Deutscher Drucksache 15/1544 15. Wahlperiode 11. 09. 2003

Antrag der Abgeordneten Ingrid Arndt-Brauer, , , (Heidelberg), , , , Petra Ernstberger, Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof), Hans-Michael Goldmann, Josef Göppel, Joachim Günther (Plauen), Dr. , Dr. Christel Happach-Kasan, Klaus Haupt, , Dr. , Dr. Peter Jahr, , Dr. Heinrich L. Kolb, Gudrun Kopp, , Harald Leibrecht, Ina Lenke, Werner Lensing, Markus Löning, Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn), Petra-Evelyne Merkel, Dr. Gerd Müller, , , , Dr. , Christa Reichard (Dresden), Walter Schöler, (Spandau), (Berlin), , , Dr. , Rolf Stöckel, , Dr. Dieter Thomae, Jürgen Türk, Hans-Jürgen Uhl, Dr. Antje Vogel-Sperl, Dr.

Mehr Demokratie wagen durch ein Wahlrecht von Geburt an

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest: Die demografische Entwicklung in Deutschland gefährdet die Zukunft unserer Gesellschaft. Die Probleme der deutschen Gesellschaft der Zukunft sind nur zu bewältigen, wenn im Generationenvertrag auch die junge Generation berück- sichtigt und Kindern und den sie großziehenden Eltern ein ihrer Bedeutung für die Zukunft unserer Gesellschaft angemessener Stellenwert eingeräumt wird. Die Gesellschaft insgesamt muss kinderfreundlicher werden, die Bereitschaft junger Erwachsener, Eltern zu werden, muss gestärkt und die zahlreichen Pro- bleme und Nachteile für Familien mit Kindern müssen abgebaut werden. Der in Artikel 38 Abs. 2 des Grundgesetzes festgelegte Ausschluss der Kinder und Jugendlichen vom Wahlrecht vereitelt jedoch eine angemessene Berück- sichtigung der jungen Generation im politischen Willensbildungsprozess unserer Gesellschaft und passt weder in die Gesamtsystematik unserer demo- kratischen Ordnung, noch überzeugt er inhaltlich. Das Wahlrecht ist ein in einer Demokratie unverzichtbares Grundrecht. Wer Kindern und Jugendlichen das Wahlrecht grundsätzlich weiter vorenthält, stellt einerseits die prinzipielle Gleichheit der Staatsbürger in Frage und leistet andererseits einer Politik Vor- schub, die zu einer Verlagerung von Lasten auf die nächste Generation tendiert. Nach Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt vom Volk aus und wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt. Das Volk gemäß Artikel 20 des Grundgesetzes ist das Staatsvolk und umfasst alle Deutschen. Dieses Bekenntnis zur Demokratie in Artikel 20 des Grundgesetzes beschränkt Drucksache 15/1544 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode das Volk als primären Träger aller Staatsgewalt dem Wortlaut nach also nicht auf die volljährigen Deutschen. Durch die so genannte Ewigkeitsgarantie des Artikels 79 Abs. 3 des Grundgesetzes gehört dieser Artikel 20 zu den einer Änderung nicht zugänglichen Vorschriften unserer Verfassung. In Artikel 38 Abs. 2 des Grundgesetzes wird allerdings das Wahlrecht zum Deutschen Bun- destag an die Vollendung des 18. Lebensjahres gebunden. Kinder und Jugend- liche unter 18 Jahren – und damit 20 Prozent des Volkes – ist so generell ein Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt versagt. Dies zu ändern, ist eine politische Entscheidung, deren Umsetzung eine Änderung von Artikel 38 des Grundgesetzes und weiterer einfacher Gesetze bedarf. Dabei sind unterschied- liche Realisierungsvarianten im Detail denkbar.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, einen Gesetzentwurf zur Einführung eines Wahlrechts ab Geburt durch Ände- rung des Artikel 38 des Grundgesetzes und erforderlicher weiterer gesetzlicher Änderungen vorzulegen. Dabei ist ein Wahlrecht ab Geburt dergestalt vorzuse- hen, dass die Kinder zwar Inhaber des Wahlrechtes werden, dieses aber treu- händerisch von den Eltern bzw. Sorgeberechtigten als den gesetzlichen Vertre- tern ausgeübt wird. Für den Fall, dass sich die Eltern nicht in der Ausübung des Kinderwahlrechts einigen können, sollte eine einfache und beide Elternteile möglichst gleich berechtigende Regelung vorgesehen sein.

