ZWG Zeitschrift für Weltgeschichte Zeitschrift für Weltgeschichte

Herausgeber: Hans-Heinrich Nolte Für den Verein für Geschichte des Weltsystems

Redaktion: Dariusz Adamczyk, Ellen Baumann, Christian Lekon, Udo Obal, Gerhard Schmidt

Wissenschaftlicher Beirat: Maurice Aymard, Aleksandr Boroznjak, Helmut Bley, Luigi Cajani, Gita Dharampal-Frick, Shmuel N. Eisenstadt, Hartmut Elsenhans, Jürgen Elvert, Peter Feldbauer, Stig Förster, Claus Füllberg-Stolberg, Marina Fuchs, Uwe Haibach, Carl-Hans Hauptmeyer, Klaus Kremb, Gesine Krüger, Rudolf Wolfgang Müller, Christiane Nolte, Pavel Poljan, Joachim Radkau, Dominic Sachsenmaier, Adelheid von Saldern, Karl-Heinz Schneider, Gerd Stricker, Irmgard Wilharm, Wilhelm Wortmann

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PETER LANG Frankfurt am Main ■ Berlin ■ Bern • Bruxelles • New York • Oxford ■ Wien Zeitschrift für Weltgeschichte (ZWG) Interdisziplinäre Perspektiven Jahrgang 5, Heft 2 (Herbst 2004)

Herausgegeben von Hans-Heinrich Nolte

Für den Verein für Geschichte des Weltsystems

PETER LANG Europäischer Verlag der Wissenschaften Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier.

ISSNISSN-2199-8086 1615-2581 © Peter Lang GmbH Europäischer Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2004 Alle Rechte Vorbehalten. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in 1 2 3 4 6 7 www.peterlang.de Inhalt

Mark Levene Warum ist das Zwanzigste das Jahrhundert der Genozide?...... 9 Robert Bohn Zwangsarbeitende in Schleswig-Holstein 1939-1945...... 39 Hans-Heinrich Nolte The Massacre in History. Bilinguales Seminar im Grundstudium Geschichte...... 57 Wolfgang Reinhard Atlantischer Austausch...... 67 Christian Lekon Die anglo-amerikanische Politik und die Ölfirmen im Mittleren Osten, 1901 - 2004...... 79 Thomas Kampen Solidarität und Propaganda: Willi Münzenberg, die Internationale Arbeiterhilfe und China...... 99 Dariusz Adamzczyk Gab es vormoderne Weltsysteme? Zur Weiterentwicklung der Weltsystemdebatte in den 80/90er Jahren...... 107 Arno Tausch EU-Erweiterung oder Rekolonisierung des europäischen Ostens?...... 113 Roland Ludwig Das britische Empire und die Globalisierung...... 129 Rezensionen...... 43 Konferenzen...... 149

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Thomas Kampen Solidarität und Propaganda: Willi Münzenberg, die Inter­ nationale Arbeiterhilfe und China

Vor gut siebzig Jahren veröffentlichte Willi Münzenberg1 in Berlin das Buch Solidarität - Zehn Jahre Internationale Arbeiterhilfe 1921-1931. Der in Erfurt geborene Reichstagsabgeordnete der KPD war Generalsekretär der Arbeiterhilfe (IAH), Gründer der Anti-Imperialistischen Liga und Inhaber vieler Verlage und anderer Medienunternehmen. Münzenberg hatte die IAH 1921 zur Unterstützung Russlands während einer Hungersnot gegründet und die prominente Reichstagsab­ geordnete Klara Zetkin zur offiziellen „Vorsitzenden“ ernannt. Wenig später star­ tete die IAH Hilfskampagnen für Arbeitslose und Arbeiter in Deutschland, England und China. Die vor mehr als achtzig Jahren gegründete IAH und die - sechs Jahre jüngere - Anti-Imperialistische Liga können in mancher Hinsicht als Vorläufer heutiger Menschenrechts-, Solidaritäts- und anderer Nichtregierungsorganisationen betrachtet werden. Die deutsch-chinesische Zusammenarbeit mag angesichts der großen Entfernung überraschen; die kommunistischen Parteien beider Länder entwickelten sich jedoch rasch zu den wichtigsten und größten Verbündeten der russischen bzw. sowjeti­ schen KP. Deutschland war das klassische Beispiel eines entwickelten Industrie­ staats, China das typische Opfer von Kolonialismus und Imperialismus. Die Liste der deutschen Kommunisten, die damals nach China gingen, liest sich wie ein Who’s Who2 der KPD-Prominenz: Otto Braun,3 Gerhart Eisler,4 Arthur Ewert,5 ,6 Richard Sorge,7 ,8 Wilhelm Zaisser9 ...

