Jörg Jantzen Vortrag Zwanglose, 22.1.2020

Steilneset Memorial: To the Victims of the Finnmark Witchcraft Trials. / Peter Zumthor

1 Einleitung: Magische Orte

Es gibt, so bilden wir es uns ein, magische Orte. Jedenfalls stellen Dichtung und Malerei sie vor, vielleicht auch die Musik (und Reiseprospekte des gehobenen Anbieters sowieso; ‚Magic Places‘ im Internet!):

Den locus amoenus (den heiteren Ort), den unheimlich-düsteren und (davon nicht immer leicht zu unterscheiden) den ruinösen Ort.

Den Prototyp (: Idee!) des locus amoenus hat Platon. Sein Phaidros, der von der Seele und dem (nicht zuletzt auch erotisch wirksamen) Schönen, handelt, tritt gleichsam hinaus vor die Stadt ins Freie, spielt unter einer Platane, im Schatten eines blühenden und duftenden Keuschbaums oder Mönchspfeffers (bot. vitex agnus castus), man lagert auf üppigem Gras bei einer Quelle kühlen Wassers, die Luft weht lau und lieblich und tönt vom Chor der Zikaden; Statuen verweisen auf einen heiligen Ort (der Nymphen und des Flußgotts Acheloos, 230 b-c).

Eugen Gottlob Winkler: Gedenken an Trinakria (: Segestá): Geht den Weg vom Tempel den Berg hinauf zum Theater: „Panische Stunde. Nichts geschah in der sichtbaren Welt ... Ich mußte mich plötzlich an etwas erinnern.“ Nämlich an Platon- Lektüre in Florenz und den Lektüre-Raum - weites Zimmer, rote Bodenfliesen, riesiger alter Tisch, einfache Dinge wie Weinflasche, Früchte, Tomaten, Feigen und Pfirsiche, Messer, Pfeife und Tabakskrug (: ein klassisches Stillleben!). „Ich geriet an die Stelle [im Phaidros], da Platon jene schwierigen dunklen Worte erfindet, mit denen er das Übersinnliche, selbst wo es unfaßlich erscheint, noch ergreift und mitteilbar macht. Da fiel mein Blick ganz zufällig über die Zeilen des Buches hinweg auf das ruhige Rot einer Frucht ... [die dort liegt mit den anderen Dingen] ohne eine Absicht in ihrer Anordnung... Nun aber, beschworen von der Magie jener Worte, deren Sinn mir unter dem Einfluß dieser gnädigen Stunde plötzlich wahrnehmbar geworden war wie ein rundes sinnliches Ding ... Ich erkannte in ihrer Lage plötzlich das Gesetz einer besonderen Ordnung. Es war nicht die Regelmäßigkeit. Früchte und Gegenstände lagen scheinbar wahllos zerstreut umher. Aber dennoch werde ich nie mehr vergessen, auf welche Art und Weise diese Dinge zueinander lagen. Es war das Schöne. Die Erscheinungen waren plötzlich belanglos geworden nach Zweck und Bedeutung, waren ihrer Stofflichkeit und deren Reizes entkleidet, doch sie wurden, getragen von jener unerschütterlichen Ordnung, die mein Geist in ihnen erkannte, unendlich und wunderbar als Farbe und Form. Daran dachte ich wieder, als ich die im Stoff des goldenen Steines errichtete Ordnung des Tempels erblickte ...“ (31 f.).

Hier (: Phaidros) ist alles beisammen, was zur Grundausstattung gehört: Baum und Gesträuch, Wiese und Quelle, Zikaden (gern auch Vogelstimmen) und Lufthauch. Später kommen dann Hirten und - politisch korrekt - Hirtinnen hinzu, der eine oder andere Faun. Curtius‘ Übersetzung von locus amoenus mit Lustort tritt in ihr eigenes Recht, das Magische, der Zauber des mittäglichen Ortes tut seine Wirkung - Arkadien taucht vor uns auf, ein Arkadien, das die bildende Kunst seit der Renaissance bis hin ins französische Rokoko immer neu erfunden und imaginiert hat.

Curtius 202. Et in Arcadia ego, Auch ich in Arkadien setzt Goethe seiner „Italienischen Reise“ (1816/17) als Motto voran, wohl wissend, daß der Satz (zuerst wohl auf einem Gemälde (Rom) des Guercino (1591-1666) den Tod bedeutet: Auch ich bin Arkadien (Memento mori!).

Il Guercino: Die arkadischen Schäfer („Et in Arcadia Ego“), Galleria Nazionale d‘Arte Antica: Zwei Schäfer betrachten einen Totenschädel, der auf einem Grabstein mit der Inschrift „Et ...“ liegt. - Goethe: MA 15, 802 ff.; Arkadien Kat. Berlin 2014; Poussin: Et in Arcadia Ego, Louvre, vor 1640; Et ..., Chatsworth, 1620er, cf. Mérot: Poussin, p. 92f.

Da ist Schillers Mißmut nicht weit:

„Auch ich war in Arkadien geboren, / Auch mir hat die Natur / An meiner Wiege Freude zugeschworen, / Auch ich war in Arkadien geboren, / Doch Tränen gab der kurze Lenz mir nur.“ („Resignation“, 1784)

Schwermut und Nostalgie überkommen uns (wie noch jeden ‚gebildeten‘ Italienreisenden). Denn wir wissen es längst: Auch das Schöne muß sterben. Aber doch bleibt oder kommt eben die Erinnerung des Dichters oder des Malers an jene Unterbrechung des irdischen Laufs der Dinge, an den Zauber und die Magie jenes locus amoenus.

Und es bleibt der Ort des Dichters. Das muß nicht gerade Marbach sein (: DLA); schon eher der „Große Hirschgraben“ in Frankfurt („Die Konstellation war günstig“ am 28.8.1749) oder das Gartenhaus in Weimar.

Oder in den Sabiner Bergen etwa die steinernen Reste der Villa des Horaz, die ihn einst sich selbst zurückgab („... mihi me reddentis agelli ...“, ep. I 14).

Vgl auch ep. I 16: „hae latebrae dulces etiam, si credis , amoenae. / incolumen tibi me praestant septembris horis.“ „Dieser Zufluchtsort, so freundlich, ja, wenn du mir glauben kannst, so bezaubernd, erhält mich unversehrt für dich, selbst in Septembertagen.“

Oder Petrarcas Haus in dem nach ihm benannten Arqua hoch oben in den Euganeischen Hügeln, die Ebene überblickend.

„Als ich am Fenster eines Tags alleine / stand und viele Dinge sah, so unerhörte, / das ich vom Schauen müde ward zur Stunde, / war mir, als ob von rechts ein Wild erscheine, / des Menschenantlitz Jupiter betörte / ...“ (Kanzone 323, p. 827) [237, p. 629].

Oder das Lusamgärtlein des Walther von der Vogelweide bei der Neumünsterkirche in Würzburg:

„Swer des vergaeze, der taet mir leide“, Hugo von Trimberg

„Ich han min lehen, al die werlt, ich han min lehen. / nu enführte ich nicht den hornunc an die zehen ...“ („Ich hab mein Lehen - alle Welt! -, ich hab mein Lehen. / Nun fürchte ich den Hornung für meine Zehen nicht mehr.“)

Das ganze Jahr über legen Besucher hier Blumen nieder, vor allem ‚Liebende‘ (wie man so sagt). Worin der besondere, magische, Reiz solcher Orte besteht, ist schwer zu sagen. Zeitlosigkeit gehört sicher dazu, eine gleichsam ‚absolute‘ Gegenwart, ein Stillstand („nichts geschah in der sichtbaren Welt“) - erfahren als Modus des Gesehenen, nicht des Sehenden. Der Philosoph spräche vielleicht von Parusie. Wie auch immer, wir wollen hier nicht zu lange stehenbleiben und nicht auf philosophische Ab- bzw. Holzwege geraten. Aber vielleicht noch ein Wort von Droysen aus seiner „Historik“: Er nennt ‚Überreste‘ „gleichsam in Gedanken stehengeblieben“

J.G. Droysen: Historik (1937), WB 1974, S. 38.

Ruinöse Orte haben eine eigene Magie: Troja etwa oder Paestum. Aber wir lassen sie in ihrer Ruhe, zumal Touristen und Archäologen ihnen ebendiese nicht lassen - dies eigentümliche ‚es hinter sich zu haben‘ und doch zugleich ‚da zu sein‘, gleichsam aufgegangen, aber nicht vergangen, in die Landschaft und diese in sie.

Das ließe sich wohl leicht ins Keltische, Skythische, Germanische, Pazifische usw. verlängern. Man denke nur an die Steinreihen (Menhire) im bretonischen Carnac oder an Stonehenge, die Moais von Rapa Nui, der Isla de Pascua. Aber man sieht und spürt das Magische auch an weniger ‚großen‘ Stätten, etwa - um noch kurz in der Antike zu bleiben - bei etruskischen Gräberresten, den Nekropolen, die eine eigentümliche Symbiose mit ihrer natürlichen Umgebung eingehen.

The Etruscans, Kat. 2000, p. 290 (Mauer von Santa Maria di Falerii, Viterbo), 310 (cavone = Weg von Sovana), 338 (Blera necropolis, Viterbo. - Vgl. die Gräber in Japan: Hiraizumi und Kamakura (Nishida)

Bild 1: Etruskisches Grab bei Viterbo Eingänge, Grabsteine, Sarkophage und ihre Bruchstücke sind in die Natur eingegangen, von Gras und Gebüsch überwuchert, aber sie bleiben doch auch merkwürdig fremd; sie stellen sozusagen etwas ‚ganz Anderes‘ dar, das hineinragt in die Landschaft und das diese zu einem ‚Ort‘ macht - eben einem unheimlichen Ort.

Die Malerei hat sich dieses Sujets intensiv angenommen (vielleicht kennen wir die Szenerie auch erst durch sie!). Insbesondere sind es die Holländer, die uns düstere, brauntonige Waldlandschaften, mit einem knorrigen (toten) Baum im Vordergrund, mit Bach und eben steinernen Zeugen der Vergangenheit (oder einfach menschlichen Tuns: Schloß, Wasser-, Windmühle, Brücke, Bauernhütte usw.) vorstellen. Jacob van Ruisdael hat mit dem „Judenfriedhof“ (1655, Dresden) gleichsam das Paradeigma geschaffen. „... als wenn uns das Vergangene nichts außer der Sterblichkeit zurücklassen könnte“, kommentiert Goethe das Gemälde.

