.

DEUTSCHLAND

Regierung Tugendsam und machtbewußt SPIEGEL-Redakteur Hajo Schumacher über Kohls früh gereifte Ministerin Claudia Nolte

uf der Pirsch nach Prominenz Wertebewußtsein verleihen,ohne daß sie Zügig entwirft sie ein Wunderland, in streift eine Gruppe Besucher durch auf Kurs oder Tempo großen Einfluß dem Leistung, Wohlstand und Harmo- Aden . Plötzlich steht er nimmt. „Ich will Stimmungen verän- nie herrschen. Jeder darf teilhaben, der leibhaftig vor ihnen – der Kanzler. Nach dern“, beschreibt sie ihre Mission mit die Kanzler-Doktrin – wer will, der einer Schrecksekunde reißen die Gäste Schmelz im Blick. kann – verinnerlicht hat. Ihr Ministeri- ihre Kameras hoch. Das macht sie blendend. Am Redner- um hat sie „Haus der Generationen“ ge- „Mit Ihnen möchte ich auch mal ge- pult senkt Claudia Nolte die Stimme, als tauft, um „die Menschen in jeder Le- knipst werden“, ruft eine junge Frau aus lese sie ihrem dreijährigen Sohn Chri- bensphase zu begleiten“. der zweiten Reihe. rea- stoph eine Geschichte zur guten Nacht Nach einem Auftritt im Bundestag giert, wie sie es gehofft hat: „Dann kom- vor. Ihre politischen Botschaften vermit- belohnt sie sich mit einer Tasse Kakao men Sie doch her“, lockt er und zieht sie telt sie besinnlich: „Wir können stolz sein in der postmodernen Kantine des Bun- zu sich. darauf, was wir geschafft haben.“ – „Wir destags. Während sie Sahne löffelt, Wieder mal ist Claudia Nolte da ange- Jungen müssen den Älteren dankbar sein sinnt sie über soziale Probleme nach. langt, wo sie sich am wohlsten fühlt: an für das, was uns anvertraut wird.“ Natürlich gebe es Armut hierzulande, der Seite des Kanzlers die hat sie selbst gese- und auf den Fotos der hen. Wähler. Großzügig läßt Am Frankfurter Kohl sie gewähren. Sei- Hauptbahnhof etwa, ne Ministerin für Fami- wo sie als Abgeordnete lie, Senioren, Frauen auf der Bahnfahrt ins und Jugend erfüllt ihn heimische um- mit väterlichem Stolz. steigen mußte. Aber in In Rekordzeit hat Rumänien, wo sie vor Claudia Nolte, 29, den Jahren, als es den Ost- Kanzler in eine osmoti- block noch gab, mal Ur- sche Beziehung verwik- laub machte, sei alles kelt. Die jüngste Mini- viel schlimmer. Aus sterin Europas und der dem Helikopter, der sie Mann im Rentenalter inzwischen heimfliegt, geben einander, was sie sieht die Welt jetzt wie- brauchen: Sie bringt der schön und friedlich ihm und der von Senio- aus. ren beherrschten CDU Als Kohls Märchen- ein wenig Jugend, er maschine ist Claudia schenkt ihr Macht – do- Nolte rastlos im Ein- siert allerdings. satz. Beim Senioren- Denn wichtige Ent- treffen der Volkssolida- scheidungen fallen an rität in Neuhaus im ihr vorbei. Den Famili- Thüringer Wald läßt sie enlastenausgleich klü- sich über Fleischsalat- gelten CDU/CSU-Frak- häppchen und Idee- tionschef Wolfgang Kaffee bestätigen, wie Schäuble und Finanzmi- gut es den Alten im nister aus. Osten geht. „Haben Sie Und die Reform der So- denn einen Fernseher?“ zialhilfe, die eigentlich fragt sie. „Jaaa“, ant- Sache des Familienmi- worten die Senioren se- nisteriums ist, bekam lig, „sogar Video.“ Der aufge- Aufschwung Ost, fol- tragen. gert die Ministerin, Claudia Nolte bleibt „kommt doch toll vor- der Job als Tugendmini- an“. sterin. Wie Emily, die Politik bedeutet für geflügelte Dame vorn Claudia Nolte zuerst auf dem Kühler des das Beheben emotio- Rolls-Royce, soll sie naler Mangelzustände. Union und Regierung , der

den Anschein von Fri- BONN-SEQUENZ Kanzleramtsminister, sche und Wärme und Nolte-Förderer Kohl, Schützling Nolte: „Wir müssen dankbar sein“ „erfuhr als erster, daß

