Neologismus 04/2015
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Ausgabe 04/2015 Foto: Luz Bratcher – flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0) Die Aufgabe des Intellektuellen – S. 3 Screenshot: playdead.com/limbo/media/ (proprietär) Foto: chensiyuan – commons.wikimedia.org / Lukas Heimann (CC BY-SA 2.0) Limbo – S. 11 Hochsensibilität – S. 5 2 N eologismus 04/2015 Inhaltsverzeichnis 1 Politik und Gesellschaft Die Aufgabe des Intellektuellen ......................................... 3 2 Wissenschaft und Technik Hochsensibilität .................................................. 5 Eine neue Website für den Neologismus .................................... 7 3 Feuilleton Ensiferum: One Man Army ........................................... 9 Limbo ....................................................... 11 4 Leben There and Back Again, Teil 11: Back ...................................... 13 5 Kreativ Rätselecke, Teil 2 ................................................. 14 Chefredakteur: Redaktionsanschrift: Haftung für die Richtigkeit der abge- Florian Kranhold Florian Kranhold druckten Veröffentlichungen. Rottenburger Straße 8 Der Neologismus steht unter einer Layout: 72070 Tübingen Creative Commons-Lizenz: CC BY- Tobias Gerber, Florian Kranhold NC-SA 3.0 (Namensnennung, Nicht- Erstellt mit LATEX Kontakt: kommerziell, Weitergabe unter glei- neologismus-magazin.de chen Bedingungen 3.0 Deutschland Li- Logo: facebook.com/neologismus.magazin zenz, creativecommons.org/licenses/b Michael Thies [email protected] y-nc-sa/3.0/de/). Zur Verwendung Autoren: enthaltener Inhalte, die nicht durch Lukas Heimann, Michael Thies, Marc Die gedruckten Artikel geben nicht im- diese Lizenz abgedeckt wird, nehmen Zerwas, Charlotte Mertz, Jannik Buhr mer die Meinung der Redaktion wie- Sie bitte Kontakt zu uns auf. der. Änderungen der eingereichten Ar- Gastautoren: tikel behalten wir uns vor. Trotz sorg- Marcella Krings fältiger Prüfung übernehmen wir keine Veröffentlicht am 5. Mai 2015. N eologismus 04/2015 3 Politik und Gesellschaft Die Aufgabe des Intellektuellen Über Männer mit Pfeife & Meinung VON LUKAS HEIMANN ünter Wilhelm Grass war ein deutscher Schrift- steller, Bildhauer, Maler und G [1] Grafiker“ . Wikipedia hält den doch bedeutenden Tod des „großen Deutschen“ sehr nüchtern fest. Ich kann guten Gewissens sagen, dass ich ihn zu wenig kannte, um fun- dierte Aussagen über ihn zu treffen, aber das haben zum Glück ande- re übernommen – mehr oder we- niger radikal. Und wenn die meis- ten Nachrufe den Verlust eines gro- ßen Intellektuellen betrauern, ist doch einer besonders hängengeblie- ben, um näher betrachtet zu wer- Foto: Luz Bratcher – flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0) den: „Das Zeitalter des Intellektuel- den Biologie-Studenten seines Ver- hen die Fachleute nicht, und das len ist endgültig vorbei“ von Alex- trauens setzen, der genau über die nutze der Intellektuelle aus. Struk- ander Grau in seiner Online- Chancen und Risiken dieses und je- turell kann er keine Ahnung ha- Kolumne bei der Zeitschrift Cice- nes Gen-Mais informieren soll. ben, aber anhand eines schubladen- ro[2]. Die These: Wir bräuchten kei- artigen Weltbildes kann er die Welt Die Welt ist kompliziert, und ne alten Männer mit Pfeife, keine auf einfache Muster herunterbre- höchstens Spezialisten können fun- Mahner, Warner, Moralisten. Un- chen und gegenüber gesellschaftli- diert Handlungsempfehlungen zum sere Gesellschaft brauche Spezialis- chen oder politischen Entwicklun- Wohle unserer Gesellschaft geben. ten, man werde die aussterbenden gen die Moralkeule schwingen. Die Gerade was die Gebiete Finanz-, Intellektuellen, wie Grass einer war, entsprechende „Maximalforderung“ Wirtschafts- und Umweltpolitik, die nicht vermissen. für eine Reaktion auf diese Ent- Herr Grau in seiner Kolumne für Das ist natürlich textartge- wicklungen ist einfach zu verstehen essentiell hält, aber auch darüber recht überspitzt. Dennoch bleibt und lässt sachliche Gegenargumente hinaus bei Fragen der Gesellschafts- die aufgestellte These interessant: „kleinlich und hartherzig“ wirken. und Sozialpolitik oder der Diploma- „Wir brauchen keine Intellektuellen tie sind speziell ausgebildete Fach- Dabei nutzt der Intellektuelle als mehr.“ Das Folgende soll bei der leute die einzigen, die das Thema selbst ernannter Beschützer der Un- Meinungsbildung helfen. hinreichend durchschauen können. terdrückten gnadenlos das Autori- Man kann schon prinzipiell nicht tätsargument aus, denn sein Ein- Das Für alles wissen und beherrschen, erst fluss basiert nur auf seiner gesell- recht nicht, wenn man nebenher schaftlichen Stellung. Unsere Welt ist kompliziert. Wer noch zum Beispiel Künstler ist oder das leugnet, sollte mal seinen Bank- Sein Wesen ist also paradox: Er generell irgendeinen Beruf ausübt, berater dazu bringen, einem Deri- lebt von dem System, das er so me- der nicht in diese Bereiche fällt. vate verkaufen zu wollen, und dann dienwirksam bekämpft; „kritisch“ versuchen, ihn das Thema alltags- Wie Grau feststellt, führt die Zer- denkende Menschen sind seine An- verständlich so erklären zu lassen, gliederung der Gesellschaft in Spe- hänger. bis man das Thema vollends ver- zialgebiete zu einer „Kommunika- Graus Fazit: Wir brauchen keine standen hat. Und sich danach neben tionslücke“. Nicht-Fachleute verste- „Intelligenzdarsteller“. 