Berlin, den 11. September 2003

Ingrid Arndt-Brauer Werner Lensing Norbert Barthle Markus Löning Veronika Bellmann Dr. Martin Mayer (Siegertsbrunn) Lothar Binding (Heidelberg) Petra-Evelyne Merkel Renate Blank Dr. Gerd Müller Angelika Brunkhorst Dirk Niebel Rainer Eppelmann Dietmar Nietan Petra Ernstberger Cornelia Pieper Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) Dr. Andreas Pinkwart Hans-Michael Goldmann Christa Reichard (Dresden) Josef Göppel Walter Schöler Joachim Günther (Plauen) Swen Schulz (Spandau) Dr. Karlheinz Guttmacher Werner Schulz (Berlin) Dr. Christel Happach-Kasan Uwe Schummer Klaus Haupt, Johannes Singhammer Martin Hohmann Dr. Hermann Otto Solms Dr. Werner Hoyer Rolf Stöckel Dr. Peter Jahr Wolfgang Thierse Ulrich Kelber Dr. Dieter Thomae Dr. Heinrich L. Kolb Jürgen Türk Gudrun Kopp Hans-Jürgen Uhl Sibylle Laurischk Dr. Antje Vogel-Sperl Harald Leibrecht Dr. Antje Vollmer Ina Lenke Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/1544

