmelte, 300.000 trätiert, wie es sich dem interessierten Besucher darstellt: Vermisste, 900.000 Waisen, eine Million Witwen. 200.000 mit den Problemen, die sich ihm erschließen,wenn er die Frauen waren im Verlauf der Kriegsjahre zur Prostitution Augen offen hält; aber auch mit dem Bewusstsein, dass ihm gezwungen worden. Noch nicht mitgerechnet sind dabei vieles entgeht –mangels Wissen, Sprachkenntnis oder weil die entsprechenden Zahlen für den Norden, weil diese noch die Regierung es nicht zeigen möchte. immer unter Verschluss sind. Vermutlich liegen sie weit höher.Die Bombenlast, die der Staat, der geographisch Vietnam ist trotz ökonomischer Öffnung noch immer nicht ganz so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland, eine politische Diktatur.Schon auf dieser Reise werden im zweiten Vietnamkrieg von Seiten der USA traf, war vier- die Wunden der jüngsten Vergangenheit offenkundig. mal so hoch wie diejenige auf Deutschland während des ge- Die beiden Kriege Frankreichs (1945–1954) und der Ver- samten Zweiten Weltkrieges. Erstmals wurden sogenannte einigten Staaten von Amerika (1963/65–1973) haben das smart bombs,die mit Kameras und Lasertechnologie Land in vielerlei Hinsicht geprägt. ausgestattetwaren, eingesetzt.Esentstanden 20 Millionen Bombenkrater,und 50 Millionen Liter des hochgiftigen Vorallem der zweite Krieg darf heute als intensiv erforscht Agent Orange wurden versprüht, in dessen Gefolge es zu gelten und die Literatur hierzu1 zeigt, dass es dabei längst massiven Umweltproblemen, einer hohen Zahl an Krebsfäl- nichtmehr um ein amerikanisches Phänomen alleine geht, len und Missgeburten kam.4 Die Wirtschaft lag 1975 brach sondern dass der Krieg zu einem „ global event“ 2 wurde, und wurde infolge einer Massenflucht vor allem gut ausge- dessen weltweite Implikationen nach und nach erforscht bildeter Vietnamesen („boat people “) weiter geschwächt. werden. Bob Dylans „ The Times They Are A-Changing“ Die Folgen dieses Krieges treten dem Besucher hat auch die europäische Jugend nachhaltig in ihrem Protest mitunter ganz offenkundigvor Augen;aber es würde inti- beeinflusst. Martin Luther King hat die Bürgerrechts-, me Kenntnis des Landesund seinerEinwohner vorausset- Betty Friedan oder Joan Baez haben die Frauenbewegung in zen, um daraus fundierte Aussagen über deren Rezeption zu das allgemeine Bewusstseingehoben und Herbert Marcuses treffen. Wenn der zweite Teil der Ausführungen dennoch Imperialismuskritik hat im Zuge des Vietnamkrieges welt- versucht, sich dem Thema Geschichtsbewusstseinanzunä- weit gesteigerteAufmerksamkeit erfahren. hern, wird er es über das staatlich verordnete Geschichtsbild tun, wie es Einheimischen und Besuchern in den Museen Auch die Rückwirkungen auf die amerikanische Gesell- entgegentritt und wie es deren Direktoren verstehen. schaft–angeblich haben mehr US-Veteranen Selbst-

1Vgl. hierzu die regelmäßig aktualisierte Bibliographie von Edwin E. Moïse, http://www.clemson.edu/caah/history/FacultyPages/EdMoise/bibliography.html (Stand: 16.8.2009). 2Detlef Junker,Preface, in: ders./Lloyd Gardner /Wilfried Mausbach (Hg.), America, the Vietnam War, and the World. Comparative and internationalPerspectives;Cambridge 2003, S. 1–26, hier S. 1. 3Rolf Steininger,Der Vietnamkrieg; 2 Frankfurt/Main 2006, S. 3. 4Zuden Zahlen vgl. Marc Frey,Geschichte des Vietnamkrieges. Die Tragödie in Asien und das Ende des amerikanischen Traumes; 8 München 2006, S. 222–226, sowie Steininger (wie Anm. 3) S. 2ff.

Einsichten und Perspektiven 3|09 199 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

entschädigte für die anfängliche Enttäuschung. Ihre Größe sieht man der Sechs-Millionen-Kapitale im Zentrum nicht an. Die meisten Menschen leben in den Vor- und Schlafstäd- ten, deren Probleme kaum andere sein dürften als in ver- gleichbaren Metropolen.5 Nur wenige Wochen vor unserer Ankunft, am 1. August2008, war eine Verwaltungsreform durchgeführt worden, die unter anderem die ganze Provinz Hà Tây in der Hauptstadt aufgehen ließ.

Das eigentliche Juwel der Stadt sind nicht die üblichen Touristenattraktionen –die Ein-Pfahl-Pagode, das Was- serpuppentheater,der Literaturtempel –, sondern ist die Altstadt. Doch ihr heutiges Erscheinungsbild ist massiv bedroht. Sie besteht aus 36 Gassen, deren Muster sich bereits im 15. Jahrhundertausgebildethat und in denen sich –ähnlich den europäischenZunftstraßen–Hand- werker auf je spezifische Produkte bzw.Tätigkeiten spezialisiert haben.

Diese Tradition lebte mit der Vereinigung Vietnams 1976 zunächst als Schatten-, in den achtziger Jahren als reguläre Privatwirtschaft wieder auf. Die Straßennamen weisen auf Karte: http://www.welt-atlas.de/datenbank/karten/karte-6-164 diese Tradition hin: „Hang“ bedeutet auf Deutsch „Waren“ und steht den meisten der Gassen voran. Tatsächlich findet man heute in der einen Passage die Seidenfärber,inder näch- Der „aufsteigende Drache“: Hanoi sten die Schmiede, die Kräuterverkäufer,Silberschmiede usf. Die traditionellen Häuser aus harten tropischen Höl- Vietnam empfing uns, wie man es von Südostasien im Sep- zern, die sogar dem Holzwurm trotzten, wichen zwar zwi- tember erwartet,oder besser: Es empfing uns nicht. Der schenzeitlich moderneren Bauten, aber die Handwerker be- Flug über Hongkong nach Hanoi war kurzerhand wegen treiben ihr Geschäft noch immer im Untergeschoss und vor eines Taifuns gestrichen worden. Als wir einen Tagspäter allem vor ihrem sogenannten „Rohrhaus“, das eine nur über Bangkok in Hanoi eintrafen, konnte der Gegensatz schmale Front zur Straße hin aufweist, nach hinten jedoch kaum größer sein. bis zu 100 (!) Metern Tiefe haben kann; es ist dies die typisch chinesische Architektur,die man auch in den Chinatowns Nach dem mondänen Airport in Thailands Hauptstadt von Kuala Lumpur oder Singapur findet. 6 Die Kombination fallen die Militärs und der verblichene sozialistische von Wohn- und Arbeitshaus, von Einzel-, Zwischen- und Charme in Hanoi bereits beim ersten Blick ins Auge. Großhändler ist in der Altstadt erhalten geblieben –anders Das politische Misstrauen gegenüber den wirtschaftlich als die für Europäer übliche Gehfläche für Spaziergänger, so ersehnten Touristen ist mit Händen zu greifen. von der keine Rede mehr sein kann. Dieser Raum wird viel- mehr zur Produktion und zum Handel genutzt: Pavement Das anschließendeFrühstück begann mit einer kulinari- Economy. 7 schen Pleite: Lipton-Tee aus Beuteln statt dem erwarteten frischen grünen Tee; und das bei einem gar nicht übermäßig Die Notwendigkeit, deshalb mit allen anderen Ver- touristisch anmutendem Laden. Einiges schien hier nicht kehrsteilnehmern um die Straße zu konkurrieren, be- zusammenzupassen. Ein erster Spaziergang durch die Stadt trifft keineswegs nur die wandernden Touristen, denn

5Vgl. hierzu Rudolf Marr,Hanoi und Ho Chi Minh Stadt: Der Leidensweg zweier Städte, in: Rita Schneider-Sliva (Hg.), Städte im Umbruch. Die Neustrukturierung von Berlin, Brüssel, Hanoi, Ho Chi Minh Stadt, Hongkong, Jerusalem, Johannesburg, Moskau, St. Petersburg, Sarajewo und Wien, Berlin 2002, S. 287–335, hier S. 314–317. 6Ebd., S. 310. 7Dean Forbes, Asian Metropolis. Urbanisation and the Southeast Asian city,Melbourne 1996, S. 62.

200 Einsichten und Perspektiven 3|09 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Blick in eine Gasse der Altstadt von Hanoi mit 1.900 Menschen pro Hektar ist die Altstadt eines der als Statussymbol zugleich Auskunft über das Einkommen dichtestenbesiedelten Areale Asiens.8 seines Fahrers. Nahezu jeder Vietnamese scheint einen zu besitzen, was die Regierung jüngst dazu veranlasste, die tra- Der Besucher lässt sich in dem unübersehbaren Fluss an ditionellenRikschas aus dem Verkehr zu ziehen. Zu gefähr- Menschen treiben, taucht ein in die lokale Geschäftigkeit, lich wäre es, mit ihnen durch die Straßen der Hauptstadt zu wundert sich über die offenen Metzgereien bei 36 Grad manövrieren. Lediglich die Cyclos („Vornesitzer“) kom- Celsius und 90 Prozent Luftfeuchtigkeit und genießtanden men noch zum Einsatz und auch diese im Wesentlichen für Verkaufsständen alles, was durchgebraten ist. Dazwischen Touristen. Die Kehrseite der Medaille ist eine zunehmende weicht man den Legionen von Mopeds aus oder gliedert sich Luftverschmutzung, die inzwischen auch für die Bausub- in deren Strom ein, wenn man vorwärts kommenwill. Das stanz ein erheblichesProblem darstellt. alles hat mit den mitunter klischeebeladenen Vorstellungen Südostasiens wenig zu tun. Die Ursprünge einer urbanen Siedlung lassen sich bis 330 v. Chr.zurückverfolgen, und bereits im Jahr 1010 Die Globalisierung und der Fortschritt verdrängen die wurde Hanoi zum ersten Mal Hauptstadt des Reichs. lieb gewordenen Bilder Vietnams, wie wir sie aus In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen fran- Marguerite Duras’ „Der Liebhaber“ im Kopf haben. zösische Missionare in nennenswerter Zahl in das süd- Fahrradfahrer sind längst zu einer Minderheit gewor- ostasiatische Land, rasch gefolgt von französischem den. Militär.

An die Stelle des alten Drahtesels ist schon vor Jahren der 1859 nahm Frankreich Saigon ein, 1883 auch Hanoi und im bequeme Roller getreten (das in Hongkong übliche Auto ist gleichen Jahre gründete es die „ Union Indochinoise“, der freilich noch eine Rarität). Je nach Produktionsland gibt er neben dem heutigen Vietnam auch Kambodscha und Laos

8Michael Waibel, Die Altstadt von Hanoi, Ein Abbild urbaner Transformationsprozesse, in: Geographische Rundschau 55 (2003) Heft 1, S. 32–38, hierS.36.

Einsichten und Perspektiven 3|09 201 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Normaler Verkehrsfluss in Hanoi einverleibt wurden. Um diese Zeit wurde Hanoi mit seinem tel am deutlichsten „Ansätze einer nachholenden Citybil- Nebeneinander von ursprünglicher Anlage und französi- dung“9 festzustellen sind: Moderne Büro- und Hotelkom- schem Kolonialstilgern als „Venedig des Ostens“ bezeich- plexe drängen zunehmend in das Stadtbild. Vorallem die net. Heute findet man hiervon nur noch wenig vor.Die fran- Hotels wirken dabei häufig ein bisschen wie IKEA für Neu- zösische Stadtanlage mit ihren breiten, rechtwinklig zuein- reiche. ander liegenden Alleen ist noch immer erkennbar,wirkt aber mitunter fremd, wenn Zweckbauten an die Stelle der Die Altstadt blieb infolge sozialistischer Mangelwirt- alten Villen treten: Sozialismus meets Kolonialstil. Der Ba- schaft hingegen lange Zeit unangetastet. Allerdings ist Dinh-Platz, auf dem Ho Chi Minh –gesäumt übrigens von die Bausubstanz aufgrund der Bevölkerungsdichte –in amerikanischen Offizieren auf der Ehrentribüne –am2. einigen Gebieten war die Fläche pro Einwohner auf September 1945 die vietnamesische Unabhängigkeit ausrief, 1,5m2 gesunken10 –und der Umweltbelastung massiv ist so ein Beispiel: überdimensioniert, als Aufmarschplatz bedroht; die Menschen verfügen meist über kein flie- missbraucht,mit Onkel Hos Mausoleum als Blickfang und ßendes Wasser und leiden unter Ratten- und Ungezie- fremd in einer architektonischen Umgebung, die noch den ferplagen.11 kolonialen Charme erahnen lässt. Bauliche Veränderungen in der Stadt betrafen unter den Kommunistenzunächst die Rettungsszenarien wurden zwar entworfen und z.T.mit- Vororte, in denen Plattenbauten dem Mangel an Wohnraum hilfe der Europäischen Union auch realisiert, scheinen dem begegnen sollten. Seit Beginn der wirtschaftlichen Öff- Übermaß an Problemen –Verarmung von Bevölkerungstei- nungspolitik („doi moi“) 1986 veränderte sich vor allem das len, Aufkauf und Zusammenfassung ehemaliger Privathäu- französischeQuartier.Dort lassen sich bevorzugt ausländi- ser,Smog, Einfluss ausländischer Kapitalgeber,Überbüro- sche Investoren nieder,sodass im ehemaligen Kolonialvier- kratisierung, die Reformmaßnahmen im Keim erstickt –

9Ebd., S. 35. 10 Ebd., S. 36. Vgl. zu den Zahlen auch Marr (wie Anm. 5), S. 309f. 11 Ebd., S. 310.

202 Einsichten und Perspektiven 3|09 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

„Straße“ nach Can Cau, vietnamesisch-chinesisches Grenzgebiet

Abseits der üblichen Tou- ristenroute wirdVietnams Status als Entwicklungsland deutlicher: Bretterverschläge als Wohnungen.

jedoch (noch) nichtHerr werden zu können. Die Tatsache, Ein ethnischerFleckenteppich: dass dieses Viertel im Hinblick auf seine Überbevölkerung der NordwestenVietnams und die hygienischen Missstände zweifelsfrei als „Slum“ zu bezeichnen ist, wird Touristen jedoch kaum bewusst. Über- Hanoi –SaPaist eine beliebte Touristenstrecke. Genau des- dies verleihen die ursprüngliche Stadtanlage und das pulsie- halb ließen wir Sa Pa zunächst links liegen. Da in Vietnam rende Leben dem Viertel ein unverwechselbares Flair und Ausländer kein motorisiertes Gefährt bewegen dürfen, nah- der Stadt ein Stück Identität. Diesen Widerspruch vermoch- men wir einen Guide samt Auto. Ziel ist der samstägliche ten Städteplaner noch immer nicht aufzulösen. Dennoch Markt der Minderheiten des nordwestlichen Berglands. darf man es aus kulturhistorischer Sicht als katastrophal be- zeichnen, wenn Rettungspläne nicht greifen oder gar die Andersals in den meisten asiatischenLändern ist die zwischenzeitlichen Pläne verwirklicht würden, wonach das Bevölkerung Vietnams an sich außergewöhnlich homo- gesamte Areal abgerissen und mit Freiflächen und Hoch- gen: Fast 90 Prozent der Einwohner sind ethnisch gese- häusern ersetzt werdensoll.12 hen Vietnamesen. In dieser nordwestlichen Region

12 Waibel (wie Anm. 8), S. 36.

Einsichten und Perspektiven 3|09 203 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Minderheitenmarkt in Can Cau, hier: H’Mong-Frauen dominieren jedoch (wie auch auf dem Hochplateau für drei Jahre im Reisfeld beerdigt, dann exhumiert und Zentralvietnams, wo die malaiisch-polynesischen und nahe der eigenen Wohnung erneut bestattet) ist dem die Mon Khmer-Gruppen beheimatet sind) ethnische Abendländerhier vieles fremd. Der Minderheitenmarkt Minoritäten: Hier sind es mongolische und sino-tibeti- weist zwar Spuren touristischer Kontamination auf, scheint sche. aber im Wesentlichen seine eigentliche Funktion erhalten zu haben: wöchentlicher Treffpunkt der verschiedenen Dörfer, Für die knapp 60 Kilometernach Can Cau benötige ich et- Heiratsmarkt, Handel und Konsum von Lebensmitteln und was mehr als drei Stunden, weil die Lehmpisten während Reisschnaps. Das Bild wird von den H’Mong dominiert, der vorangegangenen Regenzeit völlig aufgeweicht wurden. einer halbnomadischen Gruppemit etwa 700.000-800.000 Bis letzteWoche, erzähltunser Fahrer in radebrechendem Angehörigen in Vietnam, die im 18. und 19. Jahrhundert Englisch, sei an eine Autofahrt überhaupt nicht zu denken über Laos und Südchina in dessen Nordwesten kamen. gewesen. Während des US-Krieges wurden sie wegen ihrer Konflikte Die Unterkünfte rechts und links des Weges könn- mit der Staatsmachtvon der CIA z.T.unter Waffen, vor ten nicht unterschiedlicher sein: Vereinzelt stoßen wir auf allem aber für die Versorgung der US-Truppen mit Rausch- Betonbauten, deren Fassaden einen farbenfrohen Kolonial- gift in Dienst genommen. 13 stil nachahmen; zumeist jedoch handelt es sich um Holzhüt- ten oder primitive Bretterverschläge. Der traditionelle Opiumanbau wurde vonder vietna- Unwillkürlich drängt sich bei der Fahrt durch das mesischen Regierung später massiv bekämpft; auf dem dünn besiedelte Gebiet die Frage auf, ob sich wohl je ein GI Markt erkennt man, dass Reisschnaps zur neuen gefragt hat, was er in diesem Land macht (obwohl mir be- Standarddroge avanciert ist. Völligoffen und in großen wusst ist, dass hierhin, von vereinzeltenSpezialtruppen ab- Mengenwird er von Mann wie Frau, Alt wie Jung in gesehen, gar keine GIs vordrangen). Vonder Vegetation bis großen Mengen konsumiert. zu den Friedhöfen (die Toten werden im Norden zunächst

13 Vgl. Alfred McCoy,Die CIA und das Heroin.Weltpolitik durch Drogenhandel;Frankfurt/Main 2003, stellvertretend für weitere Stellen S. 399f.u.416–419.

204 Einsichten und Perspektiven 3|09 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Bild links: Dao-Frauen bei der Handarbeit

Bild unten: H’Mong-Frau

Eng verwandt mit den H’Mong sind die Dao, von deren Dörfern einesZiel des darauffolgenden Tages ist. Schon bei unserer Ankunft werden wir von mehreren Frauen umringt, die uns bis zum Aufbruch nicht mehralleinelassen sollten. Sie radebrechenmehr Englisch, als dass sie es sprechen, aber immerhin erfahren wir,dass sie eine neunjährige Schul- pflicht haben und dieser auch nachkommen.Das Schulge- bäude ist –neben der Parteizentrale –ohnehin der zentrale Prunkbau auf dem Wegzudem Dorf gewesen. Dort lernen sie unter anderemvietnamesisch. Ansonsten lasse der Staat, erzählen sie uns, sie aber ihre Sprache sprechen und ihre Götter anbeten. Das ist in diesem Vielvölkereck des sozia- listischen Gefüges eine gleichermaßen überraschende wie zukunftsorientierte Minderheitenpolitik. Bei offiziell 54 Völkern wären zentrifugale Kräfte kaum zu vermeiden.

