Der weiße Berg - Sentinelle Rouge Ernst Schuster

Wenn wir Träume verwirklichen, du  – Peuterey-Grat – Man muss die- können Dinge passieren, sen König der Grate gesehen haben, um die Super- die sich unauslöschlich lative verstehen zu können, in denen von ihm ge- in unsere Erinnerung eingraben sprochen wird, um verstehen zu können, dass die- Prolog ser Grat immer jenen Wert haben wird, den er schon Als 11jähriger stand ich in der Pause zwischen den vor Jahrzehnten besessen hat, auch wenn sich in der Unterrichtsstunden oft am Gangfenster des Gym- Zwischenzeit die Werturteile über die Schwierigkeit nasiums am Baumkirchner-Ring in Wiener Neu- einer Bergfahrt stark verschoben haben und das stadt; im Westen erblickte ich über den Dächern der „non plus ultra“ im Fels wie im Eis das Tun der Stadt einen weißen Berg, der mich immer wieder mit Bergsteigergeneration von heute maßgeblich be- der Sehnsucht erfüllte, dort hinaufzusteigen0 Fünf stimmt – Weiter wandert mein Blick, über den Jahre später erfüllte sich mein Traum; ich stand auf Südostabsturz des und den wild zer- dem Gipfel dieses weißen Berges, des Schneebergs rissenen Grenzkamm hinüber zum Dent du Géant, und hatte damit meine Bergsteigerlaufbahn be- diesem dunklen Obelisk am Beginn des Rochefort- gründet0 Grates Dort rückwärts lie- gen die , 13 Jahre später deren Nordwand wohl zu Stundenlang klettern wir den schaurigsten Abstür- schon in dieser Riesen- zen der gesamten Alpen wand, ohne uns Gedanken zählt Noch manchen Berg darüber zu machen, wie sehe ich in der weiten lange wir noch steigen Runde, und mit vielen ver- müssen und wann wir den bindet mich der Wunsch, Gipfel erreichen werden, einmal auf ihren Gipfeln denn der Rausch des Auf- zu stehen, um dem ewig- wärtsstrebens und die suchenden Auge Neues zu großartige Szenerie der zeigen und in mir die Bergwelt ringsum nehmen Sehnsucht nach neuen Ta- unsere Sinne vollkommen ten zu erwecken Denn, ist gefangen Wir befinden unerfüllte Sehnsucht letz- uns im Herzen der Brenva- ten Endes nicht das Krite- Flanke; wenn ich empor- rium des Seins und im blicke, scheint mir der Gip- speziellen Fall der Motor fel des „weißen Berges“ unseres Bergsteigerlebens? zum Greifen nahe Zu un- serer Linken der Peuterey- Doch bald nimmt mich Grat Vom Val Veni Ernst Schuster wieder ganz unser Weg in schwingt sich die Aiguille Anspruch Wir haben vor Noire mit ihrem Ostgrat in den blauen Himmel em- geraumer Zeit den Weg der Erstbegeher verlassen, por, um nach Nordwesten steil in die Breche Sud um so der zur Mittagszeit unangenehmen Traver- abzufallen Den zierlichen Dames Anglaises, die sierung des großen Couloirs zu unserer Linken aus- sich in dieser Umgebung wie Miniaturtürme aus- zuweichen und sind auf der Gratrippe, die auf dem nehmen, folgt der Steilaufschwung zur Pointe „Roten Turm“ fußt, weitergeklettert Es ist unsere Gugliermina Ein sanfter Firngrat leitet hinüber zur Absicht, knapp unter den Abbrüchen der Gipfel- Aiguille Blanche, deren Nordwand in mehreren un- kalotte nach links zu queren, um so jene Zone zu er- heimlich steilen Terrassen zum Brenva-Gletscher reichen, die uns den Weiterweg zum Gipfel ver- hinabfällt Das letzte Bollwerk schließlich bildet mittelt Doch vorerst stellt sich unserem Vordringen der Pilier d’Angle am Südostabsturz des Montblanc noch ein beachtliches Hindernis in Form eines senk-