1 Willi Münzenberg (1881-1940), KPD-Mitglied, Reichstagsabgeordneter und Leiter der IAH, ab 1933 in Frankreich. Vgl. Babette Gross: Willi Münzenberg, Stuttgart 1967. 2 Vgl. Thomas Kampen: Deutsche und österreichische Kommunisten im revolutionären China, in: Jahrbuch fürhistorischeKommunismusforschung, 1997, S. 88-104. 3 Otto Braun (1900-1974), KPD-Mitglied und Sowjetagent, 1932-39 in China, später in der Sowjetunion und der DDR. Vgl. Otto Braun: Chinesische Aufzeichnungen, Berlin 1973. 4 Gerhart Eisler (1897-1968), Bruder von Ruth Fischer und , KPD-Mitglied und Kominternfunktionär, 1929-31 in China, später in den USA und in der DDR. 5 Arthur Ewert (1890-1959), KPD-Mitglied, Reichstagsabgeordneter und Komintemfunktio- när, 1932-34 in China, später in Südamerika und in der DDR. Vgl. David P. Hornstein: Arthur Ewert. A life for the Comintern, London 1993. 6 Heinz Neumann (1902-1937), KPD-Funktionär, 1927 in China, später in Spanien und in der Sowjetunion. Vgl. Margarete Buber-Neumann: Von Potsdam nach Moskau. Stationen eines Irrwegs, Stuttgart 1957. 7 Richard Sorge (1895-1944), KPD-Mitglied und Sowjetagent, 1930-32 in China, später in Japan. Vgl. u. a. Robert Whymant: Stalin’s Spy. Richard Sorge and the Tokyo Espionage Ring, NewYork 1996. 100 Thomas Kämpen

China hatte vor allem für die „Öffentlichkeitsarbeit“ der Komintern und KPD große Bedeutung. Mit Hilfe der Chinesen - „ein Viertel der Menschheit“ - sollte aus der ost- und mitteleuropäischen Revolution eine Weltrevolution werden. Mit einem Sieg in China würde auch die Befreiung Indonesiens, Indochinas und Indiens von niederländischer, französischer und britischer Kolonialherrschaft näher rücken. Dies war zwar in den zwanziger Jahren nur Propaganda, doch ab 1949 be­ herrschten kommunistische Parteien tatsächlich mehr als ein Viertel der Menschheit - und die südostasiatischen Länder erlangten die Unabhängigkeit. Der Ferne Osten wurde nicht erst 1968 zu einer Inspiration.

Sun Yatsen,10 seine Witwe und die deutschen Kommunisten in China Die Aktivitäten deutscher Kommunisten in China begannen im Januar 1925. In den vorangegangenen Jahren hatten vor allem russische Kommunisten den Führer der Nationalen Volkspartei (KMT) Sun Yatsen zu einer Einheitsfront mit der chinesi­ schen KP und zur Zusammenarbeit mit Moskau überredet. Zu dieser Zeit war Sun Yatsen jedoch schon schwer krank. Ende 1924 reiste Dr. med. Richard Schmincke,11 KPD-Mitglied seit 1919, nach Peking und gehörte zu den Ärzten, die ihn untersuchten. Sun Yatsen konnte zwar nicht mehr geholfen werden - er starb im März 1925 - die KPD und „die deutsche Arbeiterklasse“ hatten jedoch Solidarität demonstriert und damit vor allem eine Frau beeindruckt: Suns Gattin und Witwe, Sung Ch’ingling,12 die in den folgenden Jahren in Berlin, Moskau und Shanghai lebte und mit Komintern, KPD und IAH zusammenarbeitete. Mme. Sun Yatsen, wie sie in der internationalen Presse meist genannt wurde, war die ideale Bündnis­ partnerin: Sie war prominent und beliebt, links aber nicht KP-Mitglied, und sie sprach fließend Englisch - von den deutschen und russischen „Chinaexperten“ konnte schließlich keiner Chinesisch. Schon im Frühjahr 1925 gründete die IAH in China ein nationales Komitee, das von einem Professor der Universität Peking geleitet wurde. Zu dieser Zeit besuchte auch Carl Schulz13 - wiederholt KPD-Abgeordneter im Preußischen Landtag - als erster IAH-Vertreter Ostasien. In China stellte er vor allem Kontakte mit Studen­ tenverbänden und Gewerkschaften her; er hielt revolutionäre Reden, die bald das