Die nur wenige Kilometer entfernte südchinesische Grenze erinnert daran, welch hohes Sprengpotential ein rigider Zentralismus in ethnisch so durchwachsenen Die –offiziellnichtmehr existierenden–rotenOpiumfelder Staaten bzw.Regionen birgt. Ähnlich starke separatis- findet man heutenur noch,wenn man zu Fuß tiefer in die tische Ideen wie in China waren in Vietnam für den BergweltNordwestvietnams vordringt. Man möge hier Außenstehenden aber weder zu erkennen noch zu bittenichtmehr photographieren, wird man dann gebeten. erfragen. Ihre Tracht, die regional ziemlich unterschiedlich ist, haben sie zwar als Touristenattraktion entdeckt; im Gegensatz zu Die Möglichkeitzueiner eigenständigen Kultur und die vielen anderen Völkern tragen die H’Mong sie aber auch, Chance auf Bildung tun hierzu sicherlich das Ihre. Die wenn sie nicht im Fokus der Fremden stehen. Typisch für Aufnahmeprüfung für die Oberschule (10.–12. Klasse) habe die „Flower Hmong“ ist der lange, weite Faltenrock, der in aus ihrem Dorf allerdings noch niemand bestanden. Die den Farben des Regenbogens zu explodieren scheint, eine Bedeutung der Bildung zeigte jüngst ein UNO-Bericht, der bunte Tunika, ein leuchtender Turban und eine kariertes den Mädchenhandel in eben diesem Landstrich anpranger- Wollkopftuch. te und vor allem in jungen Mädchen mit geringer Schulzeit

14 UNICEF-Nachrichten. Zeitschriftdes Deutschen Komitees für UNICEF, Nr.3(2007), S. 10f.

Einsichten und Perspektiven 3|09 205 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Nassreis-Anbau

Reisterrassen im Nordwesten Vietnams, nahe der chinesischen Grenze

sten Berg Vietnams, dem Phan Si Pan (3.143 Meter) vorbei und weiter über strategisch wichtige Gebirgspässe mit herr- lichen Ausblicken auf die Gebirgslandschaft und Reisfelder, die in verschiedenen Grün- und Gelbtönen leuchten. Noch vor einer Woche war an eine Autofahrt hier nicht zu den- Mopedund Satellitenanlage als Anschlussandie Moderne ken, weil die Strecke abgespült worden war.Viel scheint sich in den letzten50Jahren nicht geändert zu haben; schon die Opfer sah.14 Neben solchen Auswüchsen bedeutetdie in damals war die Strecke nur in der Trockenzeit benutzbar. 15 allen Bereichen nur rudimentär ausgebildete Infrastruktur, Oder hatdas mitnormalenMonsunregenfällen nichts mehr dass die Region von der traditionellen Landwirtschaft –d.h. zu tun, istdochVietnam eines der am meistenvon der der mit dem Wasserbüffel betriebenen Reiswirtschaft –und Klimaerwärmung betroffenen Länder weltweit?16 neuerdings dem Tourismus abhängig bleibt. Nur auf den Die neue Provinzhauptstadt Lai Chau ist allein ersten Blick ist dabei das Nebeneinander von bitterer Armut dem sozialistischen Selbstwertgefühl geschuldet:eine und dem klingelnden Mobiltelefon oder der Satellitenanlage Retortenstadt mit parvenühaftem Protz in wundervoller auf dem eigenen Bretterverschlag verstörend. Landschaft.Dafür entschädigt zumindest die mit Neugier Die für europäische Maßstäbe verschobenen Prio- gepaarte Herzlichkeit der Menschen, die immer wieder zum ritäten sind zwar befremdlich, die Sehnsucht nach An- grünen Teeeinladen, auch wenn dieser kaum genießbar ist, schluss an die modernen Errungenschaften aber nachvoll- da für abendländische Begriffe viel zu stark. Auf dem wei- ziehbar.–Der vielgepriesene Ort Sa Pa erscheintdagegen teren WegRichtung Dien Bien Phu geht es durch die am eher langweilig. Die Franzosen hatten ihn Anfang des 20. dünnsten besiedelte Region Vietnams, meist entlang am Jahrhunderts als Kurort entdeckt, weil er mit seinen 1600 „Schwarzen Fluss“,dem Haupt-Nebenfluss des Mekong. MeternHöhe etwas kühlereTemperaturenversprach als das Die Täler sind tief und steil eingeschnitten, die Blicke spek- Delta des Roten Flusses. Der Markt ist eine feste Institution takulär,die Brücken wegen Einsturzgefahr nicht alle befahr- und weist deutlich touristischeren Charakter auf als der in bar und die Häuser die hier typischen Pfahlbauten. Ihre Can Cau. Konstruktionist Ausweisder noch immer üblichen Über- Die Fremdenverkehrsströme nehmen abrupt ab, schwemmungen,die der Südwestmonsun zwischen April/ als wir Sa Pa verlassen. Über Lehmpisten geht es am höch- Mai und Oktober mit sich bringt.

15 Peter Scholl-Latour,Der TodimReisfeld. Dreißig Jahre Krieg in Indochina; 5 Stuttgart 1989, S. 71. 16 Michael Waibel, Implications and Challenges of Climate Change for Vietnam, in: Pacific News 29 (Jan./Feb. 2008), pp. 26f.

206 Einsichten und Perspektiven 3|09 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Bild links: Blickindie Ha Long-Bucht

Bild unten:Räucherstäbchen, denen eine reinigende Funk- tion zugeschrieben wird, in einer buddhistischen Pagode

ruhiger,gelassener und weitläufiger.Fast meint man, ein gewisses Laisser-faire zu spüren. Da stört es auch nicht wei- ter,dass der „perfume river“ nicht mehr duftet, weil die Jas- minbäume, die dem Huong –sosein eigentlicher Name – seinen Beinamen gaben, längst abgeholzt sind. Über ihn erreicht man die nahe Thien-Mu-Pagode, die als wichtigste buddhistische Pagode in Vietnam gilt.

Klare religiöse Grenzlinien scheinen in diesem Land indeszufehlen, man ist heuteBuddhist,morgen Daoist, übermorgen Kommunist, integriert konfuzianische Elemente und pflegt in jedem Fall seine Ahnenvereh- Zwischen Kitsch, Kultur und Weltkultur: rung am heimischen Altar. Für den Besucher ist kaum Ha Long-Buchtund Hué zu unterscheiden, welche der Riten Routine, welche Show sind und welche einemtief empfundenen religiö- Die Ha Long-Bucht im Golf von Tonkin, eine Ansammlung sen Gefühl entspringen. von nahezu 2.000Kalksteinfelsen, die z.T.mehrere hundert Meteraus dem Wasser ragen, hat ihren Status als Weltkul- In jeder Pagode finden sich auch Kennzeichenanderer Re- turerbezweifellos zu Recht. Die Grottensind voller Tropf- ligionen. Die kriegerischeSekte der Cao Dai verehrt neben- steine,die Strändefantastisch, die aus dem Wasser ragenden einander den Gründer der und erstenPräsi- Formationen bizarr,dass sie zum Träumen einladen. Die denten der chinesischen Republik, Sun YatSen (1866–1925; Menschenmassen bleiben an solch einen Anziehungspunkt der Inbegriff des asiatischen Nationalismus), den vietname- eben nicht aus. sischen Dichter Nguyen Binh Khiem (1492–1587) und – Victor Hugo (1802–1885). Jedenfalls hat eine einzige Reli- Die alten Segeldschunken sind von Motorbootenver- gion Vietnam nie so geprägt wie z.B. der Buddhismus das drängt und an Land wachsen statt der Kalksteinfelsen benachbarte Kambodscha oder der Islam den heutigen Iran. die Betonblöcke für steigende Touristenzahlen aus dem Boden. Aber Reste der Idylle sind bei Mehrtagestouren In der Pagodeinteressieren sich viele Besucher am meis- auf dem Wasser noch immer zu erfahren. ten für den verstaubten Austin, der den Mönch Thich Quang Duc nach Saigon brachte, wo er sich am 11. Juni Ist die Vorstellung einer vietnamesischen Stadt von Hanoi 1963 aus Protest gegen das Diem-Regime selbstver- geprägt, erscheint Hué wie ein kleines Paradies: sauberer, brannte. Hintergrund war der Versuch des Katholiken

Einsichten und Perspektiven 3|09 207 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

aber wurde zum Pressephoto des Jahres 196317 und für anwesende Journalisten wie David Halberstam von der New York Times zum Fanal der kritischen Berichterstat- tung. 18 Peter Scholl-Latour merkte hierzu lakonischan, dass seine US-Kollegen etwas voreilige Schlüsse zogen, wennsie in dengelbenMönchen diewahrenRepräsentantendes viet- namesischen Volkes sahen. „Daß die Buddhisten überhaupt nicht repräsentativ für dieses zutiefst konfuzianische Volk waren, daß die Lehre Gautamas als Zufluchtsreligion der kleinen Leute nur am Rande existierte und in Cochinchina vor allem dank der kambodschanischen Nachbarschaft […] über eine größere Präsenz verfügte, war allenfalls ein paar Außenseitern der CIA bekannt, auf die niemand hörte.“19 Der alte Austin, der den Thich Quang Duc nach Saigon brachte, Am wenigsten John F. Kennedy,von dem es mitunter heißt, wo er sich am 11.6.1963 öffentlich verbrannte er habe sich blind auf die Berichterstattung Halberstams verlassen.20 Diem wurdejedenfallsmit BilligungWashing- tons gestürzt und in diesem Zusammenhang auch ermor- det.21 Natürlich erfährtder Besucher der Pagode in Hué nichts von all dem; das Bild des buddhistischen Mönchs hängt ohne weitere Erklärung neben seinem Austin.

Hué, das bis Anfang des 14. Jahrhunderts zum Reich der Cham-Königegehört hatte und dann zwei Jahr- hunderte zwischen diesen und den Vietnamesen umkämpft war,gilt heute als „alte Kaiserstadt“. Tatsächlich war es von 1672 bis 1786 die Hauptstadt – allerdings nur die eines Südfürstentums, da Vietnam zwischen den rivalisierenden Clans der Trinh (im Nor- den) und der Nguyen (im Süden) in zwei Fürstentümer aufgeteilt war,von denen sich das südliche hauptsäch- Blick vom Eingangstor auf die Kaiserstadt in Hué lich dank portugiesischer Waffenhilfe halten konnte.

Ngo Dinh Diem, von 1954 bis 1963 Saigoner Regie- Nach einer Revolte Ende des 18. Jahrhunderts,22 die Prinz rungschef von amerikanischen Gnaden, mit einer Min- Nguyen Anh mit französischer Hilfe in zwölf Jahren Bür- derheit von etwa zwei Millionen Katholiken Südviet- gerkrieg blutig beenden konnte, gründete er als Kaiser Gia nam zu einer Art südostasiatischer Dollfuß-Republik Long 1802 die letzte Kaiser-Dynastie, bestimmte Hué zur zu machen. Hauptstadt des ganzen Reichs, das nun erstmals Viet Nam hieß, und baute die neue Kaiserstadt.–Wenn also dieReise- Durften die Buddhisten bis dato als politisch neutral gelten, führer-Bezeichnung „alte Kaiserstadt“ und die am chinesi- vollzogen sie –bedroht von Diem und seinen Unterdrü- schen Vorbild orientierte Architektur des Kaiserpalastes ckungsmaßnahmen –rasch den Schritt zur militanten Op- auch anderes suggerieren: Wasder Besucher zu sehen be- position. Nach der Ermordung Diems verlorder politische kommt, ist bestenfalls 19. Jahrhundert. Buddhismus in Vietnam dann auch rasch wieder an Bedeu- Die Kaiser ahmten in der Architektur von Zitadel- tung. Das Bild der Selbstverbrennung Thich Quang Ducs le, Kaiser-und Purpurner Stadt genauso wie in den zeremo-

17 http://www.worldpressphoto.org/index.php?option=com_photogallery&task=view&id=170&Itemid=115&bandwidth=low(Stand: 20.8.2009). 18 Vgl. z.B. Frey (wie Anm. 4), S. 90f. 19 Scholl-Latour (wie Anm. 15), S. 111. 20 Ebd., S. 111f.; Robert Dallek sieht Kennedy zwar sehr viel kritischer gegenüber den Medien (S. 466 und 634), räumt jedoch auchein, dass sich Kennedymitunter von Halberstams Berichten beeinflussen habe lassen (S. 623). Robert Dallek,John F. Kennedy.Ein unvollendetes Leben, München2003. 21 Ebd., S. 635–640. 22 Vgl. Ann Helen Unger /WalterUnger,Hue. Die Kaiserstadt von Vietnam, München 1995, S. 14.

208 Einsichten und Perspektiven 3|09 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Die „Verbotene Stadt“: Wäh- rend der Tet-Offensive na- hezu zerstört, wirdsie heute rekonstruiertund vollständig neu aufgebaut.

niellen Regeln und dem Verwaltungsaufbau das Pekinger Die Situation wirkt befremdlich: Das Remake einer Vorbild nach. Außen die von Sébastien Vauban inspirierte Miniaturausgabe Pekings aus dem 19. Jahrhundert,das fast quadratischeZitadelle, die Wohnstätte des niederen mehrheitlichim21. Jahrhundertrekonstruiert wird. Hofstaats war,gefolgt von dem administrativen Zentrum Das Festhalten an überkommenen Riten und Institu- des Hofes –der Kaiserstadt–und der Purpurnen (oder Ver- tionenmuss schon vor 200 Jahrenanachronistisch botenen) Stadt, in der die kaiserliche Familie, die Eunuchen gewirkt haben. und die Konkubinenwohnten. Die Pracht, die dem zeitgenössischen Touristen suggeriert Wassich dem Betrachter bietet, ist jedoch mitnichten wird, war bereits damals nichts anderes als Eskapismus in alles Überrest aus dem vorvergangenen Jahrhundert, eine als glorreich verstandeneVergangenheit, während das weil Hué während der Tet-Offensive 1968 die meistum- Volk hungerte und soziale Reformen notwendig gewesen kämpfte Stadt war.Der Einnahme durch nordvietna- wären. 25 Kein Wunder scheint es, dass das Volk dem Kaiser mesische Truppen und Kräfte der südvietnamesischen nicht mehr folgte, als er es Mitte des 19. Jahrhundertszuden Befreiungsfront (Viet Kong) folgteein erbitterter drei- Waffen gegen die französischen Invasoren rief.26 Kaiser wöchiger –für den Vietnamkrieg bis dato völlig unty- Lang Tu Duc zog sich daraufhin widerstandslos auf das nur pischer 23 –Häuserkampf, der zu einerder blutigsten 14 Kilometer südlich gelegene Areal der Kaisergräberzu- Schlachtendes Vietnamkrieges wurde und nahezu die rück. Auch diese sind vom nördlichen Nachbarn inspiriert, gesamte Anlage zerstörte.24 bilden die chinesischen Ming-Gräber nach und sind zudem ein Spiegelbilddes Kaiserpalastes in der Stadt: Es gibt die Wasman heute von ihr sieht, ist Rekonstruktion –ohne, Harmoniehalle, Theater,Konkubinenräume, Sommerresi- dass man es zunächst weiß. Die Restaurierungsethik ist von denz, Pagoden usf. Der Monarch „spielte“ im wahrsten dem Wunsch, Eingriffe kenntlich zu machen, völlig unbe- Sinne des Wortes nur noch Kaiser auf seinem eigenen lastet.Erstals der Besucher die „Verbotene Stadt“ betreten Friedhof. soll, eröffnet sich ihm lediglich –eine Baustelle. Eine solche wird sie wegen des fehlenden Geldes auch noch auf abseh- bare Zeit bleiben.

23 William Thomas Allison, The TET Offensive. Abrief history with documents; New York 2008, S. 51. 24 Eric Hammel,Fire in the streets. The battle for Hue, TET 1968; Chicago1991 S. 254–306u.354, sowie Allison(wie Anm. 23), S. 55. 25 Unger /Unger (wie Anm. 22), S. 16f. und 28. 26 Ebd., S. 29.

Einsichten und Perspektiven 3|09 209 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Geschichtsbilder von Nord und Darüber hinaus verhindert Hanoi aus Angst vor einem ge- Süd betrachtet sellschaftlichen Dissens eine Debatte über die eigene jüng- ste Vergangenheit, in der der Süden mit den USA koope- Das Klima beginntsichhierinHué zu ändern.Auchdie rierte,ein anderesWirtschafts- undGesellschaftssystem Menschen sindoffener, weniger geprägt von gesellschaftli- errichten wollteund sich das vietnamesische Volk faktisch chen Normen und gehen anders mit ihrer Vergangenheit in einem Bürgerkriegbefand. Damit wird auch evident, dass um. Wirkommen mit dem (Süd-)Vietnamesen Vo ins Ge- der häufige und oben zitierte Verweis auf die Zukunft sich spräch. Er erzählt von seiner Mutter,die drei Jahreals zwar einerseits aus konfuzianischem Loyalitätsdenken und Krankenschwester auf der „Helgoland“ gearbeitet habe, Zukunftsoptimismus speist und insofern auch nicht gelogen dem deutschen Hospitalschiff des Roten Kreuzes, das zwi- ist; dass es sich andererseits aber nur um die halbe Wahrheit schen 1966und 1972vor Da Nanglag.Nachdem Siegdes handelt, weil eine Debatte über die Vergangenheit erhebli- Nordens habe seine Mutternie wieder eine Arbeit bekom- che Sprengkraftbeinhaltet. men, von Rente natürlich ganz zu schweigen. So, wie Kriegsverletzte auch nur dann staatliche Unterstützung Wenn auf den überall präsenten Kriegsfriedhöfen kein erhalten, wenn sie aus dem Nordenkommenoder dem Viet südvietnamesischer Soldat begraben werden durfte und Kong angehörten. Er erzählt uns, dass nordvietnamesische die Kollaborateure noch immer Feinde sind, über die Truppen seinen Vater –inihren Augen den Feind, weil er nur deswegen nicht mehr gesprochen zu werden für Saigon im Rathaus von Hoi An arbeitete –während der braucht, weil sie die Überlegenheit des neuen Systems Tet-Offensive 1968 über drei Tage hinweg einfach hätten (an-)erkannt haben, ihr vorheriges Leben im Grunde verbluten lassen. Er selbst habe bis vor ein paar Jahren aller- aber ein einziger Fehler war,dann muss das in einem dings die Version bevorzugt, dass es sich um einen Bauern Volk tiefe Narben hinterlassen, die durch das derzeitige handelte, der den alliierten Luftangriffen zum Opfer fiel. Schweigen nur überdeckt, aber nicht geheilt werden. Ansonsten, so Vo,hätte er sich sein Studium abschminken können. Auf die Rückfrage, ob das nicht politischen Un- Hinzu kommt, dass der Ahnenverehrung in Vietnam eine frieden stifte, kommt eine Antwort, die man öfter zu hören überragende Bedeutung zukommt.27 Bedenkt man das Kon- bekommt: „Vietnamesen schauen in die Zukunft, nicht in fliktpotential, das sich aus dem Umgang mit der Geschichte die Vergangenheit.“ Doch immer deutlicher wurden hier im im Allgemeinen,der Verdrängung der Kollaboration im Süden die Nebenbemerkungen vernehmbar,die die politi- Besonderen sowie dem immensen Stellenwert der Erinne- sche Brisanz des Umgangs mit Geschichte andeuten: Der rung an die Ahnen ergibt,lässt sich die Sprengkraft erahnen, Norden habe halt immer Vorfahrt; natürlich könne man den die unter der Schicht autoritärer Politik bereit liegt. Krieg nicht einfach vergessen; ja, selbstverständlichgebe es Opfer in der Familie; nein, über Kollaboration werde nicht Die Diskussion über die eigene Vergangenheit wird in gesprochen. dem Moment losbrechen, in dem die politischen Zügel gelockert werden. Welche Wirkung sie entfalten wird, Herrscht im Nordteil des Landes die Meinung vor,dass ist heute kaum abzusehen. „wir“–gemeint ist die kommunistische Partei –im Grunde alles richtig machten, Verfehlungen eher auf Die geschichtspolitische Komponente begleitete uns die falsche Umsetzung nachgeordneter Beamter zurückzu- gesamte Fahrt durch den Norden. Wenn man sie sehen will, führen seien denn auf schlechte Richtlinien, werden die erkennt man unzählige Bombentrichter in der Landschaft. Fragen an das System im Süden kritischer. Wenn es regnet, wirken sie wie kleine Bassins. Im Süden sind sie seltener anzutreffen,denn das Bombardementder Das hat wirtschaftliche wie geschichtliche und geschichts- Amerikaner betrafimWesentlichen den Norden und das politische Gründe: Einerseits ist das ökonomische Niveau laotische und kambodschanische Grenzgebiet. Überhaupt im Süden erheblich höher und legt Zeugnis ab von der grö- kommt man mit Überquerung des Wolkenpasses in einen in ßeren Prosperität des Mekongdeltas mit seiner Metropole vielerlei Hinsicht anderen Teil Vietnams. Der Pass ist in Ho Chi Minh Stadt. Dass die Geschäftsleute, die im Zuge erster Linie die Wetterscheide zwischen dem subtropischen der doi-moi-Politik seit über 20 Jahren Wohlstand ansam- Norden und dem tropischen Süden. melten, sich auch politisch artikulieren wollen, scheint nur noch eine Frage der Zeit. Das zuzugestehen, ist die politi- Aber die beiden Landesteiletrennt sehr viel mehr als sche Führung im Norden aber derzeit noch nicht bereit. nur das Klima. Vonder unterschiedlichen Geschichte

27 Monika Heyder,Kulturschock Vietnam; 5 Bielefeld 2007, S. 1–24.

210 Einsichten und Perspektiven 3|09 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Die LaguneLang Co, kurz vor dem Wolkenpass und der verschiedenen Mentalitäten der Menschen war keit dürften sie in den nächsten Jahren noch sehr viel stär- bereits die Rede; auch die Landschaft vermittelt einen ker zu einem Magneten für Touristen vor allem aus Ozea- anderen Eindruck: lieblicher,sauberer,nahe Da Nang nien und dem Reich der Mitte machen, als sie es bereits sogar idyllisch. Doch wie so oft trügt auch hier der heute ist. Ungezählte Hotelkomplexe vom Hyatt bis zu chi- Schein. nesischen Investoren an dem kilometerlangen Sandstrand befinden sich im Bau, zeugen von dem erwarteten Ansturm Das Noch-Paradies ist im Begriff zerstört zu werden, bevor –und verändern das Gesicht der Landschaft nachhaltig. der eigentliche Massentourismus überhaupteinsetzt.1858 landeten die Truppen Napoléons III. in Da Nang, um von Die Meeresfauna ist bereits zurückgegangen, öffentliche hier aus das Land zu durchdringen,und gut 100 Jahre spä- Strände werden rarer und Trinkwasserprobleme sind ter verlegten auch die Amerikaner ihre Marinebasis dorthin. angesichts zahlreicherimBau befindlicher Golfplätze in Dass weitere fünfzig Jahre später –imOktober2008 –ein dem tropischen Gebiet nur eine Frage der Zeit. Werhier US-Kriegsschiff mit Blumenschmuck empfangen wird, ist Urlaub macht, bekommt keinerlei Eindruck davon, dass ein deutliches Zeichen für die wieder eingetreteneEnt- Vietnam noch immer ein Entwicklungsland ist. spannung.28 Seit die USA 1994 ihr Handelsembargo aufho- ben, profitiertenicht zuletzt die Hafenstadt in der Mitte Abseits der üblichen Touristenrouten ist hingegen vieles an- Vietnams und baute ihre Stellung als bedeutender Um- ders. Man erreicht Orte wie Phan Thiet lediglich mit öffent- schlagplatzaus. Zahlreiche ausländische Firmensiedelten lichen Verkehrsmitteln, die regelmäßig fahren, aber meist sich an und gaben ihr neben einem beachtlichenReichtum völlig überfüllt sind. Nicht jeder der Busse hält an, aber auch ein mondänes Flair.Mit inzwischen etwa 800.000 wenn, dann atmet der Tourist darin den Duft der Arbeit. Einwohnern ist sie die viertgrößte Metropole Vietnams. Mit Phan Thiet ist nicht besonders schön, besitzt kein Zentrum, der alten US-Airbase verfügt sie außerdem über einen Flug- weist aber mit seinenander Haupt-/Handelsstraße orien- hafen. Infrastruktur,Traumstrände und leichte Erreichbar- tierten Geschäften die für Vietnam typische Struktur klei-

28 „U.S.navalship callsonDanang City“, in: The Saigon Times v. 20. Oktober 2008, S. 1.