28 DER SPIEGEL 16/1995 .

Weil sie die Jugendweihe verweiger- te, mußte sie erst eine Lehre als Elek- tronikfacharbeiterin absolvieren und durfte dann Abitur machen. Sie studier- te an der TH Ilmenau Kybernetik und Automatisierungstechnik. Als sie damit fertig war, 1990, erlosch die DDR. Der Westen erschien ihr nie golden, „wegen Pornographie und Drogen“. Aber es war doch ein freundliches Land, „das uns als seine Staatsbürger aner- kennt, wenn wir kommen“. Mit ihrer natürlichen Abscheu gegen alles Linke und weil sie jeder Nähe zum SED-Regime unverdächtig war, gab sie nach der Wende die ideale Figur für die Ost-CDU ab, die ansonsten voller Blockflöten steckte. Sie bot ein rares Gut, das auch im Westen ankommt: Glaubwürdigkeit. Claudia Nolte ist wundersam immun gegen Trends und Gepränge. Bis zur

T. HÄRTRICH / TRANSIT Fertigstellung ihres Eigenheims lebt sie Ministerin Nolte, Seniorinnen in Neuhaus: „Sogar Video“ mit Mann und Kind in Ilmenau in der

ich schwanger bin“. Noch bevor Vater Rainer daheim mit der Erziehung begin- nen konnte, wurde das Baby Christoph auf Kohls Arm gesetzt. „Das Menschli- che zahlt sich aus“, glaubt sie, weil sie eher als die Kollegen einen Termin bei Kohl, Bohl oder Waigel bekommt. In Wirklichkeit gehört ihr die Sympa- thie der mächtigen Männer, weil sie so ist, wie sie’s gerne haben: strebsam, stur, vaterlandstreu, optimistisch und katholisch. Die Frühgereifte suggeriert ein Boll- werk gegen jene meist westdeutschen Jugendlichen, die der Nachkriegsgene- ration unheimlich, ja feindlich erschei- nen: junge Menschen, die sich auf Par- tys ohne Schuld- und Schamgefühl mit Ecstasy und Techno bedröhnen; die den Nirvana-Sänger Kurt Cobain als James Dean der Neunziger verehren, weil er

sich Schrot in den Kopf jagte, als ihm STARNICK / BILD AM SONNTAG die Welt zu dumm wurde; die sich mit Claudia Nolte, Ehemann Rainer*: „Das Menschliche zahlt sich aus“ dem Schriftsteller Douglas Coupland befassen, weil er eine heiter-apathische Die Älteren klatschen begeistert. Diese engen Studentenbude unterm Dach. Als Jugend prophezeit, die sich nicht ums adrette junge Ministerin aus Ost- einzigen Luxus gönnt sich die Computer- Bruttosozialprodukt schert. deutschland ist die Projektion ihrer Freundin einen Internet-Anschluß. Rave? Nirvana? Generation X? Da- Träume: So ein anständiges Mädchen Ihr unbefangenes Eintreten gegen Ab- von hat die Jugendministerin noch nie hätten sie gern zur Tochter gehabt, das treibung, „übertriebenen Individualis- gehört. Sie spielt Klavier, „manchmal eilfertig das Rednerpult räumt, als mus“ oder die Homosexuellen-Ehe ent- auch Blockflöte“, liest den Hitler-Bio- Kohls Kanzleramtschef Bohl den Saal sprang nicht dem Wunsch nach Populari- graphen Joachim Fest und wandert im betritt – „jetzt kommt der Fritz“. tät. Es ist ihre Überzeugung. Urlaub. Weil sie einer bieder-bürgerli- Claudia Nolte wurde vom DDR-Le- Der Chef des Kölner Lindenthal-Insti- chen Fibel der sechziger Jahre entsprun- ben in doppelter Diaspora geprägt. Die tuts, Hans Thomas, einer der Spitzen- gen zu sein scheint, ist sie kabinetts- weitaus zahlreicheren und zumeist SED- kräfte der päpstlichen Ultras von Opus kompatibel und die Heldin aller hilflo- fernen Protestanten vor Augen, das Ho- Dei, „wäre froh, wenn Frau Nolte bei uns sen Eltern obendrein. necker-Regime im Nacken, pflegte die einen Vortrag halten würde“. Deutsche Auf einer Kundgebung in Nieder- Familie Nolte in die Wagen- Lebensschützer erkoren sieimKampf ge- klein, Bohls hessischem Wahlkreis, do- burg-Mentalität vieler DDR-Katholi- gen die Libertinage und Dekadenz der ziert Claudia Nolte über die Gefahren, ken. Sicherheit fand Tochter Claudia, Gesellschaft schon als Bundestagsabge- Bagatell-Delikte aus dem Strafrecht geboren fünf Jahre nach dem Bau der ordnete zu ihrem Idol. auszuklammern, und singt zum Schluß Mauer, im Glauben, in Prinzipien und Einer von ihnen ist Herrmann Binkert, das Deutschlandlied. Die wenigen jun- Askese. 30, ein lange Zeit glückloser CDU-Akti- gen Besucher haben den Saal längst vist. Sogar der Jungen Union in Baden- grinsend oder augenrollend verlassen. * In ihrer Wohnung in Ilmenau. Württemberg war der Schwabe unheim-