„Ruysdael als Dichter“, MA XXXI 203-208. Holländer: Gillis van Coninxloo: Waldlandschaft, Schneider p. 109; Ruisdael: Dünenlandschaft...1646, Kat.Hamburg; Rembrandt: Landschaft mit Obelisk ..., Kat. Kassel 2005; Govert Flinck, ebd.; Adriaen van Ostade

Die deutsche Romantik insbesondere hat Ruisdaels Bildgedanken fortgeführt; man denke an Caspar David Friedrichs „Der Friedhof“ (um 1825, Dresden), an „Gräber gefallener Freiheitskämpfer“ (1812, Hamburg), an „Abtei im Eichwald“ (1810, Berlin) aber auch an Carus, Dahl, Oehme, um nur einige zu nennen. Das geht dann fort bis die Natur selbst ruinös wird - etwa in Worpswede bei Otto Modersohn und den anderen.

„Denn gestehen wir es nur: die Landschaft ist ein Fremdes für uns und man ist furchtbar allein unter Bäumen, die blühen, und unter Bächen, die vorübergehen. Allein mit einem toten Menschen ist man nicht so preisgegeben wie allein mit

Bäumen. Denn so geheimnisvoll der Tod sein mag, geheimnisvoller noch ist ein Leben, das nicht unser Leben ist, das nicht an uns teilnimmt und, gleichsam ohne uns zu sehen, seine Feste feiert ...“ (Rilke: Worpswede, 10 f.). Romantik: Friedrich Kat. Hamburg 2007, Dresden ...

Wir sind unserem Ziel (wenn man so sagen kann) wesentlich näher gekommen. Das Teufelsmoor ist nahebei und ebenso die Lüneburger Heide, an deren Rand die Totenstatt von Oldendorf liegt, eine Nekropole der (jungsteinzeitlichen) Megalithkultur.

Heide und Moor - das sind die Stichworte:

„Oh, schaurig ist‘s, übers Moor zu gehen, / Wenn es wimmelt vom Heiderauche, / ... / Weh, weh, da ruft die arme Margret: / ‚Ho, ho, meine arme Seele!‘ / Der Knabe springt wie ein wundes Reh; / ...“ („Der Knabe im Moor“).

Die Droste-Hülshoff ist eine Meisterin des unheimlichen Naturortes - das ist das Moor und vor allem die Heide („Die Jagd“, „Der Heidemann“, „Das Haus in der Heide“ ...). Ihr Motiv bringt uns entscheidend weiter: Zu den Hebriden und ins schottische Hochland, zu Ossian, zu Fingal‘s Cave auf Staffa

Felix Mendelssohn-Bartholdy: Ouvertüre „Die Hebriden“, Sinfonie Nr. 3 „Schottische“ und - gleich daneben - zu der (den Schotten heiligen) Insel Iona, wo 563 Columba sich büßend niederließ, um eine Abtei zu gründen - ein Ort, der Transzendenz ‚durchscheinen‘ läßt. (Und übrigens als Grablege der schottischen Könige auch Duncan und seinem Mörder Macbeth zugleich letzte Ruhestätte ist, 1040 bzw. 1057).

„That man is little to be envied whose patriotism would not gain force upon the plain of Marathon, or whose piety would not grow warm among the ruins of Iona.“ Samuel Johnson: A Journey to the Western Islands of Scotland, 1773, p. 144. Vgl. C.K. Walker: Walking North With Keats, 1992, no.s 109 ff. Damit zu Schottlands Hexen:

„So fair and foul a day I‘ve never seen before“ (I 3) in den Worten von Macbeth, und was wir da sehen (III 5), nimmt es leicht auf mit der Hexenküche in ‚Faust‘ I (und mit dem schlimmsten deutschen Regietheater).

Über die drei Hexen und Hecate, die Hexengöttin, im Macbeth hat man mit Recht viel gerätselt: Wofür stehen sie? Oder sind für Shakespeare tatsächlich Hexen ins mörderische Treiben verwickelt?

Zu seinen Zeiten, in den 1590er Jahren, war in Schottland die Hexenjagd in vollem Gang. Dann wieder um 1649, 1661-62 und schließlich noch einmal in den 1690er Jahren; insgesamt dürften um die 3.000 Menschen als Hexen ums Leben gekommen sein.

C. Harvie: Scotland. A Short History, 2014, 110; W. Robertson: The History of Scotland ..., vol. 2, 1788, p. 249.

An der Nordspitze Schottlands sind wir erst ungefähr auf der Höhe von Oslo. Wir wagen die Überfahrt nach Bergen, und bekommen es zu tun mit Unmengen von sog. Trollen und echten Chinesen. Über letztere sei nichts weiter gesagt, die ersteren: Riesen, bisweilen auch Zwerge, ‚übernatürlich‘ (wie man so sagt, aber vielleicht auch nur zu ‚natürlich‘), jedenfalls plump, mit außerordentlich langen und spitzen Nasen, zweigeschlechtlich (was auch immer das heißen möge), Steine werfend, unangenehme Burschen, denen schon der hl. Olav um 1100 das

Handwerk zu legen versuchte, zum Teil sogar erfolgreich. Aber sie trollen sich noch - im Trollfjord, auf dem Trollstigen, in Trollheimen. Und bei Ibsen (im „Peer Gynt“). (Und im Internet).

Ibsen: Begegnung Peer mit der Grüngekleideten = Tochter des Königs Brose, Dovre-Alten: reiten auf einem Schwein durch das Ronde-Tor: Des Dovre-Alten Königshalle: Große Versammlung von Hoftrollen, Erdgeistern und Kobolden. Der Dovre-Alte auf dem Hochsitz mit Krone und Szepter. Seine Kinder und nächsten Verwandten zu beiden Seiten. Peer Gynt steht vor ihm. Große Bewegung im Saal. Die Hoftrolle: Schlachtet ihn ab! Betört hat der Christ des Dovre-Alten wonnigste Maid! ... Weigert sich, die Tochter des Alten zu freien; bekennt, kein Prinz zu sein; die Trolle fallen über ihn her ... „Hilf Mutter, ich sterbe“, Kirchenglocken: Die jungen Trolle: „Schellen im Gebirg! Der Schwarzrock fährt aus!“ Die Trolle flüchten ... alles verschwindet. Trolle, Riesen: Utgard, Menschen: Mitgard, Asen (Götter): Asgard; vgl. Edda ...

Zu Schiff verlassen wir Bergen, den alten Hanseplatz, Richtung Norden. Wir reisen im tiefsten Winter; die Tageszeiten verschwimmen, es herrscht Dunkelheit, aber sie ist keineswegs ohne Licht, die Grautöne sind vielfältig, geradezu farbig (wie Tizians Alterswerke). Zu Zeiten erhellt der Mond die Nacht und die schwarze See, hinter dem Heck zieht sich eine leuchtende (Gischt-) Bahn hin über das Wasser. Leuchtfeuer tauchen auf, auch Schiffslichter, am schemenhaft erkennbaren Land bisweilen Autoscheinwerfer, ab und zu erleuchtete Häuser, alle paar Stunden ein Hafen wie aus dem Dunkel getaucht.

Und dann (mit Glück): Das Nordlicht: grün und orange, auch bläulich-violett zuckt es und schießt über den Himmel, in Vorhängen, Schleiern, Bändern, löst sich auf, bildet sich neu: Magische Zeichen schlechthin, Unheil verkündend und jedenfalls jenseitige Mächte. Bild 2: Nordlicht (Tromsö)

„Und ich sah, und siehe, es kam ein ungestümer Wind von Norden her, eine mächtige Wolke und loderndes Feuer, und Glanz war rings um sie her, und mitten im Feuer war es wie blinkendes Kupfer. / Und mitten darin war etwas wie vier Gestalten, die waren anzusehen wie vier Menschen ...“ (Hesekiel [Ezechiel] 1.4). Dazu Dante: Purgatorio XXIX. Insgesamt: B. u. K. Schlegel: Polarlichter zwischen Wunder und Wirklichkeit, Heidelberg 2011 [Th. Däubler: Das Nordlicht, Leipzig: Insel 1921/22].

Eine eigentümliche Magie besitzt indessen auch und gerade der ungeheure und ortlose Raum oder eigentlich das Gefühl (Innewerden) von Raum, das sich auf See unter dem nächtigen Himmel einstellt.

Kant: „Der Raum ist kein empirischer Begriff.“; „Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Erscheinungen zugrunde liegt.“ (KrV A 24). - Das ‚Gefühl von Raum‘ angesichts eines nicht bestimmt erfahrenen und erfahrbaren, aber eben ‚Äußeren‘, bedeutet, was man vielleicht „Innewerden des Raumes“ nennen könnte: J.G. Herder: Erörterung des Wortes Raum (1799) [Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft]: Innewerden des a priori [!].

Wir passieren Alesund (die nach dem Brand 1904 neu gebaute Jugendstilstadt, in der man das Andenken Kaiser Wilhelms II. hochhält); Trondheim (die Kathedral- und heimliche Hauptstadt Norwegens); Bodö (eine der wichtigsten NATO-Militärbasen im Kalten Krieg und vielleicht bald wieder), die Gebirgskette der Lofoten (Stockfisch, Johan Bojer: „Die Lofotfischer“, 1921 [norw. „Der letzte Wikinger“]), die anschließenden Vesteralen; Tromsö (Metropole des Nordens); Hammerfest (für den deutschen Besucher - wie viele andere Orte in (Nord-) Norwegen - ein beschämender Besuch! Aber jetzt strahlt die Gasverflüssigungsanlage, die größte der Welt, monumental in die Nacht); wir durchfahren die Enge zwischen Festland und der Insel Mageröya (: Nordkap), verlassen das europäische Nordmeer Kurs Osten in die Barentssee, Ziel Kirkenes.

Bild 3: Das Nordkap (Peder Balke 1845)

Die Landschaft hat sich verändert: Noch immer Felsabbrüche zum Meer hin, nicht eigentlich Gebirge, sondern Tundra, weite Höhenzüge, baumlos, Gras und Gestrüpp, Geröllfelder, im Winter unter Schnee (der an manchen Stellen bis in den Sommer bleibt): Arktische Landschaft. Nicht ‚schön‘ wie die Küsten- und Inselwelt bisher, aber ‚erhaben‘, wie man im Blick auf Kant gesagt hat.

Und erhaben ist auch der Eindruck im Sommer: Wenn das Meer sich im Sturm zeigt oder das gleißende Licht der Mitternachtssonne über dem Land liegt.