Einsichten und Perspektiven 3|09 211 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Öffentliche Transportmittel, Hoi An

Blick in den Hafen von Phan Thiet nererund mittlererStädte auf. Ho Chi Minh arbeitete ten nicht Wutaufkommen lassen? Mindestens aber Neid? 1910/11 als Lehrer in der Provinzhauptstadt, die heute etwa Doch die Stadt wirkt erfreulich gelassen. Die fliegenden 200.000 Einwohner ausweist und hauptsächlich vom Fisch- Händler fallen mitsamt den Strandurlaubern aus, die Ge- fang und der Herstellung der berühmten nuoc-mam-Fisch- schäfte verkaufen das Lebensnotwendige, Kinder schauen soße lebt. Vietnamesen schwören mindestens so sehr auf das noch neugierig auf die Fremden und kichern, wenn man Produkt wie Amerikaner auf Ketchup. Europäische Zungen ihren Gruß erwidert. Dass mir beim Abendessen ein Gecko brauchen etwasZeit,umdie Feinheiten der Soße zu erken- auf den Kopf fällt und von dort in die Hose schlüpft, hätte nen, die entsteht, indem man Fisch und Salz über Monate in allerdings überall in Vietnam passieren können. –Mit erheb- Fässern fermentiert. Der Geruch dieses Prozesses ist der lich geringerer Wahrscheinlichkeit freilich in Ho Chi Minh Geruch Phan Thiets. Boote und Fischer,deren gegerbte Stadt, denn die Metropole im Süden ist erheblich schicker, Haut von körperlicherArbeit zeugt, dominieren das Stadt- sauberer,mondäner –und erheblich westlicher als ihr Pen- bild. Ich frage mich, ob die nahen Luxusressorts der Touris- dant Hanoi im Norden.

212 Einsichten und Perspektiven 3|09 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Das Sein bestimmt das Bewusstsein: Ho Chi Minh Stadt

Erst 1674 setzten Vietnamesen das erste Mal ihren Fuß auf den Boden der heutigen Metropole und vertrieben dabei die bis dato ansässigen Khmer.Mit Billigung der in Hué herr- schenden Nguyen siedelten sich reiche Flüchtlinge aus China am Nordrand des Mekong-Deltas, nur 50 Kilometer vom südchinesischen Meer entfernt, an und gründeten die Siedlung Cho Lon, deren Funktion sich bereits aus dem Na- men ergibt: Cho bedeutet Markt, Lon groß.

Während der bereits erwähnten Revolte Ende des 18. Jahrhunderts ist es französische Waffenhilfe, die es dem Clan der Nguyen ermöglicht,den gesamten Süden samt dem heutigen Saigon zurückzuerobern. 1859 besetzte Frankreich Saigon und legt in den folgenden Jahren jenes Netz an Boulevards und Avenuen an,29 das dem Kern der Stadt bis heute ein französisches Aussehen verleiht und ihn sehr viel stärker prägt als sein Gegen- stück im Norden.

1945 schloss sich Saigon zunächst der von Ho Chi Minh ausgerufenenDemokratischen Republik Vietnam an, wurde aber –unter britischer Waffenhilfe –umgehend wieder von Frankreich in Besitz genommen. Gustave Eiffel in Südostasien: die Kirche Notre Dame im Nach der Teilung des Landes in einen kommuni- Zentrum Saigons stischen Nord- und einen kolonialen Südteil 1954 wurde Saigon zur Hauptstadt des Südens erhoben und erhielt mas- sive amerikanische Finanzspritzen, die die Landflucht be- berichterstatter die gesamten Kämpfe verfolgte; die günstigten und die Saigoner Bevölkerung auf zunächst FlaniermeileRue Catinat verfiel westlicher Konsum- zwei, bis Ende des dreißigjährigen Vietnamkrieges auf über orientierung, wurde als „Straße der Freiheit“ ( Tu Do) vier Millionen Einwohner ansteigen ließ. Während sich bis zur Amüsiermeile und brachte die Freiheit nur für den, 1960 folgerichtigund geordnet die baulichen Lücken zwi- der sich die Prostituierten leisten konnte. schen Saigon und Cho Lon füllten, dehnt sich die Stadt seit- her vorwiegend nach Norden aus,30 was zur Folge hat, dass Mit dem amerikanischen Geld und dem Krieg hielten auch im Norden lauter kleine Zentren entstehen, die mit dem ur- neue Probleme Einzug in die Stadt: Prostitution, Drogen, sprünglichenStadtkern wenig zu tun haben und auch nicht Kriminalität, Mischlingskinder.Am20. April 1975 durch- auf ihn ausgerichtetsind. brachen nordvietnamesische Panzer in einem berühmt ge- wordenen Bild das Tordes Saigoner Präsidentenpalastes. Das Gesicht Saigons veränderte sich aber schon in den „amerikanischen“ Jahren 1954 bis 1973 nachhaltig: Obwohl die Niederlage Südvietnams mit dem Pariser Die Stadt wuchs genauso rasant wie ungeordnet,mit Friedensvertrag vom 27. Januar 1973 und dem darauf- der Folge einer massiven Slumbildung; 31 im Kern ent- hin begonnenen sukzessiven Abzug amerikanischer standenMilitärkomplexeneben eleganten Hotelswie Truppen längst festgestanden hatte, wird das Bild zum demCaravelle, dem Continental, dem Rex oder dem Symbol des kommunistischen Sieges und der Wieder- Majestic, von deren Dachterrassen aus mancher Kriegs- vereinigung Vietnams. Wenn Reiseführer heute gele-

29 Vgl. zu der StadtanlageMarr (wie Anm. 5), S. 318f. 30 Sébastien Wüst, Die Metropolisierung von Ho Chi Minh Stadt. Räumliche Entwicklung und ökologische Krise, Elendsquartiereund Zwangsumsiedlung, in: Bauwelt 151 (2001), S. 40–49,hier S. 40. 31 Marr (wie Anm. 5), S. 318f.

Einsichten und Perspektiven 3|09 213 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam gentlich behaupten, dass nur Ausländer und Beton- ben-Millionen-Metropole in einer Anlage, die auf 500.000 köpfe von Ho Chi Minh Stadt sprechen, so muss man Menschen ausgelegtwar. das als westliche Sicht bezeichnen. Der Spaziergang durch die Stadt gestaltet sich ein- fach: ihr Kern ist klein, überschaubar und deutlich europä- Zum einen ist Saigonkeinesfalls identisch mit Ho Chi Minh isch, französisch geprägt. Die Straßen entsprechen der kolo- Stadt, sondern lediglich der erste –wenn auch der bekann- nialen Anlage und mit der Post und der Kirche Notre Dame teste –von 17 Bezirken. Zum anderen führen zwar auch sind zwei Bauten Gustave Eiffels erhalten, die den Altstadt- viele Vietnamesen noch den Namen Sài Gòn als pars pro bereich prägen. Auf letztere geht man zu, wenn man die ein- toto im Mund; in der Generation, die nach der Vereinigung stige Flaniermeile Rue Catinat, den heutigen Dong Khoi, aufwuchs, hat sich indes bereits der offizielle Name durch- vom Saigon-Fluss kommend entlang läuft. In unmittelbarer gesetzt. Umgebung liegen alle Hotels und Cafés, die die Kriegsbe- Mit dem Abzug der Amerikaner brach auch die richterstatter zum Austausch der Nachrichten nutzten, das Wirtschaft Saigons zusammen; einzig der (Schwarz-)Markt Rathaus (1901–08), die 1899 fertiggestellte Oper und der in Cho Lon funktioniertenoch. Als dieser1978 verstaatlicht realsozialistische Präsidentenpalast (1963–68), der heute wurde, kam es zu einer Flüchtlingswelle vorwiegend chine- Palast der Wiedervereinigung heißt. Es zeugt vom Selbst- sischstämmiger Vietnamesen, der sogenannten boat people. verständnis des damaligen Präsidenten der sich nur demo- Mit Beginn der wirtschaftlichen Öffnung seit 1986 erlebt kratisch nennenden34 Republik Südvietnam,sich selbst als Ho Chi Minh Stadt einen neuerlichen Aufschwung. Nachfahre des Kaisers zu sehen: Er ordnete dem Präsiden- Zahlreiche ausländische Firmen siedeln sich an diesem tenzimmer die Farbe des Kaisers, dem der Minister die der Einfallstor zum gesamten indochinesischen Raum an. Mit Mandarine zu. Glücklicherweise prägt die realsozialistische 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, 30 Prozent der her- Architekturdie Stadt keineswegs im gleichen Maße wie gestellten Industriegüter und 40 Prozent der Exportgüter32 Hanoi. Unglücklicherweise ist die allenthalben vordringen- ist die Metropole im Süden unbestrittendie ökonomische de moderne Architektur auch nicht immer gelungen. Vom Kapitale. Sheraton bis zum Rex, von Gucci bis Versace, von Tag Heuer bis KFC haben sich ungezählte westliche Namen eta- Auch wenn die Wirtschaft sich noch immer in einem bliert. Dieses Saigon ist kaum preiswerterals andere Metro- Transformationsprozess von Plan- zu Marktwirtschaft polen und manch moderner Bau lässt kurzzeitig vergessen, befindet, so bestimmt doch eindeutig das Sein Saigons, dass das Land als Entwicklungsland eingestuft wird. Doch nicht das BewusstseinHanois die Entwicklung die verfallenenHäuser,die große Zahl an z.T.verkrüppel- Vietnams. ten Bettlern, die auch etwas vom Touristenkuchen wollen, das Heer der Schuhputzer,sie alle erinnern den Besucher Die Menschen hierimSüden wissen das,wirken unge- daran, dass nur ein Teil der Stadt im 21. Jahrhundert ange- zwungener,selbstbewusster,auchlasziver und eineSpur kommen ist. arroganter als ihre Landsleute im Norden. Die Stadt selbst Ein asiatischer Typus ist im Zentrum nicht mehr zu ist sauberer,großstädtischer,weniger hektisch. Hanoi und erkennen; Saigon oszilliert zwischen Kolonialzeit und Ho Chi Minh Stadt jedenfalls sind zwei gegensätzliche Moderne, und manchmal ertappt sich der Besucher bei dem Welten, und wer über den Norden einreist, wird einen we- Gedanken,sie gesichtslos zu nennen. sentlich härteren Schnitterlebenals derjenige, der das fast westlich zu nennende Eingangstor Saigon nutzt. Wenn Somerset Maugham Saigon 1923 mit einer süd- WieHanoi, so lockt auch Ho Chi Minh Stadt weni- französischen Provinzstadtverglich, dann könnte man ger mit seinen architektonischen und sonstigen Touristen- sich heute in nahezu jeder beliebigen Stadt des Westens attraktionen. Vielmehr sind es die Gegensätze, die sich mit- befinden. Der Unterschied zwischen „europäisch“ und unter zu Widersprüchen steigern, die die Stadt zwar nicht „globalisiert“ verschwimmthierbei zusehends. schön, aber interessant machen: Armut und Reichtum; Ko- lonialismusund Moderne; europäischesSaigon und asiati- Selbst Cho Lon, die „Chinatown“der Stadt, versprüht we- sches Cho Lon; Prunksucht und Überlebensstrategien; Sie- nig chinesisches Flair.Die ethnischstämmigen Chinesen

32 Die Angaben sind der offiziellen Homepage von Ho-Chi-Minh-City entnommen, vgl. http://www.hochiminhcity.gov.vn/eng (Stand: 6.9.2009). 33 So das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, vgl. http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Laenderinformationen/Vietnam/ Wirtschaft.html#t1 (Stand: 6.9.2009). 34 Vgl. zum politischen Charakter Südvietnams z.B. Frey (wie Anm. 4), S. 70.

214 Einsichten und Perspektiven 3|09 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

„Boomtown“ Ho Chi Minh Stadt: Die Vororte und die Slums Ein Teil der vietnamesischen Umweltprobleme: die zunehmende wachsen rasant. Motorisierung genossen im vereinigten Vietnam nicht den besten Ruf, so schrieben wird:39 einem Temperaturanstieg in den Stadtker- dass der Distrikt, in dem Duras’ „Der Liebhaber“ spielt, von nen; derjenige von Ho Chi Minh Stadt beträgt etwa 10 °C der Politik auch nicht gefördert wurde. Diese ökonomische im Vergleich zu seinem Umland. Dass neben einer höheren Rückständigkeit spiegelt sich heute auch in seinem Stadt- Belastung für alle Einwohner auch mehr Energie für Küh- bild, wenngleich die Tempel und Pagoden sehenswert sind lung benötigt wird, die aufgrund des Produktionsaufwands und der Cho Binh TayMarkt als authentisch chinesisch gel- ihrerseits zu einer stärkeren Umweltbelastung führt, liegt ten darf; anders sein Saigoner Pendant, der Ben-Thanh- auf der Hand. Markt, der nie chinesisch war und heute nicht mehr authen- tisch ist, weil sich mehrheitlich Touristen in dem kaufhaus- Zugleich könnte die globale Erwärmung zu drastischen ähnlichen Komplex tummeln. Folgen in und um die Stadt führen. Der frühere Ge- Den Innenstadtbereich zu verlassen lohnt lediglich, neraldirektor des vietnamesischen meteorologischen wenn man städtebauliches oder umweltpolitisches Interesse Zentrums geht von einem Anstieg des Meeresspiegels hat.35 Mit über sieben Millionen Einwohnern36 auf 2.000 von 35 cm bis 2050, von 50 cm bis 2070 und von einem km2 hat Ho Chi Minh Stadt die gleichen Probleme wie an- Meterbis 2100 aus.40 Dies würde bedeuten, dass etwa dere Großstädte: Gewalt,Kriminalität, Drogen, soziale 20.000 km2 Bodenfläche des dicht besiedelten Mekong- Spannungen, Migrationsdruck, vor allem aber: Slums37 und Deltasüberschwemmt werden 41 undzusätzlichen massive Umweltprobleme. Wenig überraschend ist, dass die Migrationsdruckauf dieZentren ausüben. Weltbank Ho Chi Minh Stadt als meistverseuchte Stadt Vietnams bezeichnete. Für Ho Chi Minh Stadt gilt hin- DieFahrt ausSaigonhinausmacht einesüberdeutlich: Diese sichtlich der Mofas das schon bei Hanoi Gesagte. Hingegen Stadt boomt. Bereits 50 Kilometer vor der Stadt beginnt ihr erstaunt es, dass eine internationale Studie Hanoi und Ho Industriegürtel. Die Joint-Venture-Fabriken hinterlassen Chi Minh Stadt als „ worst-ranked cities for dust pollution in einen sehr modernen Eindruck und Hochhäuser prägen die the whole of Asia“ausweist. 38 DieLuftverschmutzung Skyline, Neubauviertel sprießen überall aus dem Boden. führt, zusammen mitder Klimaveränderung, zu etwas, was Die Kehrseite ist aber kaum zu verkennen: Grünflächen in der Wissenschaft als „ Urban Heat Island Effect“be- werden abgeholzt und begünstigen neben dem steigenden

35 Vgl.z.B.MartinaDüttmann, Saigon,Vietnam, in:Bauwelt 36 (2001), S. 14–29. 36 Die Volkszählung von 2009 ergab nach offiziellen Angaben eine Zahl von 7.123.340 Einwohnern, vgl. http://www.chinhphu.vn/portal/page?_pageid=439,1090462&_dad=portal&_schema=PORTAL&pers_id=1091147&item_id=33638381&p _details=1 (Stand: 6.9.2009). 37 Vgl. zu der städtischen Armut Marr (wie Anm. 5), S. 319ff. 38 Informationennach einem Artikel von Radio Free Asia, vgl. http://www.rfa.org/english/news/vietnam/pollution-04012009110733.html (Stand: 6. 9. 2009). 39 Ronald Eckert/Michael Waibel, Climate Change and Challenges of Urban Development of Ho Chi Minh City/Vietnam, in: Pacific News 31 (Jan./Feb.2009), S. 18–20, hierS.18. 40 Vietnam News v. 26. Mai 2008. 41 Intergovernmental Panel on ClimateChange (Hg.), ClimateChange 2007–Impacts, Adaptationand Vulnerability.Contribution of Working Group II to the Fourth Assessment Report, Cambridge 2007, S. 59.