8 Karl August Wittfogel (1896-1988), Sinologe und KPD-Mitglied, 1933 verhaftet, 1935-37 in China, später in den Vereinigten Staaten. Vgl. G. L. Ulmen: The Science of Society. Toward an Understanding of the Life and Work of Karl August Wittfogel, Den Haag 1978. 9 Wilhelm Zaisser (1893-1958), KPD-Mitglied und Sowjetagent, 1928-30 in China, später in Spanien und in der DDR; Minister für Staatssicherheit. Vgl. Thomas Kampen: Von Asiaticus bis Zaisser, in: Das neue China, Juni 1995, S. 31-34. 10 Sun Yatsen (1866-1925), Gründer und Führer der Nationalen Volkspartei (Kuomintang, KMT). 11 Dr. Richard Schmincke (1875-1939), ArztundKPD-Abgeordneter. 12 Sung Ch’ingling, auch: Soong Chingling, nach heutiger Umschrift: Song Qingling (1893­ 1981), Frau Sun Yatsens und KMT-Mitglied, Ende der zwanziger Jahre in Deutschland. 13 Carl Schulz (1884-1933), KPD-Funktionär und Abgeordneter im Preussischen Landtag, 1925-1927 in China. Willi Münzenberg und China 101

Interesse der Botschaften und Geheimdienste weckten. In einem Bericht der Shang- haier Polizei taucht nicht nur sein Name sondern auch der Willi Münzenbergs als Auftraggeber auf. Schulz arbeitete 1927 auch als Redakteur der Chinesischen Kor­ respondenz der Nationalrevolutionären Armee in Hankou. Im Sommer 1927 kehrte er nach Europa zurück.14 Mit Schulz arbeitete in Hankou ein weiterer KPD-Genosse , der als Asiaticus be­ kannt wurde; er veröffentlichte schon 1928 das Buch Von Kanton bis Schanghai 1926-1927, die erste ausführliche deutschsprachige Darstellung der damaligen Er­ eignisse. In den folgenden Jahren benutzte er das gleiche Pseudonym für zahlreiche weitere Chinaartikel in der Roten Fahne und Weltbühne. Erst ein halbes Jahrhun­ dert später konnte seine Identität geklärt werden: Er hieß eigentlich Moses Grzyb15 und stammte aus der Umgebung von Krakau.

Münzenbergs erste Chinakampagne „Hände weg von China“ Auch in Deutschland begannen 1925 die Chinaaktionen der KPD und IAH. Im August organisierte Münzenberg in Berlin einen Kongress unter dem Motto „Hände weg von China“; dieser war der Höhepunkt der ersten Chinakampagne der IAH , die die Revolutionsbewegung in China unterstützen sollte. Mit Aufrufen wie „Helft den hungernden und streikenden Arbeitern Chinas“ wurden 250 000 Dollar für China aufgebracht. An dem Kongreß nahmen mehrere hundert Delegierte und über tau­ send Gäste teil. Der Münzenberg-Konzern verbreitete damals Publikationen mit den Titeln Die kapitalistische Hölle in China und Das kämpfende China; in seinen Zeit­ schriften und Zeitungen - wie z. B. Arbeiter Illustrierte Zeitung (AIZ) , Berlin am Morgen und Welt am Abend - erschienen häufig Artikel über China. Zu dieser Zeit hielten sich Dutzende von chinesischen Kommunisten in Deutschland auf und arbeiteten mit der IAH und KPD zusammen. Münzenbergs Witwe, Babette Gross , schrieb, dass er in Berlin mit einem chinesischen Kommu­ nisten, „dem jungen und eifrigen Liau“ , befreundet war.16 Der 1895 geborene Liau Hansin17 war ein Bekannter Mao Tsetungs und stammte aus dessen Heimatprovinz Hunan. Er war 1922 der KP Chinas beigetreten, im gleichen Jahr nach Berlin ge­ reist und arbeitete dort für die KP und die Komintern. Er schrieb für verschiedene Zeitschriften und die Internationale Pressekorrespondenz.