Bild 4: Kochende See (Jochen Hein 2015)

‚Erhaben‘ nennen wir, was (kurz gesagt) unsere Sinnes-Erfahrung übersteigt („das eigentliche Erhabene kann in keiner sinnlichen Form enthalten sein“, KU B 77), und die Ideen der Vernunft weckt: die des Unendlichen angesichts des schlechthin Großen, das allen Maßstab der Sinne übertrifft (B 92 = das mathematisch Erhabene), und die Idee einer übersinnlichen Macht angesichts einer tobenden, auch verwüstenden Naturgewalt - wenn wir uns sicher sehen („weil es mit der Gefahr nicht ernst ist“, B 106 = das dynamische Erhabene).

Kant: KU § 28, B 109 ff.. Das ästhetische Urteil über das Erhabene (nicht durch Konvention bewirkt, 111) befähigt, „zur Idee der Erhabenheit desjenigen Wesens zu gelangen, welches nicht bloß durch seine Macht, die es in der Natur beweiset, innige Achtung in uns wirkt, sondern mehr noch durch das Vermögen, welches in uns gelegt ist, jene ohne Furcht zur beurtheilen und unsere Bestimmung als über dieselbe erhaben zu denken.“ Longinus 9 (2): Erhabenheit ist Widerhall von Seelengröße. [Der Eindruck des Erhabenen / der erhabene Eindruck]

Ehe das Schiff in den Varangerfjord nach Kirkenes einläuft, taucht die kleine (Doppel-) Insel Vardöya mit dem Ort Vardö auf, ca. 2 km vor dem Festland entfernt. (Seit 1982 verbindet ein Tunnel die Insel mit dem Festland). Bild 5: Varangerfjord

„Will man die Hölle an einem konkreten Ort ansiedeln, dann selbstverständlich hier. ... Der östlichste Ort Skandinaviens ist ein Hort der Verzweiflung ... eine künftige Heimat von Gespenstern und Vergessenen“, so der norwegische Autor Vetle Larssen (NZZ 5.10.2014; aber vgl. NZZ 2018).

Das war um 2003; die Fischverarbeitung war in schwimmende Fischfabriken verlagert, die Armee (: NATO) hatte ihre Präsenz drastisch verringert. Die Einwohner wurden arbeitslos, zogen weg, die Kommune stand vor dem Bankrott.

König Hakon V. gründete hier um 1300 die Festung Vardöhus; „sie diente der Wahrung der norwegischen Interessen an der Nordostpassage gegen Nowgorod“. Vardö sperrte die Finnmark militärisch wie handelspolitisch (: Finnmark-Handelsmonopol) gegen den Osten, d.h. gegen die sog. Pomoren (Pomor = am Meer; vgl. Pommern), das sind (grob gesagt) Russen, die seit dem 12. Jahrhundert am Weißmeer siedelten, in gewisser Weise autonom, mit eigener Sprache; der Hauptort ist Archangelsk (1584 gegründet), Handelszentrum für den russischen Nordosten; Schotten, Engländer, Holländer waren, neben Norwegern und Dänen, die Handelspartner. Im 18. Jahrhundert öffnet die dänisch-norwegische Doppelmonarchie die Finnmark für den ab jetzt sog. Pomorenhandel, ein äußerst intensiver Austausch von (norwegischen) Fischereiprodukten und (russischem) Getreide (: Roggen = „Russenmehl“), außerdem Pelze, Holz; Vardö die wichtigste Stadt, Pomorenhauptstadt Norwegens. Mit der russischen Revolution kam das Ende des Pomorenhandels, das kommunistisch gewordene Rußland schloß sich ab.

1460 wurde die Festung verlegt und auf einer kleinen Anhöhe neu errichtet (s. Karte), ungefähr dort, wo heute die Antennen stehen.

Die jetzige achteckige Festung stammt von 1738 (der 3. Bau), einige Gebäude stammen noch aus dem 18. Jahrhundert; soweit bekannt, haben russische Truppen die Festung nicht angegriffen; 1808 eröffneten die Kanonen das Feuer allerdings auf englische Truppen während der französischen Kontinentalsperre.1940 wurde die norwegische Flagge zum letzten Mal gehißt, die deutsche Wehrmacht besetzte den strategisch wichtigen Platz; am 31. Oktober 1944 vertrieben sowjetische Truppen die Deutschen. (An Vardö vorbei lief im 2. Weltkrieg die amerikanische Nachschubroute nach Murmansk.)

„Heute dient die Festung als Schule für die Seestreitkräfte. Die Festung hat Salutpflicht. Sie ist die einzige Festung nördlich des Polarkreises, die einen Zwei-Schuss-Salut abfeuert, wenn von der Festung sichtbar erstmals im Jahr die Sonnenscheibe voll über dem Horizont steht. Dann haben alle Schüler schulfrei.“ (Wikipedia)

Bis zum Ende der Sowjetunion nach 1989 war Vardö (wie viele Orte in Norwegen) NATO- Stützpunkt und wird es vielleicht wieder werden; mit der Erderwärmung und der Erschließung arktischer Gas-und Ölreserven werden die Barentssee und die Nord-Ost-Passage immer bedeutender. Bis heute wird hier von den USA und Norwegen eine gewaltige Radarstation betrieben.

In 1768-69, the Hungarian Jesuit priest Maximilian Hell was lodging in Vardöhus to witness the passage of Venus. After a winter spent studying the Northern Lights and the Sami language, the priest saw Venus pass in good weather on 3 June, and his observation helped determine the exact distance between the Earth and the Sun. Nothing remains of his observatory, but the location is marked with a memorial plaque. [„Observatio Transitus Veneris Ante Discum Solis Die 3. Junii Anno 1769 ...“. Maximiliano Hell ... Hafniae 1770]

„... Hätte ich zu Wardöhus einen Kirschkern in die See geworfen, so hätte der Tropfen Seewasser, den Myn Heer am Cap von der Nase wischt, nicht genau an dem Ort gesessen“, G.Chr. Lichtenberg, D 54 (Reclam S. 42); s.a. F 164 (S. 109). Bild 6: Vardö

Bibl. Hinweis für die folgenden Abschnitte zur Hexenverfolgung W. Behringer 2016 N. Cohn 1976 R. v. Dülmen 1987 C. Ginzburg 1990 B. Levack 2009 L. Roper 2007 U. Rublack 2018 [: Kepler]

Hexendarstellungen in der Bildenden Kunst: Eigenes Thema (Hinweise auf Dürer, Grien, Frans Francken II ca. 1610: Hexensabbat) 2 Die Festung Vardöhus

Die Festung von 1460 stellte ein viereckiges Areal dar, 30 x 40 m, umgeben von 4 m hohen und 2 m dicken Mauern. Auf dem Areal befanden sich einige Gebäude sowie ein Brunnen.

Aber nicht die Militärgeschichte macht sie historisch bedeutend.

Das Folgende nach L.H. Willumsen: Steilneset. Memorial to the Victims of the Finnmark Witchcraft Trials, Oslo 2011; dies.: The Witchcraft Trials in Finnmark, Northern Norway, Berger 2010; [dies.: Witches of the North. Scotland and Finnmark, Leiden 2013]; dies. u. R.L. Andreassen, hg.: Steilneset Memorial. Art, Architecture, History, Stamsund (: Orkana) 2014.

Vielmehr: Sie spielte in den Hexenprozessen des 17. Jahrhunderts in der Finnmark (im nördlichsten bewohnten Europa!) eine zentrale Rolle. Hier wurden die Verfolgten inhaftiert (im ‚Hexenloch‘), und hier fanden in der Regel die Prozesse, mit den üblichen Folterungen, vor allem den sog. Wasserproben, statt.

„‚Trial by water‘ was often used beause it was seen as an important means of rendering evidence of witchcraft visible. The accused was bound hand and foot and thrown into the sea. Since water was regarded as a sacred element, it was thought that it would repel that which was evil, so if the accused floated to the surface, it was interpreted as evidence of guilt. If he or she sank, ist was seen as evidence of innocence.“ (J. Sky: Before the Fire, in: Steilneset ..., 73-78, 74).

Insgesamt wurden seit 1601 in der Finnmark 135 Menschen, 111 Frauen und 24 Männern, der Prozess gemacht; 91 fanden den Tod: 88 durch Verbrennung auf dem Scheiterhaufen, 2 starben unter der Folter, einer wurde erschlagen. Der Scheiterhaufen befand sich unterhalb der Festung, nicht weit von ihr, unmittelbar am steinigen Ufer; der Name „Steilneset“ erinnert an das Geschehen: „steile“ bedeutet wie das englische „stake“ den Marter-, den Brandpfahl; den (Tod auf dem) Scheiterhaufen.

Die meisten Verurteilungen unter dem schottischen Kommandanten John Cunningham (1619-1651); s. Willumsen/ Andreassen ..., 66, zur Verbindung mit Schottland: Hier die Hälfte aller (5000) Hexenprozesse auf den britischen Inseln; Jakob VI. (I. von England): Vf. eines Buches über Hexerei; schottische Auswanderer in die Finnmark.

Die Verfolgung war besonders intensiv: Im 17. Jahrhundert hat Finnmark ca. 3.000 Bewohner, das sind 0,8 % der norwegischen Bevölkerung, gleichwohl fanden hier 16 % aller norwegischen Hexenprozesse statt und 31 % aller Todesurteile wurden hier ausgesprochen und vollstreckt.

„The intensity of witch-hunting in Finnmark was 60 times the European average. If the authorities in Finnmark had executed an average number of witches, they would have executed 1 or 2.“ (Willumsen/Andreassen ... 99).

Die Prozesse trafen zu vier Fünfteln Norweger, vor allem Frauen; zu einem Fünftel Samen, hier vor allem Männer. Sie waren für ihre Zauberkünste bekannt: den Gebrauch der magischen ‚Schamanen‘-Trommel, die Erzählungen der ‚Schamanen‘-Reise, auch für den Verkauf von magischem Wind, d.h. Segelwind; die ‚geringe‘ Zahl von verfolgten Samen verwundert insofern.

In den Jahren 1620-1621, 1652-1653 und 1662-1663 fanden ‚panikartig‘ Kettenprozesse statt; aus einem Verfahren ergab sich sogleich (aufgrund von Zeugenaussagen) das nächste: dahinter stand der Verdacht auf Bildung einer satanischen Vereinigung.