Einsichten und Perspektiven 3|09 215 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Rekonstruktion der französischen Verteidigungsanlage und des Kraters, der infolge eines vietnamesischen Angriffs auf die Stellung A1 entstand und Frankreich 1954 in Dien Bien Phu zur Kapitulation zwang

Verkehr den oben beschriebenen Anstieg der Innenstadt- Zurück in dieZukunft temperatur; Abwässer werden ungeklärt in den Mekong ge- leitet, Wasserreservoirs sind eutrophiert, Fische hochgradig Will man Vietnam nicht von Nord nach Süd oder umge- toxinbelastet.42 Bereits im Jahr 2001 wurden 360.000 Kubik- kehrt bereisen, so ist es auch möglich, eine Reise durch seine meter Brauchwasser aus Privathaushalten und 110.000 Ku- jüngsteVergangenheit anzutreten. Der Vorteil dieser Route bikmeter aus Industriebetrieben in die Flüsse geleitet; letz- durch die dominante öffentliche Erinnerung 46 ist, dass man tere meist hochgradig verseucht.43 Das geringe Gefälle der an jedem beliebigen Punkt des Landes ansetzen kann. beiden Hauptflüsse bedingt, dass die Giftstoffe nur langsam abtransportiert werden und die Schadstoffbelastung für die Praktisch überall trifft man auf Narben des französi- Lebensmittelkette stetig ansteigt. Angesichts nur eines Was- schen Indochina- und des US-amerikanischen Vietnam- serhahns auf 20–30 Familien in den beiden meistbevölker- krieges: in der Landschaft,imBewusstsein der Men- ten Distrikten44 werden die Giftstoffe aber oft genug unmit- schen, in der Erinnerungskultur. telbar eingenommen. Tröstlich ist in diesem Zusammen- hang nur,dass bereits Lösungsansätze zur Räumung der Dien Bien Phu war der Ort der finalen Niederlage der fran- Slums bestehen, deren Realisierungsich jedochaufgrund zösischen Kolonialmacht 1954.47 Eingekesseltvon 2.000 von Finanzproblemen noch länger verzögern wird.45 Meter hohen Bergen öffnet sich die Landschaft lediglich zur

42 Vgl. hierzu die Projektbeschreibung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zur Reduktion der Wasserverschmutzung unter http://www.lwi.tu-bs.de/hywa/deutsch/forschung/vietnam_project.pdf (Stand: 10.8.2009), vgl. zur Gewässersituation in Vietnam insge- samt, http://dbs-lin.ruhr-uni-bochum.de/wasserverbund/pdfs/12_vietnam.pdf (Stand: 10.8.2009). 43 Wüst (wie Anm. 30), S. 43. 44 Marr (wie Anm. 5), S. 320. 45 Ebd., S. 321–326. 46 So die These der Vize-Direktorin des WarRemnants Museum, Frau Huynh Ngoc Van, das der Verfasser am 14. Oktober 2008 auf Englisch mit ihr führte. 47 Vgl. als ersten Überblick über die französische Kolonialherrschaft in Südostasien, Rudolf von Albertini, Frankreich in Vietnam, in: ders., Europäische Kolonialherrschaft 1880–1940, Zürich /Freiburg i.B. 1976, S. 159–183, und Dieter Brötel,Die Dekolonisierung des französi- schen Empire in Indochina. Metropolitane, periphere und internationale Faktoren, in: Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Das Ende der Kolonialreiche. Dekolonisation und die Politik der Großmächte, Frankfurt/Main 1990, S. 89–118 .

216 Einsichten und Perspektiven 3|09 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Der 1994 eingeweihteviet- namesische Heldenfriedhof in Dien Bien Phu

laotischen Tiefebene hin. Der französische Befehlshaber Nicht wenige deutsche SS-Soldaten waren in die Fremden- Henri Navarrewar überzeugt, dass durch letztere der Feind legion übergetreten,48 um der Gefangenschaft zu entgehen, kommen und sich einer offenen Feldschlachtstellen müsse, was die Formulierung Peter Scholl-Latours erklärt, die in der französischeWaffentechnikund Lufthoheit zweifels- Fremdenlegionäre „seien zum Sterben angetreten wie in ei- frei den Sieg davongetragen hätten. Stattdessen aber ließ die ner mythischen Gotenschlacht“.49 vietnamesische Führung unter General Giap und unvor- stellbaren Strapazen schwere Artillerie auf die umliegenden Neben dem Ehrenfriedhof und der letzten französi- Berge transportieren, um von dort den Besatzer sturmreif schen Stellung ist vor allem das staatlich getragene zu schießen.Ohne diesehistorische Dimensionwürdesich Museum von Dien Bien Phu der zentrale Erinnerungs- kaum ein Tourist in das verschlafene Örtchen an der Grenze ort. Es wurde 1984, anlässlich des 30. Jahrestagesdes zu Laos verirren. Und auch so fallen die sonst omnipräsen- Sieges, eröffnet.50 ten Ozeanier,Amerikaner und Chinesen aus; außer uns haben sich nur ein paar nostalgische Franzosen hierhin ver- Im Inneren wird der Besucher von zwei Pappfiguren emp- irrt. fangen: neben dem unvermeidlichen Onkel Ho der vietna- mesische General Giap, dessen strategischer Leistung der Ein gigantischer Heldenfriedhof, die Rekonstruktionen Sieg seiner Truppen zweifelsfrei zuzuschreiben ist. Inhalt- des französischen Führungsbunkers und der letzten lich dominiert die Geschichte des Kampfes von Dien Bien Stellung sowie ein ziemlich marodes Museum sollen die Phu. Die Ausstellungendet mit Bildern des Genfer Abkom- geschichtliche Erinnerung bewahren. mens von 1954, das die Teilung Vietnams am 17. Breitengrad festlegte. Fortan wurde der Norden des Landes von den Am Eingang des Friedhofs wird in einfacher Bildspracheauf Kommunisten unterHoChi Minh und der Südenunter überlebensgroßen und ca. 100 Meter breiten Reliefs die Ge- dem (Marionetten-)Kaiser Bao Dai regiert, der jedoch als- schichte des Kampfes als Heldengeschichte erzählt. Die bald ins Pariser Exil ging und von Präsident Diem abgelöst Schützengräben und der Explosionstrichter auf dem Hügel wurde. Zwischen den Bildern von Genf finden sich bereits A1, auf dem die letzte französische Einheit kapitulierte, sind vereinzelt solche vom zweiten, dem US-Krieg in Vietnam Rekonstruktionen von 1994. Der letzte Funkspruch soll und dem Pariser Abkommen von 1973, das den sukzessiven übrigens einen starken deutschen Akzent gehabt haben. – Abzug der Amerikaner festlegte.

48 Die in Dien Bien Phu stationierten Einheiten der Fremdenlegion bestanden zu 80 Prozent aus Deutschen, Scholl-Latour (wie Anm. 15), S. 89. 49 Ebd. 50 Die folgenden Informationen über das Museum, dessen Ziele und Motivationen entstammen einem Interview,das der Verfasser am 1. Ok- tober 2008 mit dem Direktor des Museums, Nguyen Trung Sy,mittels eines Übersetzers führte.

Einsichten und Perspektiven 3|09 217 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Die Ausstellungsgegenstände sind ganz überwiegend gung und Unterstützung des Volkes für die Partisanen Photos. Originalexponate sind rar und ziemlich will- nimmt breitenRaum ein. Dass in dieser Wahrnehmung der kürlich zusammengestellt. Sie reichen von vietnamesi- Kollaborateurkeinen Platz hat, verwundert nicht weiter. schen Pistolen über den Fuß des Feldbettes von General Es kann an dieser Stelle nicht um eine Kritik der Giap bis zu erbeuteten Trophäen des Gegners, deren Ausstellunggehen51 und schon gar nicht um eine Wertung kurioseste die Badewanne des französischen Komman- des Indochinakrieges und seiner jeweiligen Kriegsführung. deurs Christian de Castries ist. Daneben finden sich im Natürlich werden zahlreiche Aspekte nicht thematisiert: die MuseumPappfigurenzur Rekonstruktion von Kriegs- Geschichte der Kolonialzeit,die Brutalität des Krieges auf szenen genauso wie einzelne moderne Plastiken. beiden Seiten, die internationale Dimension der Auseinan- dersetzung im Kalten Krieg, die französischen Bitten an die Ohne Unterschiedihres dokumentarischen Gehalts dienen USA nach einem Atombombenabwurf, der Inhalt des Gen- alle Ausstellungsstücke dem Zweck der Nacherzählung, an fer Abkommens, das Schicksalder Kriegsgefangenen,ge- deren AnfangHoChi Minh steht und die in gerader Linie schweige denn die Sicht Frankreichs oder der Kollaborateu- über Dien Bien Phu, das Genfer und das Pariser Abkommen re. Es wird nicht zwischen Quellen und Darstellungunter- zur Wiedervereinigung Vietnams 1975 führt. schieden, Strukturen, Prozesse und Motivationen werden auf dem Altar von Anschaulichkeit und Unmittelbarkeit ge- In dem abschließenden Film tritt der Gegenwartsbezug opfert. Der Besucher hat keinerlei Möglichkeit, anhand der der Geschichte noch deutlicher hervor: Nachkriegsfort- Informationen eine eigenständige Sicht auf die Geschichte schritte hinsichtlichBildung, Infrastruktur und Le- zu entwickeln. –Esgeht vielmehr um die Frage, welche bensstandard erscheinen hier als unmittelbare Folge Funktion der Erinnerung an die Schlacht von Dien Bien Phu des nordvietnamesischen Sieges. heute zugeschrieben wird, kurzum: Es geht um die ge- schichtspolitische Dimension. Die Ausstellungsobjektesind nur mit einer Bildunter- Die Abgelegenheit des Ortes und die Art der Aus- schrift, nicht aber mit einem Text versehen, sodass deren stellung legen die Vermutung nahe, dass sie vorwiegend auf Re-Kontextualisierung nicht gelingen kann. Stattdessen ist Einheimische zielt. Offen räumt Museumsdirektor Sy auf bereits beim ersten Eindruck eine starke Personalisierung meine Frage ein, dass der Besucher in seinem Haus natür- des Krieges auffällig. Einzelne Kriegshelden nehmen eine lich für die Gegenwart lernen solle, weil der Geschichte eine herausragende Stellung ein und selbst Anschauliches wie ein Vorbildfunktion zukomme. Spaten oder eine Sandale werden in der Bildunterschrift immer einem bestimmten Soldaten oder zumindest dessen DerBesucher, fährtHerrSyfort, lerntindem Museum, Einheit zugeschrieben. dassVietnamschon immer seine Feinde wieder aus dem Land geworfen habe. Vorallem aber solle die Jugend zu Dass hier der Sieger die Geschichte schreibt, kann kaum Frieden, wie er nun herrsche, und Vaterlandsliebe erzo- überraschen. Verblüffender hingegen ist, dass es in die- gen werden. Tatsächlich genießen Schüler und Rekru- ser Ausstellung kaum einen Gegner gibt. Mit Ausnah- ten freien Eintritt.Für letztere ist der Besuch sogar me der erwähnten Trophäen kommt die französische obligatorisch.52 Kolonialmacht nur selten vor,überhaupt findet der Krieg praktisch nicht statt. Die Geschichte reduziert sich in dieser Perspektiveauf ihre integrative Funktion –und der Zukunft zugewandt. Hie- Es werden die Vorbereitungen und die Niederlage Frank- raus erklärt sich, dass der Beteiligungdes ganzen Volkes am reichs gezeigt, nicht aber der eigentlicheKrieg oder dessen Kampf eine so starke Stellung in der Ausstellung zukommt, Verlauf. Da fügt es sich ins Bild, dass der lachende Blick der einem Kampf,dessenBrutalität und dessenEntbehrungen Partisanen deren Vorfreude widerspiegelt und ihr Kampf als hinter den lächelnden Partisanengesichtern verschwinden. Kampf des gesamten Volkes dargestellt wird: Die Beteili- Ich frage den Direktor nach den beiden „Ikonen“ vietname-

51 Vgl. zu den Möglichkeiten und Gefahren der Darstellung von Geschichte in Museen z.B. Bodo von Borries, Präsentation und Rezeption von Geschichte im Museum, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 98 (1997), S. 337–343. 52 Die Angaben des Direktors zu den Besucherzahlen erschienen in hohem Maße unglaubwürdig, da sie zwischen verschiedenen Jahren um bis zu 90 Prozent schwanken. Zudem erschien dem Verfasser die Zahl von 200.000 ausländischen Besuchern angesichts der Tatsache unwahrscheinlich, dass er während seines eigenen fünfstündigenBesuches keinen einzigen sah.

218 Einsichten und Perspektiven 3|09 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam sischer Geschichte, das Bild von der nackten und vor Na- in Hanoi gegossen. Die letzten Tage seines Transports wur- palmfeuerflüchtenden Kim Phuc53 und die Hinrichtung ei- den sogar live im Fernsehen übertragen. nes Viet Kong seitens des südvietnamesischen Polizei- chefs.54 Eine Publizität dieser Art hat das WarRemnants Mu- Natürlich seien sie bekannt, räumt er ein, er besit- seum in Ho Chi Minh Stadt nicht nötig. In jedem ze sie auch, aber in seinem Haus würden sie nicht ausge- Stadtführer als ein „Muss“ beschrieben, ist der Andrang stellt. –Können sie wohl auch nicht, wenn es darum geht, in das Museum, das den zweiten Vietnamkrieg verge- den Blick des Besuchers auf das Verbindende und in die Zu- genständlichen soll, schon in den Vormittagsstunden kunft zu lenken. Die Darstellung der Napalmzerstörungen enorm. oder eines Südvietnamesen, der einen Landsmann hinrich- tet (nachdem dieser übrigens die Familie eines Vertrauten Englisch ist die vorherrschende Sprache, Einheimische fin- ermordet hatte), aber würden die Brutalität des Krieges und den sich kaum unter den Besuchern. Tatsächlich sollte die die innere Zerrissenheit dieses Volkes darstellen. Vizedirektorin Frau Vanspäter diesen oberflächlichen Ein- druck bestätigen:55 70 Prozent der jährlich 500.000 Besucher Wenn der Geschichte unmittelbar integrative Funktion sind Ausländer.Amstärksten sind Japaner und Amerikaner für die Gegenwart, gar für die Zukunft zukommt, so vertreten, gefolgt von Franzosen und Chinesen. WieinDien ist auch evident, warum die Kolonialzeit einerseits, die Bien Phu werden dem Ankommenden im Außenbereich Kriegshandlungen Frankreichs andererseits und die Waffen des Gegners vorgeführt, doch im Inneren ändert Sicht des Kollaborateurs zum Dritten zurücktreten sich das Bild. WarDien Bien Phu ein baufälliges Haus, das müssen. Die Darstellung der 100 Jahre zwischen 1850 seine Ziele mit einfachsten museumspädagogischen Mitteln und 1950 sei politisch nicht opportun gewesen, räumt verfolgte, besticht das 1975 eröffnete und 2002 vollständig Herr Sy ganz offen ein. umgebaute WarRemnants Museum mit einer modernen Aufmachung.56 Im Inneren werden nacheinander behan- Frankreichs Kriegsführungdient lediglich der Überhöhung delt: „Historical truth“, „Requiem“, „Vestiges of war crimes des eigenen Sieges und auf die Frage nach Überlegungen, die and aftermaths“, „Imprisonment system“, „Vietnam –War Sicht derer darzustellen,die mit der Kolonialmacht ehedem andPeace“, „International support for the Vietnamese zusammenarbeiteten, antwortet er kurz und knapp, dass people“ und „Childrens paintings“.Wiederum werden über- darüber nicht zu reden sei. wiegend Photographien als Ausstellungsgegenstände ge- nutzt, ergänzt durch Originalexponate, die die Sektionen Dieser Krieg darf offenkundig nicht historisiert werden. über die US-Waffen und die Folterinstrumente dominieren. Zu wichtig ist seine Funktion für eine Gesellschaft, die Die etwas antiquiert wirkenden Pappmachédarstellungen ökonomischen, politischen und –indiesem Teil des von Dien Bien Phu finden sich hier nicht mehr.Einfüh- Landes–auch ethnischen Herausforderungen ausge- rungstexte leiten die jeweiligen Sektionen ein, eine Re-Kon- setzt ist. textualisierung der Objekte ermöglichen sie freilich nicht. Die Bildunterschriften geben meist die Quelle, d.h. den Jedenfalls ist schon auffällig, dassseitder einsetzendenwirt- Photographen, Zeitpunkt und Ort der Aufnahme an. schaftlichen Liberalisierung im Zugeder doi-moi -Politik auf geschichtspolitischem Gebiet verstärkt Anstrengungen Bereits beim erstenBlick ist auffällig, dass nahezu alle unternommen werden: Das Museum soll einen Neubau Aufnahmen und Texte von westlichen (inkl. Japan) erhalten und erstmals sollen Informationsblätter erarbeitet Journalisten stammen. Der (westliche)Besucher soll werden; der monumentale Heldenfriedhof wurde Anfang den Krieg mit eigenen Augen sehen; die Stellungnah- der neunziger Jahre angelegt; das Bronzedenkmalerst 1994 men westlicher Intellektueller gegen den Feldzug dürf-

53 Photo auf http://www.worldpressphoto.org/index.php?option=com_photogallery&task=view&id=177&Itemid=115 (Stand:12. 9. 2009); zur Interpretation des Photos vgl. Gerhard Paul, Die Geschichte hinter dem Photo. Authentizität, Ikonisierungund Überschreibung eines Bildes aus dem Vietnamkrieg, in: Zeithistorische Forschungen. Studies in contemporary History 2(2005), http://www.zeithistorische- forschungen.de/16126041-Paul-2-2005. 54 Photo auf http://www.worldpressphoto.org/index.php?option=com_photogallery&task=view&id=165&Itemid=115&bandwidth=low (Stand: 12. 9. 2009); zur Interpretation des Photos vgl. Stephan Schwingeler /Dorothée Weber,Das wahre Gesicht des Krieges. DieHin- richtung in Saigon von Eddie Adams. Das Entstehen einer Ikone vor dem Hintergrund ihrer Publikationsgeschichte in den Printmedien, in: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaft, Heft 1(2005), S. 36–50. 55 Die nachfolgendenAngaben über das Museum, dessen Ziele und Motivationen beruhen auf einem Interview des Verfassers mit der Vize- direktorin des Museums, Frau Huynh Ngoc Van, vom 14. Oktober 2008. 56 Nach Auskunft von Frau Vanarbeiten 20 Historiker und Museumspädagogen im Haus.

Einsichten und Perspektiven 3|09 219 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Ausstellung des WarRemnants Museum in Ho Chi Minh Stadt ten für den transatlantisch geprägten Touristen eine schichtlichen Ereignisse und Zusammenhänge vom Kalten erheblich höhere Glaubwürdigkeit haben als die von Krieg bis zur Theorie der „ credibility“ 58.Die Echtheit der Nordvietnamesen. Dokumente und der gegebenen Informationen ist –von wenigen Ausnahmen abgesehen –unzweifelhaft. Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass die oben erwähntenIkonen von Kim Phuc und dem Polizeichef nicht Ganz im Gegenteil ist das Bemühen auffällig, bis auf die nur ausgestellt sind, sondern Frau Vanindem Interview Bataillonsebene hinunter den Feind zu identifizieren, späterausdrücklich daraufhinweisen sollte, dass es sich um um so die Glaubwürdigkeit der Ausstellungsaussage zu Pulitzer-preisgekrönte Bilderhandelt, derer sie noch weite- erhöhen. Entscheidendist die Art der Zusammenstel- re ausstellten. lung von Exponaten: Die Argumente werden der These Auch der Raum über die „ International support for untergeordnet. Auffällig ist dabei vor allem die Ameri- the Vietnamese people“fokussiert auf westlichen Protest ge- kanisierungdes Krieges. gen die USA bzw.Unterstützungfür Vietnam. Schmunzeln lässt den aufmerksamen Besucher dann aber doch, dass un- Bereits für die Jahre nach 1945 werdendie US-Waffen- und ter letzterem sogar Spezialeinheiten des Office of Stratetic Finanzhilfe in den Vordergrund gerückt. Selbst in der Zeit Services (OSS)–Vorläuferder CIA –gezeigt werden, die des französischen Indochinakrieges sind es amerikanische 1945 kommunistische Viet Minh-Einheiten ausbilden.57 Der Waffen, die gezeigt werden. Man mag über die Bedeutung Protest des Westens ist in dieser Sicht kein Ausdruck der der –historisch korrekten –US-Waffenlieferung streiten; Meinungsfreiheit, sondern Indiz der Richtigkeit vietname- unzweifelhaft wird hier aber der koloniale Charakter des sischer Politik und des verbrecherischen Charakters der Indochinakrieges unzulässig in den Hintergrund gedrängt. US-Kriegführung. Dieser Darstellung ist die Auswahl der Für die Zeit nach 1963 werden dann, in Umkehrung der Dokumente nicht nur in diesem Raum untergeordnet; ein Strategie von Dien Bien Phu, praktisch ausschließlich Dar- nachvollziehbarer Kriegsverlauf wird dabei nicht vermit- stellungen des Gegners, der US-Truppen, gegeben. telt, ebenso wenig wie dessen Einbettung in die zeitge-

57 Zwischen März und August 1945 waren die USA und die Viet Minh offiziell Verbündete, Ho Chi Minh wurde als OSS-Agent geführt; Frey (wie Anm. 4), S. 16. Dass diese Koalition sich gegen Japan richtete, wird ebenso wenig erläutert wie der Umstand, dass es sich bei den Ausbildern um amerikanischeGeheimagentenhandelte. 58 Der Kennedy-Administration ging es in Vietnam nicht mehr um wirtschaftliche Gründe, nicht mehr um Antikommunismus oder den Auf- bau einer vietnamesischen Nation, sondern sie machte das Engagement der USA in Südvietnam zur Messlatte amerikanischer politischer Glaubwürdigkeit ( credibility), Frey(wieAnm.4), S. 79–83.