14 Schulz starb 1933 in einem Berliner Gefängnis, Schmincke beging 1939 nach langer Haft Selbstmord. 15 Moses Grzyb (1897-1941), Journalist und Mitglied der KPD, später aus der Partei ausgeschlossen und Mitglied der KPD(O); in den zwanziger und dreißiger Jahren mehrmals in China und dort 1941 bei einem japanischen Angriff getötet. Vgl. Asiaticus: Von Kanton bis Schanghai, Berlin 1928. 16 Gross: WilliMünzenberg, S. 197. 17 Liau Hansin, nach heutiger Umschrift: Liao Huanxing (1895-1964), frühes Mitglied der KP Chinas und der KMT, Vertreter beider Parteien in Europa. Vgl. Thomas Kampen: Liao Huanxing oder Tang Xingqi. Für KP und Kuomintang in Berlin, in: Das neue China, Juni 2001, S. 29-31. 102 Thomas Kampen

Für Münzenbergs Chinaarbeit waren auch andere Kommunisten wichtig. Karl August Wittfogel, der prominenteste China-Experte der KPD, hatte unter anderem Sun Yatsens Werke in einer deutschen Fassung herausgegeben und veröffentlichte weitere Bücher und Artikel in Münzenbergs Verlagen und Zeitschriften. Egon Erwin Kisch,18 der damals auch in Berlin lebte, fuhr nach China und publizierte in Münzenbergs Universum-Bücherei China geheim. Innerhalb der Parteiführung pflegte Münzenberg besonders engen Kontakt mit Heinz Neumann, der am Kanto- ner Aufstand (1927) beteiligt war. Neumanns Frau - und Babettesjüngere Schwester - Margarete Buber-Neumann, schrieb über Münzenberg, dass er „so gar nicht meiner jugendlichen Vorstellung von einem ,führenden Genossen’ entsprach. Er schien weniger ein Revolutionär als ein Manager zu sein; und wenn dieser untersetzte breitschultrige Mann [...] aus seinen Mitarbeitern das letzte an Arbeitskraft herausholte, dann begriff ich, warum man ihn in der Kommunistischen Partei als ,Unternehmer’ bezeichnete und seinen Betrieben den Namen ,Münzenberg-Konzern’ gab.“19 In anderer Hinsicht entsprach er aber durchaus kommunistischen Idealen: Er stammte aus ärmlichen Verhältnis­ sen, besaß nur Volksschulbildung und arbeitete, wie Buber-Neumann betonte, „im persönlichen Auftrag Lenins“ und nahm dadurch sowohl in der Komintern als auch in der KPD eine Sonderstellung ein. Außerdem war sein Medienkonzern profitabler als die offizielle KPD-Presse.