75 Jahre Bergsteigergruppe im ÖGV Der Gebirgsfreund 5/2002 161 rechten, rotbrüchigen Gratabbruches in den Weg moment, sondern die Freude an der Bewegung, der Eine Umgehung erscheint mir in Anbetracht der Sonne, dem blauen Himmel und Gottes gewaltiger Tatsache, dass wir zur Rechten einen steilen Eis- Natur meine Gedanken beherrscht hat Ich spüre bruch, zur Linken noch steilere eisdurchsetzte ganz genau den Kontrast zwischen dem beschau- Felsen zu überwinden hätten, nicht besonders vor- lichen Gestern und dem erbarmungslosen Heute; teilhaft Ich überzeuge Hans, dass es am besten ist, und trotzdem fühle ich im selben Moment, dass all den Gratabbruch direkt zu erklettern Ich muss ehr- das Schwere, in der Erinnerung verklärt, wert sein lich gestehen, dass die Schwierigkeiten größer würde, es erlebt zu haben Ich weiß nicht, wie spät waren, als ich erwartet hatte; denn aus einem ge- es ist, als ich endlich etwas Schlaf finden und vor nussvollen Aufwärtsklettern am laufenden Seil ist meinem geistigen Auge das Fragezeichen des plötzlich ein hartes Ringen um jeden Meter ge- kommenden Tages verscheuchen kann Ich wache worden Rucksack und Pickel, die uns bis jetzt in auch immer wieder auf, denn nur allzu bald schmer- keiner Weise gestört haben, hemmen uns nun ganz zen mich alle Glieder von der unnatürlichen Hock- gewaltig in unserer Bewegungsfreiheit – Zuerst stellung, in der ich an den Fels gekauert bin ein Quergang über eine fast senkrechte Platte, dann Langsam bricht der neue Morgen an Doch kein folge ich einem schwierigen, vereisten Riss, bis er strahlend blauer Himmel oder die über den Joras- ungangbar wird Um in den Nachbarriss zu gelan- ses aufgehende Sonne weckt uns aus dem Däm- gen, muss ich um eine überhängend abbrechende merschlaf, sondern das monotone Rauschen des Rippe queren Nach mehreren Seillängen erreichen durch die Steilrinnen herabrieselnden Schnees Die wir wieder leichteres Gelände, die Stirnwand des Sicht ist sehr schlecht geworden Wir erkennen Abbruches legt sich zurück und bald ist auch kaum die nächsten Felsen Bei diesem Wetter ist an dieses Bollwerk überwunden Der Weg zum Gipfel ein Fortsetzen des Aufstieges nicht zu denken Aber ist frei es ist ja erst 5 Uhr! Einmal muss es doch aufhören Doch wir haben uns zu früh gefreut zu schneien, und wenn es erst um die Mittagszeit Noch ahnen wir nicht, was wir noch alles zu über- sein sollte Doch je weiter der Tag fortschreitet, winden haben, bis wir dort oben stehen werden desto bitterer wird die Erkenntnis, dass wir in ab- Beim Weitergehen beginnt es unvermittelt zu sehbarer Zeit kaum mit einer Wetterbesserung rech- schneien, so dicht, dass wir nicht einmal mehr un- nen können Was nun? An einen Abstieg ist nicht zu sere nächste Umgebung erkennen können Nun denken Wir befinden uns mehr als 1000 Meter wird es unsere erste Aufgabe sein, einen halbwegs über dem Brenva-Gletscher, jedoch kaum 400 Me- geschützten Biwakplatz zu finden Nach einigem ter unter dem Gipfel Umkehren würde unter dem Suchen entdecke ich einen etwa 6 Meter hohen „Roten Turm“ ein Spießrutenlaufen durch die pau- Felsblock An der dem Brenva-Gletscher zuge- senlos herabdonnernden Lawinen bedeuten Selbst wandten, leicht überhängenden Seite säubern wir wenn wir den Gletscher erreichten, wäre es unge- ein kleines Fleckchen, schlagen Sicherungshaken wiss, ob wir die Biwakschachtel am Grenzkamm und schlüpfen schließlich in unseren Zeltsack finden würden Weiterbiwakieren? Warten bis sich Langsam wird es dunkel Es schneit unaufhörlich das Wetter bessert? Nein! Es gibt für uns nur eine weiter Der Schnee, der in Form von feinen Eis- Möglichkeit, und das ist der Weg über den Gipfel kristallen fällt, bleibt nur zum Teil liegen Der Rest zur Vallot-Hütte! – Um 12 Uhr Mittag ist es soweit rauscht durch die Couloirs und rieselt über den Fels Ich trete als Erster den Weg in das weiße Inferno an herunter, um sich irgendwo in der Tiefe zu ver- Wir haben die Steigeisen