Die letzte Verbrennung auf dem Scheiterhaufen fand im Juni 1678 statt:

Synöve Johannesdatter, verheiratete Frau, wohnhaft in Vadsö, kam von Tromsö nach Finnmark, arbeitete früher als Dienstmagd [> p. 100 ...]. Die letzte Verhandlung betraf, eher untypisch, im Februar 1692 einen Samen, untypisch auch sein Tod:

Anders Poulsen, Samisch, geboren in Törne Lappland in Schweden, verheirateter Mann, 100 Jahre alt, wohnhaft in Varanger [> p. 101 ...]„Kein Urteil gefällt. Der Fall wurde aufgeschoben, um die Meinung der Obrigkeit in Kopenhagen einzuholen. In der Untersuchungshaft mit der Axt getötet.“

3 Hexenjagd I

Zauberei, Hexerei (= Schadenzauber), Magie - schwarze und weiße, niedrige und hohe - hat es vermutlich ‚schon immer‘ gegeben, zu allen (bekannten) Zeiten und wohl unter allen Völkern. Die Griechen kannten Kirke und Medea, das Alte Testament überliefert den folgenreichen Spruch:

„Die Zauberinnen sollst du nicht am Leben lassen“ (Exodus 22,17).

Vgl. Joh. 15.6: „Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen.“

Das Christentum tut sich allerdings schwer mit der Magie (bzw. deren Behauptung), beschwört diese doch eine eigene Macht jenseits der Werke Gottes. Wenn man nicht, wie etwa Thomas von Aquin, generell die magicae artes als fallaciae daemonum denunziert, so unterscheidet man doch zwischen einer dämonisch-diabolischen und einer heilsamen, ‚spekulativen‘ Magie. So hält es dann auch die Renaissance mit ihrer Neubelebung neuplatonischen und ‚heidnischen‘ Denkens. Ficino: „Denique duo sunt magiae genera“. Der Magier macht sich verborgene Naturkräfte zu eigen, etwa um zu heilen (magia naturalis); aber es gibt auch jene Magie, die vom Glauben abfällt und sich mit den Dämonen einläßt (magia prophana). Für die spekulative magia bzw. scientia naturalis stehen Namen wie Ficino, Agrippa von Nettesheim, Paracelsus, Bruno, Böhme; die Tradition reicht bis in die Romantik (etwa Novalis). Für uns wird die zweite, ‚dämonische‘ Linie bedeutend werden.

Fludd u.a. Ficino: R. Klibansky u.a.: Saturn ..., 387 f.; P. Kristeller: Die Philosophie des Marsilio Ficino ..., 297 f. Plotin: R. Wallis: Neoplatonism ... ,70 f.; G. Luck: Magie ...; K.-H. Göttert: Magie ...,; K. Goldammer: Art. Magie, in: HWPh 5, Sp. 631 ff. ; vgl. C. Gilly/C. van Hertum, ed.: Magia, Alchimia, Scienza dal ‚400 al ‚700 ... Amsterdam/Venedig 2002 (= Bibl. der hermetischen Literatur); Das Folgende weitgehend orientiert an B.P. Levack: Hexenjagd. Die Geschichte der Hexenverfolgungen in Europa, (engl. 1987), 4. Aufl. 2009. [Claude Lévi-Strauss: Wildes Denken ...] Bild 7: Dürer: Die vier Hexen, 1497

Das Geschehen im hohen Norden ist Teil eines gesamteuropäischen Vorgangs; er spielt in Westeuropa, dem westlichen und östlichen Mitteleuropa, den Britischen Inseln (mit Neuengland), Skandinavien, Ost- und Südeuropa. Die Hexenverfolgung reicht von der Mitte des 15. bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts; ihre Komplexität ist geradezu notorisch; die einschlägige Literatur kaum zu übersehen. Die Hexenverfolgung vollzieht sich in Wellen, bisweilen panikartig, unterscheidet sich nach Regionen, hat lokale, konfessionelle, juristische, politische usw. Besonderheiten, aber auch wieder grundlegend durchgehende Züge, die so verschiedenen Gegenden wie dem Baskenland, der Schweiz, Franken, der Finnmark gemeinsam sind.

Die neuere Forschung nimmt für Europa und für den genannten Zeitraum ungefähr 110.000 Prozesse und 60.000 Hinrichtungen, meist durch Verbrennung, an (Levack p. 35).

Hexenverfolgungen gab es schon früher (manchmal auch im Kontext der Verfolgung von ‚Häretikern‘, z.B. Waldenser, Katharer bzw. Albigenser). Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts aber gewinnt die Hexenverfolgung systematischen Charakter, ist nicht mehr bloß Verfolgung einzelner maleficae bzw. malefici, um deren böse Taten zu ahnden. In der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nimmt die Verfolgung leicht ab (mit Ausnahmen - Baskenland, Katalonien, Niederlande, Luxemburg, Como); von ca. 1580 bis ca. 1650 erreicht sie ihren Höhepunkt, nach 1675 gehen die Verfahren zurück. Die wahrscheinlich letzte legale Hinrichtung einer ‚Hexe‘ fand 1782 im schweizerischen Glarus statt (zur Empörung des europäischen Publikums).

1692 Salem /Mass.; A. Miller: „Hexenjagd“ (1953).

Die Historiker machen, in verschiedener Gewichtung, eine Vielzahl von Gründen bzw. deren Zusammenspiel verantwortlich für die systematische Hexenverfolgung seit der Mitte des 15. Jahrhunderts. Im Hexensabbat, der gemeinschaftlichen (: sektenbegründenden!) und orgiastischen Verehrung Satans und im Hexenflug, hat der Satanspakt seine eigene Wirklichkeit. Der unheilbringende, schadenstiftende Magier wird zum Teufelsanbeter, der vom Glauben abgefallen ist und der die Normen des organisierten gesellschaftlichen Lebens radikal in Frage stellt (also nicht nur individuellen Schaden anrichtet). Die Hexenverfolgung wird damit zur Häretikerverfolgung.

Die neuere Wissenschaft (Levack u.a.) faßt die folgenreiche Verbindung von Magie bzw. maleficium und sektierischer Häresie (: Teufelspakt) als „kumulativen Begriff“ der Hexerei. Johannes Nider: Dominikaner, Basel; s. W. Tschacher in: Lexikon zur Gesch. d. Hexenverfolgung; Rolle auf dem Konzil von Konstanz. Natürlich Vorläufer in der Verbindung von Magie und (häretischem) Satanspakt, der Zauberer als Häretiker und umgekehrt (Levack 44 ff.). Differenzierung: Niedere Magie (= schwarze, maleficium; weiße, wohltätige); hohe Magie = spekulative Kunst: Umwandlung von Metallen, Wahrsagerei, Astrologie, Beschwörung = Anwendung bestimmter Methoden, um geheimes Wissen zu erlangen)

Generell ist die Bedeutung der Theorie nicht zu unterschätzen, zumal der Buchdruck für ihre Verbreitung sorgt. Die ‚Hexen‘-Literatur spiegelt die Zunahme der Prozesse und ist ihrerseits ein wichtiges Stimulans, insofern die (als solche gesehenen) Erscheinungen von Magie und Hexerei auf eine dämonologische, ‚rationale‘ Begrifflichkeit gebracht werden und mit diesem Instrumentarium erkannt werden können. Die ‚Rationalisierung‘ erlaubt ihrerseits eine methodische Vorgehensweise im Ermittlungsverfahren und in der Prozessführung. Eines der verbreitesten Handbücher war (und ist!) der „Malleus Maleficarum“ („Hexenhammer“), der zwischen 1486 und 1520 außerordentlich populär war und wiederholt aufgelegt wurde.

Heinrich Kramer (Dominikaner): Malleus Maleficarum, Speyer 1486; 29 Auflagen bis ins 17. Jhd.; hg. von G. Jerouschek u. W. Behringer, 3. Aufl. 2003 dtv. Der „Hexenhammer“ später abgelöst von Martin Delrio: Disquisitionum magicarum libri sex, 1599-1600 (20 Auflagen bis 1755): Kompendium der gesamten Hexenliteratur, als Handbuch für Richter gedacht

Die Hexenverfolgung war also keineswegs ‚finsteres Mittelalter‘ (was auch immer man sich darunter vorstellen mag), sondern muß als Teil eines Rationalitätsschubs, der die frühe Neuzeit einleitet, begriffen werden. Das niedere ungebildete, illiterate Volk (auf dem Land wie in der Stadt) glaubt an Hexerei und Magie (Wahrsagerei usw.); und hier vor allem ist sie gegenwärtig - denn hier herrscht die Not des Lebens: Hunger, Krankheit, Armut, Tod, Neid, Haß und Verbrechen, usw.; vor allem Angst. Daraus erwachsen Schuldzuweisung und Schuldübertragung. Die gebildete Elite freilich weiß, woher Hexerei und Magie kommen (und fürchtet sich vor ihnen); sie erkennt den Grund in der Häresie, in dem Abfall vom Glauben und damit eben auch die bedrohliche Negation der geltenden Lebensregeln und Sitten, also der Ordnung, die mit dem Glauben vorgegeben ist. Der Häresieverdacht (: Teufelspakt, Hexensabbat) ist immer auch Verdacht auf Gruppen- und Sektenbildung und damit auf gemeinschaftliche Verabredung gegen die öffentliche Ordnung. Hier liegt der Grund für das (frühneuzeitliche) staatliche Interesse an der Hexenverfolgung.

Die Hexenverfolgung trifft vor allem das niedere Volk, die Unterschichten (aber nicht nur sie); hier insbesondere ist der Erscheinungsort der Hexerei, und vor allem trifft die Verfolgung Frauen, arme und alte Frauen. Insofern scheint eine ‚Klassenkampf’-These zur Hexenverfolgung zumindest nicht ganz falsch zu sein (Levack 128); ebenso findet eine ‚feministische‘ Erklärung hier ihren Ansatz. Bild 9: Hans Baldung Grien: Neujahrsgruß mit drei Hexen, 1514 s. L. Roper: Hexenwahn ... ; u.a. Der Rückgang der Prozesse Anfang des 16. Jahrhunderts spiegelt sich in der geringeren Zahl von Handbüchern, Traktaten und auch im Aufkommen einer gelehrten Skepsis, für die Johann Weyer (1515/6-1578): „De praestigiis daemonum“, 1563 („Über das Blendwerk der Dämonen“) exemplarisch steht: Für Weyer stellen die Hexereien ganz banal kriminelle Taten dar oder deuten auf krankhafte ‚Melancholie‘. Aber er hält an der Existenz von Dämonen fest. Humanismus und Renaissance glauben an Magie, aber leugnen, daß die Hexereien (an die das Volk glaubt) auf ihr Konto geht. Das ist eine Schwäche, die etwa Jean Bodin (1529/30-1596) in seinem gegen Weyer gerichteten Werk „La Démonomanie des sorciers“, 1580, ausnutzt [Hauptwerk der Hexenverfolgung]: Die gelehrte Skepsis erkennt Magie als solche an. Bodin - einer der ersten modernen Staatstheoretiker - bringt das Interesse des Staates an der Verfolgung der Hexen und Magier zum Ausdruck; die Magie bedeutet - zumindest tendenziell - Rebellion.