Die Kongresse von Brüssel, Frankfurt und Amsterdam und die Anti-Impe­ rialistische Liga Münzenbergs wichtigste und wohl originellste Kampagnenform war die Inszenie­ rung großer internationaler Kongresse und die Ausschlachtung der „Ergebnisse“ in Büchern, Zeitungen und Zeitschriften. Hierbei standen oft prominente, meist nicht­ kommunistische, Intellektuelle im Vordergrund, die aus vielen verschiedenen Län­ dern, zum Teil aus der „Dritten Welt“, stammten. Die Planungen für die Kolonial­ konferenz im Winter 1926/27 zeigen, dass Münzenberg zu dieser Zeit recht selbst­ ständig handelte und sogar die skeptische Kominternführung überzeugen konnte: „Als Münzenberg in Moskau über den Plan verhandelte, war man in der Komintern zunächst dagegen, daß sich die IAH und die Liga auf ein derartiges Unternehmen einließen. Man warnte Münzenberg vor der ideologischen Konfusion, die ein sol­ cher Kongreß anrichten würde.“20 Da aber von den eingeladenen chinesischen und indischen Nationalisten (wie z. B. Nehru) Kritik am britischen Imperialismus zu erwarten war, die im Interesse der Sowjetunion lag, stimmte die Komintern schließlich doch zu. Im Februar 1927 organisierte Münzenberg in Brüssel den „Kongreß gegen kolo­ niale Unterdrückung und Imperialismus“, an dem mehr als 170 Delegierte aus über

18 Egon Erwin Kisch (1885-1948), Journalist und KPD-Mitglied, 1932 in China, später in Frankreich, Spanien und Mexiko. Vgl. Marcus Patka: Egon Erwin Kisch, Wien 1997. 19 BuBER-NEUMANN:Potsdam,S.195. 20 Gross: Willi Münzenberg, S. 200. Willi Münzenberg und China 103 zwanzig - zur Hälfte außereuropäischen - Ländern teilnahmen. Das im gleichen Jahr unter dem Titel Flammenzeichen vom Palais Egmont veröffentlichte „Offi­ zielle Protokoll“ zeigt, dass China das wichtigste Thema des Kongresses war und in zahlreichen Beiträgen behandelt wurde. Der erste Redner nach der Eröffnung war Liau Hansin, der jedoch nicht als Kommunist, sondern als Vertreter von Sun Yat- sens Nationaler Volkspartei (KMT) auftrat - diese bildete damals mit der chinesi­ schen KP eine Einheitsfront und Liau gehörte beiden Parteien an. Nach ihm sprach ein chinesischer Gewerkschaftsvertreter und ein General der Revolutionsarmee. Auch die übrigen anwesenden chinesischen Kommunisten gaben sich als Reprä­ sentanten von Gewerkschaften und Studentenverbänden aus. „Münzenbergs Regie, die zwar total war, war gleichzeitig taktvoll und zurückhaltend. [...] Die Kommu­ nisten, die in Brüssel anwesend waren, hielten sich, den Anweisungen des bis auf ein kürzeres Referat ebenfalls im Hintergrund bleibenden Regisseurs entsprechend, zurück. Auch die Russen traten kaum in Erscheinung.“21 Auf dem Brüsseler Kongress wurde die Internationale Liga gegen Imperialismus und für Nationale Unabhängigkeit gegründet. In ein vierköpfiges „Ehrenpräsidium“ wurden Henri Barbusse, Albert Einstein, ein chinesischer General und Frau Sun Yatsen gewählt - allerdings waren Einstein und Frau Sun gar nicht anwesend. Den Vorsitz überließ man großzügig einem Vertreter der britischen Labour Party; Münzenberg und Liau waren jedoch zwei von sieben Mitgliedern des Exekutivko­ mitees, und die Zentrale befand sich bei ihnen in Berlin, wo auch das Kongress­ protokoll erschien. Da die übrigen, nicht-kommunistischen Mitglieder über mehrere - teilweise außereuropäische - Länder verstreut lebten (darunter J. Nehru in In­ dien), konnte Münzenberg die Liga problemlos steuern. Schon wenige Monate nach dem Brüsseler Kongress zerbrach im Sommer 1927 die chinesische Einheitsfront, im folgenden Winter scheiterte der Kantoner Auf­ stand. In China bekämpften sich nun KP und Kuomintang, in Europa machten Komintern und KPD einen Schwenk nach links und erklärten die Sozialdemokratie zu ihrem Gegner. So wie der scheinbare Erfolg der chinesischen Einheitsfront 1926 auch den Einheitsfrontgedanken im Westen beflügelt hatte, so trug das Scheitern in China auch zur Wende in Europa bei. Gleichzeitig verlor das Ziel der Weltrevolu­ tion mit dem Sieg Stalins über seine innerparteilichen Gegner immer mehr an Be­ deutung. Dies wurde auf dem zweiten Kongress der Liga im Juli 1929 in Frankfurt deut­ lich. Die Kommunisten verschiedener Länder agierten nun offen und kritisierten heftig die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien. Im Gegensatz zur Brüsseler Konferenz trat in Frankfurt eine offizielle sowjetische Delegation auf. Auch die chinesische KP wurde durch hochrangige Funktionäre vertreten. Liau wurde in Berlin durch einen Repräsentanten der linksradikalen Linie ersetzt und nach Moskau geschickt.

