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­Recensio 2015/4 Mittelalter – Moyen Âge (500–1500)

Janine Fries­Knoblach, Heiko Steuer (ed.), with John Hines, The Baiuvarii and Thuringi. An Ethnographic Perspective, Woodbridge (The Boydell Press) 2014, VIII–388 p., 63 b/w ill. (Studies in Historical Archaeoethnology, 9), ISBN 978­1­84383­915­6, GBP 75,00. rezensiert von/compte rendu rédigé par Matthias Hardt, Leipzig

Unter den frühmittelalterlichen gentilen Gruppen haben sich Thüringer und Baiern im Vergleich etwa zu Goten, Franken oder Alemannen in den vergangenen Jahrzehnten nur geringerer Aufmerksamkeit der Forschung erfreut. Während den lange Zeit als »Findelkinder der Völkerwanderungszeit«1 geltenden Baiern im Jahr 1988 immerhin eine erst kürzlich in einem Sammelband einer Revision2 unterzogene Landesausstellung in Rosenheim und Mattsee gewidmet wurde3, fanden sich die Thüringer zuletzt lediglich in einer ihrer Frühzeit geltenden Tagung an der Universität Jena gewürdigt4. Mit »Baiuvarii and Thuringi« wurden auch diese beiden Gentes wie schon viele andere vorher im Jahr 2004 in San Marino auf Einladung von Giorgio Ausenda (1925–2007) in, wie es der Titel verspricht, »ethnografischer Perspektive« betrachtet. Der Tod des Initiators der Konferenzreihe und der ihre Beiträge veröffentlichenden »Studies in Historical Archaeoethnology« führte dazu, dass der vorliegende Band erst zehn Jahre nach der Konferenz publiziert werden konnte.

Der Ethnogenese der Baiern sind aus sprachwissenschaftlicher Sicht die Beiträge von Dennis H. Green (»The , , «, S. 11–21) und Wolfgang Haubrichs (»Baiovarii, Romani and Others. Language, Names and Groups south of the River and in the Eastern during the Early Middle Ages«, S. 23–81) gewidmet. Green gibt zu bedenken, dass die den Baiern zu ihrem Namen verhelfenden *Baiahaimwarjoz auch diejenigen gewesen sein können, die jenes Land verteidigten, in das die Boier vertrieben worden sind. Somit käme nicht nur Böhmen als Herkunftsland einer später für die Ethnogenese der Baiern bedeutenden Gruppe infrage, sondern auch Pannonien (S. 20). Haubrichs beschreibt auf der Basis zahlreicher Personen­, Örtlichkeits­ und Gewässernamen (Namenanhang und Literaturverzeichnis S. 57–81) die Beziehungen zwischen Baiern und Romanen. Er geht davon aus, dass wegen einer lang andauernden romanischen Identität und schließlicher Zweisprachigkeit die romanische Sprache noch bis in das 11. Jahrhundert in inneralpinen Gebieten

1 Herwig Wolfram, Die Geburt Mitteleuropas. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung 378–907, Berlin 1987, S. 322. 2 Hubert Fehr, Irmtraut Heitmeier (Hg.), Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und zur frühmittelalterlichen Baiovaria, St. Ottilien 2012 (Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte, 1). 3 Hermann Dannheimer, Heinz Dopsch (Hg.), Die Bajuwaren. Von Severin bis Tassilo 488–788, München, Salzburg 1988. 4 Helmut Castritius, Dieter Geuenich, Matthias Werner (Hg.), Die Frühzeit der Thüringer, Berlin, New York 2009 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 63).

Lizenzhinweis: Dieser Beitrag unterliegt der Creative­Commons­Lizenz Namensnennung­Keine kommerzielle Nutzung­Keine Bearbeitung (CC­BY­NC­ND), darf also unter diesen Bedingungen elektronisch benutzt, übermittelt, ausgedruckt und zum Download bereitgestellt werden. Den Text der Lizenz erreichen Sie hier: https://creativecommons.org/licenses/by­nc­nd/4.0/ lebendig blieb (S. 54).

