Debatte und gelegentlich diePublikationvon Quellen. sich aberauchForschungen und Beiträge ausderdeutschen für deutschsprachige Leserübersetzt worden. Es finden französischen, spanischenundchinesischenDiskussion sind entwickelt. WichtigeBeiträge ausderenglischen,russischen, Betrachtung von Geschichte, Sozial-und Kulturwissenschaften Die ZWG hatsichzumForum einerneuen,umfassenden www.peterlang.com Weltgeschichte Zeitschrift für ZWG 17 H.-H. Nolte (Hg.) I 2 Zeitschrift für Weltgeschichte Zeitschrift für Weltgeschichte Interdisziplinäre Perspektiven für Geschichte desWeltsystems von Hans-HeinrichNolte Herausgegeben Für denVerein Jahrgang 17 Herbst 2016 Heft 2

Debatte und gelegentlich diePublikationvon Quellen. sich aberauchForschungen und Beiträge ausderdeutschen für deutschsprachige Leserübersetzt worden. Es finden französischen, spanischenundchinesischenDiskussion sind entwickelt. WichtigeBeiträge ausderenglischen,russischen, Betrachtung von Geschichte, Sozial-und Kulturwissenschaften Die ZWG hatsichzumForum einerneuen,umfassenden www.peterlang.com Weltgeschichte Zeitschrift für ZWG 17 H.-H. Nolte (Hg.) I 2 Zeitschrift für WeltgeschichteZeitschrift für

Weltgeschichte Interdisziplinäre Perspektiven für Geschichte desWeltsystems von Hans-HeinrichNolte Herausgegeben Für denVerein Jahrgang 17 Herbst 2016 Heft 2 ZWG

ZEITSCHRIFT FÜR WELTGESCHICHTE Zeitschrift für Weltgeschichte

Herausgeberkreis Manfred Asendorf, Hamburg / Manuela Boatcă, Berlin / Christian Cwik, Wien / Beate Eschment, Berlin / Claus Füllberg-Stolberg, Hannover / Bernd Hausberger, Mexiko / Peter Kehne, Hannover / Andrea Komlosy, Wien / Jürgen Nagel, Hagen / Hans-Heinrich Nolte, Barsinghausen / Ralf Roth, Frankfurt / Helmut Stubbe da Luz, Hamburg / Asli Vatansever, Istanbul

Geschäftsführend: Hans-Heinrich Nolte

Redaktion Dariusz Adamczyk, Warschau / Michael Bertram, Schellerten / Jens Binner, Celle / Christian Lekon, Lefke / Eva-Maria Stolberg, Bochum

Wissenschaftlicher Beirat Maurice Aymard, Aleksandr Boroznjak, Helmut Bley, Luigi Cajani, Gita Dharampal-Frick, Hartmut Elsenhans, Jürgen Elvert, Stig Förster, Carsten Goehrke, Uwe Halbach, Carl-Hans Hauptmeyer, Klaus Kremb, Gesine Krüger, Rudolf Wolfgang Müller, Christiane Nolte, Pavel Poljan, Joachim Radkau, Dominic Sachsenmaier, Adelheid von Saldern, Karl-Heinz Schneider, Gerd Stricker, Beate Wagner-Hasel

Manuskripte bitte an den Geschäftsführenden Herausgeber Prof. Dr. Hans-Heinrich Nolte, Bullerbachstr. 12, 30890 Barsinghausen

Reviews und Rezensionen bitte an: Prof. Dr. Manuela Boatcă FU Berlin: Lateinamerika-Institut Sociology of Global Inequalities Rüdesheimer Str. 54-56 14197 Berlin

Manuskripte bitte als Disketten (rtf) sowie in zwei Ausdrucken; Manuskripte, die nicht als E-Datei vorgelegt werden, können leider nicht bearbeitet werden. Manuskripte sollen die Länge von 20 Seiten DIN A4, 14pt einzeilig in Times Roman beschrieben nicht überschreiten. Für unverlangt eingereichte Manuskripte wird keine Gewähr übernommen. Zeitschrift für

Weltgeschichte

(ZWG)

Interdisziplinäre Perspektiven 17. Jg. 2016, Heft 2

Herausgegeben von Hans-Heinrich Nolte

Für den Verein für Geschichte des Weltsystems

Zu Qualitätssicherung und Peer Notes on the quality assurance and Review der vorliegenden Publikation peer review of this publication

Die Qualität der in dieser Zeitschrift Prior to publication, the quality of erscheinenden Arbeiten wird vor der the work published in this journal is Publikation durch externe, von der double blind reviewed by external Herausgeberschaft benannte referees appointed by the Gutachter im Double Blind Verfahren editorship. The referee is not geprüft. Dabei ist der Autor der aware of the author’s name Arbeit den Gutachtern während der when performing the review; Prüfung namentlich nicht bekannt; the referees’ names are not die Gutachter bleiben anonym. disclosed. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Die Schiffahrtslinien der Welt um 1890 (Übersichtskarte des Weltverkehrs aus Meyers Konversations-Lexikon, Leipzig u. Wien 1885-1892)

Gedruckt auf alterungsbeständigem, säurefreiem Papier.

ISSN 1615-2581 © Peter Lang GmbH Internationaler Verlag der Wissenschaften Frankfurt am Main 2016 Alle Rechte vorbehalten. Peter Lang Edition ist ein Imprint der Peter Lang GmbH. Peter Lang – Frankfurt am Main · Bern · Bruxelles · New York · Oxford · Warszawa · Wien Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. www.peterlang.com Editorial

In Heft 17.2 werden verschiedene Diskussionen der letzten Jahre weitergeführt und zwei neue hoffentlich begonnen: über die Rolle der klassischen Antike für die Weltgeschichte überhaupt,1 aber auch für das verbreitete Weltverständnis im 21. Jahrhundert, und über die Bedeutung der Ökologie.2 Christopher Chase-Dunn, Hiroko Inoue, Teresa Neal und Evan Heimlich arbeiten am California Institute of World-System-Studies an der Universität Riverside. Sie setzen die Debatte um das Konzept „Weltsystem“ fort, das in der ZWG vom ersten Heft an von Autoren wie Immanuel Wallerstein, Andre Gun- der Frank und Hartmut Elsenhans geführt worden ist, wobei selbstverständlich auch andere Ansätze wie die von Shmuel Eisenstadt oder Bruce Mazlish pub- liziert und in Forschungen erprobt wurden. Die Kalifornier beschreiben den Globalisierungsprozess in Wellen, die durch mehrere „Weltsysteme“ periodi- siert worden sind, bis mit dem modernen das erste wirklich globale entstanden ist. Die Autoren skizzieren Varianten im Konzept wie Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie, Semiperipherie und Hierarchie. Wichtig ist ihr Plä- doyer dafür, die jetzige Struktur des Weltsystems nicht zurück zu projizieren. Es ergeben sich wichtige Einordnungen der Weltgeschichte; regional spannend sind die Hinweise auf die Geschichte indianischer Systeme vor der Ankunft der Europäer. Andrea Komlosy (Universität Wien) analysiert Andre Gunder Franks große Rolle in der Geschichte der Forschungen über den Nord-Süd-Zusammenhang von der „Entwicklung der Unterentwicklung“ bis zu „ReOrient“, das nun in deut- scher Übersetzung vorliegt. Frank hat an der ZWG intensiv mitgearbeitet, sein Aufsatz „Geschichtswissenschaft und Sozialtheorie >Re-Orientieren

1 Die ZWG konnte bisher nur einen Artikel zur alten Geschichte publizieren: Peter Tasler zur Ethnogenese des Griechentums: ZWG 9.1 (2008), S. 9–32. 2 Zu der in früheren Heften publiziert wurde, z.B. in dem von Klaus Kremb herausgege- benen Band über Kulturerdteile = ZWG 5.1 (2004), die aber abgesehen von Kenneth Pomeranz nicht systematisch zur Erklärung von Weltgeschichte herangezogen wurde. 3 Andre Gunder Frank: Geschichtswissenschaft und Sozialtheorie >Re-OrientierenChina und den Krisen in Brasilien und Russland recht positiven Bild. In seiner wissenschaftlichen Intervention betont Igor Smirnov (Moskau, Lo- monossov-Universität) die endogenen Stränge der russischen Diskussion um Kulturtypen und plädiert für Beibehaltung des Konzepts „Kultur“ im Verhält- nis zu „Weltregionen“. Carl-Hans Hauptmeyer setzt sich in einem längeren

5 Ellen Baumann: Frank: Orientierung im Weltsystem in: ZWG 8.1 (2007), S. 192–197; Gerald Hödl: Ein intellektueller Rebell. Zum Tod Andre Gunder Franks, in: ZWG 7.1 (2006), S. 9–14. 6 Christian Cwik, Michael Zeuske (Hg.): ZWG 16.2 (2015). Editorial 7

Review mit Carsten Kavens Überlegungen zu einem „grünen Kapitalismus“ auseinander, und Hans-Heinrich Nolte stellt die Konzepte von Deutschland als neuer „Mitte“ (Herfried Münkler) bzw. „Zentralmacht“ (Michael Gehler) vor. Rezensiert werden das von Hermann Hiery herausgegebene Lexikon der Überseegeschichte, der von Christof Dejung und Martin Lengwiler heraus- gegebene Band über Ränder der Moderne, Manfred Hildermeiers Geschichte Russlands und Frank Wolffs Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiter- bundes, die Edition zur Himalaya-Expedition der Brüder Schlagintweit durch Moritz v. Brescius und andere, Philipp Altmanns Darstellung der Indigenen- bewegung in Ecuador, Zenonas Norkus’ Vergleich von Slowenien und Litauen sowie der von John McNeill und Corinna Unger herausgegebene Sammelband zur Umweltgeschichte im Kalten Krieg. Dokumentiert wird die Verleihung des Preises der ZWG an Ruben Quaas.

Hans-Heinrich Nolte

Inhalt

Christopher Chase-Dunn / Hiroko Inoue / Teresa Neal und Evan Heimlich Globalgeschichte und Weltsysteme �������������������������������������������������������������� 11

Andrea Komlosy Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte ���������������� 47

Sabine Müller Hephaistion, Orient versus Okzident und der Untergang der argeadischen Sonne in Oliver Stones Alexander ������������������������������������������� 71

Michael Toussaint Manifesting Destiny oder Agenda Continuity: Kontextualisierung britischer imperialer Politik in der südlichen Karibik vor und nach Wien ������������������������������������������������������� 117

Jason W. Moore Vom Objekt zum Oikos. Die Schaffung der Umwelt in der kapitalistischen Welt-Ökologie ������������������������������������������������������������������ 143

Arnold Heitzig Die BRICS – Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? ������������� 163

Igor P. Smirnov Russland und Deutschland. Einwände zu Noltes Konzept der Weltregionen ��������������������������������������������������������������������������������������� 189

Carl-Hans Hauptmeyer Review: Transformation des Kapitalismus? ������������������������������������������������ 197

Hans-Heinrich Nolte Review: Deutschland als neue Zentralmacht ��������������������������������������������� 203 10 Inhalt

Rezensionen ���������������������������������������������������������������������������������������������� 209

Übergabe des Preises der ZWG ����������������������������������������������������������������� 229

Autorinnen und Autoren der ZWG 17.2 ��������������������������������������������������� 231

Christopher Chase-Dunn / Hiroko Inoue / Teresa Neal und Evan Heimlich Globalgeschichte und Weltsysteme

Globalgeschichte und -vorgeschichte sind das Studium und die Erklärung des sozialen Wandels der Menschheit, einschließlich der Entstehung sozialer Kom- plexität und sozialer Hierarchie während und seit der Steinzeit. Der größte Teil der sozialwissenschaftlichen Literatur ist auf den Übergang von der „Tradition“ hin zur „Moderne“ fokussiert, der für gewöhnlich verstanden wird als Charak- teristika nationaler Gesellschaften, wie z.B. Urbanisierung, Industrialisierung und demographischer Wandel. Der Aufstieg der Studien zur Weltgeschichte, Globalgeschichte und Globalisierung hat den Fokus hin auf eine entstehende Weltgesellschaft verändert, in der Nationalstaaten als interagierende Organisa- tionen verstanden werden, welche Souveränität über ein begrenztes Territorium beanspruchen, und nationale Gesellschaften werden als hochgradig verflochten mit dem größeren globalen System betrachtet. Die Weltsystemperspektive auf die Moderne behauptet, dass dieser hohe Grad gegenseitiger Abhängigkeit kein neues Phänomen sei und das eine bedeutende Dimension des globalen Systems seine Stratifikationsstruktur gewesen sei und noch ist, welche als Zentrum-Pe- ripherie-Hierarchie organisiert sei, in der einige nationale Gesellschaften über weit mehr Macht und Reichtum verfügen als andere. Die Weltsystemperspektive entstand während der Weltrevolution von 1968 und während der Antikriegsbewegungen, die eine Generation von Wissen- schaftlern hervorbrachten, welche in den Menschen der Südhalbkugel (damals „Dritte Welt“ genannt) mehr sahen als Hinterwäldler. Weitgehend wurde ver- standen, dass eine globale Machtstruktur existierte, und dass die Menschen der Peripherie (non-core) durch wiederholtes Rebellieren und ihren Widerstand aktive Teilnehmer bei der Gestaltung dieses Systems gewesen waren. Die Ge- schichte des Kolonialismus und der Entkolonialisierung wurde betrachtet als etwas, was die Strukturen und Institutionen des gesamten globalen Systems in bedeutender Weise (importantly) gestaltete. Eine fundiertere Wahrnehmung des Eurozentrismus ging einher mit der Erkenntnis, dass der Großteil der nationalen Geschichtsschreibungen so geschrieben worden war, als ob jedes einzelne Land auf dem Mond liegen würde. Lehrveranstaltungen zur Welt- geschichte hatten High School- und College-Schüler in die Geschichte au- ßereuropäischer Zivilisationen sowie in die Globalgeschichte eingeführt. Der Nationalstaat als unangetastete, ursprüngliche Analyseeinheit, wurde nun als 12 Christopher Chase-Dunn u.a. ein nicht adäquates Modell zum Nachvollziehen des sozialen Wandels in den letzten Jahrhunderten betrachtet. Die Wahrnehmung eines größeren, globalen Kontexts verbreitete sich weit, da die Globalisierung selbst zum Fokus öffentlicher und wissenschaftlicher Dis- kussionen wurde. Einige Versionen behaupteten, dass die Welt nun eine Schei- be und dass die internationale Hierarchie nun eine Sache der Vergangenheit sei, die durch unmittelbare Kommunikation sowie den Weltmarkt überholt wurde. Einige Historiker der Globalgeschichte behaupteten übereinstimmend mit Theoretikern eines neuen globalen Abschnitts des Kapitalismus, die Welt sei in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts von einer Reihe schwach vernetzter nationaler Wirtschaften zu einer kürzlich entstandenen einzigen Globalwirtschaft übergegangen. Stattdessen sieht die Weltsystemperspektive Wellen: Integrationswellen (Globalisierung), die im Verlauf der menschlichen Geschichte immer wieder aufgetaucht sind,1 die aber gegenwärtig zunehmen und globale Ungleichheiten reproduzieren, die weiterhin dazu beitragen, ge- meinsames, globales Handeln extrem zu erschweren. Wir stimmen größtenteils der Kritik Michael Manns2 an der Hyperglobalisierung zu, der gegenwärtig eine radikale Transformation hin zu einer völlig anderen Art von Weltordnung sieht. Manns Analyse von vier in Wechselbeziehung stehenden, aber relativ autonomen Zweigen (strands) der politischen, militärischen, wirtschaftlichen und ideologischen Globalisierung seit 1945 ist im Wesentlichen zutreffend, abgesehen von seiner metatheoretischen Annahme, es gäbe kein einheitliches, integriertes globales System. In diesem Essay beabsichtigen wir, einige weit verbreitete Missverständnisse bezüglich der Weltsystemperspektive3 zu klären. Wir stellen eine konzeptionelle

1 Christopher Chase-Dunn: Globalization. A World-Systems Perspective, in: Journal of World-Systems Research, vol. V, no. 2, S. 165–185. http://www.jwsr.org/wp-content/ uploads/2013/05/Chase-Dunn-v5n2.pdf (Zugriff 28.7.2016). Christopher Chase- Dunn, Bruce Lerro: Social Change. Globalization from the Stone Age to the Present, Boulder, Colorado 2014. 2 Michael Mann: The Sources of Social Power, Bd. 4: Globalizations, 1945–2011, New York 2013, S. 3. 3 Nach wie vor die beste allgemeine Einführung zum Weltsystemansatz für den allgemein interessierten Leser ist: Thomas Richard Shannon: An Introduction to the World- System Perspective, Boulder (Col.) 1992. Chase-Dunn und Lerro (wie Anm. 1) haben ebenfalls ein Textbuch für upper division undergraduates zusammengestellt, das die ver- gleichende evolutionäre Perspektive in Bezug auf das Weltsystem benutzt. Der Anhang Globalgeschichte und Weltsysteme 13

Basis vor und diskutieren diese, um das derzeitige globale System mit früheren kleineren und mittelgroßen regionalen Weltsystemen zu vergleichen. Unser Ar- gument ist, dass die Weltsystemperspektive ein sich noch immer entwickelndes Forschungsprogramm ist, welches ein großes Potenzial besitzt, um unser Ver- ständnis für die Gründe des langfristigen sozialen Wandels zu vertiefen und außerdem als Bezugsrahmen für Weltbürger dienen kann, die versuchen, sich mit den Problemen zu beschäftigen, welche unsere Spezies sich selbst im 21. Jahrhundert geschaffen hat. Die beiden wichtigsten konzeptionellen Fragen, die wir berücksichtigen, sind: • Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie und • die räumliche Gebundenheit ganzer Weltsysteme Die vergleichende Weltsystemperspektive ist eine Strategie zur Erklärung des so- zialen Wandels, die eher auf Organisation zwischen Staaten (interpolity) als auf einzelne Politiken fokussiert ist. Die wichtigste Erkenntnis ist, dass bedeuten- de Interaktionsnetzwerke (Handel, Informationsflüsse, Allianzen und Kampf) Politik und Kulturen seit Beginn der menschlichen soziokulturellen Evolution miteinander verwoben haben.4 Erklärungen sozialen Wandels bedürfen ganzer politischer Organisationssysteme zwischen Staaten (Weltsysteme) als denje- nigen Einheiten, die sich weiterentwickeln. Aber organisatorische Netzwerke zwischen Staaten waren noch ziemlich klein, als das Transportwesen in der Hauptsache eine Angelegenheit des Transports von Waren auf jemandes Rü- cken oder in kleinen Booten war. Globalisierung im Sinne der Expansion und

dieses Manuskripts beinhaltet nützliche Datensätze zur Populationsgröße von Siedlun- gen, Größe der territorialen Fläche von Staatenkolonisation und Entkolonialisierung, zu wirtschaftlicher Globalisierung, zur Entstehung und dem Verfall der US-Hegemonie, zu internationalen sozialen Bewegungen sowie zu einem sehr kleinen indigenen Weltsystem in Nordkalifornien vor dem „Goldrausch“ von 1849. http://www.irows.ucr.edu/cd/ap- pendices/socchange/socchangeapp.htm (Zugriff 28.7.2016). 4 Der Gebrauch des Wortes Evolution erfordert eine Erklärung. Wir meinen den in Langzeitmustern ablaufenden Wandel sozialer Strukturen, besonders die Entwicklung komplexer Arbeitsteilungen und Hierarchie. Wir meinen nicht biologische Evolution, die ein ganz anderes Thema ist, auch meinen wir nicht „Fortschritt“, einen normativen Begriff, der für die wissenschaftliche Beschäftigung mit sozialem Wandel nicht nötig ist. 14 Christopher Chase-Dunn u.a.

Intensivierung größerer Interaktionsnetzwerke ist über Jahrtausende gewach- sen, wenn auch unregelmäßig und in Wellen.5 Weltsysteme sind ganzheitliche Systeme, beruhend auf Interaktion zwischen Politiken und Siedlungen.6 Systematik bedeutet, dass diese Politik und die An- siedlungen miteinander in bedeutender Weise interagieren – Interaktionen fin- den von beiden Seiten statt und zwar notwendigerweise, strukturiert, geregelt und sich wiederholend. Eine systematische gegenseitige Verbundenheit exis- tiert, wenn Interaktionen das Leben der Menschen in nachhaltiger Weise beein- flussen und wenn sie folgenreich für die soziale Kontinuität oder den sozialen Wandel sind. Alle vormodernen Weltsysteme erstreckten sich lediglich über Teile der Erde. Der Begriff „Welt“ bezieht sich auf die signifikant verknüpf- ten Interaktionsnetzwerke, in denen Menschen leben, gleich ob diese räumlich klein oder groß sind. Auch stellt sich die Frage nach endogenen (internen) Systemen gegen exogene (äußere) Einflüsse. Die Vorstellung einer Systematik verlangt einerseits nach einer Unterscheidung zwischen endogenen Prozessen, die oft interaktiv und systemisch sind, und äußeren Einflüssen, die zwar bedeutende Effekte in Bezug auf das Sys- tem haben können, aber nicht Teil des Systems sind. Die Verbreitung genetischen Materials und von Gentechnologie kann bedeutende Langzeitwirkungen haben, selbst wenn es keine geregelten oder häufigen Interaktionen gibt. Einzelereignisse aber, die solche Folgen haben, sollten nicht als Teil eines soziokulturellen Systems betrachtet werden. Klimatische Veränderungen haben bedeutende Auswirkun- gen auf menschliche Gesellschaften, aber wir versuchen nicht sie als exogene Vari- ablen in unsere Modelle von Sozialsystemen einzubeziehen, bis der anthropogene Klimawandel sich auswirkt. Entsprechend hat die Kollision mit großen Asteroi- den enorme Folgen für die biologische Entwicklung gehabt, aber Biologen rech- nen diese als endogene Faktoren nicht zu den Folgen der biologischen Evolution. Analog ist die über lange Zeiträume erfolgte Verbreitung von Ideen, Technologi- en, Pflanzen und Tieren ein wichtiger Prozess, der um seiner selbst willen (in his

5 Christopher Chase-Dunn: Globalization. A World-Systems perspective, S. 79–108, in: Ders., S. J. Babones (Hg.): Global Social Change Historical and Comparative Perspectives, Baltimore 2006, S. 79–108. Philippe Beaujard: From Three possible Iron-Age World- Systems to a Single Afro-Eurasian World-System, in: Journal of World History 21 (1), 2012, S. 1–43; Justin Jennings: Globalizations and the Ancient World, Cambridge 2010. 6 Der Begriff „Siedlung“ schließt Lager, Weiler, Dörfer, Klein- und Großstädte ein. An- siedlungen sind für vergleichende Zwecke räumlich gebundene und zusammenhängend bebaute Flächen. Globalgeschichte und Weltsysteme 15 own right) und aufgrund seiner Auswirkungen auf lokale Systeme anerkannt und verstanden werden muss, jedoch müssen Modelle des soziokulturellen Wandels zwischen äußeren Prozessen und inneren Einflüssen unterscheiden. Endogenität gegen exogene Faktoren sind die Basis des theoretischen und empirischen Prob- lems, das durch die Spezifikation des systematischen Ganzen gelöst werden muss. Nur das moderne Weltsystem wurde zu einem globalen (weltumspannen- den) System, bestehend aus nationalen Gesellschaften und ihren Staaten. Es ist eine einzige globale Ökonomie, bestehend aus internationalem Handel und Kapitalströmen, länderübergreifenden Unternehmen, die Waren in verschiede- nen Ländern produzieren sowie all den wirtschaftlichen Transaktionen, die in- nerhalb von einzelnen Ländern und auf lokaler Ebene stattfinden. Das gesamte Weltsystem ist mehr als nur die Addition internationaler Beziehungen. Es ist das Gesamtsystem menschlicher Interaktion. Die Weltwirtschaft besteht heute aus den gesamten wirtschaftlichen Interaktionen aller Menschen auf der Erde, nicht bloß aus internationalem Handel und Investitionen. Das moderne Weltsystem ist politisch als ein zwischenstaatliches System strukturiert — ein System des Konkurrierens und von Staaten, die Bündnis- se eingehen. Politikwissenschaftler nennen dies gewöhnlich das internationale System und es ist der Hauptfokus des Forschungsfeldes „Internationale Bezie- hungen“. Einige dieser Staaten besitzen wesentlich mehr Macht als andere, aber die Haupteigenschaft des politischen Systems in der Welt ist, das es multizent- risch ist. Bis jetzt gibt es keinen Weltstaat. Eher gibt es ein System aus Staaten. Dies ist ein grundlegendes, wichtiges Merkmal des modernen Weltsystems und ebenso der meisten früheren regionalen Weltsysteme. Wenn wir verschiedene Arten von Weltsystemen miteinander vergleichen, ist es wichtig Konzepte anzuwenden, die auf alle anwendbar sind. Gemeinwesen (polity) ist ein allgemeiner Begriff, der sich auf jede Organisation mit einer ein- zigen Autorität bezieht, welche Kontrolle über ein Territorium oder eine Grup- pe von Menschen beansprucht.7 Gemeinwesen schließen Gruppen, Stämme und Stammesfürstentümer (chiefdoms) genauso ein wie Staaten und Reiche. Alle Weltsysteme bestehen aus vielschichtig interagierenden Gemeinwesen. So können wir die modernen zwischenstaatlichen Systeme auf fruchtbare Weise

7 Wie Souveränität und Autorität konstruiert sind, das sind selbstverständlich kulturelle und institutionelle Fragen, die man verstehen sollte, aber alle Gemeinwesen, sogar no- madische Gruppen, versuchen den Zugang zu Ressourcen zu regeln. 16 Christopher Chase-Dunn u.a. mit früheren politischen Systemen zwischen Staaten vergleichen, in denen es Stämme oder Stammesfürstentümer, jedoch keine Staaten gab.8 So ist das moderne Weltsystem nun eine globale Ökonomie mit einem globa- len politischen System (dem modernen zwischenstaatlichen System). Es schließt auch all die kulturellen Aspekte und interagierenden Netzwerke der Erdbevölke- rung ein. Kulturell besteht das moderne System aus einigen Zivilisationstradi- tionen (z.B. Islam, Christentum, Hinduismus, Konfuzianismus usw.), national definierten, kulturellem Einheiten (diese setzen sich zusammen aus Klassen und fachlichen Subkulturen, z.B. Rechtsanwälte, Technokraten, Bürokraten usw.) sowie den Kulturen von Indigenen und Gruppen ethnischer Minderheiten in- nerhalb von Staaten. Das moderne System ist multikulturell in dem Sinne, dass wichtige politische und ökonomische Interaktionsnetzwerke Menschen verbin- den, die ziemlich unterschiedliche Sprachen, Religionen und andere kulturelle As- pekte haben. Die meisten früheren Weltsysteme waren ebenfalls multikulturell.9 Aber das moderne System hat auch eine einzige Geokultur, die seit dem 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit der multikulturellen Situation entstanden ist, die oben dargestellt worden ist.10 Die Geokultur wird, was am wichtigsten ist, durch das Zentrum strukturiert, aber sie hat sich auch im Kontext einer

8 Unsere Studie zur Abweichung der Größe von Gemeinwesen findet sich in: Hiroko Inoue, Alexis Álvarez, Kirk Lawrence, Anthony Roberts, Eugene N. Anderson, Christopher Chase-Dunn: Polity scale shifts in world-systems since the Bronze Age. A comparative inventory of upsweeps and collapses, in: International Journal of Com- parative Sociology, 2012. Die Publikation entstammt dem Projekt „Polities and Sett- lements Research Working Group“ am Institute for Research on World-Systems at the University of California-Riverside. Es ist auch bekannt als EmpCit (Empires and Cities) Project. Die Website ist zu finden unter: http://irows.ucr.edu/research/citemp/ citemp.html (Zugriff 28.7.2016). 9 Das regionale Weltsystem im Hawaiianischen Archipel war vor dem Kontakt mit den Europäern eine Ausnahme darin, dass es auf einem einzigen, auf die Ahnen zu- rückgehenden polynesischen Kulturerbe basierte, jedoch ergaben sich interessante kulturelle Unterschiede aus der ökologischen und sozialen Differenzierung unter den Inseln. Christopher Chase-Dunn, Elena Ermolaeva: The Ancient Hawaiian World-System, IROWS Working Paper #4, http://www.irows.ucr.edu/papers/irows4. txt (Zugriff 28.7.2016). 10 Immanuel Wallerstein: The Modern World-System I. Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, Berkeley 2011 [1974]. John W. Mayer: World Society, hg. v. Georg Krucksen, Gili S. Drori, New York 2009. Globalgeschichte und Weltsysteme 17

Reihe von Weltrevolutionen entwickelt, in denen die Menschen der Peripherie die globale Machtstruktur herausgefordert haben und diese Herausforderungen hatten bedeutende Auswirkungen auf die Inhalte der Geokultur. Eines der wichtigen Merkmale des modernen Weltsystems ist der Aufstieg und 11 Fall hegemonistischer Zentralmächte — die sogenannte „Hegemoniesequenz“. Ein Hegemon ist ein Staat im Zentrum, der über ein signifikant größeres Maß an wirtschaftlicher Macht verfügt als jeder andere Staat und dies bringt ihm die Rolle des Führenden im System ein. Im 17. Jahrhundert spielte die Republik der Niederlande die Rolle des Hegemons im eurozentrischen System, während Groß- britannien der Hegemon des 19. Jahrhunderts war und die Vereinigten Staaten der Hegemon des 20. Jahrhunderts gewesen sind. Der Hegemon bietet Füh- rung und Ordnung für das zwischenstaatliche System und die Weltwirtschaft. Aber der normale Prozessverlauf des modernen Systems — ungleichmäßige wirtschaftliche Entwicklung und der Wettbewerb zwischen Staaten — macht es für Hegemonen schwierig, ihre dominanten Positionen zu behalten und so tendieren sie dazu zu verfallen. Auf diese Weise schwankt die Struktur des Zen- trums hin und her zwischen unipolarer Hegemonie und einer Situation, in wel- cher einige konkurrierende Kernstaaten ein annähernd gleiches Maß an Macht besitzen und um die Hegemonie kämpfen — die sogenannte Rivalität um die multipolare Hegemonie (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Unipolare Hegemonie und Rivalität um multipolare Hegemonie im Bereich des Zentrums

11 Immanuel Wallerstein: The three instances of hegemony in the history of the capitalist world-economy, in: Gerhard Lenski (Hg.): Current Issues and Research in Macrosociology, International Studies in Sociology and Social Anthropology, Bd. 37, Leiden 1984, S. 100–108; Christopher Chase-Dunn: Global Formation. Structures of the World-Economy, Lanham 1998. 18 Christopher Chase-Dunn u.a.

So setzt sich das moderne Weltsystem aus Staaten zusammen, die miteinander durch die Weltwirtschaft und andere Interaktionsnetzwerke verbunden sind. Frühere Weltsysteme setzten sich ebenfalls aus Gemeinwesen zusammen, aber die Interaktionsnetzwerke, welche diese Gemeinwesen verbanden, waren in ih- rem Ausmaß nicht interkontinental, bis zur Expansion des Systems, das sein Zentrum im Indischen Ozean hatte und der europäischen Expansion in die beiden Amerikas im langen 16. Jahrhundert. Vorher waren Weltsysteme klei- nere, regionale Angelegenheiten. Aber diese waren durch die Verbreitung von Handelsnetzen und militärische Unternehmungen über große Distanzen hin- weg über Jahrtausende gewachsen.12

Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie Die Idee (notion) der Zentrums-Peripherie-Beziehungen ist eine zentrale Vorstellung sowohl der modernen Weltsystemperspektive13 als auch in der vergleichenden Weltsystemperspektive14 gewesen. Weltsysteme sind Systeme interagierender Gemeinwesen und sie sind oft (aber nicht immer) organisiert als Hierarchien zwischen Staaten, in denen einige Gemeinwesen andere Ge- meinwesen ausbeuten und dominieren.15 Chase-Dunn und Hall16 haben den Unterschied zwischen Kern und der Peripherie neu definiert, um ihn für den Vergleich zwischen dem modernen und früheren regionalen Weltsystemen besser nutzbar zu machen. Der Entschluss, den Begriff „Kern“ anstelle von „Zentrum“ zu verwenden, wurde gefasst, um klar das Bewusstsein zu signalisieren, dass die meisten zwi- schenstaatlichen Hierarchien multizentrisch sind. Es gibt eine Region oder Zone an der Spitze (top layer) der Hierarchie, die besetzt ist von einer Reihe

12 Jerry H. Bentley: Old World Encounters: Cross-Cultural Contacts and Exchanges in Pre-Modern Times, Oxford 1993; Philippe Beaujard: The Indian Ocean in Eurasian and African World-Systems Before the Sixteenth Century, in: Journal of World History, 16 (4), 2005, S. 411–465. 13 Wallerstein: World-System I (wie Anm. 10). 14 Christopher Chase-Dunn, Thomas D. Hall: Rise and Demise: Comparing World- Systems, Boulder (Col.) 1997. 15 Ein Weltsystem, das in Bezug auf die Kern-Peripherie-Hierarchie sehr klein ist, ist das indigene System, das von Chase-Dunn und Mann im Nordkalifornien vor Ankunft der Europäer untersucht wurde. Christopher Chase-Dunn, Kelly M. Mann: The Wintu and Their Neighbors: A Very Small World-System in Northern California, Tucson 1998. 16 Chase-Dunn, D. Hall: Rise and Demise (wie Anm. 14). Globalgeschichte und Weltsysteme 19 verbündeter und/oder konkurrierender Gemeinwesen. Alle hierarchisch aufge- bauten Weltsysteme durchlaufen einen Kreislauf von Aufstieg und Fall, in dem der mächtigste Staat im Kernbereich wächst und dann verfällt. Aber die meis- ten Systeme bleiben multizentrisch. Die Ausnahmen sind die, welche Chase Dunn und Hall17 und auch Scheidel18 als „zentrumweite Imperien“ bezeichnen, in denen ein einziger Staat eine ganze Kernregion erobert und beherrscht. Sol- che Staaten waren selten. Große Reiche, die beanspruchen die gesamte Welt zu beherrschen, kontrollieren kaum je alle Staaten im Kernbereich ihres Interakti- onssystems. Selbst das Römische Reich eroberte niemals das Partherreich.

Abb. 2: Struktur einer Zentrum-Peripherie Hierarchie

Das moderne Weltsystem wurde und wird noch heute im Wesentlichen struk- turiert als Hierarchie zwischen Kernland und Peripherie, in der einige Regio- nen ökonomisch und militärisch mächtige Staaten aufweisen (hier: contain), während andere Regionen Gemeinwesen beinhalten, die wesentlich weniger Macht besitzen und die weniger entwickelt sind. Diejenigen Länder, die als „entwickelt“ in dem Sinne bezeichnet werden, dass sie ein hohes Maß an wirt- schaftlicher Entwicklung, qualifizierte Arbeitskräfte, hohe Einkommenslevel sowie mächtige, solide finanzierte Staaten aufweisen, sind die Kernmächte des

17 Ebd. 18 Walter Scheidel: Rome and China. Comparative perspectives on ancient world em- pires, New York 2009. 20 Christopher Chase-Dunn u.a. modernen Systems. Das moderne Zentrum beinhaltet die Vereinigten Staaten sowie die Länder Europas, Japan, Australien, Neuseeland und Kanada. In der gegenwärtigen Peripherie haben wir relativ schwache Staaten, die von ihren Bevölkerungen nicht in besonders starkem Maße gestützt werden und die verglichen mit anderen Staaten des Systems wenig Macht besitzen. Die Koloni- alreiche der europäischen Kernstaaten dominierten den Großteil der modernen Peripherie, bis Entkolonialisierungswellen, beginnend im späten 18. Jahrhun- dert, die Kolonialreiche fort spülten. Regionen der Peripherie sind ökonomisch weniger entwickelt, in dem Sinne, dass die Wirtschaft sich zusammensetzt aus relativ wenig kapitalintensiven Formen der Landwirtschaft und Industrie. Eini- ge Industrien in Ländern der Peripherie, wie Ölförderung und Bergbau, mögen kapitalintensiv sein, aber diese Sektoren werden oft durch Kapital kontrolliert, welches aus den Kernstaaten stammt. In der Vergangenheit sind an der Peripherie gelegene Länder vor allem Ex- porteure von landwirtschaftlichen und mineralischen Rohstoffen gewesen. Aber selbst wenn sie einige Industrieproduktion entwickelt haben, war dies gewöhn- lich weniger kapitalintensiv und benötigte weniger qualifizierte Arbeit, als Pro- duktionsprozesse im Zentrum. Die gegenwärtigen peripheren Länder sind die meisten afrikanischen Staaten und viele der Länder in Asien und Lateinamerika – z.B. Bangladesch, Senegal, Haiti und Bolivien. Globalgeschichte und Weltsysteme 21

Abb. 3: Die gegenwärtige weltweite Hierarchie nationaler Gesellschaften: Kernstaaten, Semiperi- pherie und Peripherie 22 Christopher Chase-Dunn u.a.