21 Margarete Buber-Neumann: Kriegsschauplätze der Weltrevolution, Frankfurt 1973, S. 152 f. 104 Thomas Kampen

Insgesamt spielte China nach den Niederlagen von 1927 eine weniger wichtige Rolle. Vor allem der fehlgeschlagene Kantoner Aufstand vom Dezember 1927 war für die Komintern (und Stalin) peinlich. Erst mit den japanischen Angriffen auf China (1931) wuchs erneut das Interesse am Fernen Osten. Vor allem die Führung von KPdSU und Komintern sahen Japans Expansion in Nordostchina (Mandschu­ rei) als Bedrohung für die Sowjetunion. Im November 1931 gründete Münzenberg ein „Internationales China Hilfs-Komitee“ , im März 1932 veranstaltete er eine „In­ ternationale Kampfwoche gegen den imperialistischen Krieg“. Im August 1932 inszenierte Münzenberg dann in Amsterdam den Weltkongress gegen den Krieg, an dem über 2000 Delegierte von mehr als 300 Organisationen aus etwa 30 Ländern teilnahmen. Dies war seine letzte Großveranstaltung vor der Flucht aus Deutschland.

Zwei Komintern-Journalisten im Fernen Osten: Egon Erwin Kisch und Otto Heller Ebenfalls 1932 fuhr der berühmte Prager Journalist Egon Erwin Kisch in den Fer­ nen Osten und veröffentlichte am Ende des Jahres das Buch China geheim. Obwohl dieses Buch weltbekannt ist und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde , ist über die Hintergründe der Reise und die Entstehung des Buches wenig bekannt; Kisch hat sich auch nicht öffentlich dazu geäußert. Nach zuverlässigen chinesischen Quellen hat die Komintern Kisch nach Shanghai und Otto Heller22 in die Mand­ schurei geschickt. Der Zusammenhang zwischen beiden Reisen wird auch deutlich, wenn man die daraus resultierenden Bücher vergleicht, die beide Ende 1932 er­ schienen und sich sehr ähnlich sehen. Hellers Werk Wladi wostok erschien im Neuen Deutschen Verlag , Kischs Buch in der Universum-Bücherei , beide gehörten zum Münzenberg-Konzern und wurden in der gleichen Druckerei hergestellt. (China geheim erschien außerdem mit anderem Einband im Reiss Verlag.) Beide Autoren waren Parteimitglieder, beide lebten in Berlin und beide kannten Münzenberg. Dies legt nahe , daß Kisch nicht als freier Journalist, sondern im Par­ teiauftrag reiste und schrieb. Auffällig ist, dass sich Kisch weder vor noch nach dieser Reise mit China beschäftigte, sein persönliches Interesse am Fernen Osten war offenbar gering. In China geheim dominieren auch die internationalen Aspekte der Chinaproblematik: der westliche Imperialismus , der Waffenhandel und die ja­ panische Expansion. Ein weiterer interessanter Aspekt von Kischs Shanghai-Besuch ist die Tatsache, dass im vorangegangenen Jahr dort der Kominternagent Noulens-Ruegg verhaftet worden war und diesem die Todesstrafe drohte. Münzenberg organisierte eine in­ ternationale Rettungskampagne und Kisch erwähnte den Fall in seinem Buch. Es ist gut möglich, dass seine Reise mit dem Gerichtsfall in Zusammenhang stand. In verschiedenen Büchern über den Sowjetagenten Richard Sorge, der ebenfalls zu

22 Otto Heller (1897-1945), Journalist und KPD-Mitglied. Vgl. Otto Heller: Wladi wostok, Berlin 1932. Willi Münzenberg und China 105 dieser Zeit in Shanghai war, wird erwähnt, dass Moskau damals mehrere Geldku­ riere nach China schickte, um die zuständigen Richter bestechen zu können.