DER SPIEGEL 16/1995 29 .

DEUTSCHLAND

lich. Als „Pietkong“ wetterte er entner- Wie schwer sich die Besuchten mit vend hartnäckig wider die Abtreibung. Bundespräsident offenen Worten tun, mußte Herzog in Bei einem JU-Ausflug nach Thürin- Pakistan erleben. Fünf Tage lang kriti- gen suchte Binkert 1990 die Nähe zu der sierte er in der von Militärs, Drogen- erfolgversprechenden Jung-Politikerin. mafia und Fundamentalisten geplagten Weil er Claudia Nolte fortan durchs Mi- Gewehrlauf Islamischen Republik unverdrossen nenfeld der westdeutschen Politik lots- Menschenrechtsverletzungen. te, belohnte sie ihn mit dem Posten des Vor allem prangerte der einstige persönlichen Referenten in ihrem Mini- in die Rippen Präsident des Bundesverfassungsge- sterium. „Uns eint der Halt durch den richts die sogenannten Blasphemie-Pa- Glauben“, sagt Binkert froh. Nebenbei Auf Staatsbesuch bei östlichen ragraphen an, die für Beleidigungen war sie sein Fahrstuhl zur Macht. Potentaten geriet Roman Herzog in Allahs und Mohammeds die Todesstra- Die genießt er nun in vollen Zügen. fe vorsehen. Im Gespräch mit Mini- Wenn er aus der Ilmenauer CDU-Ge- diplomatisches Gedränge. sterpräsidentin Benazir Bhutto setzte schäftsstelle, in der Fußgängerzone über sich Herzog nachhaltig für einen wegen dem Schönheitssalon „La Belle“, per n der Medeo-Arena hoch über der ka- Blasphemie angeklagten Christen ein. Telefon die Bonner Geschäfte regelt sachischen Hauptstadt Almaty hörte Die öffentliche Resonanz seiner Be- („Ich zähle auf Sie!“), streift er die Slip- Isich der deutsche Bundespräsident mühungen war eindeutig: Pakistanische per mit den Bömmelchen ab, reibt die Märchen an. Zahlreiche Eislauf-Weltre- Zeitungen bilanzierten, der Deutsche karierten Socken wohlig am Stuhlbein korde seien hier aufgestellt worden, so habe sich weitgehend zufrieden gezeigt und faltet Papierflieger. erklärten die einheimischen Begleiter mit der Lage der Menschenrechte. Binkert aktivierte Ilmenauer Ge- dem Besucher Roman Herzog, weil auf Herzog, der in der Heimat gern schäftsleute zur Aktion „Bürger für der Schnellaufbahn ein besonderes Eis „unverkrampft“ auftritt, sah sich auf Claudia Nolte“; er besorgte Sponsoren sei: alles Gletscherwasser, das sei beson- fremdem Terrain erstmals in seiner für die Busreise von 400 Thüringern ins ders rutschig. kurzen Amtszeit zu diplomatischen Kanzleramt. Der Marketingstratege „Gletscherwasser – nicht Kirschwas- Verrenkungen genötigt. Vieldeutig lob- hatte auch die Idee, im Wahlkampf ser“, scherzte der Staatsgast freundlich. te Herzog das „Bemühen“ des kasachi- Kanzler Kohl per Bildtelefon auf die Daß die Bestzeiten zustande kamen, schen Staatschefs Nursultan Nasarba- Leinwand in die Ilmenauer Turnhalle zu weil die Bahn etwas kürzer ist als inter- jew um Demokratie – obgleich der holen. national üblich, hatte man dem hohen doch ebenso wie sein usbekischer Mindestens einmal im Monat fährt Gast verschwiegen. Amtskollege Islam Karimow seine Prä- das konservative Ost-West-Gespann im Die Legende vom