Vgl. auch Kritik an der Hexenverfolgung bei Reginald Scot: The Discoverie of Witchcraft, 1584 Zu Johann Weyer s. Portal Rheinische Geschichte; gegen Weyer: König Jakob I. (VI. von Schottland): Demonologie, 1597, MacCulloch 741 Zur Kritik an den Hexenprozessen s. auch Friedrich von Spee (1591-1635): Cautio criminalis, 1631; Balthasar Bekker: De betoverde weereld (Die verzauberte Welt), 1691, MacCulloch 740 Auch die Reformation trägt zunächst zum Rückgang der Hexenprozesse bei. Die antikatholische Polemik, die sich nicht zuletzt gegen die Inquisition richtet, bedeutet auch die Zurückweisung der überkommenen Dämonologie und der kirchlichen Justiz.

4 Hexenjagd II. Einzelne Aspekte [in

Stichworten] Reformation / Gegenreformation

Reformation und dann auch Gegenreformation bedeuten bald eine Intensivierung der Hexenverfolgung.

Luther wie Calvin sehen die Welt vom Teufel beherrscht und betonen so den häretischen Charakter der Hexerei stärker als den magischen und schadenstiftenden. Protestantische wie katholische Glaubens- und Kirchenreform will mit ihrer Insistenz auf Glauben und Frömmigkeit eine neue ‚Christianisierung‘ durchsetzen, sie zielt zumal auf die Unterschichten. Es geht um die Ausrottung von allerlei Aberglauben, schwarzer und weißer Magie, heidnischer (Volks-) Praktiken aller Art, Wahrsagerei, Zaubersprüchen, Riten, Heilungsmagien usw. (L. 111). Der reformatorische Verinnerlichungsdruck kennzeichnet die neue religiöse Situation: Sie steht unter dem Druck der Forderung nach Frömmigkeit, der Hoffnung auf Erlösung und Gnade und vor allem unter dem beständigen Bewußtsein von Sünde und Schuld.

Siehe hierzu die von H. Militzer umfassend gesammelten Bildzeugnisse zum Thema Gesetz und Evangelium („Gesetz und Evangelium“, 2. Bde. Hamburg 2006).

Die Entlastung durch Schuldübertragung oder Schuldabwendung, sprich: Denunziation, liegt nahe. Ebenso nahe liegt der - oft hysterisch und panische - Versuch, sich zu schützen vor der vermuteten satanischen Infektion.

„Die Entschlossenheit der protestantischen Geistlichkeit, alle Formen volkstümlichen Aberglaubens auszurotten und so den Glauben zu läutern, fand ihren Widerhall beim katholischen Klerus der Gegenreformation und besonders bei den Inquisitoren der Mittelmeerländer.“ (L. 111).

In den lutherischen Ländern allerdings weniger Verfolgungen als in reformierten und katholischen Gebieten, MacCulloch 737.

Rechtliche Voraussetzungen

Es gab Lynchjustiz; aber sie spielte eigentlich keine Rolle. Die Hexenjagd war vielmehr eng gebunden an ihre rechtliche, korrekte gerichtlich-prozessuale, Durchführung und wurde ebendadurch erst möglich (einmal abgesehen von den anderen Faktoren, s.o.), genauer gesagt: Es ist wesentlich die Ablösung eines ‚akkusatorischen‘ Strafprozeßrechts durch ein ‚inquisitorisches‘ Prozeßrecht (in einer langen Entwicklung seit dem 13. Jahrhundert.

‚Akkusatorisch‘: Der Strafprozeß wird eingeleitet und durchgeführt durch einen ‚Privatkläger‘: öffentlich beeidete Aussage des Klägers (Partei des Geschädigten) gegen den Schädiger, darauf Schuldeingeständnis bzw. unanfechtbare Schuldbeweise oder - im Zweifelsfall - Gottesgericht, Zweikampf, Eideshelfer zur Unschuldsbezeugung; der Richter ist unparteiischer Schiedsrichter; der Ankläger steht seinerseits unter der Drohung der lex talionis. „Man darf davon ausgehen, daß nach dem alten Verfahren das Opfer einer Hexerei nur sehr zögernd einen Täter des maleficium bezichtigte; denn jeder mußte befürchten, selbst bestraft zu werden, wenn sich die Anschuldigung als unhaltbar erwies“ (L. 80). ‚Inquisitorisch‘: Der Kläger nicht mehr verantwortlich für die Prozeßführung. Verdächtige werden angezeigt oder von einem Mitglied des Gerichts (aufgrund einer infamia oder schlechten Leumunds) verfolgt.

„Damit verlief das gesamte Verfahren nicht nur unter behördlicher Kontrolle, sondern auch auf der Grundlage eines rationalen Begründungsversuchs. Der Mensch nutzte sein eigenes Urteilsvermögen auf der Grundlage geltenden Rechts, um das Verbrechen zu ahnden“ (L. 79). Die Verhöre stützten sich nicht zuletzt auf die (quasi-) wissenschaftliche Literatur zur Hexerei (s.o.: Kramer, Delrio u.a.).

England nahm eine andere Entwicklung: Eine Jury zuständig für die Anklage, eine andere für die Schuldfindung; in Schottland ein Mischsystem: Untersuchung und Anklage obliegen Berufsrichtern, die Schuldfindung den Geschworenengerichten.

Der kontinentale inquisitorische Strafprozeß eignet sich zumal in Häresie- und Hexenverfahren; denn Schädigungen sind hier schwer nachweisbar (sofern sie überhaupt gegeben sind).

Eine strenge Beweisführung regelt die Verfahren (orientiert an der römischen Gesetzgebung zum Hochverrat): Aussagen zweier Augenzeugen bzw. das Geständnis des Angeklagten sind für eine Verurteilung erforderlich; jeder andere Beweis ist unzulässig (das englische Beweisrecht weniger streng). Schwierigkeiten ergeben sich beim Nachweis von Häresie (nur bei häretischen Äußerungen); ebenso schwierig der Nachweis (durch Augenzeugen!) für die Verübung von maleficia durch Hexerei. Die einzigen Augenzeugen von Satanskult und Hexensabbat sind die (angeblichen) Komplizen der Hexen, „die ihrerseits nicht entlarvt werden konnten, ohne daß mindestens eine Hexe gestanden und ihre Namen preisgegeben hatte. In solchen Fällen mußten sich die Richter ausschließlich auf Geständnisse der Angeklagten verlassen, um sie verurteilen zu können.“ (L. 82).

Geständnisse sind also von allergrößter Bedeutung, und da sie nicht immer ohne weiteres zu erreichen waren, wurde die Anwendung der Folter allmählich erlaubt. „Die Logik des neuen (d.i. inquisitorischen) Prozeßrechts führte - oder verführte - zur Anwendung dieser Verhörmethode“ (L. 82).

Die Folter steigerte die Aussicht, in Hexenprozessen zum Erfolg, d.h. einer Verurteilung zu kommen, erheblich: „Der Einsatz der Folter, besonders der unbegrenzten Folter, löste nicht nur das Problem der ungenügenden Beweislage, sondern ermöglichte es auch, fast alle Menschen zu verurteilen, die der Hexerei beschuldigt wurden“ (L. 88).

Erfolgsquote bei Anwendung der Folter ca. 88% der Anklagen, bei Nichtanwendung (wie in England) weit unter 50%.

Vielleicht der wichtigste Effekt der Folter bestand in der Ermittlung von (angeblichen) Komplizen. [Eigentlich war es allerdings verboten, einen geständigen Täter auch wegen eines vermuteten Verbrechens einer anderen Person zu foltern].

Daraus - und aus der Einstufung der Hexerei als Verschwörung - folgen die für die Hexenverfolgung charakteristischen Kettenprozesse.

Entwicklung und Bestätigung des maleficium und Häresie verbindenden Begriffs der Hexerei durch die Prozesse und Folter (: self-fulfilling prophecy). S. z.B. Serienprozesse im Oberallgäu 1590 (: B. Kata); nicht nur Arme als Opfer!, s. Dietrich Flade 1589 Trier (: Die Welt 31.8.2019). Vgl. den neueren Begriff der kriminellen (usw.) Vereinigung! „Das dritte Element der Rechtsgeschichte [nach Prozeßrecht und Folter], das die große europäische Hexenjagd erst ermöglichte, war die Ausbildung der vollen Jurisdiktionsgewalt des Staates bei der Verfolgung eines Verbrechens, das in erster Linie spiritueller Natur war.“ (L. 89)

Ursprünglich waren die weltlichen bzw. staatlichen Gerichte zuständig für maleficia, die kirchlichen für Ketzerei, Zauberei. Aber es gab natürlich vielfältige Überschneidungen, wenn z.B. Zauberei zu maleficia führte bzw. politisch bedeutsam schien; wichtig ist auch die Mitwirkung der weltlichen Magistrate bei der Verfolgung von Ketzern und bei deren Ahndung (etwa durch körperliche Bestrafung). Im Spätmittelalter Ketzerei und Hexerei als crimen mixti fori sowohl weltlicher wie kirchlicher Gerichtsbarkeit unterstellt.

Seit dem 15. Jahrhundert wird die Hexenverfolgung zunehmend durch weltliche Gerichtsbarkeit wahrgenommen (nicht bloß als Erfüllungsgehilfe der kirchlichen). Die großen ‚systematischen‘ Hexenverfolgungen des 16. und 17. Jahrhunderts sind keineswegs klerikale Kampagnen (auch wenn die Verfasser der in den Gerichtsverfahren benutzten Traktate und Handbücher meist Geistliche sind).

[S. Bulle Innozenz VIII. 1484] Rückgang der Inquisition im 15. und 16. Jahrhundert (außer Spanien); auch zunehmende Abneigung der Kirchenrechtler und geistlichen Richter gegen Hexenprozesse (L. 92) (Gott die Bestrafung überlassen!). Beispielhaft die Beschreibung des Prozesses gegen die Mutter von Johannes Kepler: Ulinka Rubrack: Der Astronom und die Hexe, (engl. 2015), Stuttgart 2018.

1532 wird Zauberei bzw. Hexerei als strafwürdig in die Constitutio Criminalis Carolina aufgenommen, sofern durch sie (Personen-) Schaden entstanden ist; also in das (erste deutsche) Strafgesetzbuch (das materielles Strafrecht und - vor allem - Prozessrecht umfaßt).