220 Einsichten und Perspektiven 3|09 Zwischen Gestern und Heute. Ein Reisebericht aus Vietnam

Zielte das Museum in Dien Bien Phu auf die Einheimi- sollen. Die vorwiegend genutzten Ausstellungsobjekte schen und die Integration einer Nation mittels der (Photographien, gegnerische Waffen) decken sich hier wie Geschichte, so wird hier dem vorwiegend ausländischen dort. Der fundamentale Unterschied ist der Ausstellungsge- Besucher das Bild des Aggressors vor Augen geführt, genstand und die vorrangig angesprocheneZielgruppe: Ei- dessen Ziel die Eroberung Vietnams und dessen Mittel nem Volk, das zweifelsohne massiv unter einem dreißigjäh- verbrecherisch waren. rigen Krieg gelitten hat, muss dessen Grausamkeitnicht mehr vorgeführt werden, wenngleich die Integrationex Dass die USA hierzu mit Südvietnamesen kooperierten, negativo –durch Darstellungdes Feindes –nicht unter- muss –anders als in Dien Bien Phu –unter diesen Umstän- schätzt werden soll. In erster Linie gilt es aber doch, dem den nicht mehr tabuisiert werden.Auch Südvietnamesen Fremden die Völkerrechtswidrigkeitder amerikanischen seien Opfer des Krieges, führt Vizedirektorin Vanaus; sie Ziele und Mittelvor Augen zu führen. Hierzurückt natür- seien gezwungen und gedungen worden, gegen das eigene lich die US-Kriegsführung in den Fokus, die Darstellung der Volk zu kämpfen, müssten also gleichermaßen als Opfer des eigenen Befreiung –das Kernstück von Dien Bien Phu – Krieges gezeigt werden. Die Frage, ob es Überlegungen gab, rückt in den Hintergrund. Als Kronzeugen der Ausstellung die zeitgeschichtliche Sicht der Kollaborateure darzustellen, dienen westliche Bild- und Schriftzeugnisse von den Erin- ignoriert sie. nerungen David Halberstamsbis RobertMcNamaras. Da- Der propagandistische Zug der Ausstellungzeigt bei soll weniger Mitleid als vielmehr Respekt erzielt werden: sich nicht darin, dass die Kriegsführung der USA angepran- Respekt für das, was Vietnam ertragen musste, vor allem gert wird; deren völkerrechtswidrige Aspekte werden heute aber für seine Leistungen im Wiederaufbau. Auch hier wird nicht mehr ernsthaft bestritten. Der propagandistische Zug die Geschichteindie Gegenwart verlängert: durch aktuelle zeigt sich in der einseitigen Auswahl und Unterordnung der Bilder der Kriegsfolgen, einer Konferenz über Agent- Ausstellungsgegenstände auf bzw.unter dieses Ziel: Dass Orange-Opfer von 2004 oder Damals-heute-Aufnahmen die USA 1973 in Paris einen Vertrag abschlossen, der sie verschiedener Orte wie My Lai. zum sukzessivenAbzug aus Vietnam verpflichtete, wird verschwiegen; dass die Guillotine, die im Raum über die Differenzierter als ihr Kollege beantwortetFrau Van Folterinstrumente gezeigt wird, das letzte Mal 1960 einge- die Frage nach der Gegenwartsrelevanz von Geschichte setzt wurde, ebenso; und Verbrechen auf Seiten Nordviet- dann auch dahingehend, dass das Lernen aus der Ge- nams kommennatürlich nicht vor.Überhaupt treten die schichte zwar das Ziel sei, es aber nicht immer gelingen nordvietnamesische Armee und der Viet Kong nur dann ins könne.Sie sei schon zufrieden, wenn ihr Haus zeige, Blickfeld, wenn sie entweder Opfer der westlichen Kriegs- was Krieg anrichten, wie er Menschenleben und führung sind oder –nach dem Krieg –die Folgen dieses Umwelt zerstören könne. Krieges zu erleiden und zu beseitigen haben. Dies deutet bereits an, dass auch hier die Gegenwartsrelevanz des Krieg- Diese bescheidener wirkende Zielsetzung setzt offenkundig es stark akzentuiert wird. Vondem Raum mit Kinderbildern auf ein Publikum, das von der Anti-Kriegs-Bewegung ge- des 21. Jahrhunderts gegen den Krieg abgesehen, werden prägt ist und dessen Meinung in seinem jeweiligen Heimat- aktuelle Bilder von Kampfmittelbeseitigung und Wieder- land artikuliertwerden kann. Ob nicht auch die vietname- aufbaumaßnahmen gezeigt. Auch die Ausstellung enorm sische Öffentlichkeit mit steigendem Wohlstand ihre politi- missgebildeter und in Formalin eingelegter Embryonen – schen Wünsche artikulierenund Fragen an die Geschichte aufgrund kontaminierter Lebensmittelketten in der Folge stellen wird, die weder das Museum in Dien Bien Phu noch von Agent-Orange-Einsätzen –zielt in diese Richtung, das in Ho Chi Minh Stadt beantworten, wird die Zukunft wenngleich dem kritischen Besucher bewusst ist, dass die zeigen. Allerdings scheint die Regierung in Hanoi mit die- Wirkung des Entlaubungsmittels auf die Nahrungsmittel- ser Möglichkeit zu rechnen, denn die geschichtspolitischen kette und die Fortpflanzung 1970 nicht in dem Maß bekannt Anstrengungen sind nicht zu verkennen: Auch das War war,wie es die museale Kausalkette nahelegt, und dass die Remnants Museum sollte 2009 einen Neubau und 2010 wei- Umweltprobleme Vietnams nachhaltigen Einfluss auf die tere Ausstellungen über den französischen und den japani- Krebsrate haben. schen Krieg in Vietnam bekommen. Beide, so Frau Van, Beide Häuser bedienen sich mitunter der gleichen werden die Friedenserziehung in Vietnam weiter vorantrei- Mittel wie z.B. der starken Personalisierung von Geschich- ben. Und zur Identitätsstiftung eines Volkes beitragen, das te. Hier sind es die US-Truppen, die klar zugeordnet wer- zwischen gestern und morgen oszilliert und noch viele den können und deren Rang- und Truppenabzeichen nicht Fragen an die gemeinsame Geschichte stellen wird, bevor es nur Trophäen sind, sondern auch die Aussagekraft erhöhen zu einer Nation wird.❙

Einsichten und Perspektiven 3|09 221 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung Globale Armut

NeueStrategienzuihrer Bekämpfung

VonZdenek Zofka

Einblick in die Lebenswelt der Menschen in Kitgum –Uganda: Kitgum ist mit seinen rund 57.000 Einwohnern der Hauptort des gleichnamigen Distriktes im Norden Ugandas, der an den Sudan angrenzt. Es ist Hauptschauplatz des Flüchtlingsdramas, das mit dem Rebellenkampf der Lord´s Resistance Army verbunden ist. Alle Fotos: www.focuswelten.de

222 Einsichten und Perspektiven 3|09 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung

Auf einer Pressekonferenz am 9. Juli 2009 erklärte UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, dassdie gegenwärtige Wirtschafts- und Finanzkrise den „Fahrplan“ bei der Bekämp- fung der globalen Armut durcheinander zu bringen drohe. Ohne große zusätzliche Anstrengungen gerate das Ziel, die Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren, in Gefahr. Doch wie realistisch ist überhaupt dieses Ziel? Mit welchen Mitteln soll es erreicht werden? Welche Strategie verfolgt die internationale Gemeinschaft in diesem Politik- feld und welche alternativen Ansätze werden diskutiert?

Die Millenniumsziele welt, eine grundlegende Schulbildung für alle Kinder,die Bekämpfung von HIV/AIDS und anderen Krankheiten „Jeder Mensch hat Anspruch auf eine Lebenshaltung, die sowie die Reduzierungder Kinder-und Müttersterblichkeit seine und seinerFamilie Gesundheit und Wohlbefinden, ein- (siehe Kasten 1). schließlichNahrung, Kleidung, Wohnung, ärztlicher Be- Auf der Basis dieser Millenniumserklärung, die treuung und der notwendigen Leistungen der sozialen Für- acht grundlegende Ziele formulierte, entwickeltendie UN sorge,gewährleistet.“ ein Jahr später einen „Kompass“ ( Roadmap)zur Umset- DieserWortlaut desArt. 25, Abs. 1der Allgemei- zung dieser Willenserklärung, in dem insgesamt 18 klare nen Erklärung der Menschenrechte verleiht der Forderung Zielvorgaben die allgemein gehaltenen Ziele ergänzen. Wie- nach einem Leben in Würde,wie es Menschen, die in extre- der ein Jahr später,2002, setzte die Weltgemeinschaft mit der mer Armut leben, verwehrt ist, einen Rechtsanspruch.1 Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung im mexikani- Schon die UNO-Charta von 1945 verpflichtet die Mit- schen Monterrey ein Zeichen, dass sie es dieses Mal mit ih- gliedsstaaten, „den sozialen Fortschritt und einen besseren ren eigenen Zielvorgaben doch etwasernster meinte als bei Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern“ (Präam- früheren Anläufen. bel). Die Bekämpfung von Armut und Elend,umallen Men- schen ein Leben in Würde und Selbstbestimmung zu er- Denn es war unschwer zu erkennen, dass sich ohne möglichen, zähltevon Anfang an zu den Kernaufgaben der neue, zusätzliche Finanzquellen die MDGs nicht ver- Weltorganisation. wirklichen lassen würden. Das Ergebnis der Konferenz, Obgleich sich über Jahrzehnte hinweg viele UN- der sog. „Monterrey Konsens“, unterstrich,dass die pri- Konferenzen dieser Aufgabe zugewandt hatten, z.B. der märe Verantwortung für die Verbesserung der Lebens- Weltgipfel für soziale Entwicklung 1995, war von den Be- verhältnisseder Armen zunächst bei den Entwicklungs- schlüssen außer gut gemeinten Absichtserklärungen wenig ländern selbst liegt. Jedes Entwicklungsland sollte eine geblieben. Darum nutzte UN-Generalsekretär Annan den eigene Armutsbekämpfungsstrategie ( Poverty Reduc- Jahrtausendwechsel, um die Weltgemeinschaft auf einen tion Strategy,PRS)entwickeln und zu deren Umsetzung konkreteren Aktionsplan in einem klaren Zeitrahmen fest- erhebliche Mittel aus dem eigenen Staatshaushalt zulegen. So enthielt seine Vorlage für das Abschlussdoku- bereitstellen. ment des für das Jahr 2000 geplanten Weltgipfels auch die Im Gegenzug versprachen die entwickelten Länder,ihre Forderung, die Zahl der in absoluter Armut lebenden Men- öffentliche Entwicklungshilfe ( Official Development schen solle bis zum Jahr 2015 halbiert werden. Aid, ODA)deutlich zu steigern sowie den hoch ver- Im September 2000 verabschiedete die Staatenge- schuldeten Ländern einen Teil ihrer Schulden zu erlas- meinschaft in seltener Einmütigkeitdie sog. „Millenniums- sen, unter der Bedingung, dass sie die frei werdenden erklärung“, in der die Millenniumsentwicklungsziele ( Mil- Mittel für den Kampf gegen die Armut nutzten. Die rei- lennium Development Goals, MDGs)festgeschrieben wur- chen Staaten bekräftigten, dass sie an dem schon 1970 den. Sie gehen von einem nicht nur rein materiell definier- aufgestellten Ziel, 0,7 Prozent ihres Bruttosozialpro- ten Armutsbegriff aus, sondern verlangen neben der Unter- dukts für die Entwicklungshilfe aufzuwenden, festhiel- stützung der Ärmsten auch einen stärkeren Schutz der Um- ten. Die Armutsbekämpfung sollte nicht vorwiegend im

1Zit. n. Paul Sieghart, Die geltenden Menschenrechte, Kehl 1988, S. 136.

Einsichten und Perspektiven 3|09 223 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung

Die Millenniumsentwicklungsziele

1. Extreme Armut und Hunger: Bis 2015 soll der den. Dabei soll ein besonderer Fokus auf Kinder- Anteil der Menschen halbiert (gegenüber dem und Müttersterblichkeit sowie auf Immunkrank- Stand von 1990) werden, die mit weniger als heiten gelegt werden. Die Ausbreitung einem US-Dollar pro Tag(in reicheren Ländern vonHIV/AIDS soll bis 2015 gestoppt werden. zwei US-Dollar) überleben müssen. 7. Umwelt: Die ökologische Nachhaltigkeit soll gesi- Der Anteil der hungernden Menschen soll eben- chert werden, indem der Zugang Benachteiligter falls halbiert werden. zu Ressourcen wie Trinkwasser,Land und Wald 2. Schulbildung: Allen Kindern soll der Besuch einer verbessert, die Verslumung der Städte zurückge- Primarschuleermöglicht werden. führt und erneuerbareEnergien verstärkt und 3. Gleichstellung: Die Gleichstellung der Geschlech- zum Nutzen der Armen eingesetzt werden. ter(gender)soll gefördert werden, insbesondere 8. Partnerschaft: Eine globale Entwicklungspartner- bei der Primar-und Sekundarschulbildung. schaft soll aufgebaut werden. Hierzu sollen vor 4. Kindersterblichkeit: Die Sterblichkeitsrate von allem bessere Welthandelsbedingungen geschaf- Kindern unter fünf Jahren soll bis 2015 um zwei fen, die Entschuldung der Entwicklungsländer Drittel gesenktwerden. vorangetrieben, mehr und effektivere Entwick- 5. Müttersterblichkeit: Die Sterblichkeitsrate von lungsfinanzierung bereitgestellt und eine bessere Müttern soll bis 2015 um drei Viertel gesenkt Partnerschaft mit besonders benachteiligten werden. Ländern entwickelt werden. 6. Übertragungskrankheiten: Mit Armut verbunde- ne Krankheiten sollen konsequent bekämpft wer-

Sinne umfassender sozialpolitischer Maßnahmen ver- hen. Die öffentliche Entwicklungshilfekann einem Land standen werden, sondern diese sollten durch die dabei helfen, in einem angemessenen zeitlichen Rahmen in- Förderung des Wirtschaftswachstums einerseits und die ländische Ressourcen in ausreichender Höhe zu mobilisie- Förderung einer nachhaltigenEntwicklunganderer- ren, bei gleichzeitiger Fortentwicklung des Humankapitals seits flankiert werden. sowie der Produktions- und Exportkapazitäten.Die öffent- liche Entwicklungshilfe kann für die Verbesserung der Rah- Die neue Partnerschaftzwischen Industrie- und Entwick- menbedingungen für privatwirtschaftliche Aktivitäten ent- lungsländernsollte in drei Bereichen zum Tragen kommen: scheidend sein und so die Weichen für ein robustes Wachstum Abbau der Handelshemmnisse, Schuldenerleichterungso- stellen. Sie ist außerdem ein wesentliches Instrument zur wie Entwicklungshilfe. Die Konferenz von Monterrey un- Förderung von Bildung, Gesundheit, Entwicklung der öf- terschied dabei zwischen den Entwicklungsländern, die fentlichen Infrastruktur,Landwirtschaft und ländlicher über eine ausreichende Infrastruktur und entsprechendes Entwicklungsowie zur Verbesserung der Ernährungssiche- Humankapital verfügen, um ausländische Investitionen an- rung.“ 2 ziehen zu können (hauptsächlich Länder mit mittleren Ein- kommen), und denjenigen, die nach wie vor auf öffentliche Ebenfalls im Jahr 2002 wurde vom Generalsekretär der Entwicklungshilfe angewiesen sind, um Infrastruktur und Vereinten Nationen das Millenniumsprojekt ins Leben ge- Humankapital aufzubauen (insbesondere die am wenigsten rufen, das die Aufgabe hatte, einen Aktionsplan auszuar- entwickelten Länder): beiten, der die konkreten Maßnahmen zur Umsetzung der Millenniumsziele auflisten und auch einen Finanzierungs- „Die öffentliche Entwicklungshilfe spielt eine wesentliche plan beinhalten sollte. Aufgetragenwurde diese Aufgabe Rolle als Ergänzung anderer Quellen der Entwicklungs- einem unabhängigen Beratergremium von insgesamt mehr finanzierung, insbesondere in den Ländern, die am wenig- als 250 Experten aus der ganzen Welt, das von dem ameri- sten in der Lage sind, private Direktinvestitionen anzuzie- kanischen Ökonomieprofessor Jeffrey Sachs geleitet wird,

2Millenniums-Projekt, In die Entwicklung investieren. Ein praktischer Plan zur Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele (Sachs- Bericht), UNDP 2008, S. 8.

224 Einsichten und Perspektiven 3|09 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung der auch als persönlicher Berater des Generalsekretärs in und die Zahl der Menschen mit Zugang zu verbesserten Sachen Millenniumsziele fungiert. sanitären Einrichtungen um 15 Prozent gestiegen. Unter dem Titel „In die Entwicklung investieren – ein praktischer Plan zur Erreichung der Millenniums-Ent- Dennoch stellen die Millenniumszielenach wie vor eine wicklungsziele“ legte das Gremium im Februar 2005 seinen große Herausforderung dar.Sosoll die Zahl der extrem Ar- Bericht vor,andem Wissenschaftler,politische Entschei- men von 1,3 Millionen im Jahr 1990 auf 650 Millionen im dungsträger,Vertreter nichtstaatlicher Organisationen, der Jahr 2015 gesenkt werden. Das Referenzjahr für die Millen- UNO, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds niumsziele ist immer das Jahr 1990. Bei der Festlegung, wer und der Privatwirtschaft mitgearbeitet haben. als arm oder extrem arm einzustufenist, wird die stark ver- Die Experten folgten dabei der Vorgabe des Mon- einfachende, aber auch leicht zu handhabende Definition terrey Konsenses, dass die von den Entwicklungsländern der Weltbank verwendet: Menschen, die, umgerechnet in lo- auszuarbeitenden nationalen Strategien zur Armutsbekäm- kale Kaufkraftparität, mit weniger als zwei Dollar am Tag pfung Grundlage des gesamten Projekts zu sein hätten. Da- auskommen müssen, gelten als arm, Menschen, die mit we- für seien genaue Bedarfsabschätzungen durchzuführen, die niger als einem Dollar am Tagauskommen müssen, werden feststellen, auf welchem Stand sich das jeweilige Land mit als extrem arm eingestuft. seinen Bemühungen gerade befindet und welche Maßnah- Aufgrund verbesserter Daten wurde die Armuts- men erforderlich sind, um die Ziele bis zum Jahr 2015 zu grenze im August 2008 auf 1,25 US-Dollar angepasst. erreichen. Daraufhin musste die Weltbank die absolute Zahl der ex- Im Jahr 2004 begann das Projekt eine Kooperation trem Armen für 1990 auf 1,8 und für 2005 auf 1,4 Milliarden mit ausgewählten Pilotländern (Äthiopien, Dominikani- Menschen weltweit korrigieren. Der Trend ist jedoch der sche Republik, Ghana, Jemen, Kambodscha, Kenia, Senegal gleiche geblieben: Die weltweite Armut konnte deutlich und Tadschikistan), in deren Rahmen ermittelt werden soll- reduziert werden. Da die Literatur zum Thema‚ globale Ar- te, wie diese Länder die Vorgaben und Fristen der Millenni- mut aber noch auf der alten Ein-Dollar-Grenze basiert, er- ums-Entwicklungszieleambesten in ihre nationalen Ar- scheint es sinnvoller,diese auch für diesen Artikel beizube- mutsbekämpfungsstrategien integrieren könnten. Diese halten. „Pilotstrategien“ sollen dann als Modell für ähnliche Vor- Das Millenniumsziel Nr.1,die Halbierung des An- haben in Entwicklungsländern auf der ganzen Welt heran- teils der Armen, davon ist das Millenniumsprojekt über- gezogen werden. Fast zeitgleich mit dem Erscheinen des zeugt, sei durch einen Mitteleinsatz von weniger als 0,7 Pro- Berichts des Millenniumsprojekts hat auch sein Leiter, zent des Bruttonationaleinkommens (BNE) der reichen Jeffrey Sachs, ein begleitendes Buch3 veröffentlicht, in dem Länder möglich. Wiegravierend sich inzwischen die Welt- die Maßnahmen, Berechnungen und auch die wirtschafts- lage verändert hat, verdeutlichen folgende Zahlen: Noch theoretischen Grundüberlegungen ausführlicherläutert 1980 wäre das Ziel der Halbierung der Armen völlig unrea- werden. listisch gewesen, denn damals war die Zahl der Armen noch Der Optimismus, der die Teilnehmer der Millenni- erheblich höher.Gleichzeitig ist das Durchschnittseinkom- umskonferenzdazu veranlasste, eine Halbierung der Zahl men der Geberländerseither drastisch angestiegen.Der der Armen bis zum Jahr 2015 überhaupt für möglich zu hal- Finanzbedarf für die Erreichung dieses Zieles hatte damals ten, ist nicht ganz unbegründet. noch mehr als 1,6 Prozent des BNE aller Geberländer aus- gemacht.4 In den letzten zehn Jahren des zwanzigsten Jahrhun- Inzwischen denken die Entwicklungsplaner sogar derts hat es bemerkenswerte globale Fortschrittegege- über das Jahr 2015 hinaus. So hält Jeffrey Sachs eine völlige ben. Laut Sachs-Bericht sind zwischen 1990 und 2002 Eliminierung der extremen Armut –nicht der Armut an die Lebenserwartung global von 63 auf 65 Jahre und sich, sondern nur der extremen Armut –bis 2025 für mög- das weltweite Durchschnittseinkommenum21Prozent lich. Dieser Optimismus ist in der Erwartung begründet, gestiegen, die Zahl der extrem Armen um 130 Millionen dass nicht nur viele Länder als Empfänger wegfallen wer- zurückgegangen (trotz des anhaltenden Bevölkerungs- den, da sie das Ziel der Beseitigung extremer Armut bereits wachstums), die Kindersterblichkeit von 103 auf 88 je erreicht haben werden, sondern auch noch neue Geberlän- 1.000 Lebendgeburten gesunken, die Zahl der Menschen der,die inzwischen zum Lebensstandard der Industrie- mit Zugang zu sauberem Trinkwasser um acht Prozent länder aufgeschlossen haben, hinzukommenwerden.