Gletscherwasser sidialherrschaft demnächst per Refe- Bonner Dienst-BMW mit Tempo 100 war sicher die netteste Schwindelei. Al- rendum bis ins Jahr 2001 verlängern durch die Dörfer des Thüringer Waldes. lenthalben hatte Herzog auf seiner Tour lassen will. Im Auto duzen sich die Ministerin und durch Pakistan, Kasachstan und Usbeki- Daß Nasarbajew derzeit ohne Parla- ihr Mitarbeiter und albern herum; vor stan mit Versuchen der Gastgeber zu ment regiert, bemäkelte Staatsrechtler Publikum fallen sie ins amtliche „Sie“. tun, dem Deutschen die Wahrheit Herzog nur mit einem eilig eingescho- Hinter ihrem Überernst verbergen sie schönzureden. benen Absatz im sonst süßlich gehalte- die kindliche Freude, für wichtig und Zwar hatte sich der Reisende für sei- nen Redetext. Übergehen wollte der mächtig gehalten zu werden. ne heikle Serie von Staatsbesuchen vor- Gast solche Mißstände denn doch Diesmal ist die Thüringer Baum- genommen, den Staatslenkern „mit nicht. schmuck GmbH in Steinheid an der Rei- größter Liebenswürdigkeit auch unan- Nasarbajews Stil lernte Herzog he, wo bunte Glaskugeln für den Weih- genehme Dinge“ mitzuteilen. Doch un- gleich nach der Ankunft in Almaty am nachtsbaum geblasen werden. „Man hat beirrt von Herzogs guten Absichten vorvergangenen Sonntag kennen. Aus- unsere Branche ja fast vergessen“, klagt nutzten die Potentaten den Besuch des drücklich hatte der Bundespräsident der Chef. Nur Claudia Nolte nicht. „Sie deutschen Staatsoberhauptes, um ihr gebeten, das Aufgebot an Sicherheits- haben sicher Stoßzeiten“, erkundigt sie meist zweifelhaftes internationales An- kräften und Militär möge sich in Gren- sich leutselig. sehen aufzubessern. zen halten. Doch Soldaten standen Von einst über 200 Angestellten ar- überall Spalier, sogar beiten derzeit nur 16, der Rest ist entlas- ein Kontingent der be- sen oder in Kurzarbeit. Claudia Nolte rüchtigten Elitepolizei murmelt etwas von „Opfer bringen“. Omon war angerückt. Als sie im Hinausgehen Fax und PC er- Nasarbajews Leib- blickt, rückt sich ihr Weltbild wieder zu- wächter schlugen zu- recht. „Hier hat sich ja schon einiges ge- erst einen deutschen tan.“ Tontechniker nieder, Weil sie mit der Treuhand verhandel- dann trafen sie Her- te, für mittelständische Betriebe Kredite zogs Staatssekretär besorgte und einen neuen Rasen für ei- Wilhelm Staudacher. nen Fußballplatz auftrieb, „steht sie in Schließlich zogen und ihrem Wahlkreis kurz vor der Heilig- schubsten die Prügel- sprechung“, weiß der Thüringer Micha- knaben auch noch el Panse, Geschäftsführer der Jungen Herzogs Gattin Chri- Union in Bonn. Schon jetzt wird Santa stiane. Claudia als Nachfolgerin von Bernhard In Usbekistan ging Vogel gehandelt. es noch turbulenter zu. Doch Ministerpräsidentin daheim in Kaum war der Airbus der thüringischen Provinz – das ist Clau- des Bundespräsiden-

dia Nolte nicht genug. „Ich hab’ doch REUTER ten ausgerollt, gab es gerade erst angefangen.“ Y Gast Herzog, Gastgeber Nasarbajew: Vieldeutiges Lob zu den Nationalhym-

32 DER SPIEGEL 16/1995