Die Zentrum-Peripherie-Hierarchie im modernen Weltsystem ist ein System der Stratifikation, in dem sozial und ökologisch strukturierte Ungleichheiten durch institutionelle Systemeigenschaften reproduziert werden. Die Peripherie holt gegenüber dem Kernstaat nicht auf. Vielmehr entwickeln sich sowohl das Zentrum als auch die Peripherie, aber die meisten Kernstaaten sind den meis- ten an der Peripherie gelegenen Staaten um eine gute Nasenlänge voraus. Ob- wohl es einige Mobilität nach oben und unten gibt, ist die allgemeine Struktur der Ungleichheit ziemlich stabil geblieben. Es gibt auch eine Schicht von Län- dern, die zwischen dem Kern und der Peripherie angesiedelt sind und die als Semiperipherie bezeichnet werden. Die Semiperipherie im modernen System umfasst Länder, die ein mittleres Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung oder einen ausgewogenen Mix aus entwickelten und weniger entwickelten Regionen haben. Die Halbperipherie schließt große Länder ein, welche aufgrund ihrer territorialen Ausdehnung über politische/militärische Macht verfügen (z.B. In- donesien, Mexiko, Brasilien, China, Indien) sowie kleinere Länder, die verhält- nismäßig höher entwickelt sind als diejenigen in der Peripherie (z.B. Südafrika, Taiwan, Südkorea; vgl. Abb. 3).19 Die genauen Grenzen zwischen Zentrum, Semiperipherie und Peripherie sind unwichtig, da das Wichtigste ist, dass es ein Kontinuum wirtschaftlicher und politischer/militärischer Macht gibt, das die Zentrum-Peripherie-Hierarche konstituiert. In der Tat könnten wir auch vier oder sieben Kategorien anstelle von nur dreien einführen. Die Kategorien sind lediglich eine geeignete Termi- nologie, um auf die Tatsache internationaler Ungleichheit hinzuweisen und um anzudeuten, dass die Mitte dieser Hierarchie ein bedeutender Ort für Prozesse sozialen Wandels sein kann. Es hat ein paar Fälle von Auf- und Abwärtsmobilität innerhalb der Hierarchie aus Zentrum und Peripherie gegeben. Der spektakulärste Fall in der moder- nen Kernstaaten-Peripherie-Hierarchie sind die Vereinigten Staaten. Im Laufe der letzten 300 Jahre verlagerte sich das Territorium, aus dem die Vereinigten Staaten entstanden, von außerhalb des auf Europa zentrierten Systems liegend (ein separat gelegener Kontinent, der einige regionale Weltsysteme beherberg- te) während der Kolonialära an die Peripherie, in die Halbperipherie während

19 Patrick Bond: Subimperialism as lubricant of neoliberalism. South African ‘deputy sheriff’ duty within BRICS. Paper to be presented at the Santa Barbara Global Stud- ies Conference session on „Rising Powers. Reproduction or Transformation?,” 22–23 February 2013. Globalgeschichte und Weltsysteme 23 der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, von dort um 1880 ins Zentrum und dann im 20. Jahrhundert in die Position eines hegemonialen Kernstaates. Jetzt beginnt diese Hegemonie allmählich zu bröckeln. Ein Beispiel für eine abwärts gerichtete Mobilität bietet das Vereinigte Königreich von Großbritannien – der Hegemon des 19. Jahrhunderts und nun lediglich ein weiterer der Kernstaaten. Das gegenwärtige globale Stratifikationssystem ist ein zusammenhängendes Ganzes aus wirtschaftlicher und politisch-militärischer Macht, das durch die normalen Abläufe im System reproduziert wird. In einer solchen Hierarchie gibt es Länder, die schwierig zu kategorisieren sind. Zum Beispiel haben die meisten ölexportierenden Länder pro Kopf ein sehr hohes Bruttosozialprodukt, aber ihre Ökonomien produzieren keine Technologieprodukte, die für Kern- staaten typisch sind. Sie besitzen Reichtum, aber keine Entwicklung. Hier geht es darum, dass die Kategorien (Kern, Peripherie und Halbperipherie) ledig- lich ein geeignetes Begriffsset bieten, um innerhalb einer zusammenhängenden multidimensionalen Machthierarchie auf unterschiedliche Standorte hinzuwei- sen. Es ist nicht notwendig, dass jeder Fall ordentlich in eine Schublade passt. Die Schubladen sind nur konzeptionelle Werkzeuge, um die ungleiche Vertei- lung der Macht unter Ländern zu analysieren. Wenn wir die Idee Zentrum-Peripherie-Beziehungen benutzen, um sehr ver- schiedene Arten von Weltsystemen zu vergleichen, müssen wir das Konzept verbreitern und eine wichtige Differenzierung vornehmen. Aber der wichtigste Punkt ist, dass wir nicht annehmen sollten, dass alle Weltsysteme ein Kern- Peripherie-System besitzen, nur weil das moderne System es hat. Es sollte in jedem Fall eine empirische Frage sein, inwieweit Beziehungen zwischen Zent- rum und Peripherie existieren. Nicht anzunehmen, dass Weltsysteme Zentrum- Peripherie-Strukturen haben, erlaubt es uns sehr unterschiedliche Arten von Systemen zu vergleichen und zu untersuchen, wie die Beziehungen zwischen dem Kern und der Peripherie selbst entstanden sind und sich entwickelt haben. In der Absicht dies zu tun, ist es hilfreich zu unterscheiden zwischen der Zentrum-Peripherie-Differenzierung und der Hierarchie zwischen dem Kern und der Peripherie. „Zentrum-Peripherie-Differenzierung“ bedeutet, dass Ge- sellschaften mit unterschiedlichen Graden von Bevölkerungsdichte, Größe des Territoriums sowie innerer Hierarchie miteinander interagieren. Sobald wir Dorfbewohner vorfinden, die mit nomadisch lebenden Nachbarn interagieren, haben wir eine Differenzierung zwischen Kern und Peripherie. Die „Zentrum- Peripherie-Hierarchie“ bezieht sich auf das Wesen der Beziehungen zwischen Ge- sellschaften. Diese Art von Hierarchie existiert dann, wenn einige Gesellschaften 24 Christopher Chase-Dunn u.a. andere Gesellschaften ausbeuten oder dominieren. Beispiele für Dominanz und Ausbeutung zwischen Gesellschaften wären die britische Kolonialisierung und De-Industrialisierung Indiens oder die Eroberung und Unterwerfung Meso- amerikas und der Andenregion durch die Spanier. Die Zentrum-Peripherie- Hierarchie ist nicht spezifisch für das moderne, eurozentrische Weltsystem der letzten Jahrhunderte. Sowohl das Römische als auch das Aztekenreich eroberten an ihrer Peripherie lebende Völker und beuteten sie genauso aus, wie die angren- zenden Staaten des Zentrums. Die Unterscheidung zwischen Zentrum-Peripherie-Differenzierung und Zentrum-Peripherie-Hierarchie, gestattet es uns, uns mit Situationen zu be- schäftigen, in denen größere und mächtigere Gesellschaften mit kleineren interagieren, sie aber nicht ausbeuten. Es erlaubt uns, auch Fälle zu unter- suchen, in denen kleinere, weniger dichte Gesellschaften vielleicht größere Gesellschaften ausbeuten oder dominieren. Diese letztgenannte Situation trat eindeutig bei der langen und folgenreichen Interaktion zwischen den nomadischen Reitervölkern Zentralasiens und den agrarischen Staaten und Reichen Chinas und Westasiens ein. Der bekannteste Fall war der des Mon- golenreichs von Dschinghis Khan, aber Konföderationen zentralasiatischer Steppennomaden gelang es bereits lange vor dem Aufstieg der Mongolen, Tribut von agrarischen Staaten zu fordern.20 Die Frage des Status von Zentrum und Peripherie muss auch im Hinblick auf unterschiedliche räumliche Größenordnungen der Interaktion berücksich- tigt werden. Chase-Dunn und Hall21 bemerken, dass regionale Weltsysteme wichtige Interaktionsnetzwerke haben können, die unterschiedliche räumliche Ausdehnungen haben. Sie nehmen einen „zentralen Platz“ in der Nähe des räumlich gebundenen Interaktionsnetzwerks ein, das von einer zentralen Sied- lung oder einem Gemeinwesen ausgeht. Das Netzwerk ist aufgrund der Über- legung räumlich gebunden, wie viele indirekte Verbindungen benötigt werden, um alle Interaktionen einzuschließen, die einen wichtigen Einfluss auf die Reproduktion oder Transformation von Institutionen am Brennpunkt (focal place) haben. Massengüter-Netzwerke, die gewöhnlich relativ klein sind, und politisch-militärische Netzwerke (politische Systeme zwischen Staaten), die für

20 Thomas J. Barfield: The Perilous Frontier. Nomadic Empires and China, Cambridge (MA) 1989; William Honeychurch: The Nomad as State Builder: Historical Theory and Material Evidence from Mongolia, in: Journal of World Prehistory, 26, 2013, S. 283–321. 21 Chase-Dunn, Hall: Rise and Demise (wie Anm. 14). Globalgeschichte und Weltsysteme 25 gewöhnlich um einiges größer sind, waren in allen Systemen wichtig und Pres- tigewaren-Netzwerke, die oft sehr viel größer waren, waren in einigen Syste- men wichtig, aber in anderen nicht. Die Frage des Status von Kernstaaten und Peripherie, muss hinsichtlich der Massengüter- und der politisch-militärischen Netzwerke immer wieder gestellt werden und auch für den Level der Prestige- waren, wenn diese eine wichtige Rolle bei der soziokulturellen Reproduktion oder beim Wandel gespielt haben.

Räumliche Begrenzungen von Weltsystemen Ganze Interaktionsnetzwerke setzen sich zusammen aus regulären und wieder- holten Interaktionen zwischen Individuen und Gruppen. Interaktion kann Han- del, Kommunikation, Bedrohungen, Allianzen, Migration, Heirat, die Übergabe von Geschenken oder die Beteiligung an Informationsnetzwerken wie Radio, Fernsehen, Telefongespräche und E-Mails beinhalten. Konflikte sind ebenfalls eine wichtige Form der Vergesellschaftung, sowohl innerhalb als auch zwischen Staaten. Kriegführung, von rituellen Wettbewerben bis hin zum Ethnozid, war ein wichtiger Faktor im Prozess der Gruppenauswahl, der zur soziokulturellen Evolution führte.22 Wichtige Interaktionsnetzwerke sind diejenigen, die das täg- liche Leben der Menschen betreffen, ihren Zugang zu Nahrung und notwendi- gen Rohmaterialien, ihre Vorstellung davon, wer sie sind und ihre Absicherung oder Schutzlosigkeit gegenüber Gefahren und Gewalt. Weltsysteme bestehen grundsätzlich aus Interaktionsnetzwerken. Ein großer Unterschied zwischen dem modernen Weltsystem und früheren Systemen ist die räumliche Größenordnung der verschiedenen Arten von Inter- aktionsnetzwerken. Im modernen Globalsystem sind die meisten der wichtigen Interaktionsnetzwerke selbst global in ihrem Maßstab. Aber in früheren, kleine- ren Systemen gab es einen signifikanten Unterschied bezüglich des räumlichen Ausmaßes zwischen Netzwerken, in denen Nahrungsmittel und grundsätzlich benötigte Rohmaterialien getauscht werden und viel größeren Netzwerken zum Austausch von Prestigewaren oder Luxusgütern. Unterschiedliche Arten wichti- ger Interaktion besaßen unterschiedliche räumliche Maßstäbe. Nahrungsmittel und grundsätzlich benötigte Rohmaterialien bezeichnen wir als „Massengüter“, weil sie einen geringen Wert pro Gewichtseinheit haben. Es ist unwirtschaftlich,

22 Ian Morris: War. What Is It Good For? Conflict and the Progress of Civilization from Primates to Robots, New York 2014; Peter Turchin: Warfare and the Evolution of Social Complexity: a Multilevel Selection Approach, in: Structure and Dynamics, 4 (3), 2010, S. 21–37. 26 Christopher Chase-Dunn u.a.

Lebensmittel als Massenware unter vormodernen Transportbedingungen über weite Strecken zu transportieren. Stellen Sie sich vor, dass die einzig verfügbare Transportmethode Menschen sind, die Waren auf ihren Rücken (oder Köpfen) tragen. Das ist eine Situation, die es bis zur Domestizierung von Tragtieren tatsächlich überall gab. Unter die- sen Bedingungen kann eine Person, sagen wir, 30 kg Nahrung transportieren. Stellen Sie sich vor, dass dieser Träger die Nahrung verzehrt, während er/sie geht. So sind nach ein paar Tagen Laufen die Nahrungsmittel aufgebraucht. Das ist das wirtschaftliche Limit des Nahrungsmitteltransports unter diesen Transportbedingungen. Das bedeutet nicht, dass Nahrung niemals weiter trans- portiert werden wird als über diese Distanz, aber es musste einen wichtigen Grund dafür geben, Nahrung über eine ökonomisch profitable Strecke hinaus zu transportieren. Prestigewaren sind Waren, die bedeutenden Wert und eine geringe Größe ha- ben, unversehrt über lange Strecken transportiert werden können und typischer- weise ihren Wert während des Transits behalten oder steigern (z.B. Gewürze, Jade, Juwelen oder Gold- bzw. Silberbarren). Prestigewaren haben eine wesent- lich größere räumliche Reichweite als Massengüter, sie besitzen großen Wert, da eine kleine Menge einer solchen Ware in eine große Menge Nahrungsmittel getauscht werden kann. Deshalb sind Prestigewaren-Netzwerke normalerweise wesentlich umfangreicher als Netzwerke für Massengüter. Ein Netzwerk endet normalerweise nicht, solange es Menschen gibt mit denen man handeln kann. Tatsächlich war der frühe Handel meistens das, was man „down-the-line“-Trade nennt, bei dem Waren von Gruppe zu Gruppe weitergegeben wurden. Für jede einzelne Gruppe ist die effektive Ausdehnung ihres Handelsnetzes der Punkt, über den hinaus nichts, was geschieht die Ursprungsgruppe betreffen wird. Mit dem Ziel Interaktionsnetzwerke zu knüpfen, müssen wir einen Ort wählen, von dem aus begonnen werden soll – den sogenannten „place-centric- approach“. Wenn wir nach gegenwärtigen Unterbrechungen in Interaktions- netzwerken suchen, so werden wir sie für gewöhnlich nicht finden, da beinahe alle Gruppen von Menschen mit ihren Nachbarn interagieren. Aber wenn wir auf eine einzige Siedlung fokussieren, zum Beispiel auf das Eingeborenendorf Onancock am Ostufer der Chesapeake Bay vor der Ankunft der Europäer im 17. Jahrhundert unserer Zeitrechnung (nahe der Grenze zwischen dem, was heute die Staaten Virginia und Maryland in den Vereinigten Staaten sind), kön- nen wir die räumliche Ausdehnung des Interaktionsnetzwerkes für Massenware bestimmen, indem wir herausfinden, wie weit Lebensmittel zu unserem Dorf im Globalgeschichte und Weltsysteme 27

Brennpunkt und von ihm weg gelangt sind.23 Nahrungsmittel kamen aus einer maximalen Entfernung nach Onancock, denn etwas weiter weg gab es Gruppen, die ihrerseits Nahrungsmittel mit anderen Gruppen handelten, welche dann Nahrung direkt nach Onancock schickten. Wenn wir zwei indirekte Sprünge zugestehen, entfernen wir uns wahrscheinlich weit genug von Onancock, so- dass, gleich was geschieht, (z.B. Lebensmittelknappheit oder -überschuss), es keine Auswirkungen auf die Versorgung Onancocks mit Lebensmitteln gehabt hätte. Die äußerste Grenze (outer limit) von Onancocks autochthonem (indi- genous) Massengüter-Netzwerk schloss wahrscheinlich die äußersten südlichen und nördlichen Enden der Chesapeake Bay ein. Onancocks Prestigewaren-Netzwerk war viel größer, da Prestigewaren weite- re Entfernungen zurücklegen. In der Tat könnte Kupfer, das von der indigenen Bevölkerung der Chesapeake Bay genutzt wurde, vom weit entfernten Lake Superior stammen. Zwischen den Größen der Massengüter-Netzwerke (BGN) und derjenigen der Prestigewaren-Netzwerke (PGN) liegen die Interaktions- netzwerke, in denen Staaten Kriege gegeneinander führen und untereinander Allianzen schließen. Diese werden als politisch-militärische Netzwerke (PMN) bezeichnet. PMN sind Systeme zwischen Gemeinwesen (zwischen Staaten). Im Fall des Weltsystems von Chesapeake, war Onancock zur Zeit der Ankunft der Europäer im 16. Jahrhundert Teil eines eigenständigen Häuptlingstums inner- halb eines aus vielen Dörfern bestehenden PMN. Auf der anderen Seite der Bay, am westlichen Ufer, gab es schließlich zwei größere Gemeinwesen, die Powhatan und die Hauptstämme des Conoy-Häuptlingstums.24 Diese waren Häuptlingstümer im Zentrum, die von einer Anzahl kleinerer Häuptlingstü- mer im Distrikt Tribute erhoben. Onancock war Teil eines Beziehungssystems zwischen Häuptlingstümern, dessen Gemeinwesen Allianzen schlossen oder Krieg gegeneinander führten. Die Grenzen dieses Netzwerkes schlossen einige indirekte Verbindungen ein, genau wie die Grenzen der Handelsrouten auch. Auf diese Weise erstreckte sich das PMN, dessen zentraler Ort Onancock war, im Norden bis zur Delaware Bay und im Süden bis in jenes Gebiet, in den heu- te der Staat North Carolina liegt. Informationen sind, wie auch Prestigewaren,

23 Dies ist eine Analogie zur Studie über Warenketten im modernen System, abgesehen davon, dass die Waren, die in einigen früheren Systemen getauscht wurden, nicht Wa- ren im modernen Sinne waren. Die Übergabe von Geschenken und Tributen war die gebräuchlichste Form des Tausches, wie er in kleineren Weltsystemen zu finden war. 24 Helen C. Rountree (Hg.): Powhatan Foreign Relations, 1500–1722, Charlottesville 1993. 28 Christopher Chase-Dunn u.a. leicht im Vergleich zu ihrem Wert. Informationen können entlang der Handels- routen weit reisen und sogar weiter gelangen als Waren. So sind Informations- netzwerke (IN) gewöhnlich ebenso groß oder sogar größer als PGN. Ein allgemeines Bild der räumlichen Beziehungen zwischen verschiedenen Arten von Interaktionsnetzwerken wird in Abb. 4 dargestellt. Die tatsächliche räumliche Größenordnung wichtiger Interaktion muss für jedes Weltsystem bestimmt werden, das wir untersuchen, aber Abb. 4 zeigt, was generell der Fall ist, nämlich, dass BGN kleiner sind als PMN und dass diese wiederum kleiner sind als PGN und IN.

Abb. 4: Räumliche Gebundenheit von Weltsystemen

So definiert, wie wir es oben getan haben, sind Weltsysteme über die vergange- nen 12 Jahrtausende von kleinen zu großen Gemeinwesen gewachsen, und poli- tisch miteinander in Verbindung stehende Systeme sind größer, komplexer und hierarchischer geworden. Die räumliche Ausdehnung von Systemen schloss die Expansion einiger Systeme und die Inkorporation einiger von ihnen in andere Systeme ein. Die Inkorporationsprozesse haben auf verschiedene Weise stattge- funden, da weit voneinander entfernte Systeme ihre Interaktionsnetzwerke ver- knüpft haben. Weil Interaktionsnetze in der Größe so unterschiedlich sind, sind es die größten Netze, die zuerst miteinander in Kontakt kommen. So verbinden Informationen und Prestigegüter weit voneinander entfernte Gruppen, lange be- vor sie am selben politisch-militärischen Netzwerk oder Massengüter-Netzwerk partizipieren. Expansions- und Inkorporationsprozesse brachten unterschiedli- che Gruppen von Menschen zusammen und machten die Organisation größe- rer und mehr hierarchisch gegliederter Gesellschaften möglich. In diesem Sinne geht Globalisierung seit Tausenden von Jahren vor sich. Globalgeschichte und Weltsysteme 29

Indem wir das konzeptionelle Instrumentarium für an den Raum gebun- dene Weltsysteme anwenden, welches wir oben skizziert haben, können wir räumlichzeitliche Chronographen konstruieren, was die Frage aufwirft, wie die Interaktionsnetzwerke der Bevölkerung ihre räumlichen Größenordnun- gen veränderten, was die einzige globalpolitische Wirtschaft von heute zum Ergebnis hatte. Abb. 5 benutzt PMN als Analyseeinheiten, um zu zeigen, wie ein „zentraler“ PMN, der sich um etwa 1500 v. Chr. aus den verschmelzenden mesopotamischen und ägyptischen PMN zusammensetzte, schließlich alle an- deren PMN in sich aufnahm.25

Abb. 5: Chronograph der PMN nach Wilkinson

25 David Wilkinson: Central civilization, in: Comparative Civilizations Review, 17 (fall), 1987, S. 31–59. 30 Christopher Chase-Dunn u.a.

Die Studie von Janet Lippman Abu-Lughod26 über das multizentrische eurasi- sche Weltsystem des 13. Jahrhunderts war ein sehr nützlicher und inspirieren- der Beitrag. Die wichtigste theoretische Frage, die durch Abu-Lughods Studie aufgeworfen wurde, betrifft Unterschiede zwischen ihrem Ansatz und demje- nigen von Immanuel Wallerstein27 in Bezug auf die räumliche Gebundenheit von Weltsystemen.28 Abu-Lughod nutzt Interaktionsnetzwerke, hauptsächlich den Fernhandel, während Wallerstein die regional und hierarchisch gegliederte Arbeitsteilung heranzieht.29 Das Ergebnis dieses Streits ist, dass beide konzepti- onellen Herangehensweisen bewiesen haben, dass sie produktive Verwendungs- möglichkeiten bei der Untersuchung der Ursachen für die Entwicklung von Weltsystemen bieten. Wallersteins30 faszinierende Analyse, warum Russland im 17. Jahrhundert ein „Gebiet außerhalb des Zentrums“ („external area“) war, trotz der Tatsache, dass es dieselben Güter nach Europa exportierte, die auch vom an die Peripherie gedrängten Polen ausgeführt wurden, ist ein faszinieren- der Fall im Hinblick auf seine Begrenzungsmethode. Aber Abu-Lughods Fokus auf Handel, insbesondere verbunden mit der Berücksichtigung geopolitischer Interaktion zwischen Staaten,31 ist ebenfalls eine fruchtbare Methode, welche eine vergleichende Untersuchung von kleinen und großen regionalen Weltsys- temen ermöglicht. Eine andere Art und Weise in der Abu-Lughod half, den Fortschritt in der Weltsystemanalyse zu klären, bestand darin, die Idee der klas- sischen Anhänger einer Hyperglobalisierung abzulehnen, es habe schon immer

26 Janet Lippman Abu-Lughod: Before European Hegemony: The World-System, AD l250–l350, New York 1989. 27 Wallerstein: World-System I (wie Anm. 10). 28 Elson E. Boles: Assessing the debate between Abu-Lughod and Wallerstein over the thirteenth-century origins of the modern world-system, in: Salvatore J. Babones and Christopher Chase-Dunn (Hg.): Routledge Handbook of World-Systems Analysis, New York 2012, S. 21–29. 29 Immanuel Wallerstein: Hold the tiller firm: on method and the unit of analysis, in: Stephen K. Sanderson (Hg.): Civilizations and World-Systems, Walnut Creek (Cal.) 1995, S. 239–247. 30 Immanuel Wallerstein: World-System I (wie Anm. 1), Kapitel 6. 31 Vgl. Wilkinson: Central civilization (wie Anm. 25); Christopher Chase-Dunn, An- drew K. Jorgenson, Regions and Interaction Networks: an Institutional materialist per- spective, in: International Journal of Comparative Sociology 44 (1), 2003, S. 433–450. Globalgeschichte und Weltsysteme 31 ein einziges, globales (weltweites) System gegeben.32 Sie stimmt mit Wallerstein darin überein, dass, wenn wir in der Geschichte zurückgehen, es viele voll- ständige, regionale Systeme gab, die einzeln untersucht und verglichen werden sollten. Die Dinge wären wesentlich einfacher, wenn es Sinn machen würde, die gesamte Erde als Analyseeinheit zu nehmen, seit die Menschheit aus Afrika kam. Die alten Anhänger einer Hyperglobalisierung haben recht damit, dass es seit Jahrtausenden ein einziges globales Netzwerk gegeben hat, da alle Gruppen von Menschen mit ihren Nachbarn interagieren und so indirekt mit allen an- deren verbunden sind. Dies übersieht jedoch die Frage nach dem Rückgang der Interaktionseffekte, die oben diskutiert wurde. Frank und Gills33 argumentierten, dass es seit dem Aufstieg der Städte und Staaten in Mesopotamien ein einziges globales System gegeben habe, obwohl sie zugeben, dass die Amerikas vor 1492 weitgehend von Afro-Eurasien ge- trennt gewesen seien. Aber wenn wir Frank und Gills hinsichtlich der Erfor- schung wichtiger Kontinuitätslinien des zentralen PMN und des eurasischen PMN lesen, wie wir es oben diskutiert haben, so ist vieles an ihrer Analyse der Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie ziemlich nützlich. Auch war- fen sie die wichtige Frage der Entwicklung von Akkumulationsmodi auf, indem sie behaupten, dass es in der Bronzezeit einen „kapitalistisch-imperialistischen Modus“ mit wechselnden Perioden gegeben habe, in denen der Erhalt von Tri- but und von marktbasierenden Profiten vorherrschend gewesen war.34 Die De- batte ist längst nicht beendet.

Zyklen im Weltsystem: Aufstieg und Fall sowie Pulsschlag Die vergleichende Forschung offenbart, dass alle Weltsysteme zyklische Wand- lungsprozesse aufweisen. Es gibt zwei zyklische Hauptphänomene: Aufstieg und Fall der großen Staaten und das Pulsieren während der räumlichen Ausdehnung sowie die Intensität der Handelsnetzwerke. „Aufstieg und Untergang“ korrespon- dieren mit Veränderungen beim Zentralisierungsgrad der politisch-militärischen

32 Andre Gunder Frank, Barry Gills: The World System: 500 or 5000 Years?, London 1994; George Modelski: World Cities: -3000 to 2000, Washington (DC), 2003; Ger- hard Lenski: Ecological-Evolutionary Theory, Boulder (Col.), 2005. 33 Frank, Gills: World System (wie Anm. 32). 34 Kasja Ekholm, Jonathan Friedman: ‘Capital’ Imperialism and Exploitation in the An- cient World-systems, in: Review 6 (1), 1982, S. 87–110 (Erstveröffentlicht in: History and Underdevelopment, hg. v. L. Blusse, H. L. Wesseling und G. D. Winius, Center for the History of European Expansion, Leiden University 1980). 32 Christopher Chase-Dunn u.a.

Macht in einer Reihe von Staaten – einem „internationalen“ System. Dabei han- delt es sich um eine Frage der relativen Machtverteilung innerhalb einer Reihe von interagierenden Staaten. Alle Weltsysteme, in denen es hierarchisch aufgebaute Staaten gibt, erfahren einen Zyklus, in dem relativ gesehen mächtigere Staaten an Macht und Größe zunehmen und dann verfallen. Dies gilt für Systeme zwischen Stammesfürsten- tümern (interchiefdom systems) ebenso wie für Systeme zwischen Staaten, über solche, die sich aus Reichen zusammensetzen, bis hin zum modernen Aufstieg und Fall hegemonialer Kernmächte (z.B. Großbritannien und die Vereinigten Staaten). Obwohl äußerst egalitäre und von der Größenordnung her kleine Staaten, wie die sesshaften Jäger und Sammler Nordkaliforniens, keinen Zyklus aus Aufstieg und Fall durchlaufen, erfahren sie pulsierende Tauschnetzwerke.35 Alle Systeme, einschließlich sogar der sehr kleinen und egalitären, weisen zyklische Expansionen und Kontraktionen in der räumlichen Ausdehnung so- wie der Intensität der Austauschnetzwerke auf. Wir nennen dies Sequenz der Ausweitung des Handels und pulsierende Kontraktion. Verschiedene Handels- arten (besonders Massengüterhandel versus Prestigewarenhandel), haben für gewöhnlich unterschiedliche räumliche Größenordnungen. Im modernen glo- balen System, können Handelsnetzwerke räumlich nicht wachsen, da sie bereits weltumspannend sind. Aber sie können dichter und intensiver im Vergleich mit kleineren Austauschnetzwerken werden. Ein Gutteil dessen, was man als Globalisierung bezeichnet hat, ist schlicht die Intensivierung größerer Interak- tionsnetzwerke im Vergleich zur Intensität von kleineren. Diese Art von Inte- gration wird oft als Aufwärtstrend verstanden, der seinen Höhepunkt (greatest peak) in den gegenwärtigen Jahrzehnten des sogenannten globalen Kapitalis- mus erreicht hat. Aber Forschungen zum Wandel der Globalisierung bezüglich des Handels- und Investmentniveaus, zeigen, dass es zwei neuere Integrations- wellen gegeben hat, eine in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die allerneuste seit dem Zweiten Weltkrieg.36 Die simpelste Hypothese betreffend die zeitlichen Zusammenhänge zwischen Aufstieg und Fall sowie die Phase des Pulsierens treten als Tandem auf. Ob dies so ist oder nicht und wie es sich in verschiedenen Arten von Weltsystemen

35 Chase-Dunn, Mann: The Wintu (wie Anm. 15), S. 140f. 36 Christopher Chase-Dunn, Yukio Kawano, Benjamin Brewer: Trade globalization since 1795. Waves of integration in the world-system, in: American Sociological Review 65 (1), 2000, S. 77–95. Globalgeschichte und Weltsysteme 33 unterscheidet, wirft eine Reihe von Problemen auf, die empirischer Forschung zugänglich sind. Chase-Dunn und Hall37 haben argumentiert, dass die Kausalprozesse von Aufstieg und Fall differenzieren, abhängig vom vorherrschenden Akkumu- lationsmodus. Ein großer Unterschied zwischen dem Aufstieg und Fall von Reichen und dem Aufstieg und Fall moderner Hegemonen, ist der Zentralisie- rungsgrad, der im Zentrum erreicht wurde. Systeme, die auf Tributen beruhen, schwanken hin und her, einerseits zwischen einer Struktur aus vielen konkur- rierenden Kernstaaten und andererseits zentrumsweiten (oder annähernd zent- rumsweiten) Reichen. Das moderne zwischenstaatliche System erfährt Aufstieg und Fall von Hegemonen, aber die Anstrengungen, die unternommen worden sind, um die anderen Kernstaaten zu übernehmen und um ein zentrumswei- tes Empire zu formen, sind im modernen System immer gescheitert. Dies ist hauptsächlich deshalb der Fall, weil moderne Hegemonen eine eher kapitalisti- sche als tributäre Form der Akkumulation verfolgen. Analog funktionieren Aufstieg und Fall in Stammesgesellschaften (interchief- doms) etwas anders, da die Institutionen, welche die Ressourcengewinnung mit- tels weiter entfernter Gruppen ermöglichen, in Stammessystemen weniger voll entwickelt sind. David G. Andersons38 Studie zu Aufstieg und Fall der Mississip- pi-Stämme im Tal des Savannah-River stellt einen exzellenten und umfassenden Bericht zur anthropologischen und soziologischen Literatur über das dar, was Anderson als „cycling“ bezeichnet – die Prozesse, mittels derer eine Stammes- gesellschaft ihre Kontrolle auf angrenzende Stammesgemeinschaften ausdehnte und ein gestaffelte Administrationshierarchie über die Spitzen lokaler Gemein- schaften errichtete. Zu einem späteren Zeitpunkt zerfielen diese regional zentra- lisierten, von Häuptlingen beherrschten Gemeinwesen und entwickelten sich zu einem System kleinerer, weniger hierarchischer Gemeinschaften. Häuptlinge vertrauten kompletter auf hierarchische Verwandtschaftsbezie- hungen, Kontrolle von rituellen Hierarchien und Kontrolle des Imports von Prestigewaren, als dies Herrscher wirklicher Staaten tun. Diese von den Häupt- lingen angewandten Machttechniken sind alle in hohem Maße von normativer Integration und ideologischem Konsens abhängig. Staaten entwickelten spezi- alisierte Organisationen, um Ressourcen zu gewinnen, die Stämmen fehlten – stehende Heere und Bürokratie. Und Staaten sowie Reiche in den tributären

37 Chase-Dunn, Hall: Rise and Demise (wie Anm. 14). 38 David G. Anderson: The Savannah River Chiefdoms, Tuscaloosa 1994. 34 Christopher Chase-Dunn u.a.

Weltsystemen hingen in stärkerem Maße von der Projektion von Streitkräften über große Distanzen ab, als dies bei modernen Hegemonialstaaten der Fall gewesen ist. Die Entwicklung der Warenproduktion und von Mechanismen finanzieller Kontrolle, ebenso wie die Weiterentwicklung bürokratischer Tech- niken der Macht, haben es modernen Hegemonen erlaubt, Ressourcen aus weit entfernten Gegenden bei viel weniger Fixkosten zu gewinnen. Die Entwicklung von Machttechniken hat die Beziehungen zwischen Zen- trum und Peripherie für den Wettbewerb unter den Kernmächten noch wich- tiger werden lassen und sie hat die Art und Weise, in welcher der Prozess von Aufstieg und Fall vor sich geht in vielerlei Hinsicht verändert. Chase-Dunn und Hall39 argumentierten, dass das Bevölkerungswachstum im Zusammen- spiel mit der Umwelt und mit dem Wandel in der Produktionstechnologie sowie der Sozialstruktur zu einer soziokulturellen Entwicklung führt, die von Zyklen und periodischen Sprüngen gekennzeichnet ist. Das ist so, weil jedes Weltsystem um eine zentrale Tendenz herum pendelt, aufgrund von sowohl in- nerer Instabilität als auch umweltbedingten Schwankungen. Gelegentlich lösen Menschen während einer Phase des Aufschwungs Systemprobleme auf neue Art, die eine substantielle Expansion gestattet. Wir möchten Expansionen, evo- lutionären Wandel in der Logik des Systems40 und Zusammenbrüche erklären. Dies sind die Punkte, anhand derer man Weltsysteme vergleicht. Die multiskalare regionale Methode der Bündelung von Weltsystemen als verschachtelte Interaktionsnetzwerke, die oben beschrieben wurde, ist komple- mentär zu der multiskalaren zeitlichen Analyse der Art, wie sie in Fermand Braudels41 Arbeit vorgeschlagen wird. Zeitliche Tiefe, die longue durée, muss mit einer Analyse kurz- und mittelfristiger Prozesse kombiniert werden, um sozialen Wandel voll und ganz zu verstehen. Abb. 6, oben, stellt das Aufeinandertreffen der ostasiatischen und westasiati- schen/mediterranen Systeme dar. Sowohl die PGN als auch die PMN werden gezeigt, ebenso wie die Sequenzen des Pulsierens und von Aufstieg und Fall. Die PGN verbinden sich periodisch und laufen dann zusammen. Die mongo- lischen Eroberer verbanden die PMN im 13. Jahrhundert kurzzeitig, aber die

39 Chase-Dunn, D. Hall: Rise and Demise (wie Anm. 14), Kapitel 6. 40 Chase-Dunn, Lerro: Social Change (wie Anm. 1). 41 Fernand Braudel: The Mediterranean and the Mediterranean World in the Age of Philip II, 2 Bde., New York 1972/73. Globalgeschichte und Weltsysteme 35

östlichen und westlichen PMN wurden nicht dauerhaft verknüpft, bis Europäer und Euro-Amerikaner im 19. Jahrhundert Vertragshäfen in Asien etablierten.

