II. TEIL: GRUNDLAGEN

1. HERKUNFT

1.1. Ahnen und Mythen

Die in Europa spätestens seit dem 18. Jahrhundert mit unterschiedlicher Intensität ablaufenden sozialen und wirtschaftlichen Modernisierungsprozesse führten zur Auf- lösung feudal-ständischer Schranken und bedrohten dadurch die Machtpositionen sowie die Wertmuster der bisherigen Eliten. Vor dem damit verbundenen substantiel- len Identitätsverlust suchten sich Teile des Adels durch die verstärkte Pflege »adeliger Werte« zu schützen. Die traditionalen Eliten, obwohl bezüglich Titel und Besitz, Status- und Machtabstufungen überaus heterogen, präsentierten sich daher in ihren Mentalitäten, in der Pflege von Traditionen gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstaun- lich homogen. Dazu gehörte die Rückbesinnung auf die Familiengeschichte, auf Ab- stammung und Ahnen. Viele Adelsfamilien tradierten Mythen über eine sagenumwo- bene Herkunft der Stammväter, die in einem zunehmend kritischen politischen und sozialen Umfeld sinnstiftend auf den inneren Zusammenhalt der einzelnen Familien wirken sollten.1 Einer solchen ideologischen Gegenbewegung schloß sich auch die uradelige Fami- lie der Grafen und Freiherren von der Goltz an. Bereits im 17. Jahrhundert suchte der polnische Geschichtsschreiber Simon Oskolscki der Familie von der Goltz einen rö- mischen Ursprung nachzuweisen und stützte sich dabei auf eine antike Erzählung.2 Ende des 18. Jahrhunderts bezeichneten Genealogen diese Legende jedoch als frei erfunden. Sie war dies tatsächlich ebenso, wie all die anderen damals in adeligen Ge- schlechtern gängigen Familiengeschichten, welche ihre Ursprünge in der griechisch- römischen Heroenwelt zu begründen suchten.3 Der Historiker von Fischbach leitete 1785 die Abstammung der Familie von der Goltz vom rheinischen Adelsgeschlecht von Dienheim her. Sich auf »historische Berichte« aus dem 16. Jahrhundert beziehend, schrieb er, daß 1123 ein Andreas Graf von Dienheim, der vom Rhein nach Polen kam und zum Obersten Heerführer von Boleslaw III. von Polen ernannt wurde. In den Diensten des Königs sei er mit den Ortschaften Trebkie, Łabiszyn, Szcawin, Golcze- wo und Gulczewo belehnt worden und gehörte fortan zu den polnischen Magnaten. Fischbach zufolge hatte Dienheim drei Söhne. Der mittlere, Graf Johann, habe sich nach den beiden zwischen Gnesen (poln.: Gniezno) und Wreschen (poln.: Wrze´snia) in Groß-Polen gelegenen Ortschaften Golczewo und Gulczewo benannt, die er nach dem Tode seines Vaters erbte. Damit sei Johann Graf von Golczewo zum Stammvater der Grafen und Freiherren von der Goltz geworden.4 Genealogische Referenzwerke des 19. Jahrhunderts und das Familienbuch von 1885 nahmen die deutsche Abstammung als »unbeglaubigte Genealogie« auf.5 Insbesonde- re das Familienbuch betonte die deutschen Wurzeln des Geschlechts und die Treue zum protestantischen preußischen Herrscherhaus. Im späteren Familienbuch von 30 II. Teil: Grundlagen

1960 erscheint diese germanisierende Interpretation erneut. Demnach soll »nach über- einstimmender Meinung polnischer Historiker« und nach den »in der Familie erhalten gebliebenen Traditionen« Andreas von Dienheim aus der Wormser Gegend um 1123 nach Polen eingewandert sein. Dieses Buch führt auch eine weitere These auf, nämlich, daß die Familie von dem 1297 nachweisbaren Arnold von der Goltz und nicht von einem Grafen Dienheim abstammen könnte. Dieser Arnold, der in in der die Belehnung mit Dramburg (poln.: ) durch den askanischen Markgrafen erhalten habe, stamme aus dem südwestlich Angermünde gelegenen Dorf Golze, das bereits 1378 als Besitz erwähnt werde. Es sei nicht unwahr- scheinlich, so Gerlach, daß diese Familie wiederum aus einem Dorf Goltz bei Merse- burg gekommen sei. So könne man »wohl nicht daran zweifeln, daß die Familie deut- schen Ursprunges ist und genau so wie zahlreiche andere Adelsfamilien an der Ausbreitung deutscher Kultur ostwärts der Elbe lange Jahrhunderte hindurch maß- geblich mitgewirkt hat«.6 Trotz dieser beiden von der Familie postulierten Thesen, kann der deutsche Ur- sprung der Familie von der Goltz wissenschaftlich nicht belegt werden. Ebenso zahlreich sind die Indizien, die auf eine slawische Herkunft deuten.7 Dazu gehören zunächst die vielen Namensträger, die bereits seit dem 12. Jahrhundert in Polen erscheinen und dort wichtige Kronämter bekleideten.8 Sicher belegbar ist einzig, daß mit Arnold von der Goltz die Familie ab 1297 urkundlich in ununterbrochener männlicher Stammfolge nachweisbar wird; ob dieser deutschen Ursprungs war, bleibt offen.9 Er wurde vom Markgrafen von belehnt und war Loka- tor – eine Art Siedlungsunternehmer – der Stadt Dramburg.10 Seit 1361 tritt die Familie in zwei Stämmen auf.11 Ludwig (Ludekinus), Ritter des Deutschen Ordens, begründete den »Weißen Stamm« Heinrichsdorf (poln.: Siernczyno) aus dem Col- mar Freiherr von der Goltz entstammen sollte. Der Bruder von Ludwig, Georg, ebenfalls Ritter des Deutschen Ordens, gründete den »Schwarzen Stamm« Wuhrow (poln.: Wurowo). Die Mitgliedschaft im Deutschen Orden ließ allerdings damals bereits nicht mehr mit Sicherheit auf einen deutschen Ursprung schließen, da spä- testens seit dem Erwerb Pomerellens im Jahr 1310 der Anteil an slawischen Adeli- gen stark zunahm.12 Der Enkel von Ludwig, Heinrich, amtierte als oberster polni- scher Beamter, so genannter »Woiwode«, in Posen (poln.: Pozna´n) und Oberst der polnischen Truppen. Als Angehörige des polnischen Adels bekleideten seine Nach- fahren das Amt des Kron-Groß-Schatzmeister und des Kastellans von Posen. Sie waren polnische Starosten von Meseritz (poln.: Mie˛dzyrzecz) und Deutsch-Krone (Wałcz).13 Somit erscheint eine slawische Herkunft, auf die zahlreiche adelige Fa- milien im nordostdeutschen Raum zurückblicken konnten, als ebenso wahrschein- lich. Vor dem Hintergrund der antipolnischen und vom Kulturkampf gegen den Katholizismus geprägten politischen Grundkonstellation des Kaiserreiches stellte das Bekenntnis zu einer möglichen polnischen Abstammung für den weitgehend mittellosen und ehrgeizigen Colmar Freiherr von der Goltz indes keine realistische Option dar. Die Publikation einer Familiengeschichte diente im 19. Jahrhundert als wichtiges Medium zur Stiftung adeliger Identitäten. Mit einem voluminösen, prunkvollen Foli- anten sollte die ruhmreiche historische Entwicklung eines Geschlechts gegenüber den eigenen Angehörigen und einer interessierten Öffentlichkeit deutlich gemacht sowie