angeschnallt, um im lieren Während der Nacht erreicht das Gewitter grundlosen Schnee besser Halt zu finden Ich kom- seinen Höhepunkt; pausenlos zucken Blitze auf und me nur langsam weiter, denn jede Stufe muss eini- der Donner hallt tausendfach in den Wänden wider ge Male getreten werden, bevor sie die Last des Ein eigenartiges Gefühl beschleicht mich, wenn Körpers trägt Endlich ist die Seillänge zu Ende ich daran denke, wie wehrlos wir auf dieser Felsen- Nur mit Mühe lässt sich das steifgefrorene Seil insel dem Blitzschlag ausgesetzt sind und unser durch den Schnee ziehen Plötzlich schießt ein Schicksal nun nur dem Walten höherer Mächte un- Schneestrahl über die Felsen herunter, hüllt mich se- terliegt – Lange noch schweifen meine Gedanken kundenlang in eine weiße Wolke und begräbt mich in die Vergangenheit zurück, an jene schönen Stun- bis zur Brust unter sich Weiter geht’s Hier erweist den in den Bergen, in denen nicht das Kampf- sich der Pickel als wertvoller Helfer im Kampf ge-

162 Der Gebirgsfreund 5/2002 75 Jahre Bergsteigergruppe im ÖGV : Brenva-Flanke Foto: BG-Archiv gen die Tücken der Materie Als verlängerter Arm Dann ist es endlich soweit Wir stehen auf der höch- ermöglicht er es mir immer wieder, schwierige sten Zinne Europas Sekundenlang blicken wir ein- Risse und Wandstellen sicher zu meistern Langsam ander in die Augen Es ist ein stummer Glück- verlieren sich die Felsen und wir erreichen einen wunsch und der Dank an den Kameraden Ein steilen Eishang, der nur eine geringe Schneedecke müdes Lächeln huscht um meine Züge, als ich dar- trägt, so dass wir mit den Zwölfzackern verhält- an denke, wie anders ich mir diesen Moment vor- nismäßig rasch vorwärtskommen Nun zeigt sich, gestellt habe dass wir gefühlsmäßig richtig gegangen sind und Ohne zu verweilen, treten wir den Abstieg an Wir genau in der Fallinie jener Passage steigen, die zu folgen dem Bosses-Grat, dessen Verlauf nur auf beiden Seiten von Eisbrüchen flankiert ist und uns kürzeste Distanz zu erkennen ist Der Schneesturm den Weg zum Gipfel freigibt Bald haben wir den hat sich weiter verstärkt Das grünlich-diffuse Licht Kamm erreicht, der vom Col de la Brenva zum lässt alle Konturen verschwimmen Ich gehe auf Gipfel emporzieht Jetzt beginnt aufs neue der dem Wächtenkamm, während Hans mir auf der je- Kampf mit dem tiefen Schnee Als neuer Feind ist weils weniger geneigten Seite folgt Diese Vor- der Sturm hinzugekommen, der mit elementarer sichtsmaßnahme sollte sich bald bewähren Plötz- Gewalt über uns hinwegfegt, so dass wir mit nach lich kommt eine noch dichtere Schneefahne Ich Osten gewandtem Gesicht weitersteigen Während kann nicht einmal meine Schuhe mehr erkennen ich bis jetzt längere Zeit geführt habe, beginnen und taumle ins Ungewisse weiter Ich fühle plötz- wir wieder abzuwechseln, um nicht vorzeitig unsere lich, dass ich den Halt verliere und schwerelos in die Kräfte zu erschöpfen Endlos dehnt sich der Weg Tiefe falle Bis ich die Situation erfasst habe, stecke und in jeder Unregelmäßigkeit des Geländes glau- ich schon im Schnee und hänge 5 Meter unter dem ben wir den Gipfel zu erkennen Wächtenkamm am Seil Die Einbuchtung unter der