Abb. 6: Phasen des Pulsierens zwischen Ost und West sowie Verschmelzung

Halbperiphere Entwicklungen Das Konzept der Semiperipherie wurde ursprünglich entwickelt, um das mo- derne Weltsystem erforschen zu können.42 Aber es ist auch erweitert worden, um es für den Vergleich verschiedener Arten von Weltsystemen zu nutzen. Für Wallerstein ist die Semiperipherie die mittlere Schicht in der globalen Hierar- chie, die dabei hilft, das System vor dem Zusammenbruch durch Polarisierung zu bewahren. Chase-Dunn und Hall43 behaupteten, dass Gesellschaften der Halbperipherie oft Auslöser des Wandels sowohl im modernen Weltsystem als auch früheren Systemen gewesen seien. Informationsnetzwerk-Theorien (alternativ: Informationsknotenpunkt- Theorien) der Innovation sind unter Historikern, die sich mit Weltsystemen

42 Immanuel Wallerstein: World-System I (wie Anm. 10). 43 Chase-Dunn, D. Hall: Rise and Demise (wie Anm. 14). 36 Christopher Chase-Dunn u.a. beschäftigen44 sowie bei Humanökologen45 populär gewesen. Diese meinen, dass neue Ideen und Institutionen in zentralen Ansiedlungen entstehen, wo sich Informations-Scheidewege befinden. Die Vermischung und Rekombina- tion von Ideen und Informationen ermöglicht das Entstehen neuer Ansätze. Die Netzwerk-Theorie ist zweifellos in Vielem richtig, aber sie kann einige der Langzeitmuster menschlicher sozialkultureller Entwicklung nicht erklä- ren, denn wenn ein großer Informations-Scheideweg in der Lage war, alle anderen zu überholen, dann wäre das ursprüngliche Informationsnetzwerk immer noch Mittelpunkt der Welt. Aber das ist nicht der Fall. Wir wissen, dass Städte und Staaten als erstes vor ungefähr 5000 Jahren in Mesopotamien entstanden sind. Mesopotamien ist jetzt Irak. Mesopotamien verfügte in der frühen Bronzezeit über 100 Prozent der weltgrößten Ansiedlungen und die mächtigsten Gemeinwesen der Erde. Nun besitzt es nichts mehr davon. Alle regionalen Weltsysteme haben einen Prozess ungleicher Entwicklung durch- laufen, in dem die alten Zentren vom Rand her von neuen Zentren ersetzt wurden.46 Chase-Dunn und Hall47 behaupteten, es seien in den allermeisten Fällen Staaten am Rand (in halbperipheren Regionen) gewesen, welche die institutio- nellen Strukturen transformiert und Aufschwungsphasen erzielt hätten. Diese Hypothese ist Teil einer breiteren Diskussion, wonach es Völker der Halbpe- ripherie sind, die gewöhnlich die Transformationsrollen spielen, welche für die Entstehung größerer sozialkultureller Komplexität und von Hierarchien in Weltsystemen verantwortlich sind. Die Hypothese der halbperipheren Ent- wicklung ist eine wichtige Rechtfertigung, welche die Behauptung stützt, dass

44 Zum Beispiel: John R. McNeill, William H. McNeill: The Human Web, New York: 2003; Christian David: Maps of Time, Berkeley 2004. 45 Amos Hawley: Human Ecology. A Theory of Community Structure, New York 1950. 46 William H. McNeill hat lange Zeit über wechselnde Zentren geschrieben: The Rise of the West, Chicago 1963. McNeill behauptet, dass Kontakt zwischen komplexen zivili- sierten Kernstaaten und Randgebieten oft von denjenigen begrüßt und gesucht wurden, die an der Peripherie lebten. Seine Sichtweise ist die, dass die Geschichte der mensch- lichen Gemeinschaft, der „Kommune“, gesehen wird in den Mustern von Kontakt, Interaktion, Austausch sowie der Entwicklung und Verlagerung von zivilisatorischen Zentren. Vgl. auch: Ders.: The rise of the West. A history of the human community, with a retrospective essay, Reprint, Chicago 2001. 47 Chase-Dunn, D. Hall: Rise and Demise (wie Anm. 14). Globalgeschichte und Weltsysteme 37

Weltsysteme eher als Einzelstaaten die richtige Analyseeinheit zur Erklärung der soziokulturellen Entwicklung der Menschen sind. Die Informationsnetzwerk-Theorie passt nicht recht zu den räumlichen Un- gleichheiten sozialkultureller Entwicklung. Die Innovationen, die Macht und Größe mit sich bringen, sind im Fluss. Staaten am Rand, die in der Lage sind, große Territorien zu erobern oder Netzwerke neu zu knüpfen und ihre räum- liche Ausdehnung auszuweiten, haben alte Zentren oft übertroffen. Dies ist bedingt durch zwei Faktoren. Wettbewerbserfolg hängt nicht nur davon ab, wo neue und adaptive Technologien, Ideen und Organisationsformen entste- hen. Es ist ebenfalls wichtig, welche Staaten in diese Innovationen investieren und sie implementieren. Innovationen entstehen oft außerhalb großer Netz- werkknoten. Neue Waffen, Militärtechnik und Religionen entstehen oftmals in peripheren oder halbperipheren Regionen.48 Aber es ist eher Implementierung als Innovation, die der wichtigere Aspekt ist, der das Phänomen der Entwick- lung an der Halbperipherie erklärt. Staaten in Gegenden der Halbperipherie implementieren oft Innovationen, die woanders entwickelt wurden. Das ist ein wichtiger Aspekt der Erklärung semiperipherer Entwicklung. Entwicklung an der Halbperipherie hat verschiedene Formen angenommen: Herrscher von Grenzmarken, von Stammesfürstentümern an der Peripherie, periphere von Stammesfürsten geführte Staaten, kapitalistische Stadtstaaten der Halbperipherie, die periphere und dann semiperiphere Stellung Europas im größeren afrikanisch-europäischen PGN, moderne Nationalstaaten der Halb- peripherie, die zur Hegemonie aufgestiegen sind (die Niederlande, das Verei- nigte Königreich und die Vereinigten Staaten) sowie zeitgenössische Völker an Orten der Halbperipherie, die sich an neuartigen und potenziell transformati- ven Bewegungen beteiligen und diese unterstützen. Es gibt verschiedene mögliche Prozesse, die zum Phänomen der Entwicklung an der Halbperipherie beitragen können. Randall Collins49 hat argumentiert, dass das Phänomen der Grenzmarken. die andere Staaten erobern, um größere Reiche zu schaffen, hauptsächlich auf einen „Vorteil der Grenzstaaten“ zurück- zuführen sei. Am Rande einer Kernregion konkurrierender Staaten zu liegen, gestattet mehr Manövrierfähigkeit, da es nicht notwendig ist, das Hinterland zu verteidigen. Dieser geopolitische Vorteil erlaubt es, militärische Ressourcen

48 Pekka Hamalainen: The Comanche Empire, New Haven 2008. 49 Randall Collins: Long term social change and the territorial power of states, in: Ders. (Hg.): Sociology Since Midcentury, New York 1981, S. 71–106. 38 Christopher Chase-Dunn u.a. auf verwundbare Nachbarn zu konzentrieren. Peter Turchin50 hat behauptet, dass der relevante Prozess derjenige sei, bei dem Gruppensolidarität dadurch verstärkt werde, dass man an einer „meta-ethnischen Grenze“ sei, an welcher der Zusammenstoß widerstreitender Kulturen in einer Grenzgesellschaft star- ken Zusammenhalt und breite Kooperation hervorruft, die ihr erlauben, gro- ße Waffentaten zu vollbringen. Caroll Quigley51 erarbeitete eine etwas andere Theorie, ähnlich den Arbeiten Arnold Toynbees. Ein anderer Faktor, der die Solidarität innerhalb von Gemeinwesen berührt, ist der unterschiedliche Grad interner Schichtung zwischen dem Zentrum und der Halbperipherie, der in vormodernen Weltsystemen gewöhnlich zu finden ist. Kernstaaten bringen alte, verkrustete und aufgeblähte Eliten hervor, die auf Söldner und „Fremde“ als Untergebene vertrauen, während Anführer der Halbperipherie oft charisma- tische Helden sind, die von ihren Soldaten und Staatsangehörigen stark unter- stützt werden. Weniger Schichtung ermöglicht oft größere Gruppensolidarität. Dies kann ein wichtiger Bestandteil des Vorteils der Halbperipherie sein. Aber Quigley schlägt darüber hinaus eine andere Art vor, wie die Völker halb- peripherer Regionen motiviert werden konnten, das Risiko neuer Ideen, Tech- nologien und Strategien auf sich zu nehmen. Staaten der Halbperipherie liegen oft in ökologisch marginalen Regionen, die schlechte Böden, wenig Wasser oder andere geographische Nachteile haben. Patrick Kirch vertraut bei seiner Beschreibung des Prozesses, in dessen Verlauf semiperiphere Herrscher oft Er- oberer sind, die im Pazifik Häuptlingstümer vereinigten, welche ganze Inseln umfassen, auf seine Idee der ökologischen Randständigkeit.52 Es ist gut möglich, dass all diese Merkmale zusammenkommen, um das zu ergeben, was Alexander Gerschenkron53 als „Vorteil der Rückständigkeit“ bezeichnet hat, die es einigen Staaten der Halbperipherie erlaubt sich zu transformieren und ihre Weltsysteme zu dominieren. Wie wir bereits gesagt haben, sagt die Hypothese von der Entwicklung der Halbperipherie aus, dass viele derjenigen Innovationen, die es Weltsystemen er- möglichen zu wachsen, komplexer und hierarchischer zu werden, von Völkern aus Gegenden der Halbperipherie entwickelt wurden. Darüber hinaus haben

50 Peter Turchin: Historical Dynamics, Princeton (NJ) 2003. 51 Carroll Quigley: The Evolution of Civilizations, Indianapolis 1961. 52 Patrick V. Kirch: The Evolution of Polynesian Chiefdoms, Cambridge 1984. 53 Alexander Gershenkron: Economic Backwardness in Historical Perspective, Cam- bridge 1962. Globalgeschichte und Weltsysteme 39 manche der semiperipheren Gemeinwesen in transformative Innovationen in- vestiert und Innovationen implementiert, die von Gesellschaften des Zentrums oder der Peripherie übernommen worden sind.54 Einige halbperiphere Staaten sind in Prozesse schneller innerer Klassenbil- dung sowie Staatenbildung involviert und sie haben keine großen Investitionen und Verpflichtungen gegenüber anderen Staaten. Sie machen die Dinge so, wie sie in früheren Kernstaaten gemacht wurden. Sie haben keine institutionell oder infrastrukturell versteckten Kosten. So sind sie freier, sich neu zu erfin- den, neue Institutionen zu implementieren und mit neuen Technologien zu experimentieren. Es gibt mehrere verschiedene wichtige Arten von Halbperipherien und sie transformieren Systeme nicht nur, sondern sie übernehmen sie häufig und wer- den die neuen hegemonialen Kernstaaten. Wir haben semiperiphere Herren der Stammesfürstentümer bereits erwähnt. Die Gesellschaften, die eine Anzahl kleinerer Stammesfürstentümer eroberten und sie zu größeren Stammesfürsten- tümern vereinigten, stammten gewöhnlich aus Gegenden der Halbperipherie. Völker der Peripherie besaßen normalerweise nicht die institutionellen und ma- teriellen Ressourcen, die ihnen erlaubt hätten, neue Technologien oder Orga- nisationsformen zu implementieren oder ältere Kernregionen zu übernehmen, obwohl es auch einige wohlbekannte aus „der Peripherie“ stammende Herrscher gab (z.B. die riesige Steppenkonföderation, die von Dschinghis Khan organi- siert wurde und die das Mongolenreich schuf). Es geschah hauptsächlich in der Halbperipherie, dass Sozialcharakteristika des Zentrums und der Peripherie eher auf neue Art und Weise kombiniert wurden, wo genug Ressourcen verfügbar waren, die es erlaubten, signifikant in transformative Instrumente zu investieren. Wesentlich besser bekannt als die halbperipheren, von einem mächtigen Anführer regierten Stammesfürstentümer, ist das Phänomen halbperipherer, von einem einflussreichen Herrscher regierten Staaten. Viele der größten Im- perien wurden von Eroberern geschaffen. die von der Peripherie stammten. Bekannte Beispiele sind die achämenidischen Perser, die von Philipp und

54 Es mag ein analoges Phänomen zur zwischenstaatlichen semiperipheren Entwicklung geben. Innerhalb von politischen Systemen, Organisationen wie Firmen, politischen Parteien und sozialen Bewegungen, die miteinander konkurrieren, können ebenfalls Aspekte der „Vorteile der Rückständigkeit“ zum Tragen kommen. 40 Christopher Chase-Dunn u.a.

Alexander geführten Makedonier, die Römer, die islamischen Kalifate, die Osmanen, die Mandschu und die Azteken.55 Aber einige Völker und Staaten der Halbperipherie transformieren zwar In- stitutionen, aber sie übernehmen nicht das zwischenstaatliche System, dessen Teil sie sind. Die kapitalistischen Stadtstaaten der Halbperipherie operierten vom Rande der tributären Imperien aus, wo sie Waren an weitgehend eigen- ständigen Orten kauften und verkauften und die Völker von nah und fern ermutigten, Überschüsse für den Handel zu produzieren. Die phönizischen Städte (z.B. Babylon, Sidon, Tyros, Karthago usw.) sowie Málaga, Venedig, Genua und die deutschen Hansestädte dehnten den Prozess der Kommerzia- lisierung durch die Produktion von Fertigwaren (alternativ: Fabrikwaren) und handelten mit ihnen über große Entfernungen hinweg. Einige Städte (z.B. Dilmun, Assur, der alt-assyrische Stadtstaat) spezialisierten sich sogar bereits während der Bronzezeit auf Fernhandel. Die kapitalistischen Stadtstaaten der Halbperipherie waren ein Mittel zur Entwicklung von Märkten sowie der Aus- dehnung von Handelsnetzwerken. So halfen sie dabei, die Welt der tributären Reiche in neue Kernstaaten zu verwandeln, ohne selbst zu solchen zu werden.56

55 Alexis Álvarez, E.N. Anderson, Elisse Basmajian, Hiroko Inoue, Christian Jawor- ski, Alina Khan, Kirk Lawrence, Andrew Owen, Anthony Roberts, Panu Suppatkul, Christopher Chase-Dunn: Comparing World-Systems: Empire Upsweeps and Non- core marcher states Since the Bronze Age, Presented at the annual meeting of the Ameri- can Sociological Association, New York, August 2013. 56 Im alten südwestlichen Asien und in Mesoamerika wurden bestimmte neutrale Ter- ritorien als internationale Handelsenklaven anerkannt. Diese „Handelshäfen“ (Anne C. Chapman: Port of trade enclaves in Aztec and Maya civilizations, in: Karl Polanyi, Conrad M. Arensberg, Harry W. Pearson: Trade and Markets in the Early Empires, Chicago 1957, S. 114–153) erlaubten internationalen Austausch, den Karl Polanyi als „administrierten Handel“ bezeichnete und der sogar in Zeiten des Krieges zwischen Staaten weiterlief. Die meisten dieser neutralen Territorien waren kleine Städte in der Nähe der Grenzen größerer Staaten. Sabloff und Rathje (Jeremy Sabloff, William J. Rathje: A Study of Changing Pre-Columbian Commercial Systems, Cambridge, Pe- abody Museum of Archaeology and Ethnology, 1975) fanden archäologische Beweise dafür, dass Cozumel (eine Insel nahe der Küste Yucatans) während des späten nach- klassischen Mesoamerika zwischen zwischen verschiedenen Funktionen hin und her pendelte. Zum einen war es ein „Handelshafen“ (ein neutrales Territorium, das für ad- ministrativen Handel zwischen konkurrierenden Staaten genutzt wird), zum anderen ein „Handelsposten“ (ein autonomes, souveränes Gemeinwesen, das aktiv eine Politik verfolgt, die profitablen Handel ermöglicht). Letzteres entspricht dem, was wir mit Globalgeschichte und Weltsysteme 41

Dies waren die ersten kapitalistischen Staaten, in denen die Macht des Staates primär dazu genutzt wurde, eher Profit als die Erhebung von Steuern und Tri- buten zu ermöglichen.57 Philippe Beaujard58 trägt das Argument vor, dass die Beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie oft eine gemeinsame Entwicklung beinhalten. Sogar wenn Ausbeutung und Dominanz des nicht zentralen Staates durch das Zent- rum auftreten, werden die Staaten in beiden Zonen verändert und entwickeln sich wechselseitig. In vielen Systemen Afro-Eurasiens und der Amerikas führte Interaktion zwischen Jägern und Sammlern sowie Bauern zur Entstehung von Gemeinwesen, die sich auf Pastoralismus spezialisierten.59 Einige der Hirten wurden von Kernstaaten ausgebeutet und dominiert, andere aber drehten den Spieß um und waren in der Lage, Ressourcen aus Agrarstaaten zu gewinnen.

Indikatoren der Zugehörigkeit zur Semiperipherie Die Settlement and Polities (EmpCit) Research Working Group am Institute for Research on World-Systems an der University of California-Riverside ver- wendet quantitative Schätzungen der Bevölkerungszahlen großer Städte sowie der territorialen Ausdehnung von Staaten, um „Aufschwungphasen“ zu iden- tifizieren, in deren Verlauf die Größe von Städten und Territorien signifikant zunimmt.60 Wir legen außerdem fest, wie viele der urbanen Aufschwungphasen sowie der Aufschwungphasen von Gemeinwesen, die so festgestellt werden, auf Aktivitäten halbperipherer oder peripherer Staaten zurückzuführen sind. Die- se Aufgabe erfordert eine größere Genauigkeit bezüglich dessen, was mit Lage an der Halbperipherie gemeint ist. Bestimmung von Zentrum und Peripherie

einem halbperipheren kapitalistischen Stadtstaat meinen. Sabloff und Rathje argumen- tieren auch, dass Handelsposten eher in einer Zeit entstehen, in der tributäre Staaten in derselben Region schwach sind, während ein Handelshafen in einer Zeit wahrscheinli- cher ist, in der große und mächtige Staaten existieren. 57 Christopher Chase-Dunn, Eugene N. Anderson, Hiroko Inoue, Alexis Álvarez, Lulin Bao, Rebecca Álvarez, Alina Khan, Christian Jaworski: Semiperipheral Ca- pitalist City-States and the Commodification of Wealth, Land, and Labor Since the Bronze Age, IROWS Working Paper # #79, 2013, http://irows.ucr.edu/papers/ irows79/irows79.htm (Zugriff 28.7.2016). 58 Beaujard: Indian Ocean (wie Anm. 12), S. 439. 59 Owen Lattimore: Inner Asian Frontiers of China, New York, Boston 21940; Barfield: Perilous Frontier (wie Anm. 20); Honeychurch: Nomad as State Builder (wie Anm. 20); Hamalainen: Comanche Empire (wie Anm. 48). 60 Hiroko Inoue u.a.: Polity scale shifts (wie Anm. 8). 42 Christopher Chase-Dunn u.a. ist ein Beziehungskonzept. Mit anderen Worten, was eine Lage in der Halb- peripherie ist, hängt von dem größeren Kontext ab, in dem sie auftaucht – dem Wesen der Staaten, die miteinander interagieren und vom Wesen ihrer Interaktion. Die allgemeinste Definition einer Lage in der Halbperipherie ist eine intermediäre Stellung innerhalb einer zwischenstaatlichen Zentrum-Peri- pherie-Struktur. Die Minimaldefinition von Zentrum-Peripherie-Beziehungen, ist, wie oben erwähnt, dass Staaten mit unterschiedlichen Graden der Bevölke- rungsdichte, der internen Hierarchie sowie Komplexität miteinander interagie- ren. Das ist es, was wir Zentrum-Peripherie-Differenzierung genannt haben. Wir suchen nach Beweisen dafür, dass ein Staat, der andere Staaten erobert hat, und der für einen Aufschwung verantwortlich ist, halbperipher gewesen ist, verglichen mit denjenigen Staaten, mit denen er interagiert hatte, bevor er mit den Eroberungen begann Alternativen zur Lage an der Halbperipherie sind die zentrale Lage und die Lag in der Peripherie. Kernstaaten sind gewöhnlich älter, gesättigter, verfügen über größere Ansiedlungen und sie haben die Merkmale (accoutrements) der Zivilisation, wie Schrift, länger besessen. Gesellschaften der Peripherie sind no- madische Jäger und Sammler oder Hirten, Völker aus Gebirgen oder Wüsten. Wenn sie sesshaft sind, sind ihre Siedlungen klein im Verhältnis zu denjenigen derer, mit denen sie interagieren. Wir haben bereits bemerkt, dass einige von Eroberern gelenkten Reiche von an der Peripherie gelegenen Staaten gebildet wurden. Andere Aufstiege von Gemeinwesen wurden verursacht durch Regie- rungswechsel in den alten Kernstaaten oder durch ältere Zivilisationen und Kulturen, die ein Comeback erlebten. David Wilkinsons61 Studie zu Zonen des Zentrums, der Semiperipherie und Peripherie von 13 zwischenstaatlichen Systemen ist hilfreich wegen des Vorschlags von Kriterien zur Unterscheidung dieser Zonen. Aber Wilkinson beschäftigt sich nicht mit der Frage, die wir hier stellen: Waren die Staaten, die Imperien und urbane Aufschwungsphasen ge- schaffen haben, der Halbperipherie zugehörig, bevor sie dies taten? Wir benutzen vier empirische Hauptindikatoren, um solche Festlegungen zu treffen: • geographische Lage des Staates, relativ zu anderen Staaten, die eine höhere oder niedrigere Bevölkerungsdichte haben. Ist dies abhängig von der Rand- lage in einer Region der Kernstaaten?

61 Wilkinson: Central civilization (wie Anm. 25). Globalgeschichte und Weltsysteme 43

• relatives Level der Entwicklung: Bevölkerungsdichte, die gewöhnlich angezeigt wird durch die Größe der Siedlungen, den relativen Grad der Komplexität und Hierarchie und den Modus der Produktion: z.B. wildbeuterische Lebenswei- se (foraging), Pastoralismus, Nomadentum vs. Sesshaftigkeit, Gartenbau vs. Landwirtschaft, die Größe von Bewässerungssystemen usw. Jäger und Samm- ler oder Hirten sind gewöhnlich peripher gegenüber sesshafteren Bauern • vergangene Zeit (hier: regency) seit der Anpassung an Sesshaftigkeit, Land- wirtschaft, Klassen- und Staatsbildung • relative ökologische Marginalität. Die Azteken (Mexica-Culhua) sind ein Beispiel für den Prototyp eines halbperi- pheren, von einem mächtigen Herrscher regierten Staates. Sie waren nomadische Jäger und Sammler, die in das Tal von Mexiko einwanderten und sich auf einer unbewohnten Insel in einem See ansiedelten. Es hatte im Tal von Mexiko bereits seit Jahrhunderten große Staaten und Reiche gegeben. Die Azteken heuerten in älteren Kernstaaten als Söldner an, entwickelten Klassenunterschiede zwischen Adligen und Gemeinen und behaupteten von den Tolteken abzustammen, ei- nem früheren Imperium. Dann begannen sie, die älteren Kernstaaten im Tal von Mexiko zu erobern, indem ihre Wahl strategisch zuerst auf die Schwachen und unpopulären fiel, bis sie genug Ressourcen angesammelt hatten, um das System „aufzurollen“. Die Geschichte der Azteken beinhaltet die meisten der Elemente, die wir benutzen, um unsere Fälle von Aufschwung zu untersuchen: Ein weiterer Indikator der Lage an der Halbperipherie ist, dass günstige Um- weltbedingungen relativ erwünscht sind. Gesellschaften des Zentrums besitzen gewöhnlich die besten Gegenden in Bezug auf Boden und Wasser. Staaten au- ßerhalb des Zentrums besitzen ökologisch marginale Gebiete. Die semiperi- pheren Häuptlingstümer des Pazifiks lagen typischerweise auf der trockenen Seite der Inseln, wo das Land versteppter war, es weniger oft regnete und der Boden dünner war.62 Eine andere Frage ist „halbperipher im Verhältnis zu was?“. Ein Staat kann unterschiedliche Beziehungen zu anderen Staaten innerhalb desselben

62 Aber ökologischer Vorteil und ökologische Marginalität stehen in Beziehung zu den Technologiearten, die verfügbar sind, um sich Ressourcen anzueignen. Langfristig ge- sehen, ermöglichte die Randlage der Azteken auf der Insel im Texcoco-See es ihnen, eine produktive Landwirtschaft großen Stils, basierend auf „Chinampas“ zu entwickeln (aufgeschüttete Felder, angelegt in den seichten Wassern des Sees, mit einem System von Kanälen zum Produkttransport per Kanu). 44 Christopher Chase-Dunn u.a. zwischenstaatlichen Netzwerks haben. Zum Beispiel hatte Athen eine Art von Beziehung zu den anderen griechischen Staaten und eine andere Art von Bezie- hung zum Perserreich. Die Lage an der Halbperipherie ist relativ zum System als Ganzes. Sie mag aber auch beeinflusst werden von bedeutenden Differenzen zwischen anderen Staaten in einem System sowie durch die Existenz verschie- dener Arten von Beziehungen mit jenen anderen Staaten. Philippe Beaujard63 macht in seiner Studie zur Entstehung von Weltsys- temen im Indischen Ozean guten Gebrauch vom Konzept der Lage an der Halbperipherie. Beaujard64 erwähnt Fälle, in denen die Entstehung regionaler Siedlungen, die das Hinterland mit Kerngebieten verbanden, ermöglicht wurde durch die Anwesenheit von Händlern und religiösen Eliten, die Migranten aus den Kernregionen waren. Beaujards Studie zur Entstehung ungleichen Handels zwischen den Swahili-Städten der Küste und dem Inneren des ostafrikanischen Festlandes stellt fest, dass Immigranten aus dem arabischen Zentrum dabei hal- fen, kommerzielle Verbindungen zu knüpfen, sie heirateten Angehörige lokaler Eliten und bekehrten Einwohner zum Islam. So trieben sie einen Prozess der Klassenbildung voran, der zur Entstehung eines halbperipheren Gemeinwesens entlang der Küste führte. Beaujard bekräftigt auch unser Argument, dass Inno- vationen manchmal in Gemeinwesen der Halbperipherie vorkommen.65

Forschungsergebnisse zur Veränderung der Größenordnung von Staaten und Siedlungen Die Forschungen des EmpCit verwenden Schätzungen von Stadtgrößen und der Größen von Imperien, um die verschiedenen regionalen Interaktionssysteme zu untersuchen und zu vergleichen.66 Wir ermitteln jene Fälle, in denen die Größe

63 Beaujard: Indian Ocean (wie Anm. 12). 64 Ebd., S. 442. 65 Ebd., S. 445. 66 Christopher Chase-Dunn, Thomas D. Hall, E. Susan Manning: Rise and Fall: East- West Synchronicity and Indic Exceptionalism Reexamined, in: Social Science History 24 (4), 2000, S. 727–754; Christopher Chase-Dunn, E. Susan Manning: City Systems and World-Systems: Four Millennia of City Growth and Decline, in: Cross-Cultural Re- search, 36 (4), S. 379–398; Hiroko Inoue u.a.: Polity scale shifts (wie Anm. 8); Hiroko Inoue, Alexis Álvarez, Eugene N. Anderson, Andrew Owen, Rebecca Álvarez, Kirk Lawrence and Christopher Chase-Dunn: Urban scale shifts since the Bronze Age: upsweeps, collapses and semiperipheral development, in: Social Science History, 39 (2), 2015. Globalgeschichte und Weltsysteme 45 von Gemeinwesen und Ansiedlungen stark zugenommen hat. Diese werden mit dem Begriff „Aufschwung“ bezeichnet.67 Wir haben auch Abschwünge und Zusammenbrüche ermittelt, die das Gesamtsystem betreffen und bei denen die größten Staaten oder Siedlungen unter das Niveau des vorherigen Tiefpunktes gefallen sind und sie sind länger auf diesem Level verblieben als ein typischer Zyklus andauert. Während wir festgestellt haben, dass der Niedergang einzelner Städte und Reiche Teil des normalen Zyklus von Aufstieg und Fall sind, gab es auch einige wenige Zusammenbrüche, die das Gesamtsystem betrafen und bei denen ein Abschwung nicht ziemlich bald von einer Erholung gefolgt wurde. Wir haben auch eine größere Anzahl von städtischen Zyklen im westlichen (zentralen) PMN als im ostasiatischen PMN festgestellt, was die übliche Auf- fassung unterstützt, dass der Westen weniger stabil war als der Osten. Unsere Erkenntnis, dass das zentrale PMN zwei urbane Zusammenbrüche durchlebte, während das östliche PMN zwar Abschwünge erlebte, aber keine Zusammen- brüche, unterstützt die Vorstellung von größerer Stabilität im Osten. Wir stellten darüber hinaus fest, dass neun der 18 urbanen Aufschwungsphasen durch Ent- wicklungen an der Halbperipherie zustande kamen und acht davon direkt durch eine Zunahme der Größe der Staaten hervorgerufen wurden oder auf eine solche folgten. Seit der Bronzezeit haben wir außerdem 22 Aufschwungsphasen der größ- ten Staaten in vier Weltregionen sowie im sich erweiternden zentralen PMN identifiziert und diese untersucht, um festzustellen, ob sie das Ergebnis der Eroberung durch einen Staat der Halbperipherie waren.68 Wir fanden heraus, dass über die Hälfte der Aufschwungsphasen von Staaten der Peripherie (10) oder der Peripherie (3) ausgegangen sind. Das bedeutet, dass die Hypothese von der Entwicklung der Halbperipherie zwar nicht alles erklärt in Bezug auf die Ereignisse, durch welche die Dimension von Staaten geographisch signifikant zunahm. Es bedeutet aber auch, dass das Phänomen der semiperipheren Entwicklung bei jeder Erklärung des Langzeit- trends bei Aufstieg und Fall von Staaten nicht ignoriert werden kann.

67 Hiroko Inoue u.a.: Polity scale shifts (wie Anm. 8); Hiroko Inoue u.a.: Urban scale shifts (wie Anm. 66). 68 Alexis Álvarez u.a.: Comparing World-Systems (wie Anm. 55). Der Datenanhang der Arbeit enthält eine Liste aller Aufschwünge der Imperien und unserer Begründungen dafür, welchen Fall wir berücksichtigt haben und welchen nicht: http://irows.ucr.edu/ cd/appendices/semipmarchers/semipmarchersapp.htm (Zugriff 28.7.2016). 46 Christopher Chase-Dunn u.a.

Schlussfolgerungen Wissenschaftler. die sich mit dem Weltsystem beschäftigen, argumentieren, dass das Weglassen der Größenordnung Zentrum-Peripherie ein gravierender Fehler sei, nicht nur aus Gründen der Vollständigkeit, sondern auch, weil die Fähigkeit der zentralen Eliten und ihrer Staaten, periphere Ressourcen und Arbeit auszu- beuten, ein Hauptfaktor bei der Entscheidung über Gewinner des Wettbewerbs unter den Anwärtern auf einen Platz im Zentrum gewesen ist und noch heute ist. Der Widerstand gegen Ausbeutung und Dominanz, geleistet von Völkern der Peripherie, spielte eine bedeutende Rolle bei der Ausgestaltung der histori- schen Entwicklung der Weltsysteme seit der Bronzezeit. Das bedeutet, dass das theoretische Forschungsprogramm zu den Welt- systemen noch in den Kinderschuhen steckt. Alternativen zu der oben vor- geschlagenen Methode der räumlichen Bindung von Weltsystemen müssen operationalisiert und gegeneinander abgegrenzt sein, um festzustellen, welche Methoden der räumlichen Abgrenzung die wirkungsvollsten zur Erklärung der Ereignisse sind, welche die Langzeittrends hin zu mehr Komplexität, Integrati- on und Hierarchie verursacht haben. Das Vorhaben zur genauen Schätzung der Größe von Siedlungen und Gemeinwesen erfordert weitere Arbeit. Die tempo- rale Auflösung muss verbessert werden, insbesondere in den beiden Amerikas. mit dem Ziel es zu ermöglichen, Aufschwungsphasen in der Art und Weise zu bestimmen, wie dies im Falle von Afro-Eurasien gemacht worden ist. Mehr Grö- ßenangaben von Siedlungen und Staaten, werden es ermöglichen, Veränderun- gen bei der Größenverteilung in Regionen zu erforschen sowie Behauptungen zu überprüfen, wonach eine Synchronität zwischen Regionen besteht. Geokodierte Daten zu Klimawandel, Kriegsführung, zu den Grenzen von Gemeinwesen und zu Handelsnetzen, werden es ermöglichen, die Gründe für „normale“ Auf- und Abschwungphasen ebenso zu untersuchen wie die weniger häufigen außerge- wöhnlichen Auf- und Abschwungphasen Die wissenschaftliche Erforschung der Entwicklung von Weltsystemen wird wichtige Auswirkungen haben auf Fragen nach der Verantwortung des Menschen für Klimawandel, ökologischen Verfall (ecological degradation), Bevölkerungsdichte, das sich verändernde Wesen des weltweiten Städtesystems, den Aufstieg und Niedergang hegemonialer Zentral- mächte, Übergänge von unipolaren zu multipolaren Machtsituationen, ebenso wie für Stabilität (resilience) und Systemzusammenbruch.