Stalin: „Münzenberg ist ein Trotzkist“ Münzenberg lebte ab 1933 im Exil, vor allem in Frankreich. Angesichts der ge­ spannten Lage in Europa verlor die Chinaproblematik an Bedeutung. In Moskau wurden immer mehr Freunde und Bekannte Münzenbergs - darunter Neumann und Radek - verhaftet. Münzenbergs Beziehungen zur KPD und Komintern ver­ schlechterten sich und er weigerte sich mehrfach, nach Moskau zu reisen. 1938 wurde er aus dem ZK der Partei ausgeschlossen. 1940 wurde er in der Nähe von Lyon tot aufgefunden, im gleichen Jahr in dem Trotzki ermordet wurde. Bis heute wird darüber gerätselt, ob Münzenberg getötet wurde oder Selbstmord beging - eindeutige Beweise gibt es für keine der Annahmen. Allerdings werden in den kürzlich veröffentlichten Tagebüchern Dimitroffs die folgenden Worte Stalins (von 1937) zitiert: „Münzenberg ist ein Trotzkist. Wenn er herkommt, werden wir ihn sofort verhaften. Geben Sie sich Mühe, ihn hierher zu locken.“23 Mehr Klarheit gibt es über einige von Münzenbergs Freunden: Heinz Neumann wurde 1937 in der Sowjetunion ermordet. Dessen Witwe, Margarete Buber-Neu- mann, wurde von den Sowjets verhaftet und an die Nazis ausgeliefert, überlebte jedoch ihren KZ-Aufenthalt. Liau, der seit Ende der zwanziger Jahre in Moskau lebte, kam 1938 in ein Arbeitslager; er durfte erst 1951 schwer krank nach China ausreisen. Er starb dort 1964; seine deutsche Frau starb kurz nach ihm ebenfalls in Peking.

* Die Propagandatätigkeit Münzenbergs funktionierte ohne Email, Fax und Fernse­ hen. Dennoch war er technisch und organisatorisch auf der Höhe seiner Zeit. Er produzierte nicht nur Bücher, Zeitungen und Zeitschriften, sondern auch Filme. Und er war ständig unterwegs; nicht nur in Deutschland, sondern auch in Russland, Frankreich, in den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern. Sein größtes Problem war esjedoch, zwanzig Jahre lang mit verschiedenen Komintern-, KPdSU- und KPD-Führern auszukommen und sich ständig neuen „Linien“ anzupassen. Er sollte nicht nur Imperialismus und Kapitalismus, sondern auch „Sozialfaschismus“ und „Trotzkismus“ bekämpfen. Münzenberg, der mit Lenin, Radek und Trotzki schon vor der Gründung von Komintern und KPD zusammengearbeitet hatte, musste später mit Stalin, Pieck und Ulbricht auskommen. Er hat es nicht überlebt.

23 Georgi Dimitroff: Tagebücher 1933-1943, Berlin 2000, S. 165.

Anschriften der Autoren der Aufsätze und Rezensionen

Prof. Dr. Marc Levene Dr. Thomas Kampen Department of History Universität Heidelberg University of Southampton Sinologisches Seminar Southampton S017 1BJ Akademiestr. 4-8 D-69117 Heidelberg Prof. Dr. Robert Bohn Institut für Zeit- und Regionalge­ Dr. Dariusz Adamczyk schichte Laher Kirchweg 29 Universität Flensburg D - 30659 Hannover Gottorfstr. 1 B D - 24837 Schleswig Ministerialrat Dr. Arno Tausch Bundesministerium für Soziale Si­ Prof. Dr. Hans-Heinrich Nolte cherheit Bullerbachstr. 12 Stubenring 1 D - 30890 A - 1010 Wien Barsinghausen Dr. Roland Ludwig Prof. Dr. Wolfgang Reinhard Saalburg 1 Sundgauallee 68 D - 63477 Maintal D-799110 Freiburg

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