Unterschiede in den Gerichten: Insgesamt wurde die Hexenverfolgung von lokalen, unteren Gerichten intensiver betrieben als von zentralen; das wird deutlich an der dezentralen Struktur des deutschen Rechtswesens (hier die ausgedehntesten Hexenjagden; die Gesamtzahl der Hinrichtungen im Reich höher als in allen anderen Gebieten zusammen).

Weniger Hinrichtungen dort, wo man sich streng an die Carolina hielt; in Spanien sehr viel schwieriger, Hexen zu verurteilen und hinzurichten: Verfahrensvorschriften, oberster Gerichtshof (Suprema); in Schottland höhere Hinrichtungsrate bei unteren Gerichten, ebenso in Frankreich.

Generell: Verbot (Einschränkung) der Folter und zentrale Rechtsaufsicht senken die Verurteilungs- und Hinrichtungsquote (L. 99).

Inwiefern die Herausbildung des modernen, frühneuzeitlichen Staates im Zusammenhang steht mit den großen europäischen Hexenjagden, ist schwer zu sagen. Der Um- und Ausbau des Justizwesens, die ‚Emanzipation‘ vom klerikalen zugunsten des staatlichen Rechtsanspruchs (gegenüber häretischer Abweichung) ist sicherlich ein gewichtiger Faktor. Die Ausweitung des staatlichen Machtanspruchs (bzw. die zunehmende ‚Verstaatlichung‘) erzeugt wohl auch Spannungen in den traditionellen Formen des Zusammenlebens, die sich ihrerseits in der Hexenverfolgung ausdrücken (L. 101).

Andererseits ist es natürlich bezeichnend, daß der moderne zentralisierte Staat sich nur schwer gegen die traditionellen lokalen Machtinteressen und eben Gerichtsbarkeiten durchzusetzen vermag. Eine Epoche der Katastrophen, Kriege und der Angst

[Mitte 15. bis Anfang 18. Jahrhundert, Höhepunkt 1580-1650]

Kleine Eiszeit (Anfang 15. bis Anfang 19. Jahrhundert, besonders 1570-1630, 1675-1715): Kältewinter, Mißernten, Hungersnöte (1590er)

J. Reichholf: Eine kurze Naturgeschichte des letzten Jahrtausends, 2007.

Hochwasserkatastrophen (Reichholf 55)

Sturmfluten (1164, 1219, 1342, 1362: Große Mandräke (Rungholt), 1436 Allerheiligen, 1570 Allerheiligen, 1634 Oktober, 1717 Weihnachten (ca. 11.000 Tote), 1756 ‚Markusflut‘

Seuchen (... 1712 Pest Glückstadt)

Kriege (30-jähriger Krieg, Kriegszüge Ludwig XIV., span. Erbfolgekrieg 1701-1714 [Raabe: Das Odfeld!], Nordischer Krieg, Türkenkriege ...)

Inflation (Gold-, Silberimporte aus der ‚Neuen Welt‘ ...)

Übergang zur kommerzialisierten Landwirtschaft (‚Bauernlegen‘, Verelendung der Landbevölkerung, s. Kulischer ...)

Produktions-, Handelskrisen: Frühkapitalismus (Verelendung ..., s. Kulischer ...)

Insgesamt: Der Zeitraum umfaßt eine Epoche der Angst und Bedrohung, des Mangels, Elends und der Not, der Katastrophen und Verhängnisse (zumal am Anfang des 17. Jahrhunderts). Das Unheil ist allgegenwärtig; in der Vorstellung Satans und seiner Gefolgschaft von Hexen und magischen Kräften findet es seine Personalisierung, durchaus vermischt mit Gewalt- und nicht zuletzt sexuellen Phantasien.

Diese Vorstellungswelt war wohl auf Seiten der Unterschichten wie der Elite gleichermaßen wirksam, wobei allerdings die Elite sich zum Kampf, zur Reinigung aufgerufen sieht (und die Mittel des Staates dazu hat). Das Wirken Satans wird bekämpft, indem seine Anhänger ausgerottet werden.

„Ein Augsburger Chronist errechnete 1589 die Zahl der Teilnehmerinnen an einem Hexensabbat mit 29.400 ... Die Obrigkeiten sahen sich in der Pflicht, Staat und Gesellschaft von allem Hexengeschmeiß und Teufelsdreck zu reinigen.“ Roeck 840.

Generell eine Umbruchszeit

Reformation / Renaissance

Ausgreifen nach Übersee: Amerika, Asien, (Afrika)

Entwicklung vom Feudal- und Ständestaat zum absolutistischen Steuer- und Verwaltungsstaat Entwicklung zum Frühkapitalismus, Manufakturwesen, Fernhandel,

Bankwesen Wissenschaft und Kunst (1580-1680 Goldenes Zeitalter der

Niederlande ...)

> Vereinfachte These: Globalisierte, gebildete, saturierte Elite einerseits - ‚abgehängter‘, verelendeter, abergläubischer Pöbel andererseits.

Gab es Hexerei und Satanskult?

Heutzutage ist nur schwer vorstellbar, daß es Hexerei tatsächlich gegeben hat. Skepsis wurde im übrigen schon immer geäußert. Die magistrale Auskunft des Thomas von Aquin ist allerdings zweideutig:

„Omnia quae visibiliter fiunt in hoc mundo, possunt fieri per daemones.“ - „Alles was in dieser Welt sichtbar geschieht, können die Teufel verursachen.“

Der Teufel besitzt in dieser Welt keine übernatürliche Macht, will Thomas sagen, und andere Skeptiker fügen hinzu, daß ‚Zauberei‘ und ‚Magie‘ auf einer besonderen Kenntnis eben der Natur beruhen. Das beruhigt nicht jeden. Denn woher stammt jene besondere - heilsame wie schädliche - Kenntnis der Natur? (Eine Frage, die etwa für Kepler von größter Wichtigkeit war!).

U. Rublack ...

Und es mag so sein, daß das Geständnis der Hexe (soweit es nicht erzwungen war), an der Satansorgie teilgenommen zu haben und dorthin durch die Luft geritten zu sein, nichts als eine bloße (auch durch Drogen erzeugte: Fliegenpilz!) Wahnvorstellung bedeutet (so meinte man schon im 15. Jahrhundert). „Damit war jedoch noch nicht die Rolle des Teufels gestrichen, denn er ist es, der die verhängnisvolle Illusion zustande bringt; sie ist ein Irrtum, aber dieser stammt vom Teufel.“ Und, so konnte man hinzufügen, wer der Zauberei bezichtigt werde, müsse auch schuldig sein; denn Gott lasse es nicht zu, daß jemand, der kein Zauberer sei, derart beschuldigt werde, und wer an der Beschuldigung zweifle, sei selbst verdächtig.

J. Huizinga: Herbst des Mittelalters ..., 287; hier zur „Vauderie d‘Arras“ (: Tieck: Hexensabbat!).

Die neuere Forschung sieht - soweit der Laie das erkennen kann - in der Hexenverfolgung nicht zuletzt eine soziale Auseinandersetzung. Die verschiedenen ‚Diskurse‘ einer ungebildeten Unterschicht (die z.B. Tod und Krankheit auf Magie zurückführt) und einer herrschenden Elite (die in der Magie den Teufel am Werk sieht) haben dabei freilich den Glauben an Magie als gemeinsame Grundlage.

Vgl. dazu: „Ein wesentliches Element des Glaubens an Hexen besteht darin, daß der Gläubige nicht bereit ist, die Kategorie ‚Zufall‘ als Erklärungsmöglichkeit für herausragende Ereignisse zu akzeptieren“ (W. Behringer) - wer tut das schon? Und was heißt ‚Zufall‘?

Aber daraus folgt natürlich nicht, daß es tatsächlich so etwas wie einen Hexenkult gegeben hat. Gegen eine solche Annahme hat vor allem Norman Cohn Einwände erhoben: „Accusations of worshipping beast-headed deity, eating children and committing incest were not new to the witches of Late Medieval and Early Modern Europe, but had originally been leveled at Jews in the first century and then at Christians in the second, before being reused against Christian heretical sects like the Waldensians and the Knights Templar during the Late Medieval.“

N. Cohn: Europe‘s Inner Demons. An Enquiry Inspired by the Great Witchcraft-Hunt, Sussex 1975; argumentiert vor allem gegen Margaret Murray: Der Hexenkult in Westeuropa, 1921: Hexenkult als eine kultische Religion vorchristlicher Herkunft (so schon Jean Bodin!). > Ronald Hutton: The Triumph of the Moon. A History of Modern Pagan Witchcraft, Oxford 1999.

Andere Forschungsansätze seien nur skizziert; sie greifen, so scheint es jedenfalls, ältere Thesen (: Murray 1921) mehr oder weniger wieder auf (: Contemporary pagan movement).

Hervorzuheben ist die (einflußreiche!) Forschungsthese von C. Ginzburg, daß im Hexenglauben eine ‚uralte‘, gleichsam vor- oder unbewußte Erfahrung ‚unseres‘ In-der-Welt-seins präsent ist. Auch sonst haben Menschen diese Erfahrung immer wieder in symbolischer Form zum Ausdruck gebracht (in Mythen, Märchen, Ekstasen, Ritualen, Bräuchen, Festen usw.) und tun dies noch immer. Der Topos des Hexensabbats, d.h. der nächtlichen Fahrt, wird hier etwa als Reise der Lebenden zu den Toten begriffen. Damit zielt die Frage nach dem Hexenwesen auf einen, wie auch immer organisierten, jedenfalls nicht- bzw. vorchristlichen Kult, auf dessen Formen, Rituale usw., ihre Rolle im ‚gesellschaftlichen‘ Leben.

C. Ginzburg: Hexensabbat ...; dazu u.a. K. Graf: Carlo Ginzburgs Buch ‚Hexensabbat‘ ..., 1994.

In der neueren Forschung ist natürlich (und richtigerweise) ein feministischer Ansatz stark (so schon Murray, neuerdings Roper). Denn es sind vor allem Frauen, die als Hexen verfolgt werden (und die sich als Hexen bekennen - zumeist von der Folter gezwungen); in der Regel alte, arme, alleinstehende, verwitwete (hilflose!, s. MacCulloch) Frauen. Ob man allerdings von einem Geheimbund unterdrückter Frauen sprechen kann, sei dahingestellt. Aber jedenfalls ist nicht zu übersehen, daß die Vorstellungswelt der Hexenverfolgung in aller Regel sexuelle, orgiastisch- ausschweifende Motive enthält, dazu kommt insbesondere auch das Motiv der Kindstötung (auch weiterer Tötungen). Es liegt nahe, hier Linien zu ziehen zur Rolle der Frau als Hebamme, aber auch zur Rolle als Abtreibungskundige (Fortpflanzung!) und überhaupt als Sexualkundige und - erfahrene (‚Teufelsbuhlschaft‘). Obsessive Reinigungsphantasien, die sich in den Verbrennungen entladen, kommen hinzu. Ebenso spielen in dem Zusammenhang natürlich auch die ‚weisen‘ Frauen, die über besondere Pflanzen- und Kräuterkenntnisse verfügen (oder zu verfügen scheinen), eine besondere Rolle; die Hexen, die sich aus den Hecken (!) bedienen, können heilen, aber auch töten - Mensch wie Vieh.