4 Politik und Gesellschaft N eologismus 04/2015 Ad Hominem sentlich längeren Hebel sitzen als folgen muss; und alle anderen dür- Künstler. fen das dann nicht anzweifeln, denn Um das kurz ausgeschlossen zu ha- sie haben ja keine Ahnung von der ben: Werden Herr Grau und ich ge- Zweitens Materie und davon, was richtig ist rade, indem wir uns zu gesellschaft- für die Gesellschaft. lichen Themen äußern, nicht selbst Wir haben offensichtlich eine Kom- Jetzt kann man natürlich fra- zu den Intellektuellen, gegen die wir munikationslücke, die die Spezialis- gen, ob das stimmt; und das ist ei- argumentieren? ten alleine nicht in der Lage sind ne Frage, die ich nicht beantwor- Einerseits: Ad hominem, also ge- zu überbrücken. Irgendeine Instanz ten kann. Die meiner Meinung nach gen den Argumentationsgegner per- muss dabei helfen, warum nicht aber relevantere und einfachere Fra- sönlich, darf nicht argumentiert ein halbwegs vernünftiger Nicht- ge ist, ob das Ganze demokratisch werden, denn es zeigt nur, dass man Spezialist? Einer, der es zusätz- ist. Ich für mich beantworte diese keine echten Argumente zum The- lich auch noch kraft Beruf versteht, Frage mit „Nein“ und sehe genau ma selbst mehr hat. mit Worten umzugehen? Natürlich hier die Stärke des Moralisten: Ei- Andererseits sollte man kurz nicht alleine, wozu haben wir die ne andere Herangehensweise an das betrachten, welche Bereiche Herr Journalisten, aber sind das nicht Problem. Wie im Artikel „Weniger Grau für kritisch hält: „Finanz-, auch irgendwo Menschen mit allge- Demokratie wagen?“ von Michael Wirtschafts- und Umweltpolitik“. meinerem Wissen? Thies und mir[3] dargelegt, basie- Da befindet sich Gesellschaft nicht Außerdem erfüllen die von Intel- ren demokratische Entscheidungen darunter. lektuellen/Moralisten vorgebrach- darauf, dass das, was getan werden ten „Maximalmeinungen“ eine sehr Das Wider kann (i. e. was die Spezialisten vor- wichtige Aufgabe bei der Meinungs- schlagen), mit dem gefiltert wird, findung: Wir hören die Extreme, wir Ja, Grau hat Recht: Der Begriff was getan werden darf, was unse- bilden uns eine Meinung irgendwo des Intellektuellen, von lateinisch ren Werten entspricht, was mora- dazwischen (oder nehmen die Ex- intellectus – Einsicht“, ist gefähr- lisch richtig ist. Das, wo der Mora- ” tremmeinung an, das will ich nicht lich. Man muss aufpassen, dass man list qualifiziert ist. ausschließen). niemandem allumfassendes Wissen attestiert. Daher möchte ich den Das Fazit (aus dem vorangegangenen Ab- Drittens schnitt doch sehr negativ belegten) Auch Spezialisten irren. Das ist nor- Es ist die Zeit der Moralisten. Oder Begriff des „Intellektuellen“ im Fol- mal. Oder sie sind sich uneinig. so. Um das mal radikal formuliert genden ersetzen durch den des „Mo- Und das gilt nicht nur für den zu haben. Meiner Meinung nach ralisten“, der als solcher auch in doch stark meinungsbehafteten Be- liegt in moralischer Bewertung ei- unserer heutigen Gesellschaft noch reich von Finanzen und Wirtschaft, ne der Stärken unserer Gesellschaft, Mitspracherecht haben sollte. sondern auch für Naturwissenschaf- die wir nicht einfach aussterben las- Ja, wir haben eine zunehmend ten. Wer entscheidet, welche Spe- sen sollten. komplexe Welt, deren Einzelaspek- zialistenentscheidung die Richtige Ich gebe Herrn Grau Recht, wenn te vielleicht nur von Spezialisten er- ist? Wie werden Irrtümer entdeckt? er sagt, dass wir auch Intellektuelle fasst werden können. Dennoch gilt Hier kann eine externe, umfassende- oder Moralisten hinterfragen müs- es, ein paar weitergehende Dinge zu re Sicht ein Korrektiv sein. sen, dass sie kein Allheilmittel sind. beachten: Aber sie sind wichtig. Viertens Wir sollten das Intellektuelle Erstens nicht aufgeben. Ich habe mich vor wenigen Ab- Herr Grau blendet in seinem Artikel sätzen dabei ertappt, wie ich et- [1] http://de.wikipedia.org/wiki/G%C3% Politiker völlig aus. Doch allein die was von „unserer von Spezialisten BCnter_Grass Tatsache, dass Bundesminister ohne beherrschten Gesellschaft“ schrei- (abgerufen am: 29. 04. 2015, 10:52) größere Probleme vom Wirtschafts- ben wollte. Das trifft noch nicht [2] http://www.cicero.de/salon/ ins Verteidigungsministerium oder mal überspitzt zu (siehe „Erstens“), moralische-instanz-wir-brauchen-keine- von Umweltministerium ins Kanz- aber ist letztendlich das, was Grau intellektuellen/59138