3Jeffrey D. Sachs, Das Ende der Armut –ein ökonomisches Programm für eine gerechtere Welt, München 2005. 4Ebd., S. 356.

Einsichten und Perspektiven 3|09 225 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung

Der Optimismus des Ökonomen basiert auf der Beob- immer noch besonders schlechten Gesundheitsbedingun- achtung, dass in vielen wirtschaftlich erfolgreichen gen in eben diesen Ländern, vor allem die immer noch gras- Schwellenländern eine Art Eigendynamikzubeobach- sierendeMalaria und die seit neuerer Zeit sich rasch aus- ten ist: Haben sie es erst einmal geschafft, sich –mit breitende HIV/AIDS-Epidemie. oder ohne Hilfe der reichen Länder –aus der Armuts- Generell kann man zudem sagen, dass kleine Länder schon falle zu befreien, dann setzt ein sich selbst tragender dadurch erheblich benachteiligt sind, dass sie nur einen ent- Prozess eines hohen Wirtschaftswachstums ein. Die sprechend kleinen Binnenmarkt haben, in dem einfach nicht Folge: Das Land wird interessant für ausländische genügend Kaufkraft vorhanden ist, um einen wirtschaftli- Direktinvestitionen, neue Arbeitsplätze entstehen chen Wachstumsprozess in Gang zu setzen. wegender weltweit noch relativ niedrigenLöhne, die Exporteschnellen in die Höhe, die Kaufkraft der Das Millenniumsprojekt:Maßnahmen- Bevölkerung steigt und das Land wird schrittweisein katalogund Finanzierung die Weltwirtschaft eingebunden. Wo liegt nun der Schlüssel zur Befreiung dieser Länder aus Warum aber ist es für manche Länder so schwer,sich aus der der Armutsfalle? Die Experten des Millenniumsprojektes Armutsfalle zu lösen? Für die Experten des Sachs-Teams sehen hier nur eine Möglichkeit: den Kapitalbestand der be- liegt die Erklärung hierfür auf der Hand: Die Sparquote in troffenen Volkswirtschaften so weit aufzustocken, dass ein armen Ländern ist zu niedrig, denn der größte Teil der Be- selbst tragendes Wirtschaftswachstum möglich wird. Dazu völkerung hat keine Mittel, die er auf die Seite legen könn- bedarf es vor allem der Investitionen in das „Humankapi- te. Dementsprechend gibt es auch keinen Spielraum für In- tal“, also in die Bildung und Gesundheit der Bevölkerung vestitionen, auch nicht von Seiten des Staates, da auch die sowie in die Infrastruktur des Landes (Verkehrswege, Tele- Staatsquote zwangsläufig nur sehr niedrig ist. In diesem kommunikation), die Voraussetzung für die Entstehung Zusammenhang kommt es häufig zum Ausbruch gewalttä- von Gewerbe und Handel sind. tiger Konflikte um die knappen Ressourcen, ausländische Direktinvestitionen bleiben aus, Fachkräfte,die im Lande Die Quintessenz jahrzehntelanger Erfahrungmit ausgebildet wurden, wandern ab. Entwicklungshilfeist die, dass eine wirksame Unter- Diese Sichtweise ist nicht neu, im Gegenteil, sie stützung nur durch „Hilfe zur Selbsthilfe“ zustande stellt seit den sechziger Jahren die Grundlage für die Ent- kommt. Deshalb dürfen diese notwendigen öffentlichen wicklungshilfe dar.Warum es aber trotz jahrzehntelanger Investitionen zur Aktivierung des Selbsthilfepotentials Entwicklungshilfe viele Länder nicht geschafft haben, die der Armen keineswegs nur aus dem Ausland stammen. entscheidende erste Sprosse der Leiter zu einem sich selbst Hier ist, wie schon der Monterrey Konsens festgelegt tragenden Wirtschaftswachstum zu erklimmen, hat viele hat, die kräftige Mithilfe der Entwicklungsländer unterschiedliche Gründe. Es liegt zum einen an der Art der gefragt, die als Grundbedingung jeglicher Finanzhilfe Entwicklungshilfe, die oft wenig Rücksicht auf die tatsäch- erst einmaleine nationale Armutsbekämpfungsstrategie lichen Bedürfnisse der Entwicklungsländer genommen hat. entwickeln müssen. Zum andern liegt es daran, dass ihnen von den Gebern sehr einseitige Konzepte diktiert und solche Bedingungen (sog. Auch der Einsatz von Eigenmitteln ist unabdingbar:Nach „Strukturanpassungsprogramme“) übergestülptwurden, den Vorstellungen der Sachs-Kommission sollte der Auf- die für die Entwicklungletztlich wenig hilfreich waren. wand der Entwicklungsländer für die Armutsbekämpfung Aber selbstverständlich lag es auch nicht selten an der bei mindestens vier Prozent des Bruttosozialprodukts der schlechten Regierungsführung in den Entwicklungsländern Entwicklungsländer liegen, zumindest ist diese Zielmarke selbst, an der Korruption der Verwaltung und der Unfä- für das Jahr 2015 angestrebt. In manchen extremarmen Ent- higkeit, rechtstaatliche Bedingungen herzustellen, die für wicklungsländern müssen sogar erste Verwaltungskapazitä- die Entstehung einer lebendigen Marktwirtschaft einfach ten aufgebaut werden, um die erarbeiteten Strategien auch unabdingbar sind. umsetzen zu können. Die Realisierung der nationalen Stra- Die wichtigsten Gründe liegen jedoch meist, davon tegien zur Armutsbekämpfung hat in jedem Fall für die sind die Experten der Sachs-Kommission überzeugt, in den Öffentlichkeit transparent und unter Beteiligung der Zivil- besonderen geographischen Bedingungen: Hierzuzählen gesellschaft zu geschehen. die hohen Transportkosten, die vor allen Dingen in den Um jedoch so raschwie möglich helfen zu können, Binnenländern gegeben sind, die besonders schlechten schlägt die Sachs-Kommission daneben eine ganze Reihe agroklimatischen Verhältnisse in den Tropenländern und von Sofortmaßnahmen vor,die dazu beitragen sollen, die vor allem die –trotz aller medizinischen Fortschritte – ärgste Not rasch zu lindern. Hierzu gehören Vorschläge wie

226 Einsichten und Perspektiven 3|09 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung die Verteilung von mit Insektiziden präparierten Moskito- zur Verfügung stellen. Hinzu kommen jedoch noch die netzen, um so die Malaria einzudämmen,oder die Kosten für länderübergreifende Maßnahmen, insbesondere Abschaffung sämtlicher Schulgebühren und die Einführung für die Unterstützung von Wissenschaft und Forschung auf kostenloser Schulspeisungen, um auch in den armen globaler Ebene (z.B. Impfstoffforschung etc.), soweit sie Länderneine angemessene Bildungschance zu eröffnen. sich mit einschlägigen Problemen befassen und dabei „glo- Den Bauern sollten kostenlose Düngemittel überlassen bale öffentliche Güter“ herstellen, aber auch die Kosten für werden, um die Tragfähigkeit der Böden zu erhöhen und die Sofortmaßnahmen, sowie für die Verwaltung und die endlich auch im südlichen Afrika eine „Grüne Revolution“ Betriebskosten der Entwicklungsorganisationen selbst. in Gang zu setzen. Der von den reichen Ländern zu deckende „Fehl- Neben diesen Sofortmaßnahmen benötigen die bedarf“ beliefe sich nach den Schätzungendes Millenniums- ärmsten Länder einen „großen Schub“ öffentlicherInvesti- projektes auf 135 Milliarden Dollar,die bis 2015 sukzessive tionen; das ist der Kern des Millenniumsprojektes. Um Art auf 159 Milliarden Dollar ansteigen sollen. Dies entspräche und Umfang der Investitionen weltweit abschätzen zu kön- einem Anteil von 0,44 Prozent des jährlichen Bruttonatio- nen, haben die Experten aus den Erfahrungen in fünf Ent- naleinkommens der reichen Industriestaaten bzw.0,54 Pro- wicklungsländern –Bangladesch, Kambodscha, Ghana, zent im Jahr 2015. Dennoch plädieren Sachs und seine Tansania und Uganda –die Kosten hochgerechnet. Dem- Mitarbeiterdringend dafür,die Orientierung an den ange- nach ergibt sich als Schätzwert ein Bedarf von ca. 110 Dollar strebten 0,7 Prozent beizubehalten, da in dem Ansatz noch pro Person (mit „Person“ sind hier nicht die Einwohner des große Kostenfaktoren unberücksichtigt seien, zum Beispiel Landes gemeint, sondern nur die unmittelbar von extremer notwendige Anpassungsmaßnahmen im Gefolge des globa- Armut betroffenen Personen). len Klimawandels.6 Der Umfang des nötigen Investitionsschubes liegt damit bei etwa zehn bis 20 Prozent des Bruttonationalpro- Das Millenniumsprojekt: Probleme und duktes des betroffenen Entwicklungslandes. Diese öffentli- Perspektiven der Realisierung chen Investitionen sollen zu etwa 35 Prozent in den Ge- sundheitssektor fließen, weitere 35 Prozent in den Hausbau An dem geforderten„großen Schub“(„big push“)anöffent- und die Verbesserung der Infrastruktur (Verkehrswege, En- lichen Investitionen, den die Planer des Millenniumspro- ergieverteilungsnetze, Kommunikationstechnik), 15 Pro- jektes für notwendig erachten, hat sich vor allem die Kritik zent in den Bildungssektor,zwei Prozent in Wasserversor- am Sachs-Konzept entzündet. So fühlt sich der New Yorker gung und Abwasserentsorgung, und der Rest für andere Ökonom William Easterly gar in die fünfziger Jahre zu- Komponenten der Grundversorgung der Armen.5 rückversetzt, als die vom Millennium-Projekt revitalisierten Vonden veranschlagten 110 Dollar pro Person Grundkategorien „ big push“, „ poverty trap“(Armutsfalle) müssten zehn Dollar von den Armen selbst aufgebracht und „ take off“die entwicklungspolitische Diskussion be- werden, 35 Dollar durch die Regierung des Entwicklungs- herrschten.7 landes, die restlichen 65 Dollar pro Person und Jahr müss- Schon in den 40er Jahren war der Begriff „ big push“ ten von den „Gebern“, den reichen Industrieländern zur entstanden, quasi als Codewort für die Theorien des Öko- Verfügung gestellt werden. Als Empfänger wird hier nur an nomen Paul Rosenstein Rodan, der mit einer kräftigen Länder mit absolutem Niedrigeinkommen gedacht, denn Finanzspritze die notleidenden Ökonomien Ost- und Süd- beispielsweise Brasilien, Chile oder Mexiko weisen zwar Osteuropas wieder in Gang bringen wollte und dessen Regionen großer Armut auf, können aber das Leistungs- Theorien auch auf die Entwicklungsländer übertragen wur- paket komplett aus eigenen Haushaltsmitteln finanzieren. den. In der Tatmag damals die Vorstellung, mehr Entwick- Auch China kann seinen Finanzbedarfweitgehend selbst lungshilfe führe quasi automatischzuweniger Armut, noch decken. Nur Indien wird vom Millenniumsprojekt als in vielen Köpfen vorhanden gewesen sein. Ausnahme betrachtet: Das Land bemühe sich zwar,die Finanzierungslücke zu schließen, habe jedoch einen so er- Auch der Geschäftsführer des Deutschen Instituts für heblichen Hilfsbedarf, dass eine Fremdunterstützung – Entwicklungspolitik, Dirk Messner,warnt vor einer noch –unverzichtbar sei. „tragischenRenaissance“der „‚big push‘-Philosophie“. Für 1,1 Milliarden Menschen in extremer Not Nach seiner Meinung verbirgt sich hinter dieser Strate- müssten demnach die Geber 72 Milliarden Dollar pro Jahr gie eine „entwicklungspolitische Allmachtsphantasie,

5Ebd., S. 361. 6Ebd., S. 366. 7William Easterly,Reliving the ’50s: the Big Push, Poverty Traps and Takeoffs in Economic Development, Center for Global Development 2005,WorkingPaper Nr.65.

Einsichten und Perspektiven 3|09 227 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung die davon ausgeht, dass ‚guter Wille’ in den Industrie- Anderseits, auch wenn man Easterly in großen Teilen seiner ländern (Steigerung der ODA-Investitionen) und ‚rich- Kritik nicht folgen mag, so ist eines seiner Grundmotive tige’ entwicklungspolitischeStrategien notwendige und doch nur allzu berechtigt,nämlich die Besorgnis, durch das hinreichende Bedingung für den Abbau der weltweiten gigantische Millenniumsprojekt könnte die Selbstbestim- Armut seien“. 8 mung der Armen eher beeinträchtigt als gefördert werden. So schreibt er in einem Artikel für die „Washington Post“: Messner pflichtet Easterly bei, der zurecht darauf hinge- „Die wirtschaftliche Entwicklung in Afrika wird abhängen wiesenhabe, dass der „Dreischritt“ des Sachs-Berichtes ( po- –sowie überall und in der gesamten Geschichte der moder- verty trap–big push –take off)nichtüberzeugen könne. nen Welt –vom Erfolg der Privatunternehmer,der gesell- Liest man die statistische Analyse Easterlys jedoch, mit der schaftlichen Akteureund der afrikanischenpolitischenRe- er versucht, den wirtschaftstheoretischen Grundlagen der former. Er wird nicht abhängen von den Aktivitäten bevor- Sachs-Kommissionden Boden zu entziehen, so stelltman mundender,bürokratischer,nicht rechenschaftspflichtiger rasch fest, dass Easterly diese Kategorien überzeichnet, ja und schlecht informierter Außenseiter.“10 schon aprioriadabsurdum führt, indem er „ poverty trap“ als Nullwachstum definiert und „ take off“als blitzartiges Sowohl Easterly als auch Messner unterstellenSachs, Hochschnellen der Wachstumskurve. dass er die Bedeutung der „schlechtenRegierungs- Dabei müsste dem Leser des Buches von Sachs führung“ für die Erfolglosigkeit der Entwicklungshilfe schon auf den ersten Seiten auffallen, dass der Autor im Zu- übersehe. Easterly sieht in seiner Studie eine enge sammenhang mit dem Thema „Armutsfalle“ nie von einem Korrelation zwischen demokratischen Strukturen und Nullwachstum spricht, sondernauchbei den ärmstenLän- wirtschaftlichem Erfolg. Sachs bestätigt, dass es einen dern Afrikas in der Langzeitperspektive ein beständiges, solchen Zusammenhanggibt, besteht aber darauf,dass aber zu geringes Wachstum konstatiert. So weist er darauf dieserleiderinder Realität weitaus geringer sei als hin, dass der Unterschied zwischen dem kontinuierlichen erwünscht. Zum Beleg verweist er auf die Tatsache, dass Wachstum in den USA von 1,7 Prozent zwischen 1820 und die großen erfolgreichen asiatischen Ökonomien 1998 und dem jährlichen Wirtschaftswachstum der afrika- (China, Südkorea, Vietnam) gerade zum Zeitpunkt nischen Staaten, das im gleichen Zeitraum bei nur 0,7 Pro- ihres wirtschaftlichen takeoffs nicht geradeMuster- zent lag, zu den gravierenden Unterschieden in der Wirt- knabendemokratischer Reformen gewesen seien. schaftsentwicklung geführt hat.9 Messner ist zuzustimmen, wenn er feststellt, mit Besonders ernst zu nehmen ist jedoch der Hinweis Mess- mehr Geld allein ließen sich die Probleme der weltweiten ners, dass die externe Hilfe zur Erreichung der Millenni- Armut nicht lösen. Allerdings würde Sachs hier auch gar umsziele bei vielen afrikanischen Eliten gar nicht willkom- nicht widersprechen. Völlig verfehlt ist in jedem Fall der men sei, die es sich in ihren „Rentenökonomien“, also bei Vorwurf, das Millenniumsprojekt falle mit seinem Ansatz in dem Genuss der Erlöse aus dem Verkauf von Rohstoffen, die fünfziger Jahre zurück und habe praktisch nichts aus der gemütlich gemacht hätten und gar keine gesellschaftlichen entwicklungspolitischen Diskussion der letzten Jahrzehnte Veränderungen, die den Abbau von sozialen und ökonomi- gelernt. Man kann zwar nachvollziehen, dass mancheBe- schen Privilegienmit einschlössen, anstrebten.Aber auch griffe (wie „ big push“) Erinnerungenandie Vorstellungen darauf reagierte die Sachs-Kommission, die klar empfiehlt, der 50er Jahre wachrufen, doch hat die Sachs-Kommission Entwicklungsländer mit einer korrupten oder einer böswil- durchaus die entwicklungspolitischen Erkenntnisse und ligen schlechten Regierungsführung apriori von der Förde- Lernfortschritte der siebziger,achtziger und neunziger Jah- rung auszuschließen.11 re aufgegriffenund verarbeitet.Das lässt sich schon daran Wörtlich heißt es im Sachs-Bericht, dass sich für erkennen, dass nicht über die Köpfe der Armen hinweg die schlecht regierte Länderwie Belarus, Myanmar,Korea oder Entwicklungvorangetrieben werden soll, sondern nur in Simbabwe „wenig Argumente für umfangreiche Hilfeleis- enger Kooperation mit ihnen („empowermentofthe poor“) tungen“ fänden, Länder mit gutwilligen Regierungen hin- und mit dem klaren Ziel, die Hilfe als Hilfe zur Selbsthilfe gegen, denen jedoch die Mittel fehlen, schlagkräftige Ver- anzulegen. waltungen aufzubauen,will Sachs auf die „Schnellspur“ set-

8Dirk Messner,Der Bericht des „UN Millenniums-Projekts“: Wiekann die weltweite Armut halbiert werden, in: Die Friedenswarte, 80 2005, S. 273. 9Sachs-Bericht (wie Anm. 3), S. 45. 10 Washington Post v. 12. Februar 2006. 11 Sachs-Bericht (wie Anm. 3), S. 44.