Lyndal Roper: Hexenwahn. Geschichte einer Verfolgung, dt. 2007. PS. G.Chr. Lichtenberg, F 164 (Reclam S. 109)! Bild 10: Luis Falero. Der Aufbruch der Hexen, 1878 5 Steilneset Memorial: Til minne om de trolldomsdömte i Finnmark / To the Victims of the Finnmark Witchcraft Trials, Louise Bourgeois - Peter Zumthor

(1)

„Steilneset“ ist heute nicht nur der Name des Uferstreifens, auf dem der Scheiterhaufen stand, sondern auch der einer Stätte des Gedenkens an die Hexenverbrennungen - „Steilneset Memorial“. Von hier blickt man über Geröll und Gräser auf den schmalen Sund zum Festland, auf dem sich - fast zu theatralisch gesagt - der „Domen“ erhebt, der Hexenberg, ein Felsen über dem Meer.

Die Gedenkstätte wurde in der Verantwortung der Norwegian Public Routes Administration errichtet; seit 1994 entwickelt die norwegische Straßenverwaltung für ihre achtzehn Landschaftsrouten in architektonischer und künstlerischer Hinsicht herausragende Bauten.

Siehe Ken Schluchtmann: Architektur und Landschaft in Norwegen, 2014 ; Pomorenkreuz!

Dabei kam - im Zusammenhang mit Überlegungen zu einem Mahnmal für die Verfolgten - auch Vardö in den Blick; hier endet die E75 und damit in gewisser Weise das norwegische (europäische) Straßennetz am Rande der Barentssee. Meist beauftragt man (junge) norwegische Büros, für diesen nördlichsten (und östlichsten) Punkt wollte man allerdings international bekannte Größen und entschied sich für den Schweizer Architekten Peter Zumthor und für die französisch- amerikanische Künstlerin Louise Bourgeois.

2007 wurden die Aufträge erteilt. Zumthor reiste im November nach Vardö - eine Stadt (bzw. Ansiedlung) in Dunkelheit und Kälte, die Straßen wie die ganze Gegend vereist und unter Schnee.

„And I saw a landscape of horizontal lines and the same lines repeated on the mainland just across the strait. On parts of Steilneset were long wooden racks for drying fish, a traditional method of preserving fish on the coast of Northern Norway. The town of Vardö seemed, at this time of year, deserted and almost empty. No people could be seen in the streets. The only thing that indicated the presence of people and life, were the lights in the windows of some houses showing me that somebody was living there. These two elements, the wooden racks and the lights, immediately inspired me.“

Z.s erste Skize zeigt einen langen Bau, eine Linie, mit der die horizontalen Linien der Landschaft aufgenommen werden.

Willumsen/Andreassen 12; Skizze: Steilneset. Memorial 14

Louise Bourgeois skizzierte einen Stuhl, aus dem Flammen schießen; umgeben von riesigen Spiegeln (6!).

Skizze: Steilneset Memorial 16

Als, wenn man so will, Gefäß dafür konzipierte Zumthor einen Glaskubus in geringem Abstand zum langen Bau.

Bourgeois hatte auf zwei Bauten bestanden. „She told me that we should do both, my line and her dot“ (Willumsen/ Andreassen 13) Zur Linie wird der Punkt hinzugefügt. Der Kubus mit Flammenstuhl und Spiegeln unterbricht die langen Linien (und ‚Erzählungen‘), steht buchstäblich ‚daneben‘, verrückt gleichsam die Landschaft.

(2)

Nach vier Jahren, 2011, war die Gedenkstätte fertiggestellt; sie wurde im Beisein der norwegischen Königin der Öffentlichkeit übergeben; Louise Bourgeois konnte daran nicht mehr teilnehmen, sie starb 2010 im Alter von 99 Jahren, ohne das Werk gesehen zu haben.

Bild 11 Bild 12 Bild 13 Der lange (: 125 m) Bau steht parallel in ca. 5 Meter Entfernung zum Meer, auf dorthin leicht abfallendem Grund, Geröll. Design und Konstruktion orientieren sich an den nordnorwegischen Gerüsten zur Fischtrocknung; die Holzbalkenkonstruktion ist allerdings erheblich aufwendiger als es den Anschein hat. Die Materialien - Holz, Segeltuch - sind genuin heimisch, passen den Bau in die Landschaft und ihre Geschichte ein, wie - erst recht- seine Gestalt. Im ‚Inneren‘ ist ein Schlauch, knapp 3 m über der Erde, ‚frei’ eingehängt, gefertigt aus einem besonderen ‚Segeltuchmaterial‘, von außen hat man den Eindruck eines (auf der Seite liegenden) Bootes; die Enden laufen spitz zu; im Schlauchinnern (ca. 3,50 m hoch, ca. 1,50 breit) ein Holzbohlengang; erleuchtet durch 91 in verschiedener Höhe angebrachte (von außen aufgesetzte) ‚Fenster‘ (: Gucklöcher) sowie - vor jedem Fenster - jeweils eine herabhängende nackte Glühbirne; daneben die Namen der Getöteten und eine Kurzfassung des Urteils. Die Breite des Gerüsts am Boden ca. 5 m, die Höhe ca. 8 m. Insgesamt 62 Stützpfosten. Zugänglich ist der Bau von Land aus über zwei lange Stege, die zu seinen Enden führen: Eingang und Ausgang. Bild 14

Der zweite Bau, der den brennenden Stuhl und die (in der endgültigen Fassung) sieben Spiegel umgibt, ist ein Kubus; 10 x 10 Meter; schwarze Stahlträger halten die dunkel gefärbten, also Außen und Innen spiegelnden Glaswände, zwei parallele Wände (die innere verkürzt) bilden den Eingang; das Dach liegt nicht flach und abschließend auf den Wänden zum Dach; die Wände enden ca. 20 cm über dem Boden: Wind, auch Regen, und Meeresgeräusch treten ein; der Boden ein steiniger Grund, in der Mitte ein Betontrog bzw. -ring (ca. 2 m Durchmesser), in dessen Mitte wiederum der Stuhl steht, aus dem die Flammen schießen; in den Ecken und an drei Seiten ragen sieben schräg gestellte Masten auf, an denen die riesigen runden Spiegel nach unten geneigt hängen - wie übergroße Augen.

(3) Wer sich den Bauten nähert, weiß natürlich, daß er sich einem Memorial, einer Erinnerungs- und Gedenkstätte nähert; er wird hinreichend, als sei dies noch nötig, darauf hingewiesen. Aber die Bauten geben nichts zu erkennen; der lange Bau, die ‚Halle‘ (Zumthor), wirkt seltsam zwecklos oder ‚unwirklich‘; irgendwie bedeutet er eine Erinnerung und dementiert doch zugleich eine solche Erinnerung. Die Stege oder ‚Gangways’ zeigen ein Inneres an, zu dem sie führen; aber daß hier etwas gelagert wird, erscheint sogleich als gänzlich unwahrscheinlich; ebenso daß hier ein (überlanges!) Boot aufgehängt ist. Daraus ergibt sich eine eigentümliche Stimmung; man macht sich gefaßt, ohne recht zu wissen, worauf eigentlich. Und dann betritt man den langen dunklen Gang und begreift sehr schnell: Jedem Toten wird hier ein Platz gegeben; mit dem Fensterloch (ein ‚Bullauge‘), der Glühbirne, der Namenstafel. Sehr schnell vergeht die Dunkelheit, der Gang gewinnt eine gewisse eigene Leuchtkraft - durch die elektrischen Lichter, im Sommer durch den Einfall des Tageslichts: Aber nicht eigentlich der Gang wird beleuchtet, sondern die Plätze der Toten leuchten und geben Licht. Man muß allein gehen, ein Nebeneinander ist nicht möglich; im Gehen taucht man gleichsam ein; man geht in gewisser Weise auf im visuellen Eindruck und jetzt, im Inneren, hört man auch das Rauschen des Windes und des Meeres draußen; man hört sozusagen das Hören.

Bild 15 Man geht wie durch ein mythisches Totenschiff; das Schiff ruht zwischen Himmel und Erde; der Besucher stellt die Bewegung dar; er blickt durch die Fensterlöcher hinaus auf Meer und Fjäll in eine Ewigkeit oder Unvergänglichkeit; das ist so könnte man meinen, der Blick der Toten, vielleicht ihr letzter und zugleich dauernder Blick. Der Bau besitzt eine große Emotionalität. Erinnerung wird hier nicht abgelegt. Manche Besucher haben Tränen in den Augen.

Bilder 16 Kubus

Der zweite Bau, der Glaskubus, gibt seine Bestimmung schon eher zu erkennen. Durch die Spiegelungen von Landschaft und Halle in den dunkel getönten Glaswänden sieht man undeutlich die Feuerflamme im Innern. Zwischen zwei Glaswänden tritt man ein und ist dann mit einem Schritt nach rechts im Innern: Vor dem Betontrog, in dessen Mitte der eiserne Stuhl steht, aus dem die (von Gas gespeisten) Flammen schießen. Die sieben riesigen Spiegel erfassen den Besucher, reflektieren ihn zusammen mit dem Feuer und halten ihn gleichsam im Bild fest; er sieht sein Sehen und gerät für den Moment des Sehens in eine singuläre Relation zu Stuhl und Feuer; er sieht sich als Teil des Geschehens.

„One becomes both participant and viewer thanks to the reflections that look down on the burning chair“ (L.B., 22).

Von Spiegeln (zumal oval geformten) hat Bourgeois auch sonst Gebrauch gemacht, in den Installationen der „Cells“.

Bild 17 Inneres

„Cells“, Kat. München, pp. 180, 192, 228.

Die Spiegel transformieren die Installationen zu eigenen, hermetischen Wirklichkeiten, in sich beschlossen, auf sich bezogen (eine tatsächliche Bildwirklichkeit!). Es sind „Cells“, Zellen, Käfige - was in ihnen ist, ist, existiert ebenso: Im Blick auf sich selbst (‚selbstreferentiell‘). Der Zuschauer ist außen vor (vor dieser scheinbar organischen Dingwelt); er steht vor dem Käfig, sieht durch den Maschendraht ‚hinein‘, wird auch oder jedenfalls ‚mit‘gespiegelt, ist aber nicht eigentlich Teil.