75 Jahre Bergsteigergruppe im ÖGV Der Gebirgsfreund 5/2002 163 Wächte wäre nicht übel zum Biwakieren – ist mein drittes Mal biwakieren müssen; wir dürfen uns zu erster Gedanke Auch Hans, der herbeigeeilt ist, keiner Unbesonnenheit hinreißen lassen Einmal befreundet sich mit dem Gedanken eines zweiten muss uns der Berg eine Chance lassen Biwaks, denn es erscheint aussichtslos oder zu- Da! Es wird hell um uns! Die Konturen unserer mindest fraglich, ob wir bei den herrschenden Ver- Umgebung werden scharf und klar Im Westen hältnissen die Vallot-Hütte finden beziehungswei- leuchtet die Sonne und der Himmel wird wieder se erreichen würden – Wieder kriechen wir in den blau Es ist mir, als wäre ich aus einem bösen Traum kalten, nassen Zeltsack, nicht ohne vorher unseren erwacht, die vergangenen Stunden scheinen un- Biwakplatz etwas geräumiger gestaltet zu haben endlich weit zurückzuliegen Langsam wird es dunkler Die zweite Nacht bricht herein Unser Proviant ist völlig durchnässt Ich In fieberhafter Eile packen wir unsere Sachen und lutsche an meinem Zuckersack, nicht nur weil ich tollen gleich übermütigen Kindern den Grat hin- Hunger habe, sondern um etwas zu tun, um dieses unter – Verheißungsvoll glitzern die Metallwände endlose Warten zu verkürzen Zwei- bis dreihundert der Vallot-Hütte in der für uns neugeborenen Meter unter uns liegt irgendwo die Hütte In 10 bis Sonne, denn das Leben geht weiter 15 Minuten könnten wir im Schutze ihrer vier Epilog Wände sein Dieser Gedanke lässt mich nicht zur Wir hatten noch zwei Nächte in der eisigen Vallot- Ruhe kommen Doch wenn ich in das weiße Inferno Hütte auszuharren, denn das Wetter hatte sich so- hinausblicke, weiß ich, dass es zwecklos ist, die fort wieder verschlechtert0 Erst am Samstag konn- Kräfte unnütz im Herumirren zu vergeuden ten wir nach absteigen0 Dort war ich Eine lange Nacht liegt hinter uns Die Kleider sind nun für einige Wochen „Gast“ des Hôpital de Cha- feucht, die Schuhe gefroren, die Zündhölzer sind monix0 Ein Arzt pumpte eine unglaubliche Dosis verbraucht und die Zigaretten werden in den Ta- Acetylcholin in meinen Körper; er rettete damit schen aufgeweicht Doch der Wil- vermutlich meine Zehen, die Er- le zum Durchhalten ist noch nicht frierungen dritten Grades erlitten gebrochen Ich weiß, dass wir es hatten0 Während meines Aufent- schaffen müssen und schaffen haltes hatte ich Gelegenheit, zwei werden, obwohl ich spüre, dass Leidensgenossen kennenzulernen, wir hart an der Grenze zwischen nämlich die Erstersteiger der Sein und Nichtsein sind In der , und vergangenen Nacht versprühten Louis Lachenal, die wohl schwere- meine Gedanken über mein Leben re Erfrierungen davongetragen hinweg; dabei musste ich immer hatten und sich zur Nachbehand- wieder feststellen, dass ich den lung schon viele Wochen hier, in ei- vielleicht verhängnisvollen Ent- nem Zimmer mit Aussicht auf den schluss, zu dieser Tour aufzubre- Montblanc aufhielten0 chen, nicht bereuen kann Meine erste Bergfahrt im folgen- Langsam schreitet der Tag fort den Jahr führte mich wieder zum Unser Welt ist der Zeltsack und „weißen Berg“, zum Schneeberg0 unsere Gedanken Der Raum hat Mit meinem Freund Horst konnte seine Dimension und die Zeit ihr ich die Stadelwandplatte durch- Maß verloren Wir haben keine Beziehungen zu steigen und dabei feststellen, dass meine lädierten unserer Umwelt, denn dieses in den Augen schmer- Zehen schon wieder für anspruchsvolle Kletter- zende, um uns tanzende Weiß ist die Grenze zwi- fahrten zu gebrauchen waren0 schen uns und dem, was für uns die Welt bedeutet Es ist Nachmittag geworden Hie und da wird der P S Blick zum Mont Maudit frei – Mont Maudit – Ver- Dieser Erlebnisbericht – außer Vor- und Nachwort fluchter Berg War das nicht der Name, den Genfer – ist mit Ausnahme der Korrektur einiger sinn- Studenten zu Saussures Zeiten dem Montblanc ge- störender Textpassagen unverändert einem Manu- geben haben? Sollte er auch unser verfluchter Berg skript entnommen, das ich im September1950 werden? Nein und abermals nein! Und wenn wir ein niedergeschrieben habe

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