228 Einsichten und Perspektiven 3|09 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung zen, also auf die Liste der Länder,die in der Mittelvorgabe fasst.Seine zentrale Botschaft: Die Weltgemeinschaft sollte bevorzugt werden sollen –verbunden mit dem Hinterge- ihre gesamten diesbezüglichen Anstrengungen auf die Län- danken,andere Länder damit unter Zugzwang zu setzen. der der „ bottom billion“konzentrieren, denn nach seiner Als einen weiteren Schwachpunktdes Sachs- Meinung müssen wir „das vertrauteZahlenverhältnis auf Berichtes sieht Messner dessen angebliche „umweltpoliti- den Kopfstellen“: Insgesamt fünfMilliardenMenschen le- sche Kurzsichtigkeit an“. Er beruft sich dabei auf ein 2005 ben heute bereits im Wohlstand oder sind auf dem Weg veröffentlichtes Gutachten des „Wissenschaftlichen Beirats dorthin, eine Milliarde fällt immer weiter zurück. der Bundesregierung globaleUmweltveränderung“,der eine stärkere „Interdependenz zwischen Armutsbe- Natürlich gibt es nicht nur eine, sondern fast fünf kämpfung und Umweltwandel“inden FeldernKlima- Milliarden Arme auf der Welt. Nach Collier brauchen wandel, Wassermangel, Bodendegradation und Verlust bio- aber vier von diesen fünf Milliarden Menschen die Gel- logischer Vielfalt anmahnt. Obschon der Sachs-Bericht an der der weltweiten Entwicklungshilfe überhaupt nicht, mehreren Stellen das Thema Umwelt und Nachhaltigkeit denn sie leben in Schwellenländern, die wirtschaftlich aufnimmt, fehlt ihm tatsächlich eine wünschenswert konse- sehr schnell aufholen. Der „untersten Milliarde“ jedoch quente Vernetzung seiner einzelnen Forderungen mit solle unsere volle Aufmerksamkeit gelten. „umweltpolitischen Imperativen.“12 Diese Menschen leben in insgesamt 58 durchwegs klei- Bei aller Kritikjedochwird dem Millenniumspro- nen Staaten, von denen fast alle in Afrikaliegen. Die jekt nicht abgesprochen, dass es das Potential zu einem Kennzeichen dieser Länder: „entwicklungspolitischen Befreiungsschlag“ besitzt, denn: „Erstmals in der Geschichte der internationalen Entwick- Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt 50 Jahre, lungspolitik hat die an den MDGs orientierteArmutsbe- in den anderen Entwicklungsländern sind es 67 Jahre. Die kämpfung eine von allen bi- und multilateralen Akteuren Kindersterblichkeit liegt bei 14 Prozent, in den anderen mitgetragene Priorität erhalten“.13 Entwicklungsländern hingegen bei 4Prozent. Und der An- Die Kritikder entwicklungspolitischen Fachwelt teil der Kinder mit chronischerMangelernährung beträgt richtet sich zwar in der Regel gegen die vorgeschlagenen dort 46 Prozent im Gegensatz zu 20 Prozent in den übrigen Umsetzungsstrategien, aber auch die Millenniumsziele Entwicklungsländern. selbst werden von manchen Experten als ungenügend emp- Im Unterschiedzuden Schwellenländern profitie- funden. 14 So wirdbeispielsweise moniert,dassdas „ent- ren die ärmsten Länder nicht von der Globalisierung. Wa- wicklungspolitische Schlüsselproblem“ desBevölkerungs- rum diese Länder den Anschluss an die allgemeine Wirt- wachstumsinden MDGs völlig ignoriertwerde. 15 Undauch schaftsentwicklung nicht finden, liegt nach Collier daran, dieelementareBedeutungdes Aspekts Frieden undFrie- dass sie in einer oder in mehreren „Entwicklungsfallen“ ste- denssicherung werdeimZielkatalog völlig ausgeblendet.16 cken. Er spricht also nicht wie Sachs generell von der DiesePositionwirdauchvon dembritischenÖko- „Armutsfalle“, sondern ihm gelingt es, vier solche „Ent- nomenPaulCollier geteilt, derfür einenneuen Ansatz in wicklungsfallen“ zu identifizieren: die Konfliktfalle, die derglobalenArmutsbekämpfungplädiert, denwir im Fol- Ressourcenfalle, die Falle der geographischen Binnenlage genden vorstellen wollen. und die Falle der schlechten Regierungsführung. In der „Konfliktfalle“ stecken die Länder,indenen Paul Collier: Konzentrationauf Rebellionen und Bürgerkriege toben, die jene Ressourcen dieärmsten Länder absorbieren, die für eine wirtschaftliche Entwicklung ge- braucht würden. Es handelt sich um „ failing states“, von Paul Collier,der frühereLeiterder Forschungsabteilungder denen einige –wie etwa Somalia –überhaupt keine funktio- Weltbank und nun Hochschullehrer für Ökonomie in nierende Zentralregierung mehr besitzen, in anderen ist die Oxford, hat seine jahrzehntelangen Erfahrungenindem neu Regierungsgewalt räumlich begrenzt und deckt bei weitem erschienenenBuch „Die unterste Milliarde“17 zusammenge- nicht mehr das volle Staatsterritorium ab.

12 Messner (wie Anm. 8), S. 270. 13 Franz Nuscheler/Michèle Roth (Hg.), Die Millenniums-Entwicklungsziele. Entwicklungspolitischer Königswegoder ein Irrweg? Ulm 2006,S.40. 14 Ebd., S. 15 ff. 15 Ebd., S. 32. 16 Ebd., S. 24. 17 Paul Collier,Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann, München 2008.

Einsichten und Perspektiven 3|09 229 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung

Um diesen Ländernzuhelfen, plädiert Collierfür militäri- die Lage der Länderohne Zugangzum Meer,wenn sie zu- sche Interventionen –ein spätestens seit dem Irakkrieg gleich von „schlechtenNachbarn“ umgeben sind. Diese zei- äußerst unpopulärer Vorschlag. Doch er verweist auf ein gen meist wenig Interesse, einem Binnenland einen guten sehr positives Beispiel, das zeigt, dass bei entsprechender Transportweg zum Meer zu gewähren. Noch dramatischer Entschlossenheit dieses Mittel letztlich sehr segensreich wird dieSituation,wenndie benachbarten Küstenländer in sein kann: die britische Operation „Palliser“ in Sierra Leone innere Konflikte verstrickt sind. Derartige Zustände im Jahr 2000. Mit tausend Soldaten konnte dort in kurzer schränken die Exportwirtschaft eines Binnenstaates ohne Zeit ein Bürgerkrieg beendet werden. Dieser hätte, so Eigenverschulden in empfindlicher Weise ein. schätzt Collier,das Land mindestens 64 Milliarden Dollar Ebenso naheliegendist, dass eine schlechte Regie- gekostet. Auch aus Kosten-Nutzen-Sicht war also das Ein- rungsführung als Entwicklungsfalle wirkt, die dadurch ver- greifen in Sierra Leone ein Erfolg, ganz abgesehen davon, schärft wird, dass es sich durchwegs um kleine Länder han- dass menschliches Elend verhindert werden konnte, wie delt. Hierzu braucht man nur an Länder wie Simbabwe zu man das auch an anderen Ortenwie z.B. Ruanda hättever- denken, wo Präsident Mugabe die Verantwortung für den hindern können und müssen. wirtschaftlichen Kollaps trägt. Collier warnt jedoch davor, Die zweite Falle ist die Ressourcenfalle.Eswirkt die Wirkungen einer guten Regierungsführung zu über- paradox, dass erdöl- oder diamantreicheLänder gegenüber schätzen. Diese helfe zwar,die Chancen eines Landes zu Ländern ohne Bodenschätze im Nachteil sein sollen. Doch nutzen, allerdings könne sie aber keine Chancen schaffen, gehört dies inzwischen zu den allgemeinenErkenntnissen wo es keine gibt. der Wirtschaftswissenschaft: Der leicht zugängliche Reich- Auch bei seinen vorgeschlagenen Lösungsansätzen tum an Ressourcen und Devisenwird von Regierungen nur bemühtsich Collier um eine differenzierte Position. So be- selten genutzt, um in eine dauerhafte wirtschaftliche Ent- fürwortet er durchaus eine Erhöhung der Entwicklungshil- wicklung zu investieren. Collier: fe, allerdings mit Augenmaß und bei gleichzeitigen Verbes- „Ressourcenrenten begünstigen die Autokratie. In serungen in der Organisation und der Koordination. So sei den ethnisch heterogenenGesellschaften der untersten die ohne Auflagen vergebene Budgethilfe meist nicht gut Milliarde sind solche Autokratien der wirtschaftlichen verwendet worden. Dagegen hätten an klare Konditionali- Entwicklung zutiefst hinderlich, das hat SaddamHusseins täten gebundene und gut kontrollierte Projekte sowie der Herrschaft im Irak deutlich gemacht.“18 Einbezug von Nichtregierungsorganisationen die Wirk- Aber auch ohne schlechte Regierungsführung kön- samkeit der Entwicklungshilfe durchwegs erhöht. nen Rohstoffvorkommen die Wirtschaftsentwicklung nega- Deutlich wendet er sich gegen die These, dass mehr tiv beeinflussen, denn der hohe Devisenzufluss verursacht Geld automatischmehr hilft. Nach seiner Einschätzung die sog. „Holländische Krankheit“, das heißt die inländi- kommt er zu dem Ergebnis, dass die Wirkung der Entwick- sche Währunggewinnt gegenüber anderenWährungen an lungshilfe der letzten 30 Jahre nur etwa ein Prozent zum Wert und verringert deshalb künstlich die Wettbewerbsfä- Wirtschaftswachstum der untersten Milliarde beigetragen higkeit der übrigen Exportgüterdes Landes19.Der Begriff habe, was Collier trotz der vermeintlichen Geringfügigkeit wurde von Wirtschaftswissenschaftlern schon vor 30 Jahren als wesentlichen und wichtigen Beitrag einstuft. Wenn aber geprägt, da dieses Phänomen angesichts der Nutzung der der Anteil der Entwicklungshilfe am Nationaleinkommen Erdgasvorkommen in der Nordsee und deren Auswirkung ein gewisses Maß übersteigt, könne sie sogar die Lage ver- auf die holländische Wirtschaft deutlich zu beobachten war. schlechtern, vor allem, weil sie dann ähnlich wie Rentenein- Zusätzlich stellt Collier in seinen empirischen Un- kommen aus natürlichen Ressourcen wirke und die „Hol- tersuchungen fest, dass rohstoffreiche Länder resistenter ländische Krankheit“ hervorrufe. gegen politisch-demokratischen Druck seien, vor allem weil sie die Wähler durch eine „Politik der Patronage“ „beste- Im klarenGegensatz zu seinemKollegen Geoffrey chen“ könnten. Darum spiele Pressefreiheit, in Afrika ins- Sachs setzt Collier sehr viel stärker auf handelspoliti- besondere die Freiheit des Rundfunks, als wichtiger Kon- sche Maßnahmen als auf die von ihm sehr zwiespältig trollmechanismus eine unschätzbareRolle. bewertete Entwicklungshilfe. Seiner Meinung nach lie- Die Binnenlage als Entwicklungsfalle ist dagegen gen die Chancen der ärmsten Länder im Bereich von leicht verständlich, da solche Länder bei ihren Exporten un- arbeitsintensiven Manufakturen; dank des Lohngefälles ter hohen Transportkosten zu leiden haben. Erschwert wird könnten sie billig produzierenund exportieren.Seine

18 Ebd., S. 74. 19 Ebd., S. 59.

230 Einsichten und Perspektiven 3|09 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung

Einsichten und Perspektiven 3|09 231 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung

Forderung: Auch die „unterste Milliarde“ der Weltbe- „Nach meiner Überzeugung bedeutet Entwicklungspolitik, völkerung müsse in den Welthandel integriert werden. den Menschen die Hoffnung zu geben, dass ihre Kinder in einer Gesellschaft leben werden, die mit dem Rest der Welt Dennoch ist sich der britische Ökonom der Schwierigkeiten Schritthalten kann. Nimmt man ihnen diese Hoffnung, bewusst: Wiesollen diese Länder gegen die Konkurrenz aus werden die Klügeren von ihnen all ihre Kraft daraufver- Chinaund Indien bestehen?Afrika könnenur dann auf den wenden, ihrer Gesellschaft zu entfliehen, statt sie voranzu- Zug aufspringen, wenn der Westen dessen Märkte gezielt bringen…“21 durch Einfuhrerleichterungen fördere. Collier,der sonst konsequent für freie Märkte plädiert, befürwortetindiesem Muhammad Yunus: Mikrokredite Fall dann doch protektionistische Maßnahmen, da die Län- der der untersten Milliarde vor den Billigwaren aus Asien Bei Collier weitgehend unbeachtet blieb ein praktischer An- geschützt werden müssten. satz zur Armutsbekämpfung,der in den Entwicklungslän- Collier bietet –imUnterschied zu anderen Auto- dern selbst entstanden ist, welcher auf die Mitarbeitder ren –kein Pauschalrezept zur Armutsbekämpfung an. Er ist Armen bautund ganzohneHilfe ausländischeroderinter- sich bewusst, dass ausgehend von einer präzisen Diagnose nationaler Geldgeber auskommt: der Mikrokredit. Als Er- der konkreten Voraussetzungen in jedem einzelnen Land finder dieser Methode gilt der aus Bangladesch stammende nur der wohldosierte Einsatz aller zur Verfügung stehenden Ökonom Muhammad Yunus, dessen Buch „Die Armut Instrumentehelfen kann. Detailliert untersucht er deshalb, besiegen“22 2008 auch in Deutschlanderschienen ist. wie sich die Instrumente Entwicklungshilfe, militärische Dieser Ansatz hat international sehr viel Beachtung Intervention, Internationale Gesetze/Chartas und Han- gefunden: 2006 erhielt Yunus den Friedensnobelpreis für delspolitikauf die vier benannten Fallen auswirken und wie seine Bemühungen um die „wirtschaftliche und soziale Ent- sie angepasst werden müssen, um in der gegebenen Pro- wicklung von unten“ und im August 2009 wurde er von blemkonstellation Armut wirksam zu bekämpfen. Präsident Obama mit der „ Medal of Freedom“geehrt. Die Als positives historisches Vorbild präsentiert Col- Vereinten Nationen sehen in der Mikrofinanzierung ein lier den Marshall-Plan. Die USA hätten damals nicht nur wichtiges Instrument zur Erreichung der Millenniumsziele mit Geld und dem Aufbau internationaler Organisationen zur Reduktion von Armut. Sie haben das Jahr 2005 zum Jahr geholfen, sondern auch mit dem Abbau von Handels- der Mikrokredite ausgerufen. barrieren. Und nicht zuletzt dadurch, dass sie 40 Jahre lang 1995 gründete die Weltbank die Consultative mit ihren Truppen in Europa gewesen seien. Group to Assist the Poor (CGAP,„Beratungsgruppe für die Collier hat von vielen Seiten Kritik erfahren, vor Unterstützung der Armen“) mit dem Ziel, 200 Millionen allem wegen seines Plädoyers für militärische Interventio- US-Dollar für die Vergabe von Mikrokrediten zu mobili- nen und wegen seiner Betonung handelspolitischer Maß- sieren. Ein erster Höhepunkt der Entwicklung war der Mi- nahmen. Er ließ sich von dieser allerdings wenig beein- crocredit Summit im Jahr 1997. Auch das Bundesministe- drucken und konterte: rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) misst dem Instrument der Mikrofinanzierung eine große Bedeutung „Die Linke muss sich von der Selbstbestrafung des Westens zu. Deutschland gehört in diesem Bereich zu den weltweit und idealisierten Vorstellungen über die Entwicklungslän- führenden Gebern. Das BMZ setzt hierfür pro Jahr circa der verabschieden. Armut ist nicht romantisch. Die Länder 130 Millionen Euro ein und unterstützt Mikrofinanzpro- der untersten Milliarde sind keine sozialistischen Pionierex- grammein63Ländern. perimente. Die Linke muss lernen, das Wachstum zu lieben. [...] Die Rechte muss sich von der Vorstellung verabschie- Mikrokredite ( micro loans)sind Kleinstkredite von den, Entwicklungshilfe sei Teil des Problems –eine Sozial- einem Euro bis –inder Regel –unter 1.000 Euro an hilfe an Schmarotzer und Gauner.Sie muss den Glauben Kleingewerbetreibendeund Kleinlandwirte. Daneben ablegen, Wachstum sei immer möglich, wenn die Ge- gehören auch Mikroversicherungen und Mikro-Spar- sellschaften sich nur zusammenreißen würden.“20 guthaben zur Produktpalette der Mikrofinanz-Dienst- Doch Colliers Grundanliegen eines stärkeren En- leistung. Die Kredite werden in der Regel von speziali- gagements für die „ Bottom Billion“dürfte auf breite Zu- sierten Finanzdienstleistern und nichtstaatlichen Orga- stimmung stoßen:

20 Ebd.,S.235. 21 Ebd.,S.28. 22 Muhammad Yunus, Die Armut besiegen, München 2008.

232 Einsichten und Perspektiven 3|09 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung nisationen vergeben. Die durchwegs armen Empfänger Yunus: „Wir konzentrieren uns auf die Frauen, weil wir haben in der Regel keinen Zugang zu den üblichen herausgefunden haben, dass es durchweg vorteilhafter Bankkrediten, da sie keine dinglichen Sicherheiten stel- ist für die Familie, wenn die Frau das Darlehen verwal- len können und der Aufwandpro Kredit den „norma- tet.“24 Neben Grameenteilen auchandere Mikrokre- len“ Banken zu hoch erscheint. ditgeber diese Präferenz,dasie ähnliche Erfahrungen gemachthaben. Seinen ersten Mikrokredit vergab Muhammad Yunus im Jahr 1976 an eine größere Gruppe von Korbflechterinnen in Der effektiveJahreszinsfür solche Mikrokredite liegtdeut- einem kleinen Dorf in Bangladesch. Diese hatten sich einen lich über demklassischer Kredite, häufig über 20 Prozent Betrag von 27 US-Dollar bei einem traditionellen Geldver- jährlich. Dies wird begründet mit den höheren Kosten und leiher geliehen, der Wucherzinsen von mehr als hundert der notwendigenintensiven Beratung, die Mikrokredite Prozent einkassiert hatte. Vondem Geld konnten sie sich verursachen. Grameen verlangt zum Beispiel 20 Prozent für das Ausgangsmaterial für ihre Körbe kaufen, und von den die Standardgeschäftskredite, für Hausbaukredite jedoch Erlösen konnten sie den Kredit auf Heller und Pfennig zu- nur 6und für Ausbildungskredite nur 5Prozent, deren rückzahlen. Rückzahlung zudem erst nach Abschluss der Ausbildung Nach diesenersten positiven Erfahrungen vergab bzw.des Studiums fällig wird. Yunus auch größere Beträge, zum Beispiel zum Kauf von Seit 2003 hat Grameen ein eigenes Programm für Kühen, Hühnern oder Setzlingen für Reispflanzen, zum Er- völlig Mittellose ins Leben gerufen. Diese Menschen, die werb einer Nähmaschine, einer Fahrrad-Rikscha oder einer nur durch Betteln ihr Leben fristen, bekommen zinslose Teebude, also durchwegs Dinge, die für den Gelderwerb Kredite (durchschnittlich zehn bis fünfzehn Dollar) und eingesetzt werden. 1983 gab er seinen privaten Einzelaktio- unterliegen bei der Rückzahlung keinen festen Regeln. Sie nen einen professionellen Rahmen und gründete die „ Gra- werden jedoch angehalten, bei ihren Gängen von Haus zu meen“-Bank(zu Deutsch: Dorfbank), die heuteinmehr als Haus kleine Waren (Süßigkeiten, Spielzeug oder Haushalts- 70.000Dörfern in Bangladesch Krediteanfast siebenMil- artikel) zu verkaufen, statt nur um Almosen zu bitten. In- lionen Arme vergibt. Insgesamt gelangten fast siebenMilli- zwischen nehmen fast 100.000 Bettler an diesem Programm arden Dollar zur Auszahlung. teil, von denen ein Teil bereits völlig auf das Betteln ver- Die Rückzahlungsquote beträgt sagenhafte 98 bis zichtet. 99 Prozent, obwohl von den Kundenkeinerlei Sicherheiten Die Geldmittel für Mikrokredite stammen einer- verlangt werden. „Die meisten Banken geben Kredite nur seits aus Spareinlagen der lokalen Bevölkerung, oft aber von an Leute, die schon Geld besitzen und ihnen Sicherheiten internationalen Kapitalgebern oder aus Spenden von Privat- bieten können“, sagt Yunus. „Sie gehen bei jedem Kunden personen. Die Grameen-Bank trägt sich selbst und hat seit vorsichtshalber davon aus, dass er mit ihrem Geld durch- 1995 keine Spendengelder mehr benötigt. Sie gehört inzwi- brennen will. Wirnehmen einfach das Gegenteil an und lie- schen zu 94 Prozent den Kreditnehmerinnen, die auch An- gen in 98,4 Prozent der Fälle richtig. Das ist doch viel effi- spruch auf ihren Anteil an einer fälligen Dividende hat, falls zienter.“23 die Bank Gewinn macht und die Mittel nicht für Refinan- Um die Rückzahlungsbereitschaft zu erhöhen, zierung und Ausweitung gebunden sind. 2006 machte die wird in aller Regel ein Folgekredit in Aussicht gestellt. Bank 20 Millionen Dollar Gewinn,25 woraufhin erstmals Außerdem nutzt die Mikrokreditbank den sozialen Grup- eine Dividende an die fast sieben Millionen Eigentümer aus- pendruck, um die Zahlungsdisziplin zu sichern: Fünf bis geschüttet werden konnte. sechs Kreditnehmer erhalten abwechselnd einen Kredit und Die Effektivität der Mikrokredite für die Armuts- bürgen füreinander.Die Mikrobank prüft das Geschäfts- bekämpfung ist in der Wissenschaft inzwischen unbestrit- modell des Kreditnehmers gründlich und passt die Rück- ten. Nach einer internen Studie der Grameen-Bank haben zahlungsintervalle und -raten dem Geldfluss des Klein-Un- sich inzwischen fast 60 Prozent der Kreditnehmerinnen aus ternehmens an (wöchentliche oder monatliche Rückzah- der Armut befreit. Für die Überwindung der Armut wurde lung). ein Kriterienkatalog entwickelt,der u.a. folgende Bedin- gungen umfasst:26 97 Prozentder Kreditnehmersind Frauen,dadiese als kreditwürdiger und verlässlicher empfunden werden.