Hier - in das Memorial - tritt er ein, wird unmittelbar einbezogen in das ‚Geschehen‘ des Inneren; es ist auch kein Käfig, durch den man zwar sehen kann, der aber Außen und Innen trennt (wie in den „Cells“), sondern hier verschwimmen Außen und Innen gleichsam in den (Außen und Innen wiederum spiegelnden) Glaswänden des Kubus, der zweifach offen ist - nach oben (unter dem Dach) und unten (am Boden).

„... denn da ist keine Stelle, /die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.“ (Archaischer Torso Apollos, Rilke 2,313; „Mag auch die Spieglung im Teich / oft uns verschwimmen: / Wisse das Bild (Sonette IX; 2, 492)

Der Kubus läßt die Elemente Wasser, Luft und Erde ins Innere, gleichsam zum Feuer hinzutreten; das gibt eine archaische Präsenz; einen ‚Grund‘, auf dem die erneute starke Emotionaliät des Besuchers aufruht. Das Feuer erinnert natürlich an die „ewige Flamme“ der klassischen Kriegerdenkmäler, so wie die Lichter in der langen Halle als Verweis auf die „ewigen Lichter“ auf katholischen Friedhöfen gedeutet werden könnten.

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Peter Zumthor

1943* Basel; Möbelschreiner, Studium Innenarchitektur und Design Kunstgewerbeschule Basel, Pratt Institute New York; Denkmalpfleger; seit 1979 eigenes Büro (ca. 35 Mitarbeiter) in Haldenstein (Graubünden); Fülle von Auszeichnungen und Preisen: u.a. 2009 Pritzker-Preis, 2017 Großer Preis BDA. Bauten u.a.: Therme in Vals Caplutta Sogn Benedetg (Kapelle des hl. Benedikt), Surselva, Graubünden Kunsthaus Bregenz Kunstmuseum Kolumba Köln Bruder Klaus Kapelle Wachendorf (Eifel) Werkraum Bregenzer Wald Andelsbach Grubenmuseum Allmannajuvet (Zinkmine), Norwegian Public Routes Steilneset: Gedenkhalle und Pavillon (: Bourgeois) Erweiterungsbau Sammlung Beyeler Rieden / Basel Erweiterungsbau Los Angeles County Museum of Art (: LACMA, Renzo Piano) Landhaus ‚Secular Retreat’, Devon (NZZ 7.1.19)

Zumthor: ‚Einzelgänger‘ unter den zeitgenössischen Architekten (v. Gerkan/Marg, Herzog & de Meuron, Foster, Piano, Gehry, Chipperfield, Koolhas ...); keine volumenmäßig großen Bauten; werkstofforientiert, ‚spirituell‘, landschaftsbezogen; ‚hermetisch‘: Caplutta .., Bruder Klaus ..., Steilneset. Autor: Architektur denken, 3. erw. Aufl. 2010

Louise Bourgeois

1911 Paris - 2010 New York, 1938 (nach Heirat mit dem amerikanischen Kunsthistoriker , gest. 1973) in die USA, 1997 United States Medal of Arts, 2008 Französische Ehrenlegion Ausstellungen u.a.: 1982/83 MoMA New York 1989/90 Städel Frankfurt 1992 documenta 9 [Kunst des 20. Jahrhunderts, Taschen 560] 1993 Biennale Venedig 2012 Kunsthalle Hamburg (Passage Dangereux, s. „Spider“ p. 18 f.) 2015 Haus der Kunst München (Structures of Existence: The Cells) Außerordentlich vielfältiges (bzw. disparates) Werk; insbesondere mit ihren Installationen seit MoMA 1982 in der internationalen Kunstkritik, dem Kunstmarkt und dem (entsprechenden) Publikum als eine der ‚Großen‘ etabliert. Die Installationen lassen sich (etwas gewaltsam natürlich) typisieren: > der „Spider“, das ist die bisweilen „“ betitelte und oft mehrere Meter hohe und ‚tentakelnd‘ ausgreifende Spinne > die „Zelle“, aus Maschendraht u.ä. gebaut, oder ein Glassturz oder eine Art Schilderhaus; drinnen ein Stuhl, eine Puppe, eine Spinne, häufig ein frei hängendes quasi-organisches Objekt.

Vgl. Kabakow; The Spider and the Tapestries, 2014; „Cells“ ...

Den Installationen voran (aber auch noch später) gehen allerlei andere ‚Skulpturen‘: totemartige Stapel (Meyer-Thoss 52) meist auch Gestänge (behangen, bestückt, assembliert), vor allem aber (so scheint es jedenfalls) rundliche, organische, gleichsam ‚hervorgehende‘, schwellende Körper zu einem Haufen gefügt, die irgendwie Sexuelles andeuten oder anzudeuten scheinen, aber keine geschlechtliche Eindeutigkeit finden; „geschlechtliche Landschaften“ (Meyer-Thoss Abb. 73, 110, 190 ff.). Hierher gehört auch die (als Zeichnung und Skulptur) häufig wiederkehrende Figur bzw. Form der „Spirale“: ein Sich-Verwinden nach Innen und zugleich ein Sich-Herauswinden nach Außen (51. Biennale, Meyer-Thoss 39).

Schließlich seien noch die „autobiographischen“ Zeichnungen der 90er Jahre erwähnt, die - oft in scheinbar kindlicher Zeichenmanier - (Früh-) Kindheitliches, Traumata, Sexualität darstellen oder‚aufarbeiten‘.

Autobiographical Prints, 2016; 52. Biennale

Bilder 18: St. Sébastienne, 19: Spider, 20: Lady in Waiting, 21: Cell X, 22: Cell X Detail, 23: XXVI, 24: Cell XXVI Detail, 25: Cell XXI, 26: Cell XXII, 27: Nature Study, 28: Janus Fleuri, 29: Unconscious Landscape

L.B.: In mancher Hinsicht ‚verstörend‘; offensichtlich der Versuch, ‚Erfahrungen’ usw., die weit zurück oder (gleichsam systematisch) sehr ‚tief‘ in Kindheit und Körperlichkeit, Sexualität (‚Mutterschaft‘) liegen, auszudrücken und darzustellen; der Versuch, Erinnerungen des Körpers (Körpererinnerungen) zur Sprache, zum Ausdruck zu bringen. (Wesentlich ist offenbar die lebenslange Auseinandersetzung mit ihrem Vater, nicht zuletzt mit Hilfe eines Analytikers geführt). Die Skulpturen in gewisser Weise Selbst-Porträts; Versuche, sich selbst (d.h. ein ‚Selbst‘) zu fassen, zu erinnern.

„Sculpture allows me to re-experience the past, to see the past in its objective, realistic proportion ... Since the fears of the past were connected with the functions of the body, they reappear through the body. For my sculpture is the body. My body is my sculpture.“ (1992, Kat. Tate Modern).

„In den fünfziger Jahren suchen ihre fragilen Totems ein labiles Gleichgewicht. In den Sechziger Jahren formt sie ‚unbewußte Landschaften‘ aus quellenden Körperfragmenten, mit klaffenden Wunden wie Vulven, phallischen Hügeln. Das Spätwerk bringt Kleinbühnen als Zwangsbehältnisse für Neurosen und Hysterien, die Bourgeois aus Kindheitserlebnissen mit dem Vater ableitet.“ („Precious Liquids“, 1992, documenta 9 = Ruhrberg u.a.: „Kunst...“, Taschen, 560).

„Die Beziehung einer Person zu ihrer Umgebung beschäftigt mich zutiefst und fortlaufend. Sie kann zwanglos oder eng sein; einfach oder tiefgreifend, subtil oder derb. Sie kann schmerzhaft oder wohltuend sein. Vor allem kann sie real oder imaginär sein. Dies ist der Boden, auf dem alle meine Werke wachsen.“

„Eine Alchemie der Erinnerung, die in Gefäßen, Fässern und Käfigen, in Gehirnen und Schädelhäusern verschlossen ist.“ Barbara Catoir

L.B. Hat einige Namen von Vorbildern genannt; vor allem Fernand Léger (: die hängenden Plastiken), dann Francis Bacon, Messerschmidt (!), Soutine, Kokoschka (: Puppen?), Gaston Lachaise - wie ernst das zu nehmen ist, nicht klar, auch nicht: „Heute finde ich Jeff Koons interessant“ (Meyer-Thoss ...). LB. Alles andere als Kunstmarktprodukt. - Die Skulpturen nur noch bedingt ‚Kunst‘ im traditionellen (?) Sinn, vielmehr Ausdruck, Darstellung (und damit Wirklichkeit) einer spezifischen, gleichsam vor-wirklichen, vor-bewußten (Körper-) Erfahrung usw.

> Skulpturaler Ausdruck einer ‚surrealistischen‘ Bildwelt (: Ives Tanguy u.a.) > Problematische Frage nach spezifisch ‚weiblichen’ Ausdrucksformen! [Eva Hesse, Hanne Darboven, Isa Genzken, Pipilotti Rist, Rosemarie Trockel, Cindy Sherman, Annette Messager, Katharina Fritsch, Maria Lassnig, Chantal Akerman; hier vor allem Hinweis auf Kiki Smith („Homespun Tales“, Querini Stampaglia Venedig 2005; „Procession“, Haus der Kunst München 2018).]

Bibl. Hinweise Steilneset Louise Bourgeois / Peter Zumthor: Steilneset Memorial. The Possessed, the Damned and the Beloved, hg. Line Ulekleiv, 2. A. Oslo 2016 (2011) R.L. Andreassen / L.H. Willumsen, hg..: Steilneset Memorial. Art, Architecture, History, Stamsund 2014 L.H. Willumsen: Steilneset ..., 2011 (Opferbiographien)

L.B. M.-L. Bernadec / H.-U. Obrist, hg.: Louise Bourgeois. Destruction of the Father ... , (engl. 1998), Zürich 2001 D. Kuspit: Ein Gespräch mit Louise Bourgeois, (engl. 1988), Bern 2011 L.B.: The Spider and the Tapestries, Hatje Cantz 2015 L.B.: Structures of Existence. The Cells, Kat. Haus der Kunst München, 2015 L.B.: Autobiographical Prints, London / New York 2016 C. Meyer-Thoss: Louise Bourgeois. Konstruktionen für den freien Fall, Zürich 1992 U. Küster: Louise Bourgeois, Berlin 2018