Begründung Unsere Gesellschaft verschiebt finanzielle, soziale und viele andere Lasten in die Zukunft und raubt so den künftigen Generationen ihre Zukunftschancen. Wären die Familien mit ihren Kindern sowie die Kinder und Jugendlichen selbst dank eines Wahlrechts ab Geburt eine bedeutendere politische Größe, bestünde eher die Chance, ihren Interessen im politischen Prozess Geltung zu verschaffen. Politische Entscheidungen in der Demokratie sind nicht nur an ihrer sachlichen Notwendigkeit, sondern auch an der Wählerwirksamkeit orien- tiert. Der gesellschaftliche Generationenvertrag ist nicht zuletzt deshalb auf die Generation der Erwerbstätigen und die Generation der nicht mehr Erwerbs- tätigen beschränkt, weil die Generation der noch nicht Erwerbstätigen von der Relevanz als Wählergruppe weitgehend ausgeschlossen ist. Höchstrichterliche Entscheidungen der letzten Jahre zeigten die unangemes- sene Familienbesteuerung und die Benachteiligung von Alleinerziehenden und Familien mit Kindern in der gesetzlichen Pflegeversicherung auf. Diese und andere Formen der Benachteiligung von Familien sind keineswegs zwischen- zeitlich rechtlich beseitigt. Die Realität zeigt: Immer noch sind Kinder, insbe- sondere mehrere, eines der größten Armutsrisiken in Deutschland, vor allem für Alleinerziehende. Doch nicht nur die Familien von heute leiden unter dieser Verteilungsungerechtigkeit, auch die Kinder als die Erwachsenen von morgen finden ihre Interessen in der politischen Wirklichkeit derzeit nicht angemessen berücksichtigt. Eine Generationengerechtigkeit gibt es für Kinder schon lange nicht mehr. Dabei ist aufgrund der demografischen Entwicklung von einer weiteren erheb- lichen Verschlechterung der politischen Interessenvertretung der jungen Gene- ration auszugehen. Der Einfluß von Familien auf politische Entscheidungen wird aufgrund ihres abnehmenden Bevölkerungsanteils noch weiter zurückge- hen. Bevölkerungswissenschaftler erwarten, dass um das Jahr 2030 jeder dritte Bundesbürger 60 Jahre und älter sein wird. Wir können die Zukunft der Fami- lien und damit unserer ganzen Gesellschaft nur sichern, wenn wir den Familien die Chance geben, auf politische Entscheidungen stärker Einfluß zu nehmen als bisher. Aufzuheben ist dieser Mangel im politischen System nur durch die Ausweitung der politischen Repräsentation auf die junge Generation, der diese bislang vor- enthalten bleibt. In politischen Entscheidungsprozessen stiegen mit dem Wahl- recht ab Geburt die Chancen, familien- und kinderfreundliche Politik durchzu- setzen. Die politischen Parteien würden ihr Handeln deutlicher als jetzt auf diese Wählergruppen ausrichten. Dabei ist – anders als bei anderen Überlegungen zur Ausweitung des Wahl- rechts – nicht von einer grundsätzlichen Verschiebung innerhalb des parteipo- litischen Spektrums auszugehen. Die Zahl der Wahlberechtigten würde nach heutiger Bevölkerungsstruktur um ca. 13,8 Millionen steigen. Es geht bei der Verwirklichung eines Wahlrechts ab Geburt mithin zum einen um zentrale Fra- gen des Demokratieverständnisses – und zum anderen um die Zukunft unserer Gesellschaft. Das in Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes verankerte demokratische Prinzip umfasst die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit von Wahlen. Wenn die gesamte im Staat vorhandene Herrschaftsgewalt vom deutschen Volke aus- geht, müssen alle zu diesem Staatsvolk gehörenden Menschen als prinzipiell gleich angesehen und in das Wahlrecht einbezogen werden. Dass dennoch Kinder und Jugendliche nach Artikel 38 Abs. 2 des Grundgeset- zes ausgeschlossen sind, wird damit begründet, dass das Wahlrecht eine ge- wisse Beurteilungs- und Verstandesreife des Wahlberechtigten voraussetze. Bei Volljährigen wird jedoch diese Beurteilungsfähigkeit generell unterstellt, selbst Drucksache 15/1544 – 4 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode wenn sie im Einzelfall nicht gegeben sein mag. Insofern wird das Kriterium der Verstandesreife keineswegs konsequent angewendet. Im Übrigen wird die Be- urteilungsfähigkeit in unserer Verfassung nicht grundsätzlich zur Vorausset- zung für die Gewährung von Grundrechten gemacht, so beispielsweise bei den Rechten nach den Artikeln 1 bis 3. Die Rechtsfähigkeit nach § 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs beginnt mit der Vollendung der Geburt, auch wenn die volle Geschäftsfähigkeit erst mit der Volljährigkeit beginnt. Das Problem des Auseinanderfallens von Rechtsin- haberschaft des Kindes bei gleichzeitiger Unfähigkeit, diese Rechte selbst aus- zuüben, ist in §1626 des Bürgerlichen Gesetzbuchs gelöst: Sofern es erforder- lich ist, nehmen die Eltern als Personensorgeberechtigte die Rechte ihres Kin- des in dessen Interesse wahr. Entsprechendes sollte beim Wahlrecht von Geburt an gelten. Eltern sollten bei der Ausübung des Wahlrechtes in Stellvertretung ihres Kindes dessen wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln berücksichtigen. Die Wahlentscheidung sollte von den Eltern, soweit es nach dem Entwick- lungsstand des Kindes angezeigt ist, mit dem Kind besprochen werden. Der allgemein anerkannte Grundsatz der Höchstpersönlichkeit der Wahl kann beim Wahlrecht ab Geburt nicht gewährleistet werden, ist aber auch nicht aus- drücklich in der Verfassung verankert. Die Höchstpersönlichkeit wird auch in der heutigen Praxis bereits durchbrochen. Die Möglichkeiten zur Briefwahl und Beauftragung eines Wahlhelfers sind klare Abweichungen vom Grundsatz der Höchstpersönlichkeit und werden doch nicht in Frage gestellt. Alte Demokra- tien wie Frankreich oder England gestatten ihren Bürgern bei der Wahl die Ver- tretung. So ist auch beim Wahlrecht ab Geburt eine Ausnahme von der Höchst- persönlichkeit möglich. Keinesfalls ist der Rechtsgrundsatz der Höchst- persönlichkeit der Wahl aber der prinzipiellen Beteiligung des gesamten Staats- volkes an der Staatsgewalt in einer Demokratie vorzuziehen.

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