23 Der Spiegel, 33 (2008),S.55. 24 Yunus (wie Anm. 22), S. 287. 25 Ebd., S. 80. 26 Ebd., S. 135.

Einsichten und Perspektiven 3|09 233 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung

•Die Familie wohnt in einem Haus mit Blechdach, die Fa- von 200 Dollar vergeben, gibt es irgendwo eine Kuh, die milienmitglieder schlafen in Betten und nicht auf dem davon gekauft wird. Wenn wir 100 Dollar verleihen, kauft nackten Boden. jemand davon vielleicht Hühner.Hinter dem Geld steckt •Esgibt sauberes Wasser aus der Leitung, zumindest aber also ein Gegenwert. Geldwirtschaft und Realwirtschaft abgekochtes oder chemisch gereinigtes Wasser. müssen miteinander in Beziehung stehen. In den USA hat •Esgibt eine hygienische Latrine. sich die Finanzwirtschaft gänzlich von der Realwirtschaft •Alle Kinderder Familie besuchen die Schule. losgelöst. Es wurden Luftschlösser gebaut –und plötzlich •Die Familie kann sich dreimal täglich eine Mahlzeit stellte man fest:DieseSchlösserexistieren ja gar nicht! Das leisten. war der Moment, in dem das Finanzsystemkollabierte.“28 •Die Familie besitzt genügend Kleidung. Die Ironie der Geschichte: Die Wirtschaftskrise hat •Alle Familienmitglieder werden medizinisch betreut. die Mikrokredite nun auch nach New York gebracht. Im Herz des westlichen Kapitalismus wurde ein Schwesterun- Die möglichen Auswirkungender 2008 begonnenen ternehmen der Grameen-Bank gegründet und verarmte Finanz- und Wirtschaftskrise auf die weltweiten Mikrofi- Amerikaner profitierennun von dem für Entwicklungslän- nanzinstitutionen wurden von der Bundesregierung mit der konzipierten Instrument. Im ersten Jahr ihres Bestehens großer Besorgnis gesehen. Im Auftrag des Bundesentwick- hat Grameen-America in New York 1,5 Millionen Dollar lungsministeriums beteiligt sich deshalb die KfW-Entwick- an fast 600 Frauen mit Kleinunternehmen verliehen. Die lungsbank (Kreditanstalt für Wiederaufbau) mit 130 Millio- Rückzahlungsquote beträgt auch in den USA 99 Prozent, nen US-Dollar an einem Fonds, der im Falle von Refinan- eine Quote, von der traditionelle amerikanische Banken nur zierungsengpässen den Mikrobanken unter die Arme träumen können. greifen soll.IneinerPresseerklärung des BMZ heißtes: „Auch Mikrofinanzinstitutionen stehen infolge der globa- Die Chancen der Umsetzung len Finanzkrise zunehmend unter Druck, da sich privateIn- der Millenniumsziele vestoren zurückhaltenund wenigerSpareinlagen zufließen, sodass die Mikrofinanzinstitutionen teilweise von Zah- Bangladesch, das lange Zeit als hoffnungsloser Fall galt, ge- lungsunfähigkeit bedroht sind.“27 hört inzwischen,nicht zuletzt wegen der Mikrokredite, zu Der Grameen Bank jedoch konnte die Krise bislang den aufstrebenden Schwellenländern. Wieaber sieht die wenig anhaben. In einem Spiegel-InterviewerklärtYunus weltweite Lage aus? Mehr als die Hälfte der Zeit bis zur diesen Sachverhalt in seiner stets anschaulichen Sprache so: Zielmarke für die Millenniumsziele im Jahr 2015 ist verstri- „Der grundlegende Unterschiedist, dass unser Geschäft chen. Wartrotz aller Fortschritte das Erreichen der Millen- sehr nah an der realen Wirtschaft ist. Wenn wir einen Kredit niumsziele immer gefährdet, so ist nun seit 2008 eine weite-

27 Presse-Erklärungdes BMZ v. 22.12.2008, www.bmz.de/de/presse/pm/2008/dezember/pm_20081222_128.html (Stand: Oktober 2009). 28 Interview mit Spiegel-Online v. 9.10.2008, http://www.spiegel.de/wirtschaft/ 0,1518,582929,00.html (Stand: Oktober 2009).

234 Einsichten und Perspektiven 3|09 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung

re Verschärfung eingetreten: Die weltweite Wirtschaftskrise bisherigen Erfolge bei der Verringerung der Armut vor hat die bisherigen Fortschritte beim Kampf gegen die extre- allem durch das schnelle Wirtschaftswachstum in China me Armut verlangsamt oder sogar umgekehrt. und Ostasien erzielt wurden. Der Anteil der Menschen, die von weniger als einem US-Dollar am Tagleben müssen, fiel Im jährlich erscheinendenMillenniums-Entwicklungs- in China von 60 auf 16 Prozent und in Ostasien von 56 auf bericht zieht die UNO Bilanz über die jeweils erzielten 18 Prozent. Da in Asien die bevölkerungsreichsten Länder Fortschritte. Der Bericht für 2009 verweist darauf, dass der Erde liegen, hatte dieser Erfolg auch positive Auswir- zwar noch keine endgültigenDaten vorliegen, aber kungen auf den globalen Trend. Der Anteil der extrem Ar- seriösen Schätzungender Weltbank zufolge davon aus- men an der Weltbevölkerung sank nach den revidierten zugehen sei, dass die globale Wirtschaftskrise die bishe- Zahlen von 42 Prozent auf knapp 26 Prozent. rigen positiven Trends deutlich abgebremst, zum Stop- Für die Region Afrika südlich der Sahara zeichnen pen gebracht oder sogar umgekehrt hat. die neuen Daten allerdings ein trübes Bild. Dort ist der Anteil der Armen seit 1990 um lediglich fünf Prozentpunkte Einen wichtigen Erfolg der vom Millenniums-Projekt vor- auf 50 Prozent im Jahr 2005 gesunken. Zwar sind Wirtschaft geschlagenen Sofortmaßnahmen kann der Bericht jedoch und reales Pro-Kopf-Einkommen in der Region in den letz- vermelden: So wurden dank der bereitgestellten Mittel in ten Jahren stetig gewachsen, aber das sehr hohe Bevölke- Höhe von fast zehn Mrd. US-Dollar seit 2002 deutliche rungswachstum in der Region hat dazu geführt, dass trotz Fortschrittebei der Bekämpfung von Aids, Tuberkulose sinkenden Anteils die absolute Zahl der Armen in den ver- und Malaria erzielt. Beispielsweise erhielten zwei Millionen gangenen Jahren um 100 Millionen Menschen gestiegen ist. mehr HIV-positive Afrikaner eine antiretrovirale Behand- Damit wird es für die Region südlich der Sahara nahezu un- lung. möglich, das Ziel der Armutshalbierung bis 2015 zu errei- Allein aus Mitteln des globalen Fonds wurden 70 chen, wenn nicht wesentliche zusätzliche Anstrengungen Millionen Moskitonetzezum Schutz vor Malaria verteilt erfolgen. und damit die Zahl der Malariatoten in Ländern wie Äthio- In der Region Südasien sank die Anzahl der extrem pien, Ruanda und Kenia drastisch gesenkt. Dies trug dazu Armen von 51 auf 40 Prozent. Auch in Lateinamerika und bei, dass die Kindersterblichkeit, die weltweit von 12,6 der Karibik wurden Fortschritte bei der Bekämpfung der Millionen im Jahr 1990 auf neun Millionen 2007 gesunken Armut gemacht. Dort sank der Anteil der extrem Armen ist, nun auch in den von Malaria heimgesuchten Ländern zwischen 1990 und 2005 von 10,7 Prozent auf 8,2 Prozent. deutlich zurückgegangen ist. In den Transformationsländern Südosteuropas und in Zen- Bis zum Beginn der Wirtschaftskrise gab es auch tralasien stieg der Anteilder Menschen, die in extremer Ar- deutliche Erfolge in der Armutsbekämpfung,allerdings mit mut leben, zwischen 1990 und 2005 von 1,5 auf 5Prozent, starken regionalen Unterschieden. Schätzungender Welt- sinkt inzwischen aber wieder langsam ab. bank für den Zeitraum von 1981 bis 2005 zeigen, dass die

Einsichten und Perspektiven 3|09 235 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung

Die Ergebnisse des Millenniums-Entwicklungsberichtes Hans Diefenbacher, Ein Drittel des Wegs? Die Millennium vor Augen, bekräftigten die Teilnehmer des G8-Gipfels Development Goals als Grundlage für Entwicklung und Frieden, im italienischen L’Aquila den Beschluss von Gleneagles, in: Friedensgutachten2006,Münster 2006,S.93–102. die Hilfe für Afrika bis zum Jahr 2010 auf jährlich 50 Milliarden Dollar zu verdoppeln. Neu beschlossen wur- Heribert Dieter, Die Zukunft der Globalisierung. Zwischen de ein Hilfsprogramm von 20 Milliarden Dollar,das in Krise und Neugestaltung, Baden-Baden 2005. den kommenden drei Jahren den armen Ländern helfen soll, ihre Landwirtschaft besser zu stützen und auszu- William Easterly, Reliving the ’50s: the Big Push, Poverty Traps bauen. Gleichzeitig soll die direkte Nahrungsmittelhilfe and Takeoffs in Economic Development, Center for Global De- gekürzt werden, womit die Industriestaaten bislang velopment, Working Paper Nr.65, 2005. versuchten, ihre Überschüsse loszuwerden, was jedoch die lokalen Märkte ganz empfindlich beeinträchtigte. Walter Eberlei/Bettina Führmann, Armutsbekämpfungund Partizipation, in: Stiftung Entwicklung und Frieden(Hg.), Im Vorwort des Millenniums-Entwicklungsberichts 2009 Globale Trends 2007, Frankfurt 2006, S. 171–188. mahnt UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon die Regierun- gen der Industrieländer: Thomas Fues, Weltsozialpolitik und Entwicklung, in: Stiftung „Wir müssen trotz des ungünstigen wirtschaftli- Entwicklung und Frieden (Hg.), Globale Trends 2007, Frankfurt chen Klimas die im Jahr 2000 gegebenen Versprechen ein- 2006, S. 153–169. halten.Die internationale Gemeinschaft darf die Armen und Schwachen nicht alleine lassen. Es ist höchste Zeit, um Brigitte Hamm/ MichèleRoth, Weltgesellschaft und Entwick- mehr für die Millenniums-Entwicklungsziele zu tun. Mit lung, in: Stiftung Entwicklung und Frieden (Hg.), Globale starkempolitischem Willen und ausreichenden finanziellen Trends 2007, Frankfurt 2006, S. 145–152. Mitteln bleiben die Ziele noch in Reichweite –auch in ex- trem armen Staaten.“29 ❙ Uwe Holtz, Die Zahl undemokratischer Länder halbieren! Armutsbekämpfung durchDemokratie, Menschenrechte und good governance, in: Franz Nuscheler/Michèle Roth (Hg.), Die Millenniums-Entwicklungsziele. Entwicklungspolitischer Literatur Königsweg oder ein Irrweg? Ulm 2006, S. 118–137.

KofiAnnan, Bericht des UN-Generalsekretärs über die Umset- Paul Kevenhörster, Das Millennium-Projekt,in: Aus Politik zung der Millenniumserklärung der UN, 27. August 2004, in: In- und Zeitgeschichte, 14, 2006 S. 31–38. ternationale Politik, Nr.11/12, 2004, S. 177–188. BarbaraKloss-Quiroga/Sabine Rubel, Kontrolle ist nötig. Friederike Bauer, Die Millenniums-Entwicklungsziele der Ver- Armutsbekämpfung, in: E+Z, Bd 4, 2006, S. 168–167. einten Nationen. UN Basis Informationen Nr.33, DGVN, 2006–08–02. Karin Küblböck, Schmerztherapie statt Ursachenbekämpfung? Eine strukturelle Kritik an den Millenniums-Entwicklungszielen, Bundeszentrale für politische Bildung, Globalisierung, Bonn in: Franz Nuscheler/Michèle Roth (Hg.), Die Millenniums-Ent- 1999. wicklungsziele. Entwicklungspolitischer Königsweg oder ein Irrweg?Ulm 2006, S. 138–154. Paul Collier, Die unterste Milliarde. Warum die ärmsten Länder scheitern und was man dagegen tun kann, München 2008. Stephan Klingebiel, Mit einem big push aus der Armutsfalle? Der Sachs-Berichtist kein Patentrezept,in: Franz Nuscheler/ Michèle Roth (Hg.), Die Millenniums-Entwicklungsziele. Ent- wicklungspolitischer Königsweg oder ein Irrweg? Ulm 2006, S. 194–06.

29 Ban Ki-moon, Presse-Erklärung vom 3. Juli 2009, http://www.unric.org/index.php. (Stand:Oktober2009).

236 Einsichten und Perspektiven 3|09 Globale Armut. Neue Strategien zu ihrer Bekämpfung

David Landes, Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die Internet einen reich und die andern arm sind, Berlin 1999. www.unmillenniumproject.org www.un.org Dirk Messner, Der Berichtdes „UN Millenniums-Projekts“: www.dgvn.de Wiekann die weltweite Armut halbiert werden, in: Die Friedens- www.bmz.de warte, 80, 2005, 263–282.

Millenniums-Projekt, In die Entwicklung investieren. Ein prak- tischer Plan zur Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele, (Sachs-Bericht), UNDP,2005.

Franz Nuscheler/Michèle Roth (Hg.), Die Millenniums-Ent- wicklungsziele. Entwicklungspolitischer Königsweg oder ein Irrweg?Ulm 2006.

JeffreyD.Sachs, Das Ende der Armut –ein ökonomisches Pro- grammfür eine gerechtere Welt, München 2005.

Paul Sieghart, Die geltenden Menschenrechte, Kehl 1988.

Rainer Tetzlaff, Armutsbekämpfung durch globaleEntwick- lungspolitik, in: Nord-Süd aktuell, Bd. 3/4, 2005, S. 228–238.

UNDP, Bericht über die menschliche Entwicklung 2006, DGVN, Berlin 2005.

Weltbank, Chancengerechtigkeit und Entwicklung, Weltent- wicklungsbericht 2006, Düsseldorf 2005.

Muhammad Yunus, Die Armut besiegen, München 2008.

Jean Ziegler, Das Imperium der Schande. Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung, München2005.

Zdenek Zofka, Zum Beispiel Empowerment. Neue Wege in der globalen Arbeitsbekämpfung, in: Mir,Ferdowsi A., et al (Hg.), Vonhimmlischer Ordnung und weltlichen Problemen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Peter J. Opitz, München 2003,S.255–276.

Zdenek Zofka, Strategien zur Bekämpfung globaler Armut. In: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hg.), Weltprobleme. München 2007, S. 223–236.

Einsichten und Perspektiven 3|09 237 Neue Website: www.bayern-gegen-rechtsextremismus.de

238 Einsichten und Perspektiven 3|09 Neue Website: www.bayern-gegen-rechtsextremismus.de

Neue Website: dungsmerkmale und die vielfach verwendete Symbolik und Internetauftritte der Szene, mit denen sich die entsprechen- www.bayern-gegen- den Gruppierungenzuerkennen geben und versuchen, neue rechtsextremismus.de Mitglieder anzuwerben.Für Probleme im Schulbereich ste- hen ab sofort als direkte Ansprechpartner Regionalbeauf- tragte für Demokratie und Toleranz zur Verfügung, um betroffene Schüler und Eltern wie auch Schulen über Prä- ventionsarbeit oder bei akuten Problemen zu beraten. Für Im Januar dieses Jahres beschlossder bayerische Ministerrat die allgemeine Öffentlichkeit kann über das Portal die ein neues Handlungskonzeptgegen Rechtsextremismus. So BIGE auf kurzem Wege erreicht werden. teilte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann mit: „Wir müssen unsere Kinder und Jugendlichen so erziehen, Lehrerinnenund Lehrer finden unter der Rubrik „Lernen“ dass sie für rechtsextremistisches Gedankengut erst gar des Weiteren fachspezifische und fächerübergreifende nicht anfällig werden. Das Handlungskonzept sieht daher Anregungen und Materialienzur Gestaltung von Unter- auch Schwerpunktmaßnahmen im schulischen Bereich richtsstunden: Arbeitsblätter und Unterrichtssequenzen, vor.“ pädagogische Konzepte für die Vermittlung des Themas Rechtsextremismus, Materialkisten sowie Datenbanken für Als Herzstücke dieser Initiative wurden nun die die Suche von Unterrichtsmaterialien. Bewährte schulische „Bayerische Informationsstelle gegen Extremismus“ und außerschulische Projekte sind ebenso zu finden wie (BIGE) und für den schulischen Bereich Regionalbeauf- Datenbanken zur Projektsuche und zur Suche von Förder- tragte für Demokratie und Toleranz eingerichtet. Den mitteln. Kontakt zu diesen beiden Stellen sowie umfangreiches Informations- und Unterrichtsmaterial findet man seit Besonders wichtig für den Immunschutz gegen rechts- Mitte September auf dem Informationsportal „Bayern extremistische Einstellungen ist die „Holocaust Edu- gegen Rechtsextremismus“.1 cation“, also die Vermittlung von Wissen über den Ho- locaust und den pädagogischen Umgang damit. Auf Dieses soll, ergänzend zu einer Intensivierung der direkten www.bayern-gegen-rechtsextremismus.de können in Bekämpfungsmaßnahmen durchdie Sicherheitsbehörden diesem Zusammenhang Anregungen zu den Themen und der Vernetzung verschiedener Institutionen, einen Antisemitismus und Gedenkstättenpädagogik abgeru- übergreifenden Informationsaustausch von Bürgern, Schu- fen werden. len, Kommunen und anderen Organisationen ermöglichen.2 Die Materialien werden laufendergänzt–alle Nutzerkön- Auf www.bayern-gegen-rechtsextremismus.de werden un- nen hier auch ihre eigenenerprobten Unterrichtsprojekte ter anderem praktische Handlungsanleitungen im Falle ei- zur Veröffentlichung vorschlagen. nes direkten oder indirekten Kontakts zu Rechtsextremis- ten geboten. Neben „Erste-Hilfe“-Tipps für Opfer ist ein Neben diesen pädagogischen Handreichungen bietet das Ratgeber für potentielle Aussteiger zu finden. Es werden Portal sehr präzise Lageberichte über rechtsextremistische Kontakte zum bayerischen Aussteigerprogramm vermittelt AktivitäteninBayern. Unter anderem wird hier Auskunft wie auch Interviews und Geschichten von Aussteigern, die über Strukturen, Parteien und Personen aus dem rechtsex- erfolgreichden Wegaus der Neonazi-Szene geschafft ha- tremen Umfeld gegeben. Diese Lagebilder sind nach den ben, vorgestellt. Eltern und Bekannte von Rechtsextremen bayerischenRegierungsbezirken gegliedert und werden findenhier Denkanstößeund Hilfsangebote. halbjährlich aktualisiert. Damit verknüpft sind Ratschläge und Strategien,wie etwa in vor allem betroffenenStädten Die rechtsextremistische Szene bedient sich eines umfang- und Gemeinden Gegenmaßnahmen unmittelbarvor Ort reichen Repertoiressubkultureller Codes, die sich nicht ergriffen werden können –beispielsweise im Fall rechtsex- jedem sofort erschließen. www.bayern-gegen-rechtsextre- tremistischer Konzerte, Aufmärsche oder etwa wenn mismus.de klärt auf über die einschlägige Musik, Klei- Rechtsextremisten Immobilien erwerben wollen.❙

1Verfügbar unter: http://www.bayern-gegen-rechtsextremismus.de/ 2Vgl. Bayerisches Handlungskonzept gegen Rechtsextremismus vom 12.01.2009.

Einsichten und Perspektiven 3|09 239 Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit

Publikationen der Landeszentrale zu den Schwerpunktthemen dieser Ausgabe

Afrika –Ein verlorener Weltprobleme Die veränderte Republik – Südafrika –Ein Land Kontinent? Deutschland nach im Umbruch 432 Seiten,2007 der Wiedervereinigung 384 Seiten,2008 208Seiten, 2009 768 Seiten,2006

Diese und andere Publikationen können Sie bei der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit beziehen. Praterinsel2,80538 München, Fax: 089 -2186-2180, [email protected], www.politische-bildung-bayern.de