Übersetzung: Michael Bertram, Schellerten Andrea Komlosy Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte

2016 wurde Andre Gunder Franks „ReOrient. Global Economy in the Asian Age“ (1998) in deutscher Übersetzung veröffentlicht.1 Dies erfolgt in deutli- chem Abstand zum Original, das schon unmittelbar nach Erscheinen ins Chi- nesische (2000), Japanische (2001) und Koreanische (2003), übersetzt wurde. Dass das Werk nun auch auf Deutsch vorliegt, ist der beharrlichen Initiative der Übersetzerin, Ingrid von Heiseler, und der Ausdauer des Promedia-Verlags in Wien zu verdanken. ReOrient ist zu einem Schlüsseltext globalhistorischer Forschung geworden, der eine Reihe von zentralen Debatten und Entwicklun- gen ausgelöst hat. Um eine breitere Auseinandersetzung mit einem komplexen Themenfeld zu erleichtern, ist eine Übersetzung eine wesentliche Hilfestellung. Das Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe wird hier zum Anlass ge- nommen, die zentralen Thesen des Buches und seine Rezeption einer kritischen Darstellung zu unterziehen, vor allem aber seine Wirkung auf die weitere Ent- wicklung von Welt- und Globalgeschichte zu reflektieren. Die Zeitschrift für Weltgeschichte darf sich rühmen, Frank mehrmals als Autor gewonnen bzw. Übersetzungen seiner Werke veröffentlicht zu haben. Obwohl seine Jahre in Deutschland gezählt waren, blieb Frank zeitlebens deutscher Staatsbürger und bewahrte seine deutsche Muttersprache. Er blickte mit Stolz auf seinen Vater, den Pazifisten und Schriftsteller Leonhard Frank, der dem Sohn in dem auto- biographischen Roman „Links wo das Herz ist“ ein liebevolles Andenken setzte. Frank bettet ReOrient bereits einleitend in seinen Werdegang als Wissenschaft- ler und in die Entwicklung seines Analyserahmens ein, der ihn von der neoklassi- schen Ökonomie über die Dependenztheorie zur weltsystemischen Betrachtung geführt hat. Nach jahrelanger Übereinstimmung mit der eurozentrischen Pers- pektive, die mit dem Modell des „europäischen, kapitalistischen Weltsystems“ verbunden war, plädiert er in ReOrient für eine globalistische Erweiterung. Seine Bereitschaft zum Überdenken und Revidieren einmal eingenommener Positi- onen hat nicht zuletzt mit seinen biographischen Brüchen zu tun, angefangen mit der Flucht des kleinen Andreas aus dem Deutschen Reich (1933) über das

1 Andre Gunder Frank: ReOrient. Globalwirtschaft im Asiatischen Zeitalter. Übersetzt von Ingrid von Heiseler, Wien 2016. Dieser Beitrag beruht auf dem Vorwort von And- rea Komlosy. 48 Andrea Komlosy

Einreiseverbot in den USA (1965), der Vertreibung aus Chile nach dem Putsch gegen Allende (1973) bis zu der Schwierigkeit, mit einer dauerhaften Professur in der Wissenschaft zu Ansehen (und einer entsprechenden Altersabsicherung) zu kommen. Frank blieb zeitlebens ein Außenseiter, der sich durch geistige Beweg- lichkeit und den Hang zum Rebellentum auszeichnete. Er starb 2005, 76-jährig.2 Frank provozierte und polarisierte mit Leidenschaft. Dies half ihm, Zusammen- hänge auf den Punkt zu bringen und eine anerkannte Position als scharfer Denker zu erlangen, der außerhalb des universitären Establishments stand. Selbstkritik erschien ihm unerlässlich für Erkenntnis und Innovation. Seit Beginn der 1990er Jahre ist Frank zunehmend überzeugt, dass das Mo- dell eines „europäischen, kapitalistischen Weltsystems“, das er gemeinsam mit Immanuel Wallerstein, Samir Amin, Giovanni Arrighi und anderen als Ana- lyserahmen für die Erfassung globaler Ungleichheit entwickelt hatte, zu kurz greift. Er verfasst mehrere programmatische Aufsätze, in denen er den Vor- denkern des Weltsystem-Modells Befangenheit im eurozentristischen, linearen Entwicklungsdenken vorwirft: Selbst wenn sie die europäische Expansion kri- tisch deuten, verorten sie die Triebkraft für wirtschaftliche und gesellschaftli- che Modernisierung in (West-)Europa.3 Frank legt seine fundamentale Kritik des westlichen Eurozentrismus in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Weltge- schichte vor,4 der zusammen mit weiteren Beiträgen aus dem Spätwerk auch als Buch unter dem Titel „Orientierung im Weltsystem“5 erscheint. Es geht vielleicht noch an, sich gegen Max Weber und Karl Marx, Walt W. Rostow, Talcott Parsons oder Karl Wittfogel aufzulehnen. Wenn Frank jedoch gleichzeitig zum Frontalangriff gegen die eigenen Weggenossen bläst, die das weltsystemische Zentrum-Peripherie-Modell ja als Korrektiv gegen lineares

2 Gerald Hödl: Ein intellektueller Rebell. Zum Tod Andre Gunder Franks, in: Zeit- schrift für Weltgeschichte 7.1, 2006, S. 9–14. Vgl. auch Hannes Hofbauer, Andrea Komlosy: Andre Gunder Frank. Weltbürger und Vagabund. Ein Nachruf, in: Sozial. Geschichte 4, 2005, S. 135–139. Zu einem seiner letzten Auftritte vgl. Hans-Heinrich Nolte: Santiago di Campostela 2005, in: ZWG 7.1, 2006 S. 124–127. 3 Z.B. Andre Gunder Frank: The Modern World System Revisited: Re-Reading of Braudel and Wallerstein, in: Civilizations and World Systems, Hg: Stephen Sander- son, Walnut Creek (CA) 1995, S. 206–228. 4 Ders.: Geschichtswissenschaft und Sozialtheorie >reorientieren<, in: ZWG 5.1, 2004, S. 9–42 (übersetzt von Hans-Heinrich Nolte). 5 Ders.: Orientierung im Weltsystem. Von der Neuen Welt zum Reich der Mitte, mit einem Vorwort des Hg. Gerald Hödl, Wien 2005. Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte 49

Entwicklungsdenken formuliert hatten, muss er mit herber Kritik rechnen, auch mit Beleidigung und Enttäuschung. Frank spürt unterdessen, angeregt durch ein UNESCO-Projekt zur archäolo- gischen Erforschung der Kulturen an der Seidenstraße6, prähistorischen Zeiten nach: gemeinsam mit Barry Gills stellt er dem vor 500 Jahren entstandenen eu- ropäischen Weltsystem ein mindestens 5000 Jahre altes, mit der neolithischen Revolution begründetes Weltsystem entgegen, das von Anbeginn an weltum- spannend gewesen sei.7 Daraus wird eine für viele spitzfindig anmutende Bin- destrich-Diskussion, in der Wallerstein u.a. auf dem europäischen Weltsystem beharrt, das erst durch sukzessive Inkorporierungen von Außenarenen zu einem weltumspannenden System wurde, während Frank Weltsystem (ohne Binde- strich) als globalen Interaktionszusammenhang begreift.8 Dahinter verbirgt sich freilich ein unterschiedliches Set an Variablen, das für die Begründung von Sys- temzusammenhang herangezogen wird. Viele Historiker und Sozialwissenschaft- ler konnten oder wollten dieser breiten Konzeption von Weltsystem nicht folgen, während dieselbe in der archäologischen Forschung als Interpretationsangebot für Vergleich und Verbindung zwischen Fundstätten aufgegriffen wurde. Ob das Welt(-)system 500 oder 5000 Jahre alt ist, scheint für ein Buch über den Zeitraum von 1400 bis 1800 unerheblich. Franks Überzeugung, dass wir es zwischen 1400 und 1800 mit einem einzigen, weltumspannenden System von Austausch- und Finanzbeziehungen zu tun haben, ist allerdings von dieser langen Vorgeschichte nicht zu trennen. Der Systembegriff, der Arbeitsteilung als Ausdruck von Austausch begreift, während die Beschaffenheit von Produktions- und Arbeitsverhältnissen vor Ort dafür keine Rolle spielt, gibt die Variablen vor, die Frank seinem empirischen Vergleich von Daten aus Europa und Asien zu- grunde legt. Bevölkerungsdynamik, Handelsgüter und Handelsbilanzüberschuss deuten auf eine klare Häufung von gewerblicher und organisatorischer Kom- petenz, Komplexität und Kommodifizierung bei den asiatischen Partnern hin, sodass die These der führenden Rolle Europas in der sich verdichtenden Welt- wirtschaft der frühen Neuzeit nicht länger aufrecht zu erhalten ist. Daraus bastelt Frank ein globalhistorisches Narrativ, das dem sich zwischen dem 15. und dem

6 Ders.: Centrality of Central Asia. Comparative Asian Studies Nr. 8, Amsterdam 1992. 7 Ders., Barry Gills, (Hg.): The World Systems: Five Hundred Years or Five Thousand, London, New York 1993. 8 Ders: Immanuel and Me without a Hyphen, in: Giovanni Arrighi, Walter Goldfrank Hg., Festschrift for Immanuel Wallerstein. Journal of World-Systems Research VI/2, 2000, S. 216–231, http://jwsr.ucr.edu (8.1.2016). 50 Andrea Komlosy

18. Jahrhundert herausbildenden europäischen Weltsystem eine asiatisch ange- triebene Weltwirtschaft gegenüberstellt. Auf dieser empirischen Basis begründet er die Notwendigkeit, auch die Sozialtheorie zu „orientalisieren“. ReOrient schlägt große Wellen. Der renommierte Preis der amerikanischen World History Association 1999 zeugt von kollegialer Anerkennung. Eine Un- summe an Rezensionen spiegelt das große Interesse wider, dabei hagelt es aller- dings auch Widerspruch. Auch seitens der ehemaligen Mitstreiter der Gang of Four – Wallerstein, Arrighi, Amin und Frank – schlägt Frank scharfer, polemi- scher Wind entgegen, gegen den er kräftig zurückfaucht. Politische Rückendeckung erhält Franks Plädoyer, der Bedeutung asiatischer Regionen in der Frühen Neuzeit Rechnung zu tragen, durch die aktuellen Ver- änderungen in der Weltwirtschaft. Der (neuerliche) Aufstieg Asiens, insbeson- dere Indiens und Chinas zu global players, wird im Buch zwar nicht besprochen. Er bietet aber den Anlass, die Geschichte neu aufzurollen. Das Interesse für die historische Rolle asiatischer Regionen ergibt sich aus ihrem aktuellen Aufstieg zu Schwellenländern mit einer rapiden nachholenden Entwicklung. ReOrient ist von einer Konjunktur globalgeschichtlichen und entwicklungs- politischen Interesses getragen, das sich weder mit der orientalisierenden Cha- rakterisierung der asiatischen Reiche als „orientalische Despotien“ noch mit der Wallerstein’schen Einordnung als Außenarena zufrieden geben will. Dass Wal- lersteins große Erzählung „Das moderne Weltsystem“ bis 2011 nicht über das 18. Jahrhundert hinausging (und auch nach dem Erscheinen des 4. Bandes nicht auf die Inkorporierung Chinas eingeht), verschärfte den Erklärungsnotstand. ReOrient stößt in eine Lücke, denn jeder will wissen, was die Voraussetzungen dafür sind, warum das Wachstum der chinesischen Industrie alle anderen Län- der hinter sich lässt. Dass dieses Wachstum in den 1990er- und 2000er Jahren in Abhängigkeit von den alten Industrieländern und deren multinationalen Kon- zernen verlief, die arbeitsintensive Fertigung an Billiglohnstandorte auslagerten und Forschung, Entwicklung und Logistik an den high ends der Güterketten behielten, tat der Begeisterung – oder der Besorgnis – über die ostasiatische Dynamik keinen Abbruch. Es sollte nicht verwundern, dass Franks Thesen auch in Ostasien auf offene Ohren stießen. Regierungen sahen darin eine Bestätigung ihrer Bemühungen um nachholende Entwicklung und Modernisierung. In China passt die Erzählung einer nur vorübergehenden Unterbrechung his- torischer Größe gut ins offizielle Geschichtsbild. Auch Wissenschaftler in- und außerhalb Chinas, die schon seit langem die historischen Wurzeln der asiati- schen Stärke betont hatten, sahen sich in ihren Positionen bestätigt. Frank zeigt Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte 51 auch die Bedeutung der Reiche und Staaten in West-, Süd- und Südostasien im Rahmen einer multizentrischen, von asiatischen Entwicklungen bestimm- ten Weltwirtschaft auf. Osmanisches und safawidisches Reich, süd- und süd- ostasiatische Staaten gerieten allerdings viel früher und nachhaltiger unter den Einfluss westlicher Einflussnahme und Abhängigkeit, sodass Franks Erzählung dort nicht im gleichen Maße die nationale Identität zu bestätigen vermag. Zu- dem kollidiert die Jahrhunderte lange Eingebundenheit von Chinas Nachbarn in das chinesische Tributsystem mit dem Anspruch dieser Staaten auf nationale Souveränität. Japan steht in ReOrient gewissermaßen in Chinas Schatten, was der Rolle des Landes in der zur Debatte stehenden Periode durchaus entspricht. Das spä- tere Ausbrechen Japans aus dem Gleichgewicht des chinesischen Tributsystems wird nicht angesprochen. Durch die Ausklammerung der chinesisch-japani- schen Rivalität im späten 19. und 20. Jahrhundert, die ja nicht in den Untersu- chungszeitraum von ReOrient fällt, kann sich auch Japan in Franks Würdigung der historischen Größe Ostasiens einbezogen fühlen.

Die Debatte um die „Great Divergence“ Franks ReOrient bildete den Auftakt zu einer der zentralen historisch-sozialwis- senschaftlichen Debatten der Gegenwart, der Frage nach der „Great Divergence“, oder warum die starke Stellung Asiens an der Wende vom 18. zum 19. Jahr- hundert in europäische, zunächst britische, dann US-amerikanische Dominanz überging. Diese Debatte kann bis heute keine abschließende Antwort auf die Frage vorlegen, vereinigt sie doch sehr unterschiedliche Ansätze, die keineswegs alle mit Franks These einer bis ins 18. Jahrhundert währenden (ost)asiatischen Dominanz in einem damals schon bestehenden weltumspannenden Weltsystem übereinstimmen, die heute im Wiedererstehen begriffen sei. Was die Teilnehmer an dieser Debatte jedoch vereint, ist erstens die Ein- sicht, dass die westliche Vormacht nicht auf eine bis in die griechisch-römische Antike zurückreichende Tradition westlicher Überlegenheit zurückgeführt wer- den kann und zweitens, dass die asiatischen Gesellschaften den westlichen – abhängig vom Einsetzen kolonialer bzw. imperialistischer Vorstöße – bis um 1840 durchaus ebenbürtig wenn nicht in vieler Hinsicht überlegen waren. Die klassischen Erklärungsansätze für den (west-)europäischen Sonderweg, von der antiken Herleitung über die Bedeutung der feudalen Zersplitterung, der Tren- nung zwischen kirchlicher und staatlicher Macht, der Staatenkonkurrenz, der ständischen Beteiligung, von Humanismus, Aufklärung und Rationalität, die 52 Andrea Komlosy die europäische Vorherrschaft gegenüber den in Despotismus und Stagnation befangenen asiatischen Staaten über Jahrhunderte geprägt und gefestigt hatten, werden in ihrer Linearität und Zwangsläufigkeit zurückgewiesen.9 Schon allein die Frage nach der „Divergence“ gesteht den asiatischen Staaten eine bis zu diesem Moment gleichwertige, wenn nicht sogar führende Rolle in der Welt zu. Sie stellt in der Tat einen Großteil der Überzeugungen in Frage, die für das am Eurozentrismus ausgerichtete Geschichtsbild und Entwicklungsdenken konsti- tutiv waren. Dementsprechend waren und sind Auseinandersetzungen vorpro- grammiert, sofern diese – aufgrund von institutionalisierten Machtstrukturen in der Wissenschaft sowie der aus unterschiedlichen Denksystemen resultieren- den Kommunikationsbarrieren – überhaupt ausgetragen werden. Frank unter- zog etwa David Landes „Wohlstand und Armut der Nationen“ (1999)10 auf der Webseite von H-World11 einer schonungslosen Kritik und forderte Landes zu einer Debatte auf, die dieser nicht annahm. Wieso kam es nun aber im 19. Jahrhundert zur Auseinanderentwicklung, zu einer globalen Polarisierung zwischen West und Ost, Nord und Süd, die alle bisherigen Einkommensunterschiede hinter sich ließ und das westliche Modell zum Referenzrahmen für Entwicklung schlechthin machte? Die Suche nach Antworten auf diese Frage eröffnete sehr unterschiedliche Herangehensweisen. • Eine Herangehensweise bestand darin, die führende Rolle der asiatischen Wirtschaften und Gesellschaften und ihrer impulsgebenden Rolle für Ent- wicklungen in Europa, aber auch für Europas Rolle in der Welt, heraus- zuarbeiten. Dabei geht es auch darum, die Bedeutung Asiens im Zeitalter der westlichen Hegemonie nicht einfach zu negieren, sondern Auseinan- dersetzungen mit, Widerstand gegen und Arrangements mit kolonialer und imperialistischer Vereinnahmung in ihrem Eigensinn wahrzunehmen. Im Rahmen der „Great Divergence“-Debatte wurde das Augenmerk bisher vorwiegend auf das ökonomische Gewicht asiatischer Technik- und Gewer- bebeherrschung gelegt; es beginnt sich jedoch auf politische, geistige und

9 Eric Vanhaute: Making Sense of the Great Divergence. The Limits and Challenges of World History. Paper presented at the Weatherhead Initiative for Global History Semi- nar, Harvard University, Cambridge MA, November 2014, http://www.ccc.ugent.be/ file/293 (8.1.2016). 10 David Landes: Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 1999 (engl. 1998). 11 http://rrojasdatabank.info/agfrank/landes.html (8.1.2016). Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte 53

kulturelle Bereiche auszuweiten, wie beispielsweise Pankaj Mishra, der für sein „Aus den Ruinen des Empire“12 2014 mit dem Leipziger Buchpreis für europäische Verständigung ausgezeichnet wurde. • Die Frage nach Abstieg asiatischer und Aufstieg europäischer Regionen in der Weltwirtschaft blieb nicht auf die Frage des Positionswechsels und sei- ne Datierung beschränkt. Sie weitete sich zu einer globalhistorischen Frage aus, die einen längeren Zeithorizont, die regionale Differenzierung sowie den Einschluss auch von anderen Weltregionen anvisierte. Diesem Anliegen fühlte sich auch Frank verpflichtet. Während Frank durch seine Forschun- gen vor allem die Argumente für eine bereits vor Beginn der europäischen Expansion bestehende Vorherrschaft Asiens im Rahmen eines multizentri- schen Weltsystems, wie es Janet Abu-Lughod für das 13.–15. Jahrhundert skizziert hatte, die bis ins 18. bzw. 19. Jahrhundert währte, verfolgten andere AutorInnen einen graduellen Ansatz: Der europäische Westen erlangte sei- ne hegemoniale Rolle nicht erst im 19. Jahrhundert, sondern der Aufstieg erfolgte durch sukzessive Ausweitung seiner Macht- und Ressourcenbasis durch wirtschaftspolitische Maßnahmen und Staatsaufbau im Inneren sowie durch konkurrierende koloniale Expansion und Aneignung. Dieser Position hing auch Abu-Lughod an, wenn sie das von Europa seit dem 16. Jahrhun- dert global ausgreifende kapitalistische Weltsystem als Ablöse „ihres“ unter der Pax Mongolica gebildeten „Eurasische Weltsystems“ ansah.13 • Die Auseinandersetzungen mit der kolonialen Deformation muss in einer Region wie der Indischen, die schon im 18. Jahrhundert unter die Herr- schaft der britischen Ostindienkolonie kam, bevor sie 1857 als Kronkolonie in das Britische Reich eingegliedert wurde, anders ausfallen als etwa in China mit seiner langen Reichskontinuität, das erst im 19. Jahrhundert unter den Druck westlicher Interessen geriet, seine formale Selbständigkeit aber trotz militärischer Niederlagen und Konzessionen behielt. In der indischen His- toriographie steht deshalb die Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe im Zentrum der Debatte, während die Frage der „Great Divergence“ weniger unter den Nägeln brennt. Aus Indien kommen jedoch auch die Einwände der maßgeblich durch Ranajit Guha initiierten „Subaltern Studies“, die sich

12 Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empire. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens, Frankfurt/Main 2014. 13 Janet Abu-Lughod: Before European Hegemony. The World System A. D. 1250–1350, Oxford 1989. 54 Andrea Komlosy

nicht nur gegen das koloniale Erbe, sondern auch gegen dessen Funktiona- lisierung für die postkoloniale Herrschaftssicherung einsetzen.14 Eine solche herrschaftskritische Grundeinstellung setzt einer Verklärung vorwestlicher Größe klare Grenzen. • Ein zentraler Aspekt der „Divergence“ ist der Umschwung der Asienwahr- nehmung von Bewunderung zur Verachtung bis hin zur Dämonisierung. Das Bild des „asiatischen Despotismus“, der sich zwangsläufig aus der Not- wendigkeit ableite, das Funktionieren von Bewässerungssystemen durch eine Zentralmacht zu gewährleisten, hat sich seit Karl Wittfogel, Max Weber und Karl Marx fest in das westliche Asienbild eingegraben. China stand im Mittelpunkt. Staatsführung, Verwaltung, Infrastruktur, Erfindungsgeist und Gewerbekunst, die bis ins 18. Jahrhundert noch als Ausdruck von zivilisa- torischer Größe und Überlegenheit galten, kippten unter dem Primat der westlichen Definitionsmacht in Stagnation, Unfähigkeit zu moderner Ent- wicklung, ja Renitenz und wurden dementsprechend durch „zivilisatorische“ Eingriffe bekämpft, die das Land als Rohstofflieferant, Absatzmarkt und Tributquelle öffneten. Eigenständige kulturelle Werte und Entwicklungen konnten durch diese Brille nicht wahrgenommen werden; allein der Exo- tismus erlaubte die Quadratur des Kreises zwischen Verachtung und dem in gehobenen Kreisen wachsenden Interesse nach Orientalischem, Chinoi- serien und Japonerien in Schlössern und Salons. Die sich herausbildenden Kultur- und Raumwissenschaften lieferten dem Orientalismus die entspre- chende Legitimation. Gegenströmungen, die den Wert der asiatischen Kul- turen hochschätzten, verstummten niemals; im Zuge des wiederauflebenden Interesses an asiatischer Kultur erlebten sie eine Neuauflage. Die wichtigsten Anstöße erlebte die Kritik am Orientalismus aus dem arabisch-islamischen Raum.15 Aufgrund der vorwiegend wirtschaftswissenschaftlichen Ausrich- tung der bisherigen „Divergence-“ Debatte fanden (ökonomische)Periphe- risierungs- und (kulturwissenschaftliche) Orientalisierungsansätze bisher kaum zueinander.16

14 Ranajit Guha u.a. (1982–2005): Subaltern Studies I-XII Bde. 15 Edward W Said.: Orientalismus, Frankfurt/Main 1981 (engl. 1978). 16 Zur Bemühung, Peripherisierung und Orientalisierung in ihrer Wechselwirkung zu erfassen, vgl. Klemens Kaps, Andrea Komlosy: Centers and Peripheries Revisited. Polycentric connections or entangled hierarchies?, in: Review Fernand Braudel Cen- ter vol. 36/2, 2013 (2016 im Druck). Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte 55

Auch wenn verschiedene Ansätze vielfach unverbunden nebeneinander ent- wickelt werden, ist in den vergangenen Jahren eine intensive Auseinanderset- zung um die Rolle entstanden, die asiatische Regionen in der Phase der frühen europäischen Expansion spielten. Es wird vielfach unterschätzt, in welchem Ausmaß ReOrient einen Katalysator für diese Debatte darstellt, denn 20 Jahre später ist viel von dem, was damals Aufsehen erregte, in das Selbstverständnis globalhistorischer Forschung eingegangen. Man kann mit Fug und Recht be- haupten, dass Globalgeschichte eine Re-Orientierung erlebte. Die Darstellung der europäischen Expansion, die in den Anfängen des Interesses an außereuro- päischer Geschichte die Amerikas, Afrika und Asien in gleicher Weise als Opfer begriff, ist einer zeitlich, räumlich und sachlich differenzierenden Sichtweise gewichen, die der Eigenmächtigkeit und Widerständigkeit der Kolonisierten gerecht zu werden versucht. Im Falle West-, Süd- und Ostasiens wurde zudem die überlegene und auch für europäische Entwicklungen impulsgebende Rolle erkannt, die sich erst langsam in europäische Dominanz verkehrte. Die glo- balhistorische Publikationstätigkeit in den vergangenen Jahren spiegelt diesen Paradigmenwandel, der mit dem Übergang von der Expansions- zur Interakti- onsgeschichte einherging.17 Für Frank steht die Verbindung europäischer Kolonialwirtschaft in den Ame- rikas mit der ostasiatischen Zentralität in der Weltwirtschaft im Kern seiner glo- balistischen Analyse des „asiatischen Zeitalters“ zwischen 1400 und 1800: Erst das Silber aus den amerikanischen Bergwerken versetzte europäische Händler in die Lage, die begehrten asiatischen Spezereien und Gewerbeprodukte zu er- werben, die nicht nur ins europäische Mutterland eingeführt, sondern in an- dere europäische Staaten, Afrika und die Amerikas re-exportiert wurden. Die führende Rolle Chinas macht er an dessen Fähigkeit fest, in diesem Austausch einen überproportionalen Anteil des Weltsilbers anzusaugen, der zur Kommer- zialisierung der regionalen Märkte benötigt wurde. In der Frage nach den Ursachen der „Great Divergence“ legt Frank im 6. Kapitel ein klares Ablaufmodell vor. Kurz zusammengefasst, lautet dies: Die asiatischen

17 Peter Feldbauer, Andrea Komlosy: Globalgeschichte 1450–1820. Von der Expansi- ons- zur Interaktionsgeschichte, in: Hans-Carl Hauptmeyer u.a. (Hg.), Die Welt quer- denken. Festschrift für Hans-Heinrich Nolte zum 65. Geburtstag. Frankfurt/Main u.a. 2003, S. 59–94. Aus den umfangreichen Neuerscheinungen der letzten Jahre seien hervorgehoben: Ulrich Menzel: Die Ordnung der Welt, Berlin 2015; Hans-Heinrich Nolte: Weltgeschichte. Imperien, Religionen und Systeme 15.–19. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2006. 56 Andrea Komlosy

Wirtschaften stießen im Zuge des säkularen Trends, der ihnen zwischen 1400 und 1760 (Indien) bzw. 1840 (China) eine dynamische wirtschaftliche Entwick- lung erlaubt hatte (an dem europäische Staaten im Rahmen des Asienhandels mitnaschten), an eine zyklisch bedingte Expansionsgrenze, die innere Krisen und Stagnation auslöste. Diese Gelegenheit nützten die europäischen Staaten, allen voran Großbritannien, um auf Basis der Mechanisierung und des Fabrikwesens neue Standards für industrielle Konkurrenzfähigkeit zu setzen. Die Kontrolle des Weltmarkts basierte auf staatlichem Schutz für Binnenmärkte, der Eroberung von Absatzmärkten und der Kontrolle über Handels- und Finanzströme, sodass die Ressourcen und die Wertschöpfung in den einzelnen Teilregionen zur Finan- zierung der britischen Führungsmacht mobilisiert wurden.

Kritikpunkte und Fragen Franks Argumente lösten massive Debatten aus. Viele fanden sie verstörend und wiesen sie generell zurück. Auch KollegInnen, die selbst die Frage nach der „Great Divergence“ stellten, stellten Franks Entwurf in Frage bzw. unterzogen einzelne Bereiche der Kritik, die mehreren Ansätzen und Problemfeldern zu- zuordnen ist. Hier seien einige zentrale Kritikpunkte herausgegriffen und mit Franks Position kontrastiert. • Viele Kollegen bestreiten, dass die Handelsbeziehungen zwischen europäi- schen Staaten und China in der frühen Neuzeit überhaupt als System gefasst werden könnten: dafür wären sie viel zu geringfügig gewesen, der gegenseitige Einfluss sei marginal. Frank überschätze die Bedeutung der Silberflüsse.18 – Franks Ansicht beruht allerdings nicht so sehr auf bestimmten Quantitäten, die er von anderen Autoren übernimmt. Sein Systembegriff fußt auf der Tat- sache, dass in einem System kommunizierender Röhren auch kleine Bewe- gungen an einem Ort Folgewirkungen an einem anderen zeitigen können: das Silber habe im System des interkontinentalen Handels genau diese Ausschlag gebende Funktion.

18 Peer Vries: Should we really ReOrient?, in: Itinerario. European Journal of Overseas History (Leiden) XX, 3, 1998, S. 19–36. Vries verschärfte seine Kritik an Frank und der “California School” in weiteren Beiträgen sowie kürzlich umfassend in Peer Vries: Es- caping Poverty: Origins of Modern Economic Growth. Wien 2014; Immanuel Waller- stein: Frank Proves the European Miracle, in: Review Fernand Braudel Center XXII/3, 1999, S. 355–371. Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte 57

• Nicht einsichtig ist zudem, warum Asiens Abstieg nicht im Zusammenhang mit dem westeuropäischen Erstarken stehen sollte, wie Frank konsequent betont. Dies widerspreche seinem eigenen Anspruch, Entwicklungen in ver- schiedenen Weltregionen in ihren gegenseitigen Wechselwirkungen zu be- trachten.19 – Hierauf entgegnet Frank, dass weder Aufstieg noch Abstieg auf innere Dynamik zurückzuführen sei, sondern beides regionale Antworten auf Veränderungen im Gesamtsystem darstellten, die er auf zyklische Bewe- gungen zurückführt. Dann ist allerdings nicht stimmig, wieso Frank diese Position im Fall von Europa konsequent durchhält, bei Asien aber von einer „Gleichgewichtsfalle auf hohem Niveau“ ausgeht, also einer erfolgsbeding- ten inneren Barriere für weiteres Wachstum im späten 18. Jahrhundert, was westeuropäischen Akteuren schließlich die Gelegenheit für ihre nachholende Entwicklung bietet. • Es ist unübersehbar, dass Frank Europas endogene Faktoren, also seine ei- genen Beiträge zur Erlangung von Führungsmacht in der Weltwirtschaft, so klein wie möglich reden möchte. So kann er weder den inneren Entwicklun- gen in Westeuropa gerecht werden, die die Übernahme der dominierenden Rolle langfristig vorbereiteten, noch das auf globaler Flottenpräsenz beru- hende Geschick honorieren, eine geographisch und gewerblich marginale Position zu einer Drehscheibe des Welthandels mit asiatischen Waren zu verwandeln.20 – Hierauf bleibt Frank die Antwort schuldig. • Wenn zuerst der Niedergang Asiens eintreten muss und die langsame Vor- bereitung für den westlichen Aufstieg nicht berücksichtigt wird, erscheint der plötzliche Kompetenz- und Machtgewinn des Westens unplausibel. Der Übergang vom Handelskapital zum Industriekapital, das neue Anfor- derungen an den Staat stellt, vollzieht sich hinter dem Rücken des Lesers. Frank misst ihm offenbar keine Bedeutung bei. Giovanni Arrighis Einwand, den Austausch der Positionen zwischen asiatischen Reichen und westlichen

19 Giovanni Arrighi: The World According to Andre Gunder Frank, In: Review Fernand Braudel Center XXII/3, 1999, S. 327–354; Andrea Komlosy: Historischer Kapitalis- mus oder endlose Kapitalakkumulation im Weltmaßstab? Plädoyer für die Auseinan- dersetzung mit Andre Gunder Franks „Re-Orientierung im Weltsystem“, in: Sozial. Geschichte 2, 2006, S. 67–90. 20 Christopher Chase-Dunn: Periodizing the Thought of Andre Gunder Frank: From Underdevelopment to the 19th Century Asian Age, in: Journal of World-Systems Re- search 21, 1, 2015, S. 203–214, http://jwsr.pitt.edu/ojs/index.php/jwsr/issue/view/61; Wallerstein, Frank Proves the European Miracle, 1999, S. 370. 58 Andrea Komlosy

Staaten als lang andauernden Prozess anzusehen, der den gesamten Zeitraum zwischen 1600 und 1820 geprägt habe21, böte sich als ein Kompromiss, den Frank allerdings zurückweist. Wallersteins bitterböse Bemerkung, dass West- europas plötzlicher Höhenflug auf diese Weise eine Neuauflage des Sonder- wegarguments darstelle22, ist in erster Linie Polemik, ein Körnchen Wahrheit ist ihr jedoch nicht abzusprechen. Frank ist sich seiner Sache sicher, er legt im Nachfolgeband von ReOrient, den er nicht mehr fertig stellen konnte, sogar noch zu: Dort korrigiert er sein eigenes Timing für den Rollentausch zwischen Ostasien und Westeuropa, den er in ReOrient für China um 1820 ansetzt und schiebt den Zeitpunkt, zu dem die europäische Hegemonie in der Weltwirtschaft einsetzt, auf die Zeit nach 1860.23 Zudem streicht er heraus, dass auch unter der britischen Hegemonie die Leistungskraft der (direkt oder indirekt) beherrschten Regionen keineswegs endete, sondern dass die briti- sche bzw. westliche Kontrolle über Handels- und Finanzströme die Zentren in die Lage versetzte, ihre eigenen Defizite durch Überschüsse und Ausgleich globaler Handels- und Leistungsbilanzen zu finanzieren, während eigene wirtschaftliche und soziale Probleme in die Peripherien abgeschoben wurden. • Damit nähert sich Frank einer Periodisierung der Weltwirtschaft, die den klassischen Imperialismus (1870–1930) als ausschlaggebendes Moment in den Nord-Süd-Beziehungen ansieht. Er stimmt in der Zäsur 1870 aber nur vordergründig mit Wirtschaftshistorikern überein, die erst die Vervielfa- chung der internationalen Handels- und Finanzströme im Zeitalter des Im- perialismus als Beginn der eigentlichen „Globalisierung“ ansehen.24 Franks Verständnis von Globalisierung als einem Phänomen, das seit den jungstein- zeitlichen Austauschbeziehungen in Kraft war, steht einer solchen Datie- rung diametral entgegen. Es trifft sich allerdings insofern, als auch Frank die 1870er Jahre, als die Weltwirtschaftkrise Kapitalexport in Gang setzte und die Konkurrenz der westlichen Industriestaaten um koloniale Rohstoffmärk- te ankurbelte, als entscheidenden Moment in der Herausbildung der „Di- vergenz“ ansieht. Gleichzeitig wird das „Große“ an der „Great Divergence“

21 Arrighi: The World According to Andre Gunder Frank, S. 338. 22 Wallerstein: Frank Proves the European Miracle, S. 370. 23 Andre Gunder Frank: ReOrienting the 19th century: Global economy in the continu- ing Asian age, edited and introduced by Robert A. Denemark, afterword by Barry K. Gills, Boulder (Col) 2014. 24 Kevin O’Rourke, Jeffrey Williamson: Globalization and History. The Evolution of a Nineteenth-Century Atlantic Economy, Cambridge 1999. Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte 59

damit zu einer Folgewirkung aus einer zyklische Krise minimiert und damit jedes Pathos einer grundsätzlichen und endgültigen westlichen Überlegen- heit entkleidet. Zudem betont Frank in der Phase der britischen Hegemonie, auch als diese im 20. Jahrhundert an die USA überging, die Bedeutung der Wirtschaftsleistung asiatischer und anderer weltregionaler Peripheriegebiete und deren Umleitung zur Stärkung der Akkumulation in den Zentren. Für Frank ist die westliche Überlegenheit weniger der Ausdruck überragender ökonomischer Produktivität, die er auch in „ReOrient the 19th Century“ klein redet, sondern vielmehr das Resultat einer Hegemonie, die über die Kontrolle der entscheidenden Drehpunkte des globalen Karussells das welt- weite Mehrprodukt zum eigenen Vorteil ummünzen kann. Frank entwickelt zu diesem Zweck ein Modell kommunizierender Handels- und Finanzkreis- läufe und arbeitet die Mechanismen heraus, die diese über Börsen, Wäh- rung, Transport, Militär und Kommunikationskanäle beherrschen. • Ein gewichtiger Kontrahent des Frankschen Modells macht sich nicht die Mühe, Frank überhaupt zu erwähnen. Jürgen Osterhammel schließt die- sen offenbar pauschal in seine Ablehnung von „Big History“ und ein „auf Ganzheitlichkeit zielendes Schema“ ein, das er mit Weltsystemtheorie, His- torischem Materialismus oder soziologischem Evolutionismus verbindet.25 Osterhammel bleibt der historisch-empirischen Methode verpflichtet und verweigert sozialwissenschaftliche Modelle, Hypothesenbildung sowie In- terpretationen und kann somit als entschiedener Gegner von Franks gro- ßen Entwürfen angesehen werden. Auch Frank erwähnt Osterhammel nicht und schließt ihn somit nicht in den Kreis jener Historiker ein, die er des Eurozentrismus zeiht. Osterhammels Weltgeschichte des 19. Jahrhundert „Die Verwandlung der Welt“ (2009) ist ja geradezu eine Ausgeburt an Eu- ropaverehrung. Nicht ohne Kritik, widerständige Reste und Gegenerzählun- gen, versteht sich, aber durch die Anerkennung europäischer Dominanz in wirtschaftlicher, politischer, kultureller Hinsicht, die Osterhammel die Zeit zwischen 1770 und 1930 als „Jahrhundert Europas“ begreifen lässt. Verände- rungen, die von Europa ausgingen, zwangen alle anderen Weltregionen, sich mit diesen Herausforderungen auseinanderzusetzen. Da Frank nicht mehr lebte, als Osterhammels Weltgeschichte des 19. Jahrhundert erschien, können wir seine Meinung nicht ergründen. Betrachten wir jedoch Osterhammels

25 Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhun- derts, München 2009, S. 18. 60 Andrea Komlosy

Buch über Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, „Die Ent- zauberung Asiens“ (1998)26, das zeitgleich mit ReOrient erschien, gibt es gu- ten Grund zur Annahme, dass er es, hätte er das Buch denn zur Kenntnis genommen, positiv rezipiert hätte. Denn Frank hatte großen Respekt vor der empirischen Forschung und bezog sich – sehr zur Überraschung vieler KollegInnen – wiederholt positiv auf Leopold von Ranke und dessen metho- dischen Grundsatz „wie es wirklich gewesen ist.“ Da Osterhammel die hohe Differenziertheit der chinesischen Kultur und die Bewunderung hervorhob, die diese in all ihren Facetten bei den europäischen Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts hervorrief, könnte Frank ihn als einen Verbündeten in der Re- habilitierung Chinas gegen die Diffamierung als „asiatischer Despotismus“ ansehen. Vor diesem Hintergrund ist Osterhammels Einschätzung der Wen- de zu einer Europäisierung der Welt im 19. Jahrhundert auch als sein Beitrag zur „Great Divergence“-Debatte zu begreifen, die sich ganz im Sinne Franks gegen die Überschätzung europäischer Führungsmacht vor dem 19. Jahrhun- dert begreifen lässt. Schade, dass sich die Verfasser der Standardwerke über die Rolle von China und Europa im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert nicht aufeinander eingelassen haben. Ein Stück weit ist Franks konsequente Verweigerung, europäischen Akteuren Handlungsmacht zuzugestehen, vor dem Hintergrund seiner Kritik am Euro- zentrismus zu verstehen. Er schießt mit dem Kleinreden europäischer Akteure und der Verortung von Handlungsmacht in Asien jedoch über das Ziel hin- aus. Das Werk ist im Rahmen der Kraftanstrengung zu begreifen, die notwen- dig ist, um fixe Annahmen und fest in Denkmustern und Sprachstrukturen Eingeschriebenes in Frage zu stellen. Dafür darf wohl ein wenig Übertreibung eingesetzt werden. Bei der Lektüre ist es hilfreich, die Einwände der Kritiker mit zu bedenken und sich ein eigenes Bild zu machen. Das ist wahrscheinlich genau das, was Frank bewirken wollte. Fast 20 Jahre nach Erscheinen des Ori- ginals erübrigt es sich ohnehin, bei Franks Interpretationsangebot zu verweilen. Vielmehr gilt es, das Werk im Kontext eines sich wandelnden Asienbildes zu begreifen, zu dessen Befreiung aus eurozentristischer Umklammerung Frank maßgeblich beigetragen hat.

26 Ders.: Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhun- dert, München 1998. Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte 61

Ein ostasiatischer Sonderweg? Frank konnte bei seinen Bemühungen, eine Asien ernstnehmende Perspektive einzunehmen, an eine Reihe von westlichen, vor allem auf Englisch publizie- renden Kollegen anknüpfen, deren Erkenntnisse er in seine Argumentation einbaute. ReOrient bietet einen konzisen Überblick über die Literatur, zu der er sich stark wertend in Beziehung setzt. Er zieht auch chinesische, japanische und indische Forscher zu Rate, die in der westlichen Sozialwissenschaft wenig rezipiert wurden – vorausgesetzt ihre Werke sind auf Englisch verfügbar. Denn Frank las und sprach zwar fließend Englisch, Deutsch, Spanisch, Portugiesisch, Französisch und Italienisch, darüber hinaus musste er auf die in diesen Spra- chen verfügbare Sekundärliteratur vertrauen. Hervorgehoben, neben vielen anderen, seien hier Kirti Chaudhuris „Asia before Europe“ (1990), Takeshi Hamashitas ostasiatisches Tributsystem (1994) und Kaoru Sugiharas Konzept eines asiatischen Entwicklungswegs arbeitsintensiver Industrialisierung (1996, 2003), die Franks Modell Pate standen. Kirti Chaudhuri27 war einer der Ersten, der das Terrain für die technologisch und qualitativ führende Rolle der asiatischen Textilerzeugung aufzeigte, die von den großen europäischen Handelskompagnien der Briten, Holländer und Franzosen zunächst in die weltweiten Handelsströme eingespeist wurde, bevor europäische Produzenten die Initiative ergriffen, die industrielle Wertschöp- fung durch Importsubstitution an sich zu ziehen. Zu diesem Zweck mobili- sierten die Industriellen ihre Regierungen zu merkantilistischen Maßnahmen zum Schutz von Binnenmärkten sowie zur Verdrängung der asiatischen Waren von den Weltmärkten. Frank konnte also auf langjährige Forschungen auch anderer indischer Kollegen zurückgreifen, wenn er seine These der Industri- ellen Revolution als eine Maßnahme der Substitution und Verdrängung asia- tischer Produzenten aufstellte. In dieser Erzählung standen das Verhältnis der Engländer als Händler, Verleger und der schließliche Wandel zur Übernahme administrativer und politischer Macht auf dem indischen Subkontinent im Mittelpunkt des Geschehens. Chaudhuri lieferte Frank auch Argumente für die Suche nach kapitalistischen Praktiken in der asiatischen Gewerbeproduktion, wofür er insbesondere die chinesische Seidenindustrie mit ihren differenzierten Arbeitsmärkten heranzog.

27 Kirti Narayam Chaudhuri: Asia before Europe. Economy and Civilisation of the In- dian Ocean from the Rise of Islam to 1750, Cambridge 1990. 62 Andrea Komlosy

Takeshi Hamashita28 inspirierte Frank in Bezug auf das ost- und südost- asiatische Tributsystem, in dem China im Zentrum verschiedener Handels-, Tribut-, Redistributions- und Austauschbeziehungen stand, die aus dem chi- nesischen Reichverständnis her im Prinzip die gesamte Welt - „alles unter der Sonne“ – einschlossen. Die darauf begründete ostasiatische Zentralität in der Welt schöpfte ihre Stärke nicht – wie das europäische System der christlichen Staatenwelt – aus Konkurrenz, Expansionsdrang und Hegemonie, sondern aus der Inklusion sämtlicher Interaktionspartner (und solcher, die es noch werden konnten) in die Logik des eigenen, chinesischen Verständnisses von Oberherrschaft in einer multizentrischen Welt. Darüber hinaus übertrug Frank die Mechanismen des ostasiatischen Tributsystems auf sein Modell des einen Weltsystems: es half ihm, den europäischen Kolonialismus in den Amerikas als eine Maßnahme anzusehen, die aus der Perspektive indischer oder chinesischer Gewerbeproduzenten Absatz und aus der Perspektive der asiatischen Herrscher Edelmetalle zur Prägung von Silberwährung bereitstellten. Nun lässt sich ein- wenden, dass die Conquista in Südamerika nicht in der Logik der chinesischen Inklusionsphilosophie verstanden werden kann und auch keineswegs deren Muster folgte. Gleichzeitig ermöglichte die chinesische Perspektive Frank, die Silberproduktion nicht ausschließlich aus der Erwartungshaltung europäischer Herrscher, sondern in den Kontext der globalen Handelsströme einzuordnen. Kaoru Sugihara29 führt den weltweiten Erfolg der asiatischen Gewerbepro- dukte, allen voran der Seiden- und bedruckten Baumwollstoffe, die im 17. und 18. Jahrhundert mithilfe westlicher Handelsgesellschaften auf fast allen Märkte gelangten, auf die Fähigkeit zur Mobilisierung von Arbeitskraft zurück. Dass diese kostengünstig zur Verfügung stand, war der Einbindung in die familiären Haushalte geschuldet, die Versorgung mit Lebensmitteln und soziale Repro- duktion ohne Kosten für den Auftraggeber bereitstellten. Dadurch waren die

28 Hamashita Takeshi: The Tribute Trade System and Modern Asia, in: Japanese Industri- alization and the Asian Economy, Hg. A. Latham, Heita Kawakatsu, London, New York 1994. 29 Kaoru Sugihara: The European Miracle and the East Asian Miracle: Towards a New Global Economic History, in: Osaka University Economic Review 12, 1996, S.: 27–48; Ders: The East Asian Path of Economic Development: A Long-Term Perspective, in: The Resurgence of East Asia: 500, 150 and 50 Year Perspectives, ed. Giovanni Arrighi et al. London 2003, 78–123; Ders.: (Hg.): Japan, China, and the Growth of the Asian International Economy, 1850–1914, Oxford 2005. Frank ging erst in „ReOrienting the 19th Century“ ausführlich auf Sugihara ein. Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte 63

Lebenshaltungskosten so gering, dass die ArbeiterInnen trotz niedriger Löhne auf einem Niveau lebten, das mit westeuropäischen Kollegen mithalten konnte, wenn es diese in Sachen Lebensqualität und Zufriedenheit nicht sogar übertraf. Eine Notwendigkeit zum Einsatz Arbeit sparender Kraftmaschinen war unter diesen Umständen nicht gegeben und kann somit auch nicht als ein Defizit des asiatischen Entwicklungsweges angesehen werden. Sugihara führt die po- sitive Bewertung der arbeitsintensiven Industrialisierung auch in der Zeit des 19. Jahrhunderts fort, als die asiatischen Industrieprodukte durch die westeu- ropäischen Fabrikwaren von den Weltmärkten verdrängt wurden, die daraus resultierenden Anpassungen der asiatischen Produzenten jedoch die Verfügbar- keit billiger Arbeitskräfte weiterhin als Konkurrenzvorteil einsetzen konnten. Der Wiederaufstieg Ostasiens als Standort erfolgreicher industrieller Massen- produktion am Ende des 20. Jahrhunderts fügt sich in die Argumentation ein. Da ReOrient 1998 erscheint, kann Frank Kenneth Pomeranz „The Great Di- vergence“ (2000) in seinen Literaturüberblick noch nicht aufnehmen. Er weiß allerdings bereits um Pomeranz‘ Forschungen, die beim Vergleich englischer und chinesischer Industrieregionen an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhun- dert zum Ergebnis einer „überraschenden Ähnlichkeit“ kommen und zitiert ein Manuskript aus 1997.30 Obwohl Pomeranz und Frank sehr unterschiedliche Herangehensweisen pflegen, werden die beiden, zusammen mit Jack Goldsto- ne, Roy Bin Wong und anderen, die ebenfalls zur Stellung Chinas im Weltsys- tem forschen, unter der Bezeichnung „California School of Economic History“ subsumiert.31 Frank lebt zu dieser Zeit im „Ruhestand“ ohne institutionelle Anbindung in Toronto, wo ihn seine zweite Ehefrau aufnimmt, und schließlich mit Alison Candela, seiner letzten Gefährtin, in Luxemburg. Er wird, ohne ihr wirklich anzugehören, einer Strömung zugerechnet, die sich um die University of California, Irvine, bildet, an der Pomeranz 20 Jahre lang lehrte. Frank selbst ist nicht Schulen bildend, verfügt über keine Buchreihen und Zeitschriften, erzielt jedoch als noch dazu unbequemer Einzelkämpfer er- staunliche Wirkung. Er nützt das Internet, um rasch auf Neuerscheinungen

30 Frank rezensiert Pomeranz’ Great Divergence enthusiastisch, in: Journal of Asian His- tory (2001) sowie in: ZWG 4.2. (2003), S. 141–143. 31 Hans-Heinrich Nolte: Kolonialismus und China, in ZWG 1.1, 2000, S. 113–115; vgl. Ders.: China. the >California School< in Michael Gehler, Xuewu Gu, Andreas Schimmelpfennig (Eds.): EU – China, Hildesheim 2012, S. 15–26. Zu aktueller Kritik an dem Konzept R. Bin Wong: The early modern foundations of the modern world. Review-Article, in: Journal of Global History, 11.1 (March 2016), S. 135–146. 64 Andrea Komlosy oder Debattenbeiträge reagieren zu können. 1996 tragen zahlreiche Größen der Weltsystemforschung, darunter auch Wallerstein mit einem Vorwort, über theoretische Kontroversen hinweg zur Festschrift „The Underdevelopment of Development: Essays in Honor of Andre Gunder Frank“ bei, die auch eine Bibliographie seiner Publikationen 1955–1995 enthält.32 Nach seinem Tod organisieren Patrick Manning und Kollegen des World History Networks in Pittsburgh eine Konferenz zur Auseinandersetzung mit Franks Lebenswerk, “Andre Gunder Frank’s Legacy of Critical Social Science” (2008).33 Und 2014 veranstaltet das Journal of World-System Research ein Review Symposion anläss- lich des posthumen Erscheinens der von Robert Denemark edierten Manu- skripte zum ReOrient-Nachfolgeband „ReOrienting the 19th Century“.34 Frank hat sich in der Globalgeschichte- und Weltsystemforschung einen pro- minenten Platz erobert. In dem Maße, in dem das Interesse an Chinas zukünf- tiger Rolle im Weltsystem zunimmt, stößt seine ReOrient-Botschaft auf mehr Gehör. Giovanni Arrighi, 1999 noch erklärter Kritiker des Frank’schen Revisi- onismus, widmet dem Freund und Kollegen sein Alterswerk „Adam Smith in “ (2007).35 Anders als Frank, für den die sich abzeichnende Verlagerung der Zentralität nach China kein Ende der Kapitalakkumulation bedeutet, be- zieht Arrighi aus der nicht expansiven historischen Rolle Chinas im Umgang mit Randprovinzen und benachbarten Staaten die Hoffnung, China könnte nach dem Ende des historischen Kapitalismus zum Kristallisationspunkt einer multizentrischen postkapitalistischen Weltwirtschaft werden. Diese Position ist mit den Erklärungen der chinesischen Regierung weit kompatibler als jene Franks, der stets Distanz behält. Bei genauerem Hinsehen erweist sich der vielfach vorgebrachte Einwand, Frank ersetze Eurozentrismus durch Sinozentrismus, als nicht stichhaltig. Die Betonung der historischen Zentralität sowie deren aktuelle Rückkehr nach Ostasien erwecken zeitweise den Eindruck, Frank gehe es um China. Mitun- ter scheint er dies auch selbst zu glauben. Tatsächlich ist Frank, wie er nicht

32 Sing Chew, Robert Denemark Hg.: The Underdevelopment of Development: Essays in Honor of Andre Gunder Frank, Thousand Oaks (CA) 1996. 33 Patrick Manning, Barry K. Gills (Hg.): Andre Gunder Frank and Global Develop- ment: Visions, Remembrances, and Explorations, London 2011. 34 Review Symposion on Andre Gunder Franks ReOrienting the 19th Century: Global Economy in the Continuing Asian Age. Journal of World-Systems Research, Volume 21, 1, 2015, http://jwsr.pitt.edu/ojs/index.php/jwsr/issue/view/61 (8.1.2016). 35 Giovanni Arrighi: Adam Smith in Beijing. Lineages of the 21st Century, London 2007. Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte 65 müde wird zu betonen, ein Globalist, oder mit den Worten von Albert Berge- sen: ein Globologe.36 Noch mehr als China will Frank das Weltsystem – sein 5000 jähriges Weltsystem – als einen Interaktionszusammenhang etablieren, der den einzelnen Weltregionen den Weg vorgibt, egal ob es sich um die USA handelt, die das 20. Jahrhundert, Großbritannien, das das 19. Jahrhundert, oder Ostasien, das bis 1800 die führende Stellung in der Weltwirtschaft inne- hatte und heute drauf und dran ist, diese wieder zu erobern. ausschlaggebend für die jeweilige Hegemonie ist die Fähigkeit, den durch Handels- und Fi- nanzbeziehungen (Währung, Schulden und Kredit), politische Einflussnahme und Fremdherrschaft verbundenen Weltregionen Werte zu entziehen, die zur Festigung eigener Führungsmacht eingesetzt werden.37 Frank wendet sich gegen die Universalisierung der europäischen Erfahrung, ist dem Universellen jedoch nicht grundsätzlich abhold: er ortet es nicht in ei- ner Region oder Kultur, sondern im Systemcharakter der Weltwirtschaft. Diese Weltwirtschaft ist für ihn in erster Linie das Produkt langfristiger säkularer Wel- len und Konjunkturzyklen mit ihrer Abfolge expansiver und kontraktiver Pha- sen. Jede zyklisch bedingte Veränderung der Rahmenbedingungen wirkt sich auf das Verhältnis der Regionen und ihre Rolle im Gesamtsystem aus. Hier ent- steht eine Manifestation des Globalen, die als Weichen stellende Konstellation jenseits einzelner Zentrismen wirksam ist. Ohne die Bedeutung von politischer Aktivität und Widerstand zu negieren, schreibt Frank den Wechsel im Macht- gefüge der Weltwirtschaft den zyklischen Bewegungen zu, die den Rahmen für Aufstieg, Sieg, Reife und Abstieg einzelner regionaler bzw. staatlicher Akteure darstellen. Dabei kombiniert er - genau genommen in Anlehnung an Fernand Braudel, den er in ReOrient so schilt, dass er ihn nicht gleichzeitig als positive Referenz anführen kann – drei Arten von Zeiten, nämlich die langfristigen säku- laren Wellen, die (an Kondratieff angelehnten) Wirtschaftszyklen oder „langen Wellen“, deren Zusammentreffen mit kurzfristigen Ereignissen entscheidend für globale Positionsverschiebungen ist.38

36 Albert Bergesen: World-System Theory After Andre Gunder Frank, in: Journal of World-Systems Research 21, 1, 2015, S. 150, http://jwsr.pitt.edu/ojs/index.php/jwsr/ issue/view/61. 37 Andrea Komlosy: Historischer Kapitalismus oder endlose Kapitalakkumulation im Weltmaßstab? Plädoyer für die Auseinandersetzung mit Andre Gunder Franks „Re- Orientierung im Weltsystem“, in: Sozial.Geschichte 2, 2006, S. 87. 38 Trotz aufmerksamen Bemühens war es der Verfasserin nicht immer möglich, die ver- schiedenen Arten von Zyklen im Text klar auseinander zu halten. 66 Andrea Komlosy

Die säkulare Welle, die seit 1400 Asien in eine die Dynamik der Weltwirt- schaft bestimmende Position gebracht hat, strahlte auch auf Europa aus und in- itiierte dessen transatlantische Expansion. Aus europäischer Perspektive musste die eigene Expansion dominant erscheinen und konnte als Beginn eines „eu- ropäischen Weltsystems“ gedeutet werden. Aus globalistischer Perspektive fügt sich die westeuropäische Globalisierung in ein Muster ein, dessen Triebkraft Frank in Asien verortete. Trotzdem ging es Frank nicht um Asien, sondern um die Zyklenbewegung des Weltsystems. Er nährt damit den Vorwurf des ökono- mischen Deterministen, zum Sinozentristen wird er jedoch nicht. Dass es Frank nicht primär um Asien ging, wird auch aus seiner Vernachläs- sigung der regionalen Kräfteverhältnisse in Ostasien deutlich. Obzwar bereits außerhalb des Zeithorizonts von ReOrient, interessiert Frank – ebenso wie die Kollegen der California School – vor allem die Umkehrung im Verhältnis von China zum Westen. Dabei übersieht er eine wesentliche Änderung der Kräf- teverhältnisse in Ostasien, nämlich die Aufkündigung der chinesischen Füh- rungsrolle im Rahmen des ostasiatischen Tributsystems durch Japan. Nachdem Japan sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert aus westlicher Abhän- gigkeit befreite, ein Industrieland nach westlichem Muster wurde und sich als moderne Nation definierte, beanspruchte es eine gleichrangige Rolle mit den europäischen Großmächten im internationalen Staatensystem. Dies ging auf Kosten des regionalen Gleichgewichts und der regionalen Integration unter chinesischer Hegemonie und führte in die chinesisch-japanischen Kriege, die Annexion Taiwans, Koreas und der Mandschurei, den Aufbau der japanischen Großraumwirtschaft und – nach deren Scheitern – die militärische Indienst- nahme durch die USA im Kalten Krieg.39 Ein Buch über die Zeit 1400–1800 braucht all dies nicht zu behandeln. Es vernachlässigt damit allerdings die Tatsache, dass der aktuelle Wiederaufstieg Ostasiens, auf den die historische Einordung Bezug nimmt, aufgrund der chinesisch-japanischen Rivalität um re- gionale Vorherrschaft nicht bruchlos an die einst friedliche Einheit anknüpfen

39 Sepp Linhart: Ostasiens Bedeutung für die Welt des 20. Jahrhunderts, in: Ders., Su- sanne Weigelin-Schwiedrzik (Hg.): Ostasien im 20. Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft, Wien 2007, S. 22–44; Wolfgang Schwentker: Die historischen Vorausset- zungen „erfolgreicher“ Modernisierung. Japan 1600–1900, in: Linhart/Weigelin-Schwie- drzik (Hg.): Ostasien 1600–1900. Geschichte und Gesellschaft, Wien 2004, S. 245–267; Susanne Weigelin-Schwiedrzik: Hierarchy and Equality in East Asian Relations. Paper presented at the Taiwanese-Austrian Symposium on Equality: Taiwan in Context, Tai- wanese Studies Center, National Chengchi University, February 24–28, 2016. Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte 67 kann. Und der Westen hat mit Japan, Südkorea und Taiwan Verbündete in der Region, die den Wiederaufstieg Chinas als massive Bedrohung ihrer eigenen Ambitionen erscheinen lässt.

Kapitalismus – ein eurozentristisches Konzept Eine Irritation in der Wahrnehmung des späten Frank stellte seine dezidierte Absage an den analytischen Wert der Kategorie „Kapitalismus“ dar. „Deshalb ist es viel besser, wenn man den Gordischen Knoten des „Kapitalismus” ganz und gar durchschneidet. Chaudhuri (1990: 84) drückt das gut aus, indem er unter dem Titel Asia Before Europe schreibt: . Am besten vergessen wir das also und fahren mit unserer Untersuchung der Realität der Universalgeschichte fort“40, schluss- folgert Frank in ReOrient und hinterlässt bei den LeserInnen Verunsicherung. Frank war spätestens nach dem Erfolg von „Kapitalismus und Unterentwick- lung in Lateinamerika“ (1968) als pointierter Kritiker des globalen Kapitalis- mus geschätzt und gefürchtet gewesen. Mit der Abwendung vom europäischen Weltsystemmodell geriet bei ihm der Begriff des Kapitalismus ins Wanken. Dieser war im 19. Jahrhundert zur Beschreibung und Erklärung von Mechanis- men der Wertschöpfung durch Aneignung von Mehrwert entstanden, die mit der fabrikmäßigen Industrialisierung in Westeuropa einhergegangen waren.41 In seinen früheren Werken trug Frank in Einklang mit Weltsystem-Kollegen dazu bei, die globalen Voraussetzungen und Wirkungszusammenhänge von Ka- pitalismus aufzuzeigen. Dabei spielten Aneignung und Transfer von Werten aus den – im Zuge ihrer abhängigen Einbindung in die ungleiche internationale Arbeitsteilung – peripherisierten Regionen durch die den Welthandel kontrol- lierenden westeuropäischen Zentren eine zentrale Rolle. Dass Unternehmer aus der Beschäftigung lohnabhängiger Arbeitskraft Mehrwert erzielten, bestritten Frank und Konsorten nicht. Dieser über das direkte Lohnverhältnis erzielte Mehrwert trat aus Weltsystemperspektive jedoch gegenüber der Aneignung von anderen, indirekt erschlossenen Transferwerten aus ungleichem Tausch, Subsis- tenzarbeit, kleinbäuerlicher Landwirtschaft und informellen Sektoren in den

40 Gunder Frank: ReOrient. Globalwirtschaft im Asiatischen Zeitalter. Übersetzt von Ingrid von Heiseler, Wien 2016, S. 434. 41 Marcel van der Linden: Final Thoughts, in: Jürgen Kocka, Marcel van der Linden (Hg.): Capitalism. The Reemergence of a Historical Concept, London 2016, S. 251–266. 68 Andrea Komlosy

Hintergrund. Diese Einschätzung trug allen Weltsystem-Vertretern den Vor- wurf ein, keine „richtigen“ Marxisten zu sein: Ihr Kapitalismus-Begriff beruhe auf der „Zirkulationssphäre“ und vernachlässige die allein zur Wertbildung fä- hige „Produktionssphäre“.42 Wie groß musste die Irritation erst sein, wenn Frank im Laufe seiner „ReO- rientierung“ Kapitalismus und seine Analyseinstrumente ganz beiseiteließ. Für Wallerstein und Amin war dies eine entscheidende Bruchstelle.43 Frank verfolgte die Bemühungen asiatischer Kollegen, kapitalistische Ansätze („Sprossen“) auch in den asiatischen Exportgewerbezentren, allen voran in der chinesischen Sei- denindustrie auszumachen.44 Ein „embryonaler“ Kapitalismus, der sich am eu- ropäischen Vorbild maß, entsprach Franks Herangehensweise jedoch nicht. Er hörte also damit auf, den Begriff zu verwenden, bis er in ReOrient dem Konzept eine deutliche Absage erteilte. Das eurozentrisch geprägte Modell ließ sich seiner Meinung nach weder re-orientieren noch universalisieren, deshalb gab er es auf. Frank ging sukzessive dazu über, stattdessen von Aneignung und Kapita- lakkumulation zu sprechen. Er wies „Kapitalismus“ nicht zurück, weil ihm das Konzept zu gesellschafts- und herrschaftskritisch war, sondern weil es un- trennbar mit den eurozentrischen Prämissen globaler europäischer Führerschaft in der Frühen Neuzeit verbunden war, die Frank bekämpfte. Dazu kam, dass das viel vagere Konzept von Kapitalakkumulation sich leichter auf die frühen

42 Stellvertretend für eine ausufernde Debatte, in der Wallerstein als Adressat im Brenn- punkt der marxistischen Kritik stand: Robert Brenner: The Origins of Capitalist Development. A Critique of Neo-Smithian Marxism, in: New Left Review, No. 104 (July–August) 1977, S. 25–92. Meines Erachtens waren und sind die marxistischen Kritiker nicht bereit, un- und unterbezahlte Arbeitsverhältnisse, die in peripheren Regi- onen oft den überwiegenden Teil der Beschäftigung und Überlebenssicherung ausma- chen und die formellen Sektoren stützen, subventionieren und entlasten, als „Arbeit“ im wertbildenden Sinn anzusehen; dementsprechend können sie deren indirekten Bei- trag zur Mehrwertbildung nicht wahrnehmen. Vgl. Andrea Komlosy: Arbeit. Eine glo- balhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, Wien 2014. 43 Samir Amin: ReOrientalism?, S. 299; Immanuel Wallerstein: Frank Proves the Euro- pean Miracle, S. 369, beide in: Review Fernand Braudel Center XXII/3, 1999. 44 Etwa Wu Chengming: Embryonic Capitalism in East Asia. In: Chinese Capitalism, 1522–1840, Hg. Xu Dixin, Wu Chengming, Basingstoke, London 2000, S. 1–22. Jür- gen Kocka verortete sogar die Anfänge kapitalistischer Praktiken in China, Indien und im arabischen Raum, bevor sie sich ab dem 12. Jahrhundert in Europa zu etablieren begannen. Vgl. Jürgen Kocka: Geschichte des Kapitalismus, München 2013. Andre Gunder Frank und die Reorientierung der Weltgeschichte 69

Jahrtausende seines Weltsystems anwenden ließ, in denen von Kapitalismus ohnehin keine Rede sein konnte. Die von Frank beobachtete zyklische Wiederkehr des immer Gleichen ver- mochte viele KollegInnen jedoch nicht zu überzeugen. Er begab sich mit der Verabschiedung von „Kapitalismus“ der Differenzierungsmöglichkeit zwischen nicht-kapitalistischen und kapitalistischen Formen von Ausbeutung und Aneig- nung und mehr noch: Er verzichtete auf die Waffe des Kapitalismusbegriffs bei der Kritik von Ungleichheit. Frank musste es sich aufgrund der Betonung der ewigen Wiederkehr von Akkumulationszyklen, wenn auch unter veränderten geopolitischen Verhältnissen, sogar gefallen lassen, als deren Apologet bezeich- net zu werden. Sein Analysemodell sah keine gesellschaftspolitische Alternative vor. Es verwickelte den gegenüber sozialer Ungerechtigkeit so sensiblen Frank in unlösbare Widersprüche, denn dieser wünschte sich nichts mehr als eine gerechte Sozialordnung, die die Menschheit in ihrer Vielfalt existieren lässt. Franks wissenschaftlicher Leistung tut der Mangel gesellschaftspolitischer Alternativentwürfe keinen Abbruch. Auch wenn man verschiedene Prämissen der Frank’schen Analyse nicht teilt, ist diese wie kaum eine andere in der Lage, die einzelnen Teile der Weltwirtschaft in ihrem Zusammenwirken zu erkennen. Das Lokale erscheint als Funktion des Globalen, das für Frank mehr als die Summe seiner Teile darstellt. Er distanziert sich damit von jeder partikularisti- schen Analyse.

Andre Gunder Frank in der Zeitschrift für Weltgeschichte

Aufsatz Geschichtswissenschaft und Sozialtheorie >Re-Orientieren< !, in: ZWG 5.1 (2004), S. 9–42.

Rezensionen Dunn: World History, in: ZWG 3.1 (2002) S. 125–131. Pomeranz: The Great Divergence, in: ZWG 4.2 (2003), S. 141–143. Frank: Orientierung im Weltsystem (Ellen Baumann), in: ZWG 8.1 (2007), S. 192–197. Würdigung: Gerald Hödl: Ein intellektueller Rebell. Zum Tod Andre Gunder Franks, in: ZWG 7.1 (2006) S. 9–14. Hans-Heinrich Nolte: Santiago di Campostela 2005, in: ZWG 7.1 (2006) S. 124–127.

Sabine Müller Hephaistion, Orient versus Okzident und der Untergang der argeadischen Sonne in Oliver Stones Alexander

In Oliver Stones Historienfilm Alexander aus dem Jahr 2004 kommt Hephaisti- on, dem besten Freund des Eroberers, eine tragende Rolle zu. Von Kindesbeinen an steht er Alexander als gutes Gewissen zur Seite, lässt sich weder von den Siegen korrumpieren noch vom neuen Regierungsstil verbiegen. Bis zu seinem frühen Tod bleibt er bescheiden, besonnen, geradlinig und gemäß Alexanders Einschät- zung der einzige, der fernab aller Schmeichelei immer ehrlich zu ihm war. Stones positive Darstellung Hephaistions als eines Sympathieträgers von hervorgehobener Bedeutung steht in einer langen, wechselhaften Rezeptions- geschichte von Antike bis Moderne. Darin variieren sowohl die Dimension der Wichtigkeit, die Hephaistion beigemessen wird, als auch die Ausdeutung als Alexanders Alter Ego, Patroklos, Geliebter, Opportunist oder Verkörperung des philosophischen Freundesideals. In der Forschung dominierte lange eine extrem negative Sicht.1 Hephaisti- on wurde überwiegend als intriganter Karrierist von mittelmäßiger Befähigung hingestellt, der seinen Aufstieg nur der Beziehung zu Alexander verdankte, au- ßer seinem guten Aussehen wenig zu bieten hatte und durch den Erfolg auch noch schnell die Bodenhaftung verlor.2 Dieses negative Zerrbild lässt sich indes auf antike literarische Topik zurückführen und dekonstruieren: Basis ist das – maßgeblich von Curtius gestaltete – Motiv, dass Hephaistion als Alexanders Alter Ego einen simultanen Sittenverfall vollzogen habe und ebenso entartet sei wie er.3 Während Hephaistion in den letzten Jahren nicht im Radar der Makedoni- enforschung war, ist aktuell erneutes Interesse erwacht, nicht zuletzt aufgrund von Stones Alexander, dessen zahlreiche Unstimmigkeiten die Forschung zu Stellungnahmen veranlassten.4 Der Trend geht momentan dahin, Hephaistion

1 Mein herzlicher Dank für die Diskussionsmöglichkeiten gilt Liz Baynham, Waldemar Heckel, Peter Kehne, Marek Jan Olbrycht, Anneli Purchase und Josef Wiesehöfer. 2 Vgl. Badian 1998, S. 350; Heckel 1992, S. 65–90; Carney 1975, S. 221; Green 1970, S. 253 („fundamentally stupid“); Hamilton 1969, S. 131; Berve, 1926, S. 173. 3 Vgl. Müller 2011b, S. 445–448. 4 Paul Cartledge und Fiona R. Greenland widmeten der Relativierung von Stones Darstellung 2010 einen ganzen Sammelband. 72 Sabine Müller als unerlässliche Stütze Alexanders, besonders bezüglich der achaimenidisch orientierten Vielvölkerreichspolitik, zu sehen.5 In der Populärkultur ist die posi- tive Zeichnung Hephaistions, auch als Gegenbild zu einem „entartenden“ Ale- xander, wie Stone ihn darstellt, nicht neu.6 Die Heraushebung seiner Rolle als support act des Helden ist kein Präzedenzfall in der literarischen Landschaft,7 kam indes in der filmischen Alexanderrezeption noch nicht vor. Im Folgenden wird nach einem Umriss der Daten des historischen Hephais- tions analysiert, in welcher Weise Stone ihn zum künstlichen Leinwandleben erweckt, die antiken Quellenberichte rezipiert und an die Erfordernisse eines modernen Hollywoodfilms anpasst. Ein Fokus liegt dabei auf der konstruierten Dichotomie von Ost und West, welche die Handlung stark prägt. Zudem wird Hephaistions spezielle Funktion als Identifikationsfigur im Kontext der gemäß „Orient“-Stereotypen geformten Darstellung des Perserreichs als Gegenbild zum positiv konnotierten Okzident beleuchtet.

Der historische Hephaistion und die literarischen Kunstbilder Hephaistion, Sohn des Amyntor, ist als historische Person schwer fassbar. Sein Bild bleibt jenseits späterer Stilisierungen so schattenhaft, dass kaum sichere Schlüsse möglich sind. Die in der Rezeption viel beschworene Jugendfreund- schaft, Gleichaltrigkeit und das gemeinsame Aufwachsen mit Alexander wer- den zuerst und in dieser Kombination nur beim römischen Historiographen Curtius, der wohl im 1. Jahrhundert n. Chr. schrieb,8 erwähnt.9 Darüber hi- naus dient lediglich ein bei Diogenes Laertios aufgelisteter – in seiner Histo- rizität fraglicher – Brief des Aristoteles an Hephaistion10 als Basis für die weit verbreitete Annahme, sie seien zusammen in Mieza unterrichtet worden.11 Dies erwähnt Diogenes Laertios übrigens mit keinem Wort. Zudem berichtet noch

5 Vgl. Ogden 2011, S. 157–167; Olbrycht 2010, S. 360; ders. 2004, S. 47, 54 u. 338– 340; Reames-Zimmerman 1998. Siehe auch Bosworth 1988b, S. 164f.; Wirth 1967. 6 Klaus Mann entwarf ein ähnliches Bild, wenn auch unter anderen Vorzeichen; vgl. Müller 2011a, S. 129–131. 7 Ebenfalls unter gänzlich anderen Vorzeichen bei Roger Peyrefitte; vgl. Müller 2011a, S. 131f. 8 Zur Problematik der Datierung von Curtius vgl. Müller 2013b. 9 Curt. 3,12,16. 10 Diog. Laert. 5,27. 11 Vgl. Heckel 1992, S. 66, m. Anm. 39; Berve 1926, S. 169. Auf der Liste sind auch Briefe an Personen aus Alexanders Umkreis erwähnt, die nicht mit ihm in Mieza waren. Hephaistion, Orient versus Okzident 73 der größtenteils fiktive Alexanderroman von einer gemeinsamen (unhistori- schen) Schiffsreise in ihrer Jugend.12 Woher Curtius seine einzigartigen Informationen zu Hephaistions Alter und Werdegang bezieht, ist offen. Kleitarchos wäre eine Option, da von ihm offenbar das Thema von Hephaistion als Alexanders Alter Ego stammt. Indes fällt auf, dass Diodor, der Kleitarchos’ Schrift wohl gerade in den Szenen mit Hephaistion ebenso wie Curtius benutzt, Gleichaltrigkeit und gemeinsames Aufwachsen nicht erwähnt.13 Betrachtet man Hephaistions Entwicklung bei Curtius insgesamt, er- gibt sich der Eindruck, dass er aus primär stilistischen Gründen, vermutlich mit einiger kreativer Eigenleistung, gleiches Alter, gleiche Wurzeln und eine gleiche Erziehung erwähnte: Bei ihm fungiert Hephaistion als spiegelbildliches Alter Ego Alexanders, sein zweites Ich, in punkto Erziehung und Charakter mit ihm iden- tisch. Im Lauf der Eroberung entartet er parallel zu Alexander vom moralisch integren, gemäßigten Philosophenschüler zum sexuell anrüchigen Intriganten.14 Curtius zeichnet die Depravationsgeschichte – ironischerweise wohl gemäß der aristotelischen Freundschaftslehre von einer Seele in zwei Körpern15 – anhand der Charakterentwicklung Alexanders und Hephaistions als Spiegelbilder doppelt nach.16 Somit hatte er stilistisch-kompositorische Gründe, sie bezüglich Alter, Erziehung und Aufwachsen anzugleichen. Der Verdacht, dass die Jugendfreundschaft der beiden unhistorisch ist,17 er- härtet sich, da Hephaistion in den Fragmenten der Primärquellen in Alexanders Anfängen unsichtbar ist und erst ab 332/31 v. Chr. überhaupt Präsenz er- langt.18 Signifikanterweise erwähnt ihn Alexanders Marineoffizier Onesikritos, der anscheinend ausführlicher auf Alexanders Kindheit und Jugend einging,19 diesbezüglich offenbar nicht. Ebenso schweigt Kallisthenes, zuständig für den

12 Ps-Kall. 1,18. Vgl. Jul. Val. 1,10. 13 Diod. 17,37,5–6. 114,2. 14 Curt. 6,11,10–18; 7,9,19. 15 Diog. Laert. 5,20; Aristot. Eth. Nic. 1156 B, 1157 B, 1159 B. Vgl. Plut. mor. 93 E- 94 A. 16 Vgl. Müller 2011a, S. 117–123; dies. 2011b, S. 445–448. 17 Vgl. Wirth 1993a, S. 345, Anm. 298. Gegen Ameling 1988, S. 667. Wie alt Hephais- tion war, ist ungewiss. 18 Arr. an. 3,27,4. Vgl. Müller 2011b, S. 431–435. 19 Dies erschließt sich indirekt aus Plutarchs Passagen über Alexanders Jugend, die wohl aus Onesikritos’ Werk stammen. Vgl. Müller 2012, S. 56–64; dies. 2011c, S. 57f.; Hammond 1993, S. 58; Pédech 1984, S. 77 u. 98f.; Hamilton 1969, S. LIII. 74 Sabine Müller offiziellen Bericht.20 Besonders relevant erscheint Ptolemaios’ Zeugnis als Mit- glied von Alexanders inner circle. Er war tatsächlich einer seiner Jugendfreun- de und mit ihm am Hof von Pella aufgewachsen,21 musste demnach Bescheid wissen. Er hatte gleichzeitig mit Hephaistion Karriere gemacht und in Indien oft gemeinsam mit ihm gekämpft. Ptolemaios bezeugt zwar, dass Hephaistion aus Pella stammte – was nicht hieß, dass er dort geboren oder aufgewachsen sein musste –,22 doch erwähnt wohl keine Jugendfreundschaft. Ein bewuss- tes Übergehen ist ihm weniger zuzutrauen, da er gerade Hephaistion in seiner Historiographie positiv würdigt23 – im Gegensatz zu Lysimachos, Seleukos und Antigonos, die er kaum erwähnt, als recht unwichtig und wie aus der Obsku- rität aufgestiegen erscheinen lässt.24 Krateros wirkt recht glücklos, Perdikkas ist mehrfach als inkompetenter Heerführer dargestellt.25 Hephaistion hingegen wird gegen alle potentiellen Vorwürfe, ein schlechter Ratgeber oder Offizier gewesen zu sein, in Schutz genommen – ebenso wie Ptolemaios sich selbst da- vor schützt. So erweckt er den Eindruck, Hephaistion und er seien in konflikt- trächtigen Situationen (Heirat mit Roxane, Mord an Kleitos) und Debakeln (Mallerstadt; Gedrosische Wüste) nicht anwesend gewesen – dies teils im Wi- derspruch zu anderen Quellen.26 Daher sind in Ptolemaios’ Stilisierung er und Hephaistion die stets loyalen, zuverlässigen und höchst befähigten Offiziere und Alexanders rechte Hände. Da in der Diadochenzeit aus der memoria des kinderlosen, früh verstor- benen Hephaistion kein unmittelbarer politischer Nutzen für Ptolemaios zu ziehen war, liegt nahe, dass sein positives Gedenken persönliche Gründe hatte: Vermutlich war Ptolemaios sehr gut mit ihm befreundet gewesen. Onomas- tische Studien mögen diese These unterstützen: Der ungewöhnliche Name

20 Plut. Alex. 55,4–5. 21 Plut. Alex. 10,3; Arr. an. 3,6,5–6. 22 Arr. an. 6,28,4; Ind. 18,3. Vgl. Heckel 1992, S. 66, Anm. 37: Es hieße nur, dass er dort zeitweilig gelebt habe. 23 Vgl. Müller 2013a, S. 87–89. 24 Vgl. Bosworth 1995, S. 281. 25 Arr. an. 1,8,1 (Perdikkas’ Insubordination vor Theben); 1,21,1–3 (Soldaten aus Perdik- kas’ Truppe attackieren Halikarnassos im betrunkenen Zustand); 6,6,4–6,9,2 (Perdik- kas vor der Mallerstadt: seine Soldaten sind unvorbereitet und langsam). Vgl. Müller 2013a, S. 84; Bosworth 1980a, S. 311f.; Atkinson 1980, S. 454; Errington 1969, S. 237–242; Berve 1926, S. 335. 26 Vgl. Müller 2013, S. 85–87. Hephaistion, Orient versus Okzident 75

Hephaistion, den offenbar zu seiner Lebenszeit am makedonischen Hof nur er trug,27 erhielt sich im ptolemäischen und nachptolemäischen Ägypten.28 Dazu konnte der postume Heroenkult für ihn beigetragen haben, den Alexan- der anordnete.29 Zwar ist der Kult epigraphisch und durch Hypereides nur für Athen belegt,30 doch zitiert Arrian einen – umstrittenen – Brief Alexanders mit dem Befehl der Einrichtung des Kults in Alexandria und Pharos, inklusive der Aufnahme seines Namens in die Datierungsformeln von Geschäftsurkunden.31 Der Adressat, Kleomenes von Naukratis, wurde zwar von Ptolemaios später be- seitigt.32 Vermutungen zufolge steckte er auch hinter dessen Negativporträtie- rung als Gauner in dem Brief.33 Indes bedeutet dies nicht, dass Ptolemaios die Einrichtung von Hephaistions Heroenkult rückgängig gemacht oder gestoppt hatte, auch wenn es aus Ägypten keine fassbaren Belege dafür gibt. Da Ptolemaios sich indes in seiner Historiographie nicht einmal vom bes- ten Freund in den Schatten stellen ließ,34 erweckte er den Eindruck, als sei er hauptsächlich für die – in seiner Kultur höher gewerteten – militärischen Auf- gaben zuständig gewesen, Hephaistion eher für Organisation, Diplomatie und Logistik. In der Forschung wurde diese Darstellung meist akzeptiert; Hephais- tion galt daher als weniger militärisch begabt.35 Indes ist Vorsicht angebracht, da es sich um eine von Ptolemaios’ Stilisierungen zu seinen Gunsten handelt. Dagegen spricht, dass Hephaistion als Hipparch eines der höchsten militäri- schen Ämter im makedonischen cursus honorum innehatte und in Indien stets einen Hauptteil der Truppen anführte.36 Auch die Chiliarchie, die Alexander

27 Vgl. Fraser/Matthews 2005, S. 160; Pape/Benseler 1959, S. 476. 28 Vgl. Müller 2013a, S. 88, Anm. 95. 29 Arr. an. 7,23,6; Plut. Alex. 75,2–3; Plut. Pelop. 34,2; fälschlich dagegen Diod. 17,115,6; Just. 12,12,12. 30 Bull. Ép. 1992, Nr. 309; Hyp. 6,21 (polemisch). Vgl. Müller 2014a. 31 Arr. an. 7,23,6–8. 32 Paus. 1,6,3. 33 Vgl. Burstein 2008, S. 189. Pearson 1954, S. 449f. hält den ganzen Brief für eine Fälschung von Ptolemaios. 34 Curt. 9,5,21: „scilicet gloriae suae non refragatus“ („Er neigte nicht dazu, seinen Ruhm zu verdunkeln“). 35 Vgl. Heckel 2006, S. 134; Chugg 2006, S. 64–130; Müller 2003, S. 224–228; Reames-Zimmerman 1998, S. 100–124; Wirth 1993a, S. 316 u. 346, m. Anm. 300; ders. 1967, S. 1023; Bosworth 1988a, S. 164. 36 Curt. 8,14,15; Arr. an. 5,12,2; 6,2,2. 5,5; 13,1. 17,4. 21,3. 21,5. 22,3. 28,7; Ind. 19,1–3. 76 Sabine Müller neu einrichtete und ihm übertrug, war mit seiner Kavallerieeinheit verbun- den.37 Ein Grund, warum Unklarheit über seine Kompetenzen als Chiliarch bestehen, ist, dass Ptolemaios sich offenbar dazu nicht äußerte. Eventuell hätte dies eine Ausnahmeposition Hephaistions in den Reichsstrukturen offenbart, die Ptolemaios’ Selbstdarstellung als Alexanders wichtigstem Offizier und prä- destinierten Nachfolger widersprochen hätte. Kleitarchos, der seine Alexandergeschichte im ptolemäischen Alexandria schrieb – unter Ptolemaios I. oder Ptolemaios IV. –,38 gewann wohl den Ein- druck, dass es angebracht war, Hephaistion besonders zu würdigen, wie ihm die ptolemäische Sprachregelung nahegelegt haben wird. Vermutlich sorgte er für die Elaborierung des Alter Ego-Motivs, mit dem er Hephaistions spezielle Rolle als Alexanders zweites Selbst herausstrich.39 Anstöße mögen zeitgenössi- sche Gerüchte im Kontext des zeitlich nahen Todes der beiden gegeben haben: So stellte der Olynther Ephippos in seinem Pamphlet „Über den Tod/die Be- stattung Alexanders und Hephaistions“ ihr Ableben offenbar als schicksalhafte Verknüpfung dar.40 Es sei eine Bestrafung des Dionysos gewesen, der Alexander wegen der Zerstörung seiner Mutterstadt Theben gezürnt und sie deswegen beide durch Weinkonsum habe untergehen lassen.41 Auch andere zeitgenös- sische Gerüchte verweisen darauf, dass ein Schlüsselaspekt in der Rezeption Hephaistions als Alexanders Alter Ego ihr knapp auseinanderliegender Tod war.42 Da gemäß traditioneller Doppelgänger-Motivik der eine Teil ohne den

37 Dies impliziert Arr. an. 7,14,9–10. Vgl. Meeus 2009, S. 303, 308 u. 310; Bosworth 1980b, S. 5, Anm. 34, S. 14. Seine Hipparchie-Einheit behielt nach seinem Tod sein Feldzeichen und seinen Namen. Wenig informativ zum Amt auch Plut. Eum. 1,2–3; Arr. Succ.1a,3. Zu Vermutungen über Hephaistions Aufgaben als Chiliarch vgl. Müller 2011b, S. 440f.; Olbrycht 2010, S. 360; Briant 2009, S. 74; Wirth 1967, S. 1023. Zum Terminus vgl. Collins 2001, S. 259f. 38 Ein Papyrusfund (P.Oxy. LXXI. 4808) brachte die traditionelle Datierung von Kleitar- chos unter Ptolemaios I. (Plin. NH 3,57–58) ins Wanken. Die neue Datierung unter Ptolemaios IV. (221–204 v. Chr.) ist indes nicht allgemein akzeptiert. Vgl. Prandi 2012. 39 Vgl. Müller 2011b. 40 Athen. 4,146 C-D; 10,434 A-B; 12,537 D. 41 Athen. 3,120 C-D. Vgl. Heckel 1992, S. 87f.; Wirth 1989b, S. 199f., m. Anm. 27; Bosworth 1988b, S. 173–184; Pearson 1960, S. 60f.; Mederer 1936, S. 137f. Zur Zerstörung Thebens 335 v. Chr.: Plut. Alex. 11,2–3; mor. 181 B, 221 A. Zum Topos „barbarischer“ Trinksitten: Plat. Nom. 637 E; Hdt. 6,84,1–3; Ael. VH 2,41. 42 Vgl. McKechnie 1995, S. 418–432. Der Seher Peithagoras soll sich damit gerühmt haben, anhand eines identischen Zeichens, des fehlenden Leberlappens beim Opfertier, Hephaistion, Orient versus Okzident 77 anderen nicht existieren kann,43 wurde Hephaistions Ableben als Präfiguration für Alexanders Ende gedeutet.44 Diese Interpretation ebnete den Weg für seine Rezeption als Alexanders zweites Ich. Kleitarchos’ Version wird indes im Einklang mit den Vorgaben der ptole- mäischen Erinnerungskultur nicht die Depravationstopik beinhaltet haben, die sich bei Curtius findet. Auch gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass bereits Kleitarchos explizit eine Parallele zwischen Hephaistion und Patroklos gezogen oder ihn als Alexanders Geliebten dargestellt hätte.45 Dies sind erst spätere Zu- sätze, die vor allem in der römischen Rezeption aufgekommen zu sein scheinen. Zuerst ist der Hinweis auf eine sexuelle Beziehung nämlich bei Curtius zu fin- den – bezeichnenderweise an dem Punkt der Charakterentwicklung der beiden, als ihr Sittenverfall in voller Blüte ist:46 Sie haben sich in der Philotas-Affäre als Intriganten entlarvt; Alexander hat sich durch die Übernahme persischer Sit- ten und Laster (inklusive Dareios’ Gespielinnen und Gespielen) sowie Affären mit dem Eunuchen Bagoas und der Amazonenkönigin Thalestris diskreditiert. Sein Alter Ego zieht nach und wird vom gemäßigten Philosophenschüler zum Lustknaben des tyrannischen Herrschers, damit zum Negativbild eines Offiziers in römischen Augen. Sollte Curtius sich dabei auf Pompeius Trogus gestützt haben, könnte er die Angabe von Hephaistions Alter zugunsten des Doppel- gängermotivs variiert haben. Justin, der Trogus exzerpiert, erwähnt Hephaistion nur einmal, als er stirbt, als blutjungen Geliebten (puer) Alexanders, der ihm

ihrer beider Tod vorausgesagt zu haben (Arr. an. 7,18,1–6; Plut. Alex. 73,2 (Pythago- ras); App. BC 2,152). Vgl. Müller 2011b, S. 448f.; Heckel 2006, S. 40f. u. 194; Mederer 1936, S. 124–126. 43 Vgl. Rank 1925, S. 116f. 44 Arr. an. 7,18,1–5; Plut. Alex. 73,2; App. BC 2,152. Vgl. Heckel 2006, S. 40f. u. 194; Mederer 1936, S. 124–126. Auch die Umstände ihres Ablebens scheinen aufeinander hinkomponiert: Beide sollen bei einem Trinkgelage an Fieber erkrankt sein, das sich meh- rere Tage hinzog, bevor sie starben. Zu Hephaistion: Diod. 17,110,7–8; Arr. an. 7,14,1. 4; Polyain. 4,3,31; Plut. Alex. 72,1–2 (vielleicht auch Salmonellenvergiftung). Vgl. Mül- ler 2011a, S. 123f.; dies. 2011b, S. 448–451. Ein genaues Todesdatum ist nicht belegt (vermutlich Oktober/November). Vgl. Bosworth 1988a, S. 171f. u. 176f. Zu Alexan- der: Arr. an. 7,24,4,-25,4; Plut. Alex. 75; Athen. 10,434 A-B; Diod. 17,117,1–2. 45 Vgl. Müller 2011b, S. 445 u. 452f. Gerade die Schlüsselszene der gemeinsamen Be- kränzung der Heroengräber in Ilion kommt wohl nicht von ihm; sie fehlt bei Plutarch und Diodor. Siehe auch Müller 2014b. 46 Curt. 7,9,19. Vgl. Ogden 2009, S. 210f., m. Anm. 59. Zu Hephaistions Rolle bei Philotas’ Sturz: Curt. 6,11,10–18; Plut. Alex. 49,6. 78 Sabine Müller durch seine Schönheit und Dienstbarkeit – mit sexueller Konnotation – lieb gewesen sei.47 Hephaistions militärische Tätigkeit wird nicht erwähnt, entweder aufgrund von Justins Kürzungen oder weil seine Stilisierung gemäß des klassi- schen griechischen Päderastiemodells – der sozial höher stehende Alexander als der aktive ältere erastes und Hephaistion als der vorpubertäre eromenos – für Trogus eine militärische Karriere als Altersgründen ausschloss. Anscheinend wird Hephaistion demnach erst in römischer Zeit im Kontext von Dekadenz- und Depravationstopik zu Alexanders Geliebtem. Der Vergleich mit Patroklos lässt sich noch später fassen: bei Arrian. Da- bei paraphrasiert er durchweg Informationen, die nicht aus seinen sonstigen Hauptquellen, den Schriften von Ptolemaios und Aristobulos, stammen.48 Arri- an bezeichnet Hephaistion nicht explizit als Alexanders Geliebten, obwohl, wie seine Mitschriften der Vorlesungen bei Epiktetos verraten, ihm durch seinen Lehrer diese Ansicht bekannt war.49 So deutlich musste er auch nicht werden, da die Achilles-Patroklos-Parallele seit dem 4. Jh. v. Chr. in gebildeten Kreisen als „sexual paradigm“50 galt. Arrian teilte diese Ansicht.51 Im Gegensatz zu Curtius betrachtete er eine Liebesbeziehung zwischen Alexander und Hephaistion aller- dings nicht als Zeichen von Dekadenz, sondern nahm eher eine wohlwollende, romantisch verklärende Haltung ein. Philip Stadter argumentierte plausibel, dass ihm die Parallele zu Hadrian und Antinoos als römisches Rollenmodell vorgeschwebt habe.52 In severischer Zeit, eventuell durch Caracallas Alexanderi- mitatio im Kontext seiner Partherkriegspropaganda aktualisiert,53 griff Claudius Aelianus erneut das Bild Hephaistions als Alexanders Patroklos auf: wiederum

47 Just. 12,12,11–12: „… unus ex amicis eius Hephaestion decedit, dotibus primo formae pueritiaeque, mox obsequiis regi percarus.“ Zur sexuellen Konnotation vgl. Ogden 2009, S. 211. In Makedonien galt indes wohl dieses päderastische Modell nicht: Viele männliche Paare bestanden anscheinend aus gleichaltrigen Jugendlichen oder zwei Erwachsenen (Arr. an. 4,13,3; Curt. 6,7,2–3; 8,6,8; Just. 8,6,4–6; Diod. 16,93,3–4). Vgl. Ogden 2009, S. 212; Reames 1999, S. 87f. 48 Arr. an. 1,12,6 (vgl. Ael. VH 12,7); 7,14,4 (vgl. Plut. Alex. 72,2–3; Ael. VH 7,8). Zum fiktiven Charakter ihrer gemeinsamen Bekränzung der Gräber von Achilles und Patro- klos vgl. Heckel 2006, S. 12 u. 133; ders. 1992, S. 67; Berve 1926, S. 170. 49 Epikt. 2,22,17. Er nannte ihn Alexanders eromenos. 50 Skinner 2010, S. 126. 51 Arr. Per. 23,4. Vgl. Stadter 1980, S. 38f. 52 Vgl. Müller 2011a, S. 121f.; dies. 2011b, S. 452. Gegen Kühnen 2008, S. 173. 53 Polemisch verzerrte Evidenz bei Dio 78,7–8; Hdn. 4,8,2–4; HA Carac. 30,3; 64,3. Vgl. Shayegan 2011, S. 342; Kühnen 2008, S. 181–184. Hephaistion, Orient versus Okzident 79 als sein jugendlicher eromenos.54 Somit stellen sich die Jugendfreundschaft, Liebesbeziehung und Angleichung an das homerische Paar als spätere, offen- bar erst in der römischen Überarbeitung aufgekommene Zusätze dar, primär Konsequenzen einer interpretatio romana. In den zeitgenössischen Quellen und Spuren von Alexanders Propaganda lässt sich nichts davon nachweisen. Zwar wird sein mythischer Urahn Achilles in seiner Selbstdarstellung eine Rolle ge- spielt haben,55 doch sucht man – im Einklang mit aktuellen Zweifeln an einer systematischen Politik seiner Achillesimitatio56 – in den Primärquellen vergeb- lich nach einem Patroklos an seiner Seite. Da dies zudem auf die Propagierung einer Liebesbeziehung hinausgelaufen wäre,57 sind solche Hinweise auch nicht zu erwarten. Anders als etwa Demetrios Poliorketes, der seine Affären für seine Inszenierung als Schützling der Aphrodite instrumentalisierte,58 hielt Alexander sein Liebesleben aus seiner Herrschaftsrepräsentation heraus und baute keine Imagestrategien darauf auf.59 Dieser Bereich ist der Nachwelt verschlossen. In summa lässt sich folgende Laufbahn Hephaistions nachzeichnen: Er kam zu einem ungewissen Zeitpunkt, bezeugt erst für den Persienfeldzug, in Alex- anders Kreise. Es gibt vage Hinweise, dass seine Familie vielleicht Verbindun- gen nach Athen hatte und Demosthenes Hephaistion kannte.60 Eventuell stieß

54 Ael. VH 7,8; 12,7. Er bezeichnet ihn als meirakion. Weitere Hinweise auf eine Liebes- beziehung: Diogenes Sinopensis Epistulae 24,1 (Hercher); Luk. DM 14,4. 55 Plut. Alex. 2,1; Arr. an. 4,7,4. 11,6. 56 Vgl. Heckel 2015. 57 Aischin. 1,133. 142–144; Plat. Symp. 179 E-180 B. Vgl. Konstan 1995, S. 37. 58 Athen. 13,577 C-F; 579 A-581 E; Plut. Demetr. 19,4–5; 23,3–24,1; 27,1–5. 59 Vgl. Chaniotis 2008, S. 193. Eine Ausnahme bildet vielleicht die Rechtfertigungspro- paganda bezüglich seiner Heirat mit Roxane, die mit dem Liebesthema operierte: Arr. an. 4,19,5–6; Strab. 11,11,4; Plut. mor. 332 E; Alex. 47. Indes war dies eine Moment- aufnahme: Kurz nach der Hochzeit wurde sie bereits ausgeblendet. Vgl. Müller 2008. 60 Vgl. Müller 2014a. Eventuell war Hephaistions Vater identisch mit dem inschriftlich erwähnten Amyntor (IG II² 405), der auf Antrag des Demades 334 v. Chr für sich und seine Nachkommen das athenische Bürgerrecht erhielt. Vgl. Heckel 1992, S. 66, Anm. 37 u. S. 70; ders. 1991, S. 39–41. Dies würde auch Rückschlüsse auf seinen seltenen Namen zulassen, der zumindest in Athen, wohl aufgrund des dortigen Hephaistos- Heiligtums auf der Agora, zu seiner Zeit mehrfach vorkam: Fraser/Matthews 1994, S. 208. 332/1 v. Chr. soll Demosthenes seinen Vertrauten Aristeion zu ihm gesandt haben, um eine Versöhnung mit Alexander zu vermitteln: Marsyas von Pella, FGrHist 135, F2. Vgl. Aischin. 3,162. Vgl. Müller 2011b, S. 437f.; Heckel 2006, S. 46 u. 110; Berve 1926, S. 63 u. 170. Curt. 4,5,10 erwähnt vor Gaza eine Mission Hephaistions, 80 Sabine Müller

Hephaistion erst von Athen aus zum Zug. Ob er Alexander von früher kannte, ist ungewiss. In jedem Fall gehörte er zu der Gruppe, die sich loyal an ihn band und mit deren Hilfe es ihm gelang, sich nach Gaugamela von den Köpfen der einflussreichen factions zu befreien, die ihn und den Feldzug kontrolliert hat- ten. Sobald er den Handlungsspielraum besaß, seine eigenen Vertrauensleute zu fördern, begann Hephaistions steile Karriere. Er erhielt den Eliteposten des Hipparchen der nunmehr geteilten Hetairenreiterei.61 Zu einem jeweils unbe- kannten Zeitpunkt bekam er das Ehrenamt eines der sieben somatophylakes (Leibwächter) und erstmalig die Chiliarchie.62 Inmitten der wachsenden makedonischen Unzufriedenheit mit dem zuneh- mend umstritteneren Herrscher erwies sich Hephaistion als einer der wenigen Offiziere, die seinen autokratischen Regierungsstil befürworteten und ihm ei- nen verlässlichen Rückhalt boten. Ob er dies aus Überzeugung, Freundschaft oder Karrierekalkül tat, ist ungewiss. 324 in Susa band Alexander Hephaistion durch die Verheiratung mit der Schwester seiner eigenen dritten Frau, einer Achaimenidin, sogar dynastisch an sich.63 Entsprechend groß klaffte nach sei- nem frühen Tod im Herbst 324 die Lücke in den Personalstrukturen; es war in jedem Fall ein eklatanter politischer Verlust.

Das Patroklos-Problem In Stones stark kritisiertem Alexander – „an unproductive model of historiophotic semiauthenticity“64 – stehen Chronologie und Nähe zu historischen Fakten in genrebedingter Zwangsläufigkeit hinter spektakulärer Inszenierung, kompri- mierter Handlung, Tributen an traditionelle Publikumssehgewohnheiten und schablonenhaft psychologisierender Figurenzeichnung zurück.65 Hephaistion war ein besonderes Problem. In Robert Rossens Alexander the Great (1956)

die mit der Flotte zusammenhing. Eventuell besaß Hephaistion durch einen möglichen Aufenthalt in Athen navale Erfahrungen, die er in Pella nicht erwerben konnte. 61 Arr. an. 3,27,4. 62 Arr. an. 6,28,3–4, Diod. 17,61,3 (somatophylax); Arr. an. 7,14,9–10; Diod. 18,48,4 (Chiliarch). 63 Arr. an. 7,4,5; Diod. 17,107,6. 64 Nisbet 2010, S. 218. Zur Kritik siehe auch Baynham 2009, S. 294 u. 296–298; Borza 2004, S. 2–5. 65 Geschichtsstudierende, die den Film im Kino sahen, beschwerten sich nachher, die Chronologie sei völlig diffus: Es seien ständig „Leute herumgelaufen, die zu dem Zeit- punkt eigentlich schon längst tot gewesen seien.“ Hephaistion, Orient versus Okzident 81 wurde die Schwierigkeit behoben, indem man einen nichtssagenden Hephais- tion ohne eigenes Profil zeigte, der neben dem charismatischen Richard Burton als Alexander gänzlich unterging.66 Stone beschritt den gegensätzlichen Weg, indem er Hephaistion zur Identifikationsfigur aufbaute und seine Schlüssel- funktion für Alexanders Laufbahn betonte. Daraus ergab sich das Dilemma, dass Hephaistions Bedeutung für Alexander kaum von der Frage nach dem Charakter ihrer Beziehung zu trennen war. Dank der römischen Rezeption existierte im kulturellen Gedächtnis eine starke Tradition, die sie als Gelieb- te porträtierte. Im griechischen Alexanderroman und westlichen christlichen mittelalterlichen Alexanderlegenden war Hephaistion zwar weitgehend unter den Tisch gekehrt worden, das Konzept eines strikt heterosexuellen Alexanders somit nicht gefährdet.67 Indes ging das Wissen darum nicht verloren und lebte gerade im 20. Jahrhundert wieder auf. In der modernen Populärkultur wurde Hephaistion als Alexanders Geliebter etwa durch den französischen Schriftstel- ler Roger Peyrefitte gefeiert. Mit La jeunesse d’Alexandre (1977) gestaltete er die beiden zu ikonischen Identifikationsfiguren der Homosexuellenbewegung68 – ein Image mit Breitenwirkung. Spekulationen über Alexanders Privatleben entpuppten sich im Vorfeld des Films, wie das empörte Echo von griechischer Seite demonstrierte, als Politi- kum: Eine Liaison mit dem Waffenkameraden passte nicht ins moderne hel- lenische Heldenbild.69 Darüber hinaus mochte Alexander zwar damit werben, als erster Hollywood-Mainstreamfilm Alexanders „bisexuelle“ Seite zu zeigen,70 doch widersprach es allen Konventionen, dass dieses Coming-Out ausgerech- net mit Hephaistion geschah: Der virile Actionheld hat standesgemäß keinen Sex mit seinem best buddy.71 Sexualität, in der antiken Alexanderüberlieferung kein Hauptthema, spielt in Alexander eine maßgebliche Rolle,72 weil sie – streng von Liebe getrennt und un- mittelbar mit Dekadenz-, Orient- und Barbarentopik verbunden – konsequent

66 Vgl. Nisbet 2008, S. 98. 67 Vgl. Stoneman 2008, S. 342; Ehlert 1989, S. 102f. 68 Vgl. Müller 2011a, S. 131f.; Chaniotis 2008, S. 193; Nisbet 2008, S. 122. 69 Vgl. Nisbet 2010, S. 229; Ogden 2009, S. 203. Zur Bedeutung Alexanders im moder- nen Griechenland vgl. Danforth 2010, S. 583–587. 70 Vgl. Ogden 2009, S. 203. 71 Vgl. Nisbet 2008, S. 98. Dies galt vor Brokeback Mountain und auch noch danach. 72 Vgl. Chaniotis 2008, S. 194; Borza 2004, S. 4: „Stone seemed obsessed with the issue of Alexander’s sexuality, surely more so than Alexander himself.“ 82 Sabine Müller pejorativ als moralischer Gradmesser eingesetzt wird. Somit war es dramatur- gisch erforderlich, dass Hephaistion nicht Teil der sexuellen Depravations- symbolik wurde, sondern als Vertreter des Ideals platonischer „wahrer“ Liebe figurierte.73 Das Resultat ist eine tendenziöse Kompromisslösung, in der Stereotype eines als pervertiert und sexualisiert gezeichneten „Orients“ dominieren: Alexanders Abenteuer mit dem gleichen Geschlecht finden als Sinnbild seiner Verführung durch den sündhaften „Orient“ mit dem persischen Eunuchen Bagoas statt, einem klischeehaft überzeichneten Determinativ verruchter Fremdartigkeit. Angesichts der Cross-Gender-Tendenzen seiner Darstellung erscheint er zudem mehr effeminiert und in einer geschlechtlichen Grauzone denn als gleichge- schlechtlicher Partner. Bagoas’ Funktion als „boy“ toy wird dadurch unterstri- chen, dass er im ganzen Film nicht ein Wort spricht – und dies auch nicht als Manko auffällt. Für Gespräche ist ohnehin ein anderer zuständig: Hephaistion, als wichtigs- te Person und Ruhepol in Alexanders Leben strategisch ohne erotische Einla- gen in Szene gesetzt,74 eine gerade noch hollywoodkompatible „Bromance“.75 Hephaistion verkörpert das Gegengewicht zu Alexanders „Orientalisierungs- tendenzen“ nach Gaugamela – Mäßigung, Besonnenheit, Beständigkeit. Er versucht, Alexander davor zu bewahren, von seiner „dunklen Seite“ erfasst zu werden: „You saved me from myself“, resümiert Alexander an seinem Totenbett. Hephaistions Figur erhält durch frei erfundene Szenen und Zuschreibung von Aufgaben, die laut antiker Berichte andere erfüllten, zusätzliches Profil: Er interveniert bei dem Eklat zwischen Alexander und Kleitos, während in den

73 Liebe wird dabei recht schwammig definiert. Ein Unterschied ist auch zwischen der allgemeineren Bedeutung „love“ im Englischen und dem konkreteren Wort „Liebe“ im Deutschen zu sehen. So wirken Alexanders Worte an Hephaistion „It is you I love“ unverbindlicher als in der deutschen Fassung. 74 Vgl. Skinner 2010, S. 128. Es wurden auch keine homoerotischen Szenen mit ih- nen nachträglich herausgeschnitten. Vgl. Baynham 2009, S. 300. Stones Konzept war, die Bedeutung von Alexanders Beziehung mit Hephaistion zu betonen, ihre wieder- holt beschworene Liebe jedoch vorderhand als Männerfreundschaft zu definieren. Vgl. Chaniotis 2008, S. 193. Nisbet 2010, S. 229 kommentiert: „The result is an unhappy compromise – don’t ask, don’t tell“. Siehe auch Nikoloutsos 2008. 75 Vgl. Nikoloutsos 2008, S. 223–251. Hephaistion, Orient versus Okzident 83

Quellen Ptolemaios, Perdikkas, Leonnatos und Lysimachos genannt werden,76 und fungiert nach dem Kleitosmord als Seelentröster Alexanders, was eigent- lich Kallisthenes und Anaxarchos übernommen haben sollen.77

„It was in friendship that Alexander found his sanity”: Die frühen Jahre in Makedonien Die Unsichtbarkeit des historischen Hephaistion in Alexanders Jugend gleicht der Film mittels künstlerischer Freiheit aus: Sämtliche Szenen der beiden in Makedonien sind fiktiv. Hephaistion wird von Beginn an als Alexander eben- bürtig vorgestellt, sein gutes Gewissen mit prägendem Einfluss auf sein Leben. Traumatisiert von den gewalttätigen Querelen zwischen seinen Eltern,78 findet Alexander nur bei ihm Halt, wie Ptolemaios als greiser Erzähler aus der Ret- rospektive kommentiert: „It was in friendship that Alexander found his sanity“. Diese heilsame Wirkung Hephaistions, dem es gelingt, die positiven Seiten des labilen Protagonisten hervorzurufen, wird gleich bei seinem ersten Auftritt deutlich. Als Kinder trainieren er und Alexander Ringen. Hephaistion gewinnt, worauf Alexander sich als schlechter Verlierer erweist und von ihrem Lehrer zur Ordnung gerufen werden muss. Hephaistion, von Alexanders royaler Würde gänzlich unbeeindruckt, fragt ihn herausfordernd, ob er gewollt hätte, dass er ihn gewinnen lässt. Halbwegs einsichtig lenkt dieser ein: „You’re right. But I promise you I’ll beat you one day, Hephaistion.“ Es bleibt offen, wann und inwiefern Alexander dieses Versprechen erfüllt, denn Hephaistions Tugenden, die in dieser Szene noch eine Konkurrenzsitu- ation schaffen, machen ihn in der Folgezeit zu seiner einzigen Vertrauensper- son. An Hephaistions Sterbebett nimmt er später noch einmal Bezug auf diese Schlüsselepisode: „You were the only one who’d never let me win; the only one who has ever been honest with me.“ Am Ende der Ringkampfszene kommentiert Ptolemaios: „One said later that Alexander was never defeated except by Hephaistion’s thighs.“ Die Zitation

76 Curt. 8,1,43–47; Arr. an. 4,8,9. Hephaistions Anwesenheit ist nicht erwähnt. Ptolemaios scheint in seiner Version die eigene Rolle hervorgehoben zu haben. 77 Plut. Alex. 52,2–4; mor. 781 B; Arr. an. 4,9,7–9 (nur Anaxarchos); Just. 12,6,27; Curt. 8,8,22 (beide erwähnen nur Kallisthenes). 78 Vgl. Nisbet 2010, S. 222f.; Wieber 2008, S. 156f.; Chaniotis 2008, S. 190–192; Petrovic 2008, S. 167f. Es wird angedeutet, dass Alexander unter den Ansätzen eines Ödipus-Komplexes gelitten habe, eine Spekulation, die nicht neu, auf der Basis eines fiktiven Psychogramms jedoch stets schon fragwürdig gewesen ist. 84 Sabine Müller jenes moralisierenden Bonmots verblüfft an diesem Punkt nicht nur, weil die Quelle, ein anonymer Brief unter dem Namen des Diogenes,79 trotz ungewisser Datierung Ptolemaios sicher nicht bekannt gewesen sein dürfte.80 Verwirrend erscheint vor allem, dass die Aussage auf den gerade gezeigten Sportkampf bezo- gen ist. Dabei handelt es sich um einen eindeutig sexuellen Inhalt in „pederastic phraseology“81 aus dem Kontext philosophisch-rhetorischer moralischer Kritik an Alexander.82 In der deutschen Übersetzung wird der erotische Sachverhalt noch weiter vertuscht, da die Schenkel durch – offenbar als harmloser empfun- dene – Körperteile ersetzt werden: „Später hieß es, seine einzige Niederlage habe Alexander in den Armen Hephaistions erfahren.“ In der nächsten Szene, in der Hephaistion auftaucht, sind beide fast neun- zehn. Der Zuschauer erfährt durch eine vorangegangene Unterhaltung zwi- schen Olympias und ihrem Sohn, den sie auf seine dynastischen Pflichten einschwören will, dass die einstige Konkurrenz zwischen ihnen Vergangenheit ist: „The girls already say that you don’t like them. You like Hephaistion more.“ Diese Sonderstellung wird durch die Sitzordnung beim Festbankett anlässlich von Philipps siebter Heirat mit Kleopatra,83 Mündel seines Generals Attalos,84 manifest: Hephaistion kommt die Kline neben Alexander zu. In der folgenden Auseinandersetzung um die künftige Thronfolge ergreift er tatkräftig Partei ge- gen Attalos, der Alexanders Legitimität anzweifelt. In der antiken Überlieferung taucht Hephaistion beim Hochzeitsbankett gar nicht auf: Ein isolierter Alex- ander muss sich alleine gegen die Feindseligkeiten von Attalos und seinem be- trunkenen Vater behaupten.85 Ohnehin ist die Anekdote nur eine überzeichnete Metapher aus der Retrospektive, die allenfalls belegt, dass Alexanders Nachfolge am Hof kontrovers diskutiert wurde und er zu dieser Zeit nicht auf die Unter- stützung des Clans von Attalos und dessen Schwiegervater Parmenion86 hoffen

79 Diogenes Sinopensis Epistulae 24,1 (Hercher). 80 Vgl. Ogden 2009, S. 211, Anm. 59. 81 Ogden 2009, S. 210f., Anm. 59. Siehe auch Skinner 2010, S. 126f. 82 Vgl. Stoneman 2008, S. 332; Reames-Zimmerman 1999, S. 90f. 83 Plut. Alex. 9,4; Athen. 13,557 D-E. Ebenso wie in Alexander the Great von 1956 trägt sie bei Stone den Namen Eurydike, vgl. Arr. an. 3,6,5. Es wird vermutet, dass sie den Namen Kleopatra bei ihrer Hochzeit annahm, vgl. Heckel 2006, S. 89; Bosworth 1980a, S. 283. 84 Just. 9,5,9; Diod. 17,2,3. 85 Plut. Alex. 9,3–5; Athen. 13,557 D-E; Just. 9,7,3–5. 86 Curt. 6,9,18. Hephaistion, Orient versus Okzident 85 konnte.87 Der Umstand, dass Philipp bei ihnen eingeheiratet hatte, wurde of- fenbar als Signal missverstanden, sich in die Thronfolgepolitik einzumischen und ihre Wunschvorstellung vom Thronanwärter aus den eigenen Reihen pu- blik zu machen. In Philipps Sinne, wie es der Film vermittelt, war dies kaum. Die Heirat ist als Teil der Vorbereitung seines anstehenden Persienfeldzugs zu betrachten, für den er die Loyalität seiner führenden Generäle, Attalos und Parmenion, mit der Leitung der Vorhut in Kleinasien betraut, benötigte.88 An Philipps Intention, an Alexanders Thronfolge festzuhalten, ist kaum zu zwei- feln.89 Sein älterer Sohn Arrhidaios war mental indisponiert, daher keine Alter- native.90 Alexander war öffentlich schon früh als Nachfolger aufgebaut worden, hatte sich militärisch und innenpolitisch bewähren dürfen.91 Seine Anwesenheit schon als Kind bei griechischen und persischen Gesandtschaften in Pella ist sicherlich als ebenso programmatisch zu betrachten wie Aristoteles’ Berufung zu seinem Erzieher, bei der Philipp die Außenwirkung auf die griechische Welt einkalkuliert haben wird.92 In seiner letzten Regierungsphase stärkte Philipp zu- dem nachdrücklich die faction von Alexanders Mutter.93 Auch das Figurenpro- gramm des nach 338 errichteten Philippeion in Olympia, das wahrscheinlich genuin von Philipp stammte, unterstrich seine Stellungnahme für den Sohn: Die Skulpturengruppe in der Mitte des kleinen Rundbaus zeigte Philipp zwi- schen seinen Eltern, Olympias und Alexander, symbolisierte somit eine Linie argeadischer Herrschaftskontinuität und Legitimität.94 Die letzte wichtige makedonische Station der Laufbahn von Stones Hephais- tion, seine Rolle bei Alexanders Herrschererhebung nach Philipps Ermordung 336, wird außerhalb der Chronologie als Teil von Alexanders Erinnerungen in

87 Vgl. Wirth 1985, S. 164. Siehe auch Müller 2003, S. 27f. 88 Diod. 16,91,2. 93,9; 17,2,4. Vgl. Müller 2010, S. 180; Wirth 1985, S. 165 mit der These, ihre Entsendung nach Kleinasien sei auch Teil von Philipps Strategie gewesen, den Weg für Alexanders Thronfolge zu sichern. 89 Die Tradition der Entfremdung zwischen Alexander und seinem Vater ist aus der Retro- spektive geformt. Vgl. Wirth 1989a, S. 193–220. 90 Plut. Alex. 10,2; 77,5; Just. 13,2,11. In der Ausnahmesituation nach Alexanders Tod wurde er formal Herrscher (Curt. 10,7,1–7). 91 Plut. Alex. 9,1. Vgl. Müller 2010, S. 180. 92 Aischin. 1,168; Plut. Alex. 5,1; 7,2–8,1. 93 Diod. 16,91,1; Just. 9,6,1; 13,6,4. 94 Paus. 5,17,4. 20,9–10. Vgl. Schultz 2007, S. 205–233. Siehe auch Hardman 2010, S. 507–509; Müller 2010, S. 181f.; Worthington 2008, S. 164–166; Carney 2007, S. 27–60. 86 Sabine Müller der Spätphase des Kriegs gezeigt. Demnach bewahrte Hephaistion im Theater in Aigai als einziger außer Olympias einen kühlen Kopf und nutzte die Chan- ce, um den Freund zu akklamieren. Der Gestus erinnert eigentümlich an die Siegerverkündung bei einem modernen Boxkampf: Hephaistion reißt Alexan- ders Arm hoch und präsentiert ihn der verstörten Menge als neuen Herrscher. Dann krönt er ihn mit einem goldenen Laubkranz, der ein weiteres fragwürdi- ges Detail ist. Zwar wurde ein ähnlicher Kranz im Königsgrab in Vergina (Ai- gai) gefunden,95 doch gilt aktuell mehrheitlich das Diadem als makedonisches Herrschaftssignum mit einer längeren argeadischen Tradition.96 Im Film zeitigt Hephaistions rasches Eingreifen Erfolg: Noch während Phil- ipps Blut in den Sand sickert, jubelt die Menge dem Nachfolger zu. Alexander selbst scheint kaum zu wissen, wie ihm geschieht. Später verdächtigt er seine Mutter Olympias, hinter dem Attentat zu stecken. Obwohl durch die Szene von Pausanias’ Misshandlung beim Bankett das schon in der Antike postulierte persönliche Rachemotiv angedeutet ist,97 kann Olympias den Verdacht nicht zerstreuen, da sie, anstatt zu dementieren, nur offenbart, mit dem Ausgang der Ereignisse zufrieden zu sein. Dies führt allerdings zu der Überlegung, in- wieweit Hephaistion mit seiner souveränen Reaktion auch eingeweiht gewesen war. Er gehört nicht nur, wie sein Sitzplatz hinter Olympias im Theater zeigt, zu ihrer höfischen faction, sondern versteht sich offenbar auch gut mit ihr.98 So verwendet er sich später – vergeblich – bei Alexander für sie, als sie nach Babylon kommen möchte. Olympias wiederum nimmt in einem Brief, in dem

95 Vgl. Worthington 2008, S. 235. 96 Vgl. Fredricksmeyer 1997, S. 97–109; Calcani 1997, S. 29–39. Indes ist diese Er- kenntnis auch nicht in die Neuauflage der Alexanderbiographie von Stones histori- schem Berater Lane Fox eingeflossen; vgl. Lane Fox 2005, S. 360f., 363 u. 585. 97 Diod. 16,93–94,1; Plut. Alex. 10,4; Aristot. Pol. 1311B. Lane Fox 2005, S. 43–45 beurteilt dagegen auch Olympias stereotyp als Anstifterin zum Mord an Philipp. 98 So scheint sich ihre Verärgerung über Alexanders enge Beziehung zu ihm gelegt zu haben, die in der Szene angedeutet ist, in der sie vor Philipps Hochzeitsbankett mit Alexander über seine Pflichten redet, einen Nachfolger zu produzieren, und dies von seinen wahren Gefühlen getrennt zu sehen. Auf Hephaistion angesprochen, antwortet er: „Hephaistion loves me as I am and not who.“ – eine Reminiszenz an den angeblichen Ausspruch des historischen Alexanders, Hephaistion sei philalexandros, nicht philoba- sileus gewesen: Diod. 17,114,2; Plut. mor. 181 D; 337 A; Alex. 47,5. Wie Chaniotis 2008, S. 163 darlegt, reagiert Olympias wie eine moderne, konservativ eingestellte Mut- ter beim Coming Out ihres einzigen Sohns: Sie wiederholt erst ungläubig, dann erbost: „Loves? Loves!“ und fürchtet um ihren Traum von Enkeln. Hephaistion, Orient versus Okzident 87 sie ihren Sohn vor seinem inner circle warnt, Hephaistion als einzigen aus.99 Insofern kann beim Zuschauer durchaus der Eindruck entstehen, dass beide an jenem Tag in Aigai über Pausanias’ Absicht Bescheid gewusst hatten. Ihnen ist am meisten daran gelegen, Alexander auf dem Thron zu sehen – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Olympias geht es um den Erhalt ihrer höfischen Stellung und um Rache an Kleopatra und ihrer Familie. Hephaistion ist an Alexanders Wohl gelegen. Der Sinn und Zweck dieser Darstellung Hephaistions in Makedonien liegt darin, ihn als Intimus und Insider zu zeigen, der Einblick in die schwierigen Familienverhältnisse und damit auch die problematische Gefühlslage seines Freundes hat. Zugleich hat er als „Königsmacher“ Anteil an Alexanders Aufstieg. Dramaturgisch eingängig, wirkt dieser Kunstgriff dennoch im Hinblick auf die makedonischen politischen Strukturen naiv. Selbst wenn Hephaistion zu diesem Zeitpunkt schon zu Alexanders inner circle gezählt hätte, was sich nicht verifizieren lässt, wäre er kaum in der Position gewesen, den Nachfolger der makedonischen Heeresversammlung zu präsentieren, die den argeadischen Herrscher traditionell akklamierte.100 Hephaistion stammte aus einer vermutlich weniger bedeutenden Familie;101 das politische Sagen hatten andere. Auch Alexanders sofortige Erhebung er- scheint unrealistisch. Falls Pausanias im Alleingang gehandelt hatte,102 waren sämtliche adligen factions über die plötzliche Thronvakanz überrascht und mussten sich erst neu positionieren. Sollte Pausanias von höfischen Kreisen an- gestiftet worden sein, gab es immer noch genügend Gruppierungen, die über- rumpelt wurden. Für den Clan um Attalos kam Philipps Tod kaum zu einem günstigen Zeitpunkt: Er und Parmenion befanden sich fernab in Kleinasien und konnten nicht eingreifen; zudem hatte Kleopatra Philipp keinen Sohn geboren.103

99 In der antiken Überlieferung findet sich dagegen eine – indes mit Skepsis zu betrach- tende – Tradition, wonach sich die beiden nicht sonderlich gut verstanden haben sollen, weil Olympias auf Hephaistions Vertrauensstellung bei Alexander eifersüchtig gewesen sei: Diod. 17,114,3. 100 Vgl. Hammond 1989, S. 60. 101 Vgl. Reames-Zimmerman 1998, S. 67. 102 Wie Aristot. Pol. 1311B argumentiert. 103 Sondern ein Mädchen: Just. 9,7,12; Athen. 13,577 E (namens Europa). Unzutref- fend: Paus. 8,7,7. 88 Sabine Müller

Alexanders Position wiederum war so umstritten und ungefestigt, dass sein Vater auch aus seiner Perspektive zu früh starb.104 Die potentielle Thronkon- kurrenz besaß einiges dynastisches Prestige: Sein Cousin Amyntas, der Sohn Perdikkas’ III., war schon bei dessen Tod 359 v. Chr. der legitime Erbe gewesen, aufgrund seiner Unmündigkeit und der politischen Krisenlage jedoch durch seinen Onkel Philipp ersetzt worden.105 Inwiefern Amyntas selbst Ambitionen zeigte, 336 nachzufolgen, lässt sich schwer sagen. In jedem Fall wurde er von einigen factions als Alternative betrachtet.106 Weitere Anwärter waren Arrhabaios, Alexander und Heromenes, die Söhne des vormals autonomen lynkestischen Dynasten Aëropos aus Obermakedonien, der, wie sein dynastischer Name verrät, wohl aus einem Argeadenzweig kam.107 Mit der argeadischen Abkunft erfüllten seine Söhne eine der drei Grundvoraus- setzungen für den makedonischen Thron – neben militärischer Exzellenz und Rückhalt bei den einflussreichen factions. Antipatros, neben Parmenion die zweite Graue Eminenz in den makedonischen politischen Strukturen, war der Schwiegervater von Alexander Lynkestes,108 hätte also Gründe gehabt, dessen Nachfolge zu befürworten. Brian Bosworth zufolge initiierten die erst unter Philipp eingegliederten obermakedonischen Fürsten das Attentat, um zu verhindern, dass Parmeni- ons „Junta“ noch größeren Einfluss gewann.109 Sollte eine solche Feindschaft bestanden haben, saß Antipatros, mit Parmenion befreundet, zwischen den Stühlen. Letztendlich kam es darauf an, für wen Parmenions Clan, der keinen Kandidaten aus den eigenen Reihen hatte, sich entschied, und wie Antipa- tros und seine faction reagierten. Die Wahl fiel auf Alexander, der in seiner schwachen Position wohl als das geringste Übel galt, zumal er offenbar der jüngste Kandidat war. Man hoffte, ihn wie eine Marionette lenken zu können. Doch war es wohl eine Kompromisslösung, die Opfer forderte: Attalos musste

104 Vgl. Müller 2010, S. 183; Carney 1992, S. 185f.; Bosworth 1971, S. 103. 105 Curt 6,10,24; Just. 7,5,8–10; Diod. 16,1,3. 2,4–5. Vgl. Müller 2010, S. 166; Worthington 2008, S. 20; Wirth 1985, S. 26. 106 Plut. mor. 327 C; Curt. 6,9,17. 10,24. Vgl. Prandi 1998, S. 97 u. 100. Dagegen erkennt Wirth 1989b, S. 136f. keine Initiative von Amyntas’ Seite. 107 Ihr Großvater soll der Herrscher Pausanias gewesen sein, den Alexanders Großvater Amyntas III. beseitigte, um auf den Thron zu kommen (Diod. 14,89,2). Vgl. Heckel 2006, S. 19; Hatzopoulos 1986, S. 289; Bosworth 1980, S. 159; Berve 1926, S. 17. 108 Curt. 7,1,7; Just. 11,7,1–2. Vgl. Heckel 2006, S. 35; Bosworth 1971, S. 93. 109 Vgl. Bosworth 1988b, S. 25; ders. 1971, S. 102. Hephaistion, Orient versus Okzident 89 sterben,110 ebenso zwei Söhne des Aëropos, während Alexander Lynkestes zwar nicht das Diadem erhielt, aber dank der Intervention von Antipatros am Leben blieb und militärische Karriere machte.111 Angesichts dieser komplexen Konstellation zum Zeitpunkt von Philipps Tod ist anzunehmen, dass der Akklamation, auch wenn sie eilig erfolgt sein wird, Verhandlungen der einzelnen factions vorausgingen. Auch verwundert nicht, dass wohl Antipatros der Heeresversammlung Alexander vorstellte.112 Der Aus- spruch, der von Parmenions Sohn Philotas stammen soll, das Jüngelchen habe seine Herrscherwürde nur ihm und seinem Vater zu verdanken,113 wirkt weniger anmaßend als zutreffend: Die Parteinahme seiner Familie gab den Ausschlag. In der gestrafften und reduzierten Filmhandlung ergibt hingegen Alexanders Akklamation durch seinen besten Freund dramaturgisch Sinn: Hephaistion ist der einzige, der konstant an ihn und seine Herrschaft glaubt. Zugleich mag die Erfindung, dass er ihn zum Herrscher machte, eine Erklärung dafür sein, dass er ihm bis zum Ende folgt: Er ist verantwortlich dafür, dass Alexander die Herrscherwürde erhielt, unter der er litt, die ihn zum Negativen veränderte und ihr Verhältnis entsprechend beeinflusste.

„It is you I love, Hephaistion“: In der Grauzone zwischen Kameradschaft und Romanze In der Forschung variieren die Meinungen, ob und inwieweit in Alexander eine sexuelle Beziehung zwischen Hephaistion und Alexander angedeutet ist.114 Die- se Uneinheitlichkeit reflektiert die vage Ambivalenz,115 die Hephaistions Status als Alexanders „maybe-kind-of-boyfriend“116 kennzeichnet. Für Spekulationen gewährt Alexander reichlich Raum. So legen tiefe Blicke, innige Umarmun- gen, schwärmerische Zuneigungsbekundungen und nicht zuletzt Hephaistions kummervoll-ablehnende Reaktion auf Roxane und Bagoas den Verdacht auf

110 Diod. 17,2,3–6. 5,2; Curt. 8,1,42. 111 Just. 11,2,2–3; Curt. 7,1,6–7; Arr. an. 1,25,1–2; Plut. mor. 327 C. Bis er allerdings, wohl mit Parmenions Beteiligung, durch Inhaftierung ausgeschaltet wurde. 112 Arr. an. 1,25,2; Curt. 7,1,6–7; Just. 11,2,2. Vgl. Heckel 2006, S. 35. 113 Plut. Alex. 48,4–5. 114 Keine sexuelle Beziehung: Nisbet 2010, S. 227–230; ders. 2008, S. 128; Baynham 2009, S. 300. Dagegen vgl. Wieber 2008, S. 157; Chaniotis 2008, S. 193. 115 Vgl. Cartledge/Greenland 2010, S. 9; Skinner 2010, S. 128f.; Ogden 2009, S. 201; Nisbet 2010, S. 229; ders. 2008, S. 128; Baynham 2008, S. 300; Borza 2004, S. 5. 116 Nisbet 2010, S. 230. 90 Sabine Müller eine erotische Komponente ihrer Freundschaft nahe,117 der jedoch meist um- gehend neutralisiert wird.118 Somit entsteht der Eindruck, Alexander und He- phaistion wollten noch ein letztes Geheimnis um ihr Verhältnis bewahren. Da dies jedoch schon seit der Antike durch die Überlieferung geistert, gab es teil- weise spöttische Reaktionen beim Publikum, wie sie Gideon Nisbet beschreibt: „The day, I saw Alexander, the cinema collapsed into laughter – a welcome break from the yawns – at Roxane’s ‚Do you love that man?’“.119 Die halbgare Ambivalenz scheint daraus zu resultieren, dass ihre Beziehung an verschiedene Schemata angepasst wurde, die nicht wirklich kompatibel sind. Das Ergebnis ist eine problematische Kompilation aus antiker Freundschafts- lehre, Heldenverehrung, Achilles-Patroklos-Parallele, modernen Paarmodel- len, älteren literarischen Vorstellungen von platonischer Männerliebe, wie sie etwa E.M. Forster in Maurice oder Evelyn Waugh in Brideshead Revisited beschreiben,120 und Hollywoodkonventionen. So legt die „intimacy between Alexander and Hephaistion – which, in its equality and reciprocity, resembles the ideal for a contemporary gay couple“,121 eigentlich auch eine körperliche Facette nahe. Diese passte aber nicht zu den zwei letzteren Modellen. Die Fancommunity hat ihre eigene Lösung gefunden. Da sich Hephaisti- ons Figur großer Beliebtheit erfreut122 – was dank seiner zielgerichtet sympa- thischen Charakterzeichnung und der strategisch geschickten Besetzung mit 30STM-Frontman, Schauspieler und Model Jared Leto nicht verwundert –, versuchten zahlreiche Zuschauer, das Manko zu kompensieren, indem sie He- phaistion und Alexander wenigstens im Rahmen von romantisierend-erotischer Fanfiction die im Film versäumten Gelegenheiten nachholen ließen.123

117 Vgl. Baynham 2008, S. 300. Siehe auch Nisbet 2010, S. 229: „soft-pedaled homoeroticism“. 118 Vgl. Nisbet 2010, S. 209. 119 Nisbet 2008, S. 128. Vgl. ders. 2010, S. 229. 120 In Maurice (entstanden in den 1910er Jahren, aber erst postum publiziert) zwischen dem Protagonisten und seinem Studienfreund Clive, in Brideshead Revisited (1944) mit einer in den 1920er Jahren beginnenden Handlung zwischen dem Erzähler Charles und seinem Studienfreund Sebastian. In beiden Fällen sind Liebe und auch Eifersucht impliziert, eine sexuelle Komponente jedoch nicht. 121 Skinner 2010, S. 128. 122 Vgl. Cartledge/Greenland 2010, S. 9f. 123 Vgl. http://www.fanfiction.net/community/The_Best_Alexander_Hephaestion/ 42247/; http://www.fanfiktion.de/Alexander/c/104017000; http://alexanderfanfic- tion.blogspot.com. Hephaistion, Orient versus Okzident 91

Wie auf der Leinwand latente Schwingungen pflichtschuldigst versanden, wird besonders anhand von vier Szenen deutlich. „On the eve of battle, it’s har- dest to be alone“, verabschiedet Alexander Hephaistion in der Nacht vor der Schlacht bei Gaugamela. Offenbar handelt es sich um eine Reaktion auf He- phaistions diskreten Blick zum Eingang seines Zelts. Alexander folgt der Blick- richtung kurz, bevor er die unausgesprochene Frage, ob sie ihre letzte Nacht vor dem möglichen Schlachtentod gemeinsam verbringen wollen, verneint. Nisbet deutet dies als heroische Entsagung des pflichtbewussten Feldherrn, der sich seine Kräfte für die Schlacht aufsparen muss.124 Hephaistion, mit einer Umar- mung abgespeist, akzeptiert seine Entscheidung, wenn auch sichtlich schweren Herzens. Es ist jedoch nicht klar, ob ihn als Patroklos-Äquivalent nicht eher die Aussicht auf den Hades plagt. Ambivalente Untertöne prägen auch eine Szene im Palast in Babylon. Ale- xander gönnt sich eine Ruhepause und liest einen Brief von Olympias, als Hephaistion sich zu ihm gesellt. Es folgt die bizarre Adaption einer antiken Episode, in der er als Mitwisser von Alexanders Geheimnissen charakterisiert wird, der gewohnheitsmäßig dessen Briefe mitlas. Als es sich dabei einmal um brisantere Inhalte handelte, berührte Alexander zum Zeichen der Geheimhal- tung mit dem Siegelring seine Lippen.125 Im Film streckt Alexander ihm, ohne aufzusehen, seine Hand mit dem Ring entgegen, den Hephaistion erst küssen muss, bevor er mitlesen darf. Gerade Zuschauer, welche die antike Tradition nicht kennen, werden mit der Geste etwas anderes assoziieren als Plutarchs Lobeshymne auf Alexanders Vertrauen: sekundär eine Audienz beim Papst, primär jedoch die Begrüßung eines Mafi- abosses durch einen seiner Leute. Dies ist vermutlich nicht von ungefähr und könnte einen Hinweis auf die autokratischen Strukturen im Alexanderreich nach Gaugamela darstellen. So handelt es sich bereits um die Phase von Ale- xanders Depravation durch östlichen Einfluss – bildsymbolisch codiert durch die Umgebung des großköniglichen Gemachs, sein üppiges Brokatgewand, die purpur-goldenen Ruhekissen und die Anwesenheit des Lustknaben Bagoas. Entsprechend klarer tritt die Hierarchie hervor: Hephaistion, einstmals eben- bürtig, beugt sich zum Kuss des Rings seines „Paten“ herab und adaptiert in der fiktiven Weiterführung der Szene zudem eine Dienertätigkeit, indem er

124 Nisbet 2010, S. 229. 125 Plut. mor. 180 D; 332 F- 333 A; 339 F- 340 A; Alex. 39,5. Vgl. Carney 2006, S. 57, 126 u. 133. Der Inhalt des Briefs variiert dabei. 92 Sabine Müller

Alexander den Nacken massiert. In mehrdeutiger Konnotation ist diese Massa- ge zugleich das Signal für eine Annäherung zwischen ihnen, die zu Alexanders Aufforderung führt: „Stay with me tonight, Hephaistion.“ Als Antwort blickt Hephaistion nur mit einem leichten Seufzen zu Bagoas, den Alexander umgehend wegschickt. Der Zuschauer kann sich zwischen der Option entscheiden, dass Bagoas als Diener, der seinem Herrn gerade ein Bad einlässt, durch Hephaistions Bleiben überflüssig wird, oder in seiner Funkti- on als Lustknabe. Indes folgen keine Taten, sondern Worte: Beide ziehen sich auf den Balkon zurück, um sich weitschweifig über Alexanders Eroberungen auszulassen. Mit dem Raumwechsel, dem Verlassen der als großköniglich ge- kennzeichneten Sphäre der tryphé, macht Alexander einen Wandel durch.126 Die Hierarchie wird relativiert. An seine makedonische Vergangenheit erinnert, besinnt er sich mit Tränen in den Augen darauf, was er an seinem Freund hat: „All I know is I trust only you in this world. I’ve missed you. I need you. It is you I love, Hephaistion. No other.“ Da Hephaistion ihn die ganze Zeit begleitet hat, ergibt Alexanders nach- drückliches Geständnis, ihn vermisst zu haben, nur Sinn, wenn nicht seine Funktion als Offizier, sondern seine private Bedeutung gemeint ist. Offenbar soll angedeutet werden, dass Alexander seine Zeit mit anderen, wohl nicht nur in unverbindlicher Weise, verbracht hat, die ihm aber nichts bedeuten – ein weiterer Hinweis auf die Depravation. Hephaistions Reaktion entkleidet die Situation jedoch prompt jeglicher potentiell erotischer Dynamik. Er antwortet mit einem ruhigen Monolog über Alexanders ungebrochene Anziehungskraft, den er leicht verlegen mit der Schwärmerei eines dummen Schuljungen ver- gleicht und damit das Gespräch auf die Ebene harmlos-sentimentaler Jugender- innerungen hebt: „You strike me still, Alexander. You have eyes like no other. […] You are everything I care for. And by the sweet breath of Aphrodite I am so jealous of losing you to this world […].“ Auch wenn die griechische Liebesgöttin beschworen wird und eine innige Umarmung folgt, fehlen Hinweise auf erotische Leidenschaft. Zudem scheint Hephaistion Alexander bereits selbstlos aufzugeben, noch bevor klar wird, in welcher Weise er überhaupt an ihn gebunden ist. Alexander versichert ihm

126 Zugleich könnte durch den Raumwechsel auch die Option, dass Hephaistion Bagoas in der Funktion als Liebesdiener ersetzt, obsolet werden. Andererseits hat Alexander angedeutet, dass er auf das Bad nicht verzichten will, was, Hephaistions Anwesenheit gegeben, wiederum mit erotischen Erwartungen spielt. Hephaistion, Orient versus Okzident 93 zwar, er werde ihn niemals verlieren, doch da die Abblende folgt, bleibt es dem Zuschauer überlassen, zu entscheiden, ob sie in dieser Nacht weiterhin nur reden werden. Am nachdrücklichsten wirft die fiktive Darstellung von Hephaistions Reak- tion auf Alexanders Hochzeit mit Roxane die Frage auf, in welcher Weise er zu ihm steht. Ptolemaios’ Kommentar lässt offen, ob die Heirat eine Entscheidung aus Liebe war, da er sie als einen der mysteriösesten Beschlüsse Alexanders be- zeichnet – eventuell ein filmisches Echo auf das Unbehagen des historischen Ptolemaios über die von weiten makedonischen Kreisen als Mésalliance emp- fundene Ehe.127 Dennoch wird im Film deutlich, dass sich Alexander von Roxane, in der stereotypen Rolle der „orientalischen“ Verführerin, angezogen fühlt. Während er, stets mit dem Weinkelch als Dekadenzsymbol in der Hand, erst ihre Tanz- darbietung und dann die Hochzeitsfeier genießt, steht ein sichtlich mitgenom- mener Hephaistion abseits unter den Gästen und ringt um seine Fassung. Seine Verlustängste sind indes nur aus einer modernen, monogamen Pers- pektive verständlich, die nicht auf die Strukturen am Argeadenhof übertragbar ist. Makedonische Herrscher lebten, vermutlich bereits vor Philipp II., poly- gam.128 Ihre Hochzeiten stellten keinen Hinderungsgrund für Affären dar, die, wie es der kulturellen makedonischen Norm im 4. Jh. entsprach, mit beiden Geschlechtern eingegangen werden konnten.129 Ebenso wie die Ehen parallel liefen, konnte dies auch für die royalen Liaisons zutreffen. Trotz romantisieren- der Tendenzen in den antiken Quellen waren die königlichen Heiraten keine emotionalen, sondern politische Angelegenheiten,130 auch Alexanders Hoch- zeit mit Roxane, die sogar eine politische Notlösung war: Nach dem Scheitern der militärischen Offensive gegen die baktrisch-sogdische Revolte, welche die Eroberungen massiv gefährdete, blieb kein anderes Mittel als eine Bresche in die aufständische Fürstenkoalition zu schlagen, indem Alexander die Tochter

127 Curt. 10,6,13–14. Vgl. Heckel 2006, S. 238; Bosworth 2002, S. 38f. Nichtsdesto- trotz gibt Ptolemaios die offizielle Version wieder, nach der Alexander sich in Roxane verliebt und von seinem Ehrgefühl dazu veranlasst wird, sie nicht wie Kriegsbeute zu behandeln (Arr. an. 4,19,5–6). Der propagandistische Zug dieser Darstellung, die Alexander mit philosophischen Idealen charakterisiert und kaschiert, dass die Ehe sein militärisches Scheitern kompensieren musste, ist deutlich. 128 Vgl. Müller 2010, S. 169; Greenwalt 1989, S. 19–43. 129 Vgl. Skinner 2010, S. 128; Ogden 2009, S. 205, 212 u. 217. 130 Vgl. Carney 2000, S. 98. 94 Sabine Müller eines der Rebellen heiratete.131 Der diplomatische Schachzug war erfolgreich; sein Schwiegervater Oxyartes vermittelte eine Einigung.132 Roxane verlor ihren symbolischen Wert, sobald die Revolte beendet war, und wurde von Alexan- der, sicherlich auch aufgrund der negativen Reaktion von großen Teilen der Makedonen,133 nicht in seine Repräsentationspolitik einbezogen, sondern fris- tete ein Schattendasein.134 Ohnehin war es kein Ruhmesblatt, dass Alexander die Rebellen nicht militärisch besiegt hatte, sondern gezwungen gewesen war, den Frieden über den Umweg als Bräutigam zu erreichen. Vor dem historischen Hintergrund erscheint das Problem, das Stones He- phaistion mit Alexanders Hochzeit hat, unverständlich. Abgesehen davon, dass die antiken Berichte seine Anwesenheit bei der Heirat gar nicht bezeugen,135 war die Ehe ein Befreiungsschlag von kurz bemessener politischer Bedeutung und implizierte nicht, dass sich Alexander fortan der Monogamie oder Hetero- sexualität verschrieb. Hephaistion war in makedonischen höfischen Strukturen sozialisiert und hätte dies gewusst. Stones Filmfigur agiert hingegen in anachro- nistischer Weise. Er fängt Alexander vor seiner Hochzeitsnacht im Brautge- mach ab und macht ihm, den Tränen nahe, das bedeutungsvolle Geschenk eines Rings.136 Die Szene scheint in sehr moderner Prägung auf einen privaten Alter- nativ- und Gegenbund zu Alexanders baktrischer Hochzeit hinauszulaufen, bei der er, triebgesteuert, eine Unbekannte bei einem Zeremoniell geheiratet und

131 Vgl. Olbrycht 2010, S. 359f.; ders. 2004, S. 29–31; Briant 2009, S. 54–58 u. 116; Müller 2003, S. 61f.; Carney 2000, S. 99; Heckel 2006, S. 242; Ogden 1999, S. 44; Wirth 1993a, S. 108f.; Hamilton 1969, S. 130. 132 Arr. an. 4,21,6–10; Curt. 9,8,10. 133 Curt. 8,4,30; 10,6,13–14. Es wird zudem vermutet, dass auch die Baktrier die Ehe als Symbol der makedonischen Eroberung nicht positiv aufnahmen; vgl. Carney 2003, S. 245f.; Bosworth 1995, S. 131; Wirth 1993a, S. 165, Anm. 470. 134 Vgl. Briant 2009, S. 114; Müller 2008, S. 278f.; Borza 2004, S. 3; Carney 2003, S. 245; dies. 2000, S. 107. 135 Nur Luk. Hdt. siv. Aet. 5–6 erwähnt ein Gemälde des Aëtion, das Alexander mit Roxane im Brautgemach, begleitet von Hephaistion, gezeigt habe. Lukians Ekphra- sis ist indes in seinem typisch spöttisch-parodistischen Ton gehalten und scheint auf Alexanders größere Vorliebe für Hephaistion abzuzielen. Da Parallelzeugnisse und gesicherte archäologische Zuschreibungen von Kopien des Gemäldes fehlen, ist es wohl fiktiv, abgeleitet von Aëtions eigentlichem Bild der Hochzeit von Semiramis und Ninos (Plin. NH 35,78). Vgl. Müller 2011b, S. 439f. 136 Dabei kommt zur Sprache, dass er bei dem Ägyptenfeldzug dabei gewesen ist. Die antiken Quellen bezeugen dies indes nicht. Hephaistion, Orient versus Okzident 95 sich über dessen Fremdartigkeit selbst amüsiert hatte. Eingebettet in farbenfro- hem Prunk, Pomp und Lärm hatten sich die Hochzeitsgäste mehr oder weniger latent abgestoßen gezeigt und Flucht im Alkohol gesucht. Das konträre Szenario bietet die informelle Beschwörung von Alexanders Zusammengehörigkeit mit seinem langjährigen engsten Vertrauten: Sie findet intim und unprätentiös in der stillen Abgeschiedenheit eines abgedunkelten Vorraums statt. Hephaistions ehrliche Zuneigung bedarf keiner spektaku- lären Kulisse, sondern spricht für sich. Mit Alexander geht kurzzeitig eine (Rück-)Verwandlung vor sich. Während der Hochzeitszeremonie hatte er angetrunken hochfahrende Reden geschwungen. Nun wirkt er nüchtern, er- griffen und spricht kein Wort. Hephaistion steckt ihm das Schmuckstück an den Ringfinger seiner bereitwillig ausgestreckten linken Hand – in den USA üblicherweise die Hand, an der ein Ehering getragen wird. Alexanders dynas- tischer Verpflichtungen eingedenk wünscht Hephaistion ihm einen Sohn. Es folgt eine innige Umarmung, sogar ein kurzer, keuscher Kuss wird getauscht. Für Hephaistion ist nun der Weg bereitet, ihm eine abschließende Liebeser- klärung zu machen, die jedoch von Roxanes Eintreten unterbrochen wird. Ihre Empörung, Alexanders verlegene Miene und die Art, wie Hephaistion hastig die Hände von seinen Schultern zurückzieht, vermitteln den Eindruck, als seien sie in flagranti ertappt worden. Nach Hephaistions widerstrebendem Rückzug stellt Roxane Alexander erbost zur Rede: „Do you love him?“.137 Seine vage Antwort kann sie weder überzeugen noch beschwichtigen: „He is Hephais- tion. There are many different ways to love, Roxana.“ Wie diese verschiedenen Spielarten aussehen, wird dem Zuschauer unmittel- bar im Anschluss verdeutlicht. Die Stimmung kippt völlig; es folgt eine absto- ßende, von beidseitiger Gewalttätigkeit überlagerte Sexszene.138 Der Kontrast zur ruhigen Innigkeit von Hephaistions Geste könnte nicht größer sein: Wahre, reine Liebe unter dem Zeichen philosophischer Freundschaftsideale steht trieb- gesteuerter, brutaler Leidenschaft gegenüber. Dank Roxanes Einfluss verliert Alexander die Beherrschung – in altgriechischer Sicht ein klares Zeichen eines Tyrannen – und zeigt ein Verhalten, das von Dekadenztopik ebenso geprägt

137 In der deutschen Übersetzung ist die Wortbedeutung wiederum abgeschwächt wor- den: „Du liebst ihn mehr?“ 138 Vgl. Baynham 2008, S. 300. 96 Sabine Müller ist wie vom „Barbaren“-Bild, das Stone zuvor auf Philipp II. – porträtiert als tumber, grobschlächtiger Wüstling – übertragen hat.139 Die unversöhnlichen Gegensätze von dem, was sie in Alexander hervorrufen, bedingen, dass Roxanes und Hephaistions feindselige Konkurrenz fortbesteht. Der Antagonismus wird auf die Spitze getrieben, als Alexander Roxane nach Hephaistions Tod beschuldigt, ihn vergiftet zu haben. Dieser Verdacht wird auch keinesfalls zerstreut.140 Falls sie schuldig ist und sich erhofft hat, den Sieg über Hephaistion davonzutragen, erreicht sie genau das Gegenteil. Alexander bekennt sich nicht zu ihr, sondern zu seinem toten Freund – „You have taken from me all I have ever loved!“ – und erteilt ihr mit dem Befehl, ihn niemals wieder anzurühren, eine endgültige Abfuhr.141 Der Verdacht gegen Roxane funktioniert nur innerhalb des Eifersuchts- und Konkurrenzthemas im Film, eingebettet in den konstruierten Gegensatz von Ost und West. Vor dem Hintergrund der antiken Strukturen an Alexanders Hof erscheint diese Wendung der Dinge unverständlich. Wie Elizabeth Carney herausgestellt hat, ist das Negativbild von Roxane – und Olympias – einerseits auf Stones stereotype Darstellung seiner weiblichen Hauptrollen, andererseits auf die antike griechisch-römische „Königinnentopik“ zurückzuführen.142 Mit den polygamen monarchischen Strukturen und den Handlungsräumen weib- licher Angehöriger des makedonischen Herrscherhauses unvertraut, deuteten die Autoren ihre Präsenz auf dynastiepolitischem Parkett pauschal als unheil- volles intrigantes Frauenregiment, geleitet von rein persönlichen Gründen wie Herrschsucht, Wollust und Bosheit. Diesen Klischees entsprechend wird von der Film-Roxane ein unsympathisches Zerrbild entworfen. Kaum hat sie Ale- xander durch einen sinnlichen Tanz für sich gewonnen, entpuppt sie sich als

139 Zu Stones Philipp als „Höhlenmensch“ vgl. Nisbet 2010, S. 223–225. Philipps Ne- gativzeichnung übertrifft sogar die Polemik bei Theopomp (Athen. 4,166 F-167 C; 6,260 D-E) und Demosthenes (2,18–19; Plut. Demosth. 16,2). Vgl. dazu Müller 2010, S. 173f.; Pownall 2005; Wirth 1985, S. 68, 74 u. 171f. 140 Vgl. Petrovic 2008, S. 179, Anm. 97. 141 Er versucht sogar, sie zu erwürgen, und lässt nur von ihr ab, weil sie ihm offenbart, sein Kind zu erwarten. Chronologisch ist dies nicht richtig. Hephaistion starb im Spätherbst 324, Alexander im Sommer 323. Zum Zeitpunkt seines Todes war Roxane gerade schwanger (Just. 13,2,5; Curt. 10,6,9). 142 Vgl. Carney 2010, S. 135–167. Hephaistion, Orient versus Okzident 97 notorisch übellaunig,143 kontrollsüchtig und mordlüstern. In ihrer anstrengen- den und Besitz ergreifenden Art hat sie einen anmaßenden Ton am Leib, macht Alexander mit ihren Eifersuchtsanfällen das Leben zur Hölle,144 verprellt seine Offiziere und stiftet Unfrieden. Eine solche Macht kam der historischen Roxa- ne kaum zu. Sie war eine von den Makedonen marginalisierte Randfigur, die mit Beendigung der baktrisch-sogdischen Revolte erst einmal ausgedient hatte und Alexander vermutlich nicht überall hin begleitete.145 Hephaistion erscheint im Film zuletzt auf dem Totenbett. Stone setzt sich über die antiken Berichte hinweg, wonach er in Ekbatana einer Kombination aus Fiebererkrankung und Alkoholvergiftung erlag und der herbeigeeilte Alex- ander ihn nicht mehr lebend antraf.146 Die Filmfigur stirbt in Babylon an Typhus und kann, vom Tod bereits schwer gezeichnet, mit Alexander noch ein letztes Gespräch führen. Diese fiktive Szene war allerdings eine Herausforderung, da sie die Gefahr barg, ihre Beziehung durch eine allzu innige Verabschiedung zuletzt doch noch als nicht-platonisch zu kennzeichnen. Für antike literarische Heldenpaare hat der Tod eine besondere Bedeutung: „Death is the climax of the friendship, the occasion of the most extreme expressions of tenderness […] and it weds them forever. Indeed, it is not too much to say that death is to friendship what marriage is to romance.“147 Stones Alexander umschifft diese Klippe und bewahrt das Konzept der emotionalen Grauzone, indem er diese Chance gründlich ver- passt und an Hephaistions Krankenbett als Seelentrost so komplett versagt, dass es trotz des pathetischen Anstrichs schon mehr einer „Scheidung“ gleich- kommt. So sitzt er anfangs zwar noch weinend an seiner Seite, spricht ihm Mut zu, ergreift seine Hand und adressiert ihn als sein unersetzliches Alter Ego. Die

143 Aufschlussreich ist eine Szene in Indien, in der die Makedonen mit Affen Bekannt- schaft machen. Hephaistion führt eines der gefangenen Tiere heran, über das sich Alexander und die Umstehenden amüsieren. Roxane, die von ihm dazugeholt wird, um das Äffchen zu bestaunen, bleibt inmitten der Atmosphäre von Heiterkeit miss- trauisch und schlecht gelaunt. 144 In Stones am monogamen Modell orientierter Erzählstruktur hat sie dazu auch Grund. Indes wird dies wieder dadurch relativiert, dass Hephaistion als positive Kon- trastfigur stumm leidet. 145 Ihre Anwesenheit beim Indienfeldzug wird sich auf ME 70 zurückführen, wonach sie am Hyphasis 326 dabei gewesen sei. Die Glaubwürdigkeit ist jedoch nicht hoch; die Alexanderhistoriographen berichten nichts davon. 146 Arr. an. 7,14,1. 147 Halperin 1990, S. 79. 98 Sabine Müller

Wende deutet sich aber schon an, als er ausgerechnet diesen Zeitpunkt wählt, um das Modell von Achilles und Patroklos als mythische Jugendschwärmerei zu verwerfen.148 Damit nicht genug: Genau in dem Moment, als es mit Hephaisti- on rapide bergab geht, verlässt Alexander sein Krankenlager, geht räumlich auf weite Distanz und flüchtet sich auch gedanklich in eine unerreichbare Ferne: Er beginnt einen Monolog über Zukunftsfantasien, die Hephaistion ganz offen- sichtlich nichts mehr angehen. Während dieser von Krämpfen geschüttelt wird, schaut Alexander stur aus dem Fenster und betont ihre Heterosexualität, indem er von ihren Frauen und noch ungeborenen Kindern spricht, die gemeinsam aufwachsen sollen.149 Dabei bekommt er nicht einmal mit, wie Hephaistion seinen Todeskampf verliert. Nach dieser Demonstration von Distanziertheit erfolgt die Kehrtwende, die keine Gefahr mehr für Alexanders Image bedeutet. So kann er Roxane als Partnerin eine Absage erteilen und sich zu Hephaistion – „all I have ever lo- ved“ – bekennen: Durch dessen Tod sind alle Chancen verpasst; die emotionale Grauzone bleibt gewahrt.

„He too is Alexander“: Das Doppelgängermotiv In der antiken literarischen Stilisierung Hephaistions zu Alexanders Alter Ego ist eine Szene zentral, vermutlich von Kleitarchos:150 Nach dem Sieg bei Is- sos besucht Alexander mit Hephaistion zusammen die gefangene Familie des Großkönigs in ihrem Zelt. Die Mutter Dareios’ III. hält Hephaistion, der gleich gekleidet, aber größer und schöner als Alexander ist, für den Herrscher und vollzieht vor ihm die Proskynese. Alexander nimmt es gelassen und sagt, auch Hephaistion sei Alexander.151 Die Episode ist als unhistorisch zu be- werten. Gemäß dem offiziellen Bericht,152 wenn er auch an eine Passage aus

148 Hephaistion widerspricht ihm mit den Worten: „But how beautiful a myth it was“, erreicht ihn aber schon gar nicht mehr. 149 Vgl. Nisbet 2010, S. 227–230. Dies wirkt besonders merkwürdig, da Hephaistions Heirat mit Drypetis 324 im Film nicht erwähnt wird. Auch Alexanders achaimeni- dische Ehen werden nur kurz von Ptolemaios angesprochen. Im Director’s Cut von 2005 fehlt die Erwähnung ganz. 150 Vgl. Baynham 1998, S. 80; McKechnie 1995, S. 431. 151 Curt. 3,12,15–17; Diod. 17,37,5–6. 114,2; Arr. an. 2,12,6–8; Val. Max. 4,7ext. 2a; Suda s.v. Hephaistion (ε 660 Adler). Vgl. Spencer 2002, S. 174; Bosworth 1980a, S. 222. 152 Vgl. Müller 2011b, S. 436f.; Bosworth 1980a, S. 220–222; Baynham 1998, S. 60. Hephaistion, Orient versus Okzident 99

Xenophons Kyroupaideia angelehnt war, suchte Alexander die Achaimenidin- nen überhaupt nicht auf: Er wollte seine Selbstbeherrschung demonstrieren, indem er die Gattin des Großkönigs, die als die schönste Frau Asiens galt, nicht einmal ansah.153 Die Anekdote des Zeltbesuchs, die seine Freundschaft mit Hephaistion ins Zentrum stellte, erwies sich jedoch als wirkungsmächtiger. Als formelhaftes ex- emplum seiner Milde, Selbstbeherrschung und Loyalität wurde sie in bildender Kunst – mit Hephaistion als Alexanders Ebenbild – und Literatur rezipiert.154 Auch in „Alexander“ fehlt die Doppelgängerthematik nicht. Indes ist in einer Variante zur Spiegelbildlichkeit bei Curtius eine völlig unterschiedliche Dispo- sition und Entwicklung ihrer Charaktere aufgezeigt. So erscheint Hephaistion durchaus als der ideale Freund gemäß antiker philosophischer Ideale: maßvoll, zuverlässig, aufrichtig, kein Schmeichler.155 Der labile Alexander entspricht die- sen Vorgaben jedoch nicht, sondern erscheint teilweise mehr wie eine Verkör- perung des evil twin. Die berühmte Anekdote um Alexanders Anerkennung Hephaistions als sein Alter Ego ist in Alexander aus ihrem zeitlichen und lokalen Kontext gerissen und in den „Harem“ des Palasts von Babylon versetzt, in den die makedonischen Be- satzer unversehens geraten. Die Protagonistin wird ebenfalls ausgetauscht: Statt seiner Mutter ist es Dareios’ Tochter Stateira – Alexanders spätere Frau156 –, die um Gnade bittet und sich dabei irrtümlich an Hephaistion wendet. Wie es zu dieser Verwechslung kommt, ist unklar: Hephaistion steht in einem Pulk aus Makedonen, die alle verschiedene Rüstungen tragen. Es mag sein, dass im Re- kurs auf die antike Tradition seine Schönheit den Ausschlag gibt.157 Wahrschein- licher ist jedoch, dass es seine Haltung ist: Der ruhige, beherrschte Hephaistion bewahrt inmitten der sexualisierten Umgebung vollkommen die Contenance.

153 Plut. Alex. 22,3; Arr. an. 2,12,3–6. Vgl. Xen. Kyr. 5,1,7–8: Kyros wollte die zu seiner Zeit schönste Frau Asiens, Pantheia, die Gattin des Herrschers von Susa, nicht anse- hen, als sie in seine Gefangenschaft fiel. 154 Vgl. Müller 2011a, S. 115f.; Baynham 2008, S. 303–308; Noll 2005, S. 32–26. 155 Diog. Laert. 5,20; Aristot. Eth. Nic. 1156 B, 1157 B, 1159 B; Plut. mor. 53 B; 93 E-94 A. 156 Arr. an. 7,4,4; Plut. Alex. 70,3; mor. 338 D; Diod. 17,107,6; Just. 12,10,9. 157 Zu Hephaistions gutem Aussehen: Curt. 7,9,19 (in päderastischem, negativ konno- tierten Kontext); Just. 12,12,11 (ebenfalls in päderastischem Kontext); Diod. 17,37,5 (ohne Negativkonnotation). 100 Sabine Müller

Im Gegensatz zur antiken Stilisierung der Episode zu einem rherotisch- philosophischen Lehrstück trägt sie in „Alexander“ einen komischen Zug. Die Verwechslung sorgt für allgemeine Heiterkeit bei den Makedonen; die umste- henden Soldaten kichern und Alexanders berühmter Satz „He too is Alexander“ klingt, als wollte er einen Witz machen. Von dem antiken moralischen exem- plum bleibt immerhin der Großmut des Siegers: Alexander verspricht Stateira, dass er sie wie eine Prinzessin behandeln wird, und holt sich danach die Rück- versicherung von Hephaistion, der ihm billigend zunickt. In der Folge tritt das Doppelgängermotiv in den Hintergrund. Eine Reminis- zenz mag die Szene sein, in der Kleitos in Baktrien eine Prügelei mit Hephais- tion anfängt. So könnte es sich um eine Vorschau auf seinen späteren tödlichen Konflikt mit Alexander handeln. In beiden Fällen wird Kleitos’ Unmut vor einer orientalisierten Kulisse verortet: zuerst Roxanes, dann Bagoas’ Tanz. Zuletzt klingt das Doppelgängermotiv in Hephaistions Sterbeszene an. Alex- anders beschwört ihn: „I am nothing without you. Come fight, Hephaistion. […] We will die together. It’s our destiny.“ Dem Topos entsprechend, dass eine Person den Tod seines Doppelgängers nicht überleben kann, folgt im Film direkt Alex- anders letztes Symposion, bei dem er tödlich erkrankt. Die Monate und Ereig- nisse, die zwischen Hephaistions und seinem Ende lagen, werden ausgeblendet.

„Old man, we are in new worlds“: Orient und Okzident Hephaistions tragende Rolle in Alexander resultiert vor allem aus der plakativ konstruierten Dichotomie von Ost und West. Basis bildet das antike griffi- ge Stereotyp des vielversprechenden, tugendhaften Herrschers, der in seiner Jugend die Überfülle seiner Erfolge nicht verkraftet, der Hybris verfällt, sich östlichen Lastern hingibt und zum Tyrannen entartet.158 Stones Alexander trägt – trotz Robin Lane Fox’ milderndem Einfluss auf sein Porträt159 – deutliche Züge dieses Klischeebilds und stellt somit keine geeigne- te Identifikationsfigur für das Mainstreampublikum dar.160 Als problematisch

158 Siehe etwa Curt. 3,12,18–20; 6,5,23–32; 6,6,1–2. 6,8; 10,5,26–37; Just. 12,3. Rela- tivierend: Arr. an. 7,29. 159 Vgl. z.B. Lane Fox 2005, S. 662. Auch das ambivalente Verhältnis zwischen Alexan- der und Hephaistion als dessen „geliebter Freund“ findet sich als „strategic euphemism“ bei Lane Fox: Nisbet 2010, S. 229. 160 So weist Silveira Cyrino 2010, S. 168–182 darauf hin, dass der Alexanderfigur schon durch die Besetzung mit Colin Farrell ein typisches Bad Boy-Image verliehen worden sei. Hephaistion, Orient versus Okzident 101 erweist sich vor allem, dass die Notwendigkeit für Alexander, sich gegenüber der Bevölkerung im Perserreich an der Politik der Achaimeniden zu orientieren, nicht deutlich herauskommt. Um seine Eroberungen zu konsolidieren, galt es für ihn, die Traditionen der verschiedenen Kulturen zu respektieren und dies auch in seiner Selbstdarstellung zu visualisieren. Da Makedonien, insbesondere Hof und Herrschaftsrepräsentation, seit der persischen Oberhoheit Ende des 6./Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr. ohnehin achaimenidisch beeinflusst war, konnte zudem die persische Kultur der makedonischen Führungsschicht kei- neswegs so fremd vorkommen,161 wie der Film suggeriert. In Alexander ist Alexanders Vielvölkerreichspolitik, verknüpft mit dem Dep- ravationsthema, auf die Übernahme von Palästen, Prunk, Luxus und asiatischer Sexualpartner reduziert. Entsprechend ist das Perserreich in geradezu isokrate- ischen Formeln mit den gängigen Negativklischees des imaginierten „Orient“ dargestellt.162 Zwar waren die ersten Jahre des makedonischen Eroberungskriegs von einer panhellenisch geprägten Propaganda begleitet worden. Doch wurden diese ideologischen Parolen durch die Ereignisse relativiert.163 Im Film sind die antiken Klischees mit Versatzstücken aus westlichen Herrschaftsdiskursen des 18. und 19. Jahrhunderts angereichert, die das Fantasiebild eines „Orients“ als rückständiges, von Despotie und kulturellem Niedergang gezeichnetes Gegen- bild des überlegenen Westens beschworen.164 So erscheinen die Frauengemä- cher im Palast von Babylon den typisch westlichen Vorstellungen von einem „Harem“,165 kombiniert mit Hamam-Szenen, nachgebildet.166 Sie gleichen mit ihrer Atmosphäre verruchter Verheißung Darstellungen orientalistischer Ma- ler wie Ingres oder Gérôme. Entsprechend zeigen die „Haremsdamen“ und Lustknaben auch gar keine Furcht vor den makedonischen Besatzern, sondern senden sofort einladende Signale aus. Vor dieser sexuell aufgeladenen Kulisse ist bezeichnenderweise Alexanders erste Begegnung mit Bagoas verortet, der flirtend Augenkontakt zu ihm sucht, was Hephaistion sichtlich irritiert. Cur- tius zufolge kam Bagoas dagegen als Teil einer Gesandtschaft in Hyrkanien an

161 Vgl. Olbrycht 2010, S. 343. Siehe auch Heinrichs/Müller 2008. 162 Vgl. Llewellyn-Jones 2010, S. 243–281. Zu Isokrates’ abwertendem Perserbild: Pan. 150–152, 179–184; Phil. 124. Auch bei Lane Fox 2005, S. 412 findet sich eine solche Tendenz. 163 Vgl. Müller 2011c, S. 113–130. 164 Vgl. grundlegend Said 1994, S. 1–3, 5f., 40 u. 44f. Vgl. Siebenmorgen 2010, S. 13. 165 Vgl. Lewis 2004, 17, S. 253–255. 166 Vgl. Llewellyn-Jones 2010, S. 243–281. 102 Sabine Müller

Alexander.167 Die Abweichung im Film lässt sich mit der Depravationsschilde- rung Alexanders erklären, die an diesem Punkt mit Babylon als einem zentralen Symbol einsetzt. So ist es kaum ein Zufall, dass Alexander Bagoas in der Stadt kennen lernt, die im westlichen kulturellen Gedächtnis das biblische Sinnbild von Laster, Hybris und Wollust schlechthin ist.168 Alexanders Blick von der Terrasse auf das Stadtpanorama macht dies explizit: Im Hintergrund erhebt sich ein Gebäude, das an westliche Darstellungen des Turms von Babylon, maßgeb- lich von Bruegel, erinnert. Signifikanterweise folgt zur Begrüßung der Makedonen das neben dem Harem zweite ultimative westliche Sinnbild für den imaginierten erotisierten „Orient“: ein Bauchtanz.169 Thema zahlreicher orientalistischer Gemälde,170 symbolisierte der Bauchtanz das „pseudoerotische Motiv der sich käuflich an- bietenden Orientalin“171 und war mit sexueller Erwartung verbunden. Dieser Deutungstradition entspricht es, wenn Roxane Alexander bei ihrem ersten Auf- treten durch eine Mischung aus Schleier-, Bauchtanz und Almeh in ihren Bann schlägt.172 Die orientalische Tänzerin, in der westlich-christlichen Tradition zudem mit dem Negativbild der Salome assoziiert, hat als femme fatale im modernen Film eine lange Tradition.173 Ein maßgebliches Beispiel ist der verführerische „orientalische“ Tanz der Maschinenmaria in Fritz Langs Metropolis (1927), der mit biblisch-apokalyptischen Motiven verknüpft ist und Chaos, Tod und Un- tergang ankündigt.174 Wie Renate Heilmann herausgestellt hat, verkörpert der

167 Curt. 6,5,23. 168 Vgl. Sals 2004. 169 Flaubert assoziierte etwa Fantasievorstellungen von Judith und Holofernes, die mitei- nander schliefen, mit dem Bauchtanz. Vgl. Kassatly Bagnole 2005, S. 59. 170 Vgl. Kassatly Bagnole 2005, S. 55–91. Besonders präsent war die östliche Tänzerin in den Gemälden von Gérôme. 171 Chahine 2008, S. 155. Vgl. Kassatly Bagnole 2005, S. 59. 172 Zwar fesselte Roxane auch in antiken Quellen mit einem Tanzauftritt Alexanders Aufmerksamkeit: Curt. 8,4,23–30; 10,3,11; Arr. an. 4,19,5; 6,15,3; ME 29; Strab. 11,11,4; Plut. mor. 332 E; Alex. 47. Dies gilt indes als romantisierende Ausschmü- ckung, vgl. Heckel 2006, S. 242; Bosworth 1990, S. 131. 173 Vgl. Kassatly Bagnole 2005, S. 93–104 (zu Salome), S. 104–113 (zum Tanz der Sieben Schleier), S. 135–185 (zur östlichen Tänzerin als femme fatale im westlichen Film). 174 Vgl. Huyssen 1981/82, S. 230, 233 u. 235. Hephaistion, Orient versus Okzident 103

Maschinenvamp die moderne Hure Babylon.175 Auch auf Roxanes Tanz folgen in Alexander das drohende Zerwürfnis des Herrschers mit Teilen seiner Offizie- re, Dekadenz und Todesfälle. Die Symbolfigur der Hure Babylon wird jedoch nicht durch Roxane ver- körpert, sondern – in gesteigerter Dekadenztopik, potenziert durch Transgres- sion – durch Bagoas.176 Der effeminierte Eunuch erscheint als lasziv-erotischer „orientalischer“ Tänzer und verleitet mit seiner aufreizenden Darbietung in spärlicher Bekleidung den angetrunkenen Alexander zu einem öffentlichen Kuss, der weite Teile der Bankettgäste in Schockstarre versetzt. In christlicher Symbolik besiegelt der Kuss des Sinnbilds der Hure Babylon Alexanders Un- tergang; die angewiderten Mienen der makedonischen Augenzeugen tragen zum allgemeinen Negativeindruck bei. Entsprechend ist das Geschehen auch im schummrigen Halbdunkel eines Trinkgelages verortet und nicht, wie Di- kaiarchos bezeugt, im Theater bei musischen Wettkämpfen, bei denen Bagoas den Sieg davontrug.177 Bei Roxanes Figur klingt ebenfalls christliche Symbolik an: das Rollenmo- dell der Salome. Sie tritt als Schleiertänzerin in Erscheinung und tötete mög- licherweise Hephaistion – den Mann, der sich von den topischen östlichen Verführungen, die sie versinnbildlichte, nicht blenden ließ – eine Anlehnung an Johannes den Täufer. Bezeichnend für die Funktion von Sexualität als Gradmesser von Alexanders Negativwandel – eine Methode, die bereits Curtius, der Bagoas ebenfalls in diesem Sinne funktionalisiert, anwendet178 – ist nicht nur, dass seine erotischen

175 Vgl. Heilmann 2005, S. 145. 176 Bagoas wird schon in der antiken Tradition als inportunissimum scortum (Curt. 10,1,29) und Lustknabe sowohl von Dareios III. als auch von Alexander (Curt. 6,5,23; 10,1,25–29) dargestellt, zudem als übler Schmeichler (Plut. mor. 65 D) und hinterlisti- ger Intrigant (Curt. 10,1,22–42). 177 Plut. Alex. 67,4; Athen. 13,603 A-B. Dikaiarchos’ Zeugnis ist ohnehin stark mora- lisierend, obwohl er nichts davon erwähnt, dass Bagoas’ Auftritt anstößig gewesen sei. Doch bezeichnet er Alexander als unmäßig in seiner Knabenliebe (Fehlen von sophrosyne) und stellt die Makedonen, die ihn dazu anhalten, Bagoas zu küssen, als Schmeichler dar. Sowohl das Objekt der Begierde als auch die Umgebung entsprechen in griechischen Augen nicht den Vorstellungen eines legitimen eros. In der Filmsze- ne scheint es sich bei den auffordernden Zurufen indes weniger um einen Akt der Schmeichelei als um einen Test zu handeln, wie weit Alexander wirklich gehen wird. 178 Curt. 6,5,23–32. 6,8; 10,1,22–42 (insbesondere 10,1,29). Vgl. Müller 2003, S. 199–202; Baynham 1998, S. 170. 104 Sabine Müller

Szenen sich in der Phase seiner „Orientalisierung“ mit östlichen Partnern ab- spielen, sondern auch ihr jeweiliger Kontext. So ist das Intermezzo mit Bagoas als simultan zur Ermordung von Parmenion dargestellt und der öffentliche Kuss bildet den Auftakt für Alexanders Mord an Kleitos, in beiden Fällen Sym- bole für seine Abkehr von der „alten Welt“. Indes verfällt er nicht gänzlich den Versuchungen der „new worlds“, solange Hephaistion noch an seiner Seite ist, der die Erinnerungen an die makedoni- sche Vergangenheit und einstige Ideale und heroische Werte repräsentiert, die vor allem in der Achilles-Patroklos-Parallele symbolisiert scheinen. Interessanterweise ist Hephaistion – neben Ptolemaios, der aber blass bleibt – der einzige von Alexanders philoi, der sich nicht von „orientalischen“ Lastern korrumpieren lässt. Zwar passt er sich anfangs nach den Siegen in seinem äußeren Erscheinungsbild – auffällige Gewandung, Schmuck, Kajal – den Orientalisierungstendenzen an, was vermutlich seine Unterstützung von Alexander Persienpolitik ausdrücken soll.179 Ähnlich wie Xenophons Kyros scheint er aber nur die äußere tryphé zu politischen Zwecken übernommen zu haben und innerlich davon unberührt geblieben zu sein.180 Im Lauf des Films wird seine Aufmachung zudem im umgekehrten Verhält- nis zu Alexanders Depravation wieder gedeckter und schlichter. Diese Rück- verwandlung – und damit Distanzierung von der ins Negative kippenden Persienpolitik des Herrschers – ist ab dem Bankett fassbar, bei dem Kleitos stirbt. Auf dem Sterbebett trägt Hephaistion dann gar keine Schminke und kei- nen Schmuck mehr, wirkt in der prächtigen Kulisse verloren und beschwört in diesem Kontext nicht von ungefähr ein letztes Mal das Modell von Achilles und Patroklos als westliches Kämpferideal herauf, wie es im Film verstanden wird. Hephaistion hat keine Affären – seine persische Frau wird verschwiegen – und lässt sich in keine Exzesse hineinziehen. Im babylonischen „Harem“ schaut er sich nur mit distanziertem Staunen um, während seine Kameraden animiert wirken und teilweise handgreiflich werden. Er wird zwar trinkend, aber nie betrunken gezeigt. Völlig im Gegensatz zur antiken Tradition, er sei an einer Al- koholvergiftung gestorben, behauptet der Arzt im Film, gerade das Wasser, mit dem er seinen Wein gemischt hat, sei infiziert gewesen. In der zeitgenössischen

179 Plut. Alex. 47,5. 180 Xen. Kyr. 8,3,1–2. 3,13–14. Vgl. Azoulay 2004, S. 161–167. Hephaistion, Orient versus Okzident 105 griechischen Polemik war es hingegen ein Standardtopos, den Makedonen vor- zuwerfen, sie würden ihren Wein ungemischt auf „Barbarenart“ trinken.181 Hephaistion figuriert somit als die positive Identifikationsfigur: Alexan- der kämpferisch ebenbürtig, aufgeschlossen für Abenteuer in fernen Län- dern – sogar ein zoologisches Interesse wird ihm bescheinigt –, besonnen und unkorrumpierbar. „I worry for you without me“, sind die letzten Worte des sterbenden Hephais- tion zu Alexander. Die Sorge erweist sich als berechtigt: Er hatte den instabi- len Herrscher davor bewahrt, sich von seiner mit Tyrannentopoi gezeichneten „dunklen Seite“ gänzlich dominieren zu lassen. Ohne seinen mäßigenden Einfluss versinkt Alexander in Lastern und Wahn, illustriert anhand einer Szene, der passenderweise Ephippos’ Zeugnis zugrunde liegt: Bei einem Ge- lage erscheint ein betrunkener, lüsterner Alexander mit Löwenexuvie auf dem Kopf, verkleidet als sein Ahnherr Herakles, inmitten einer zechenden Horde.182 Ephippos’ polemische Abrechnung mit dem vermeintlich degenerierten make- donischen Tyrannen ist als tendenziös und unglaubwürdig anzusehen,183 eignet sich jedoch in seiner bildsprachlichen Codierung optimal für Stones Darstel- lung eines Alexanders ohne Hephaistion.

„I always think of you as the sun, Alexander“: Hephaistion und Alexander im Dunkeln In der Szene, in der Hephaistion Alexander den Ring schenkt, begleitet er dies mit den Worten, Alexander sei für ihn die Sonne, und er bete darum, dass dessen (politischer) Traum auf alle Menschen scheine. Der Vergleich des Monarchen mit der Sonne stammt aus der hellenistischen Herrscherpanegyrik.184 In diesem speziellen Kontext rekurriert er zudem sicher auf das Symbol des Sonnensterns,

181 Athen. 10,434 B-C; Demost. 2,18–19; Diod. 16,87,1; 17,117,1; Ael. VH 3,23; Plut. mor. 454 D-E; 623 E-624 A; Alex. 4,7; Diod. 16,87,1. Vgl. Pownall 2010, S. 55–65. Eventuell verweist Athen. 3,124 C darauf, dass die Makedonen den Wein nicht immer ungemischt tranken. 182 Athen. 12,537 E-F. 183 Vgl. Müller 2014a; Wirth 1993b, S. 22f.; Stewart 1993, S. 207. Ephippos’ un- glaubwürdiger Polemik zufolge erschien Alexander auch als Ammon, Artemis – ef- feminiert als cross-dresser mit persischem Bogen (in griechischer Perspektive die Fernwaffe von Feiglingen) – oder als Hermes verkleidet. 184 Demetrios Poliorketes wird in einem athenischen Hymnos von 291 v. Chr. derartig gepriesen: Athen. 6,253 B-F. 106 Sabine Müller wie es etwa auf der goldenen larnax aus dem Herrschergrab in Vergina abge- bildet ist.185 Mehrheitlich wird dem Zeichen ein makedonisch oder auch spezi- fisch argeadischer Charakter als Emblem des Herrscherhauses zugeschrieben,186 da die Sonne bereits im makedonischen Gründungsmythos eine zentrale Rolle für die Legitimation der Argeaden spielt.187 So erscheint das Herrschaftsrecht und Kriegsheil des Reichsgründers Perdikkas durch den göttlichen Glücksglanz als Manifestation des Himmelsfeuers, der Sonne, dargestellt.188 Vor diesem Hintergrund ist das Sonnensymbol mit Makedonien und argeadi- schen Traditionen verbunden. Als Hephaistion Alexander den Ring überreicht, hat dieser sich in der Logik des Films schon weit von seiner makedonischen Vergangenheit entfernt. Er ist bereits König von Asien und mitten in der De- pravationsphase befindlich, wie seine gerade vollzogene Hochzeit mit Roxane betont. Hephaistions Appell an eine makedonisch-argeadische Ausrichtung von Alexanders Weltherrschaft – vermutlich als eine Rückkehr zur Mäßigung zu verstehen – ist daher utopisch. Seine Verfallsgeschichte lässt sich nicht mehr aufhalten. So akzeptiert er zwar gerührt den Ring und trägt ihn bis zu seinem Tod, doch seine Depravation schreitet ungemindert voran. Nicht von ungefähr fällt der Blick des Zuschauers etwa bei Szenen wie Alexanders Verzückung über den tanzenden Bagoas oder seinem Zusammenbruch nach dem Kleitos-Mord auf diesen Ring. Durch ein weiteres stilistisches Mittel findet sich verdeutlicht, dass die „argea- dische Sonne“, wie Hephaistion sie sich vorstellt, nicht mehr über ihm scheint: In allen Szenen im Perserreich, in denen sie sich nur zu zweit gegenüberstehen, ist es dunkel: in der Nacht im