Namen stehen auch im Mittelpunkt von Peter Neumeisters Überlegungen zu den älteren Siedlungsgebieten der Thüringer (»The Ancient Thuringians – Problems of Names and Family Connections«, S. 83–101). Rückgreifend auf den Nachlass seines akademischen Lehrers Frithjof Sielaff betrachtet er das heutige Thüringen lediglich als einen Rückzugsraum des völkerwanderungszeitlichen Thüringerreiches, dessen Schwerpunkte möglicherweise weit westlich des Rheins gelegen hätten (S. 92f.). Das Geschlecht des letzten Königs Herminafrid sei nicht ausgestorben, sondern habe schließlich zur immer wieder deutlich werdenden besonderen Bedeutung Thüringens noch im hohen Mittelalter beigetragen (S. 96).

Lässt sich bis hierher die Reihenfolge der Beiträge über ihre auch namenkundliche Quellenbasis begründen, so ist ein roter Faden für das Folgende leider kaum noch entdecken.

Giorgio Ausenda (»Kinship and Marriage among the Baiuvarii and Thuringi«, S. 103–110) vergleicht sich wandelnde Bedeutungen von Hochzeitsgaben im Zuge der Sesshaftwerdung germanischer Gentes und nomadisierender Viehzüchter im neuzeitlichen Eritrea; Heiko Steuer (»Thuringians and – Location in Space and Time and Social Relations«, S. 111–147) thematisiert die Problematik der ethnischen Deutung in der frühgeschichtlichen Archäologie insbesondere bei der Interpretation von Grabfunden, und Janine Fries­Knoblach (Dwellings and Settlements of the Baiuvarii before Urbanisation, S. 149–241) legt eine beeindruckende Übersicht zu Hausbau und Siedlungsstruktur allein im frühmittelalterlichen Baiern vor.

Mit den Aufsätzen von Max Martin (»Ethnic Identities as Constructions of Archaeology (?): The Case of the Thuringi«, S. 243–270) und Claudia Theune (»Signs and Symbols in Archaeological Material Finds«, S. 271–288) wird durch die Frage nach der Erkennbarkeit von Identitäten im archäologischen Fundgut insbesondere an thüringischen Beispielen wieder ein inhaltlicher Zusammenhang deutlich. Im Gegensatz zu Steuer hält Martin ethnische Deutungen bestimmter Grabkomplexe für möglich, aber nicht immer praktikabel (S. 267). Auch Theune erkennt in der Verzierung von Bügelfibeln und Keramik möglicherweise der Abgrenzung gegenüber Anderen dienende Symbole, deren Entschlüsselung aber bisher kaum gelungen ist.

Den Abschluss des Bandes bilden Aufsätze zu den Themen Recht, Religion und Landwirtschaft. Heike Grahn­Hoek (»The Thuringi, the Peculiarities of Their Law, and Their legal Relations to the Gentes of Their Time, Chiefly According to the Lex [Angliorum et Werinorum hoc est] Thuringorum and other Leges Barbarorum of the Early Middle Ages«, S. 289–315) hält es für möglich, dass eine frühe, heute verlorene Version des thüringischen Rechts schon im 6. Jahrhundert für die Warnen abgefasst wurde. Bemerkenswert sind deutlich skandinavische Einflüsse noch in der erst zu Beginn des 9. Jahrhunderts auf Anordnung Karls des Großen verschriftlichten »Lex Thuringorum«. Ian Wood (»Religion in Pre­Carolingian Thuringia and Bavaria«, S. 317–329«) sichtet die wenigen, meist

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Der durch ein Register (S. 361–388) erschließbare Band bildet wegen des darin ausgebreiteten Quellenreichtums (Haubrichs; Fries­Knoblach), aufgrund der Methodendiskussion (Steuer, Martin, Theune) und der Bereitschaft zur Hypothesenbildung (Neumeister, Grahn­Hoek) eine Bereicherung der Forschung zu Baiern und Thüringern. Die lediglich von Giorgio Ausenda verfolgte und zumal gar nicht erklärte »ethnografische Perspektive«, die wenig begründete Reihenfolge der Beiträge und kleinere Fehler (S. 138: »Barbara« statt Babette »Ludowici«, »Morsleben« statt Marsleben bei Quedlinburg) schränken diese Einschätzung des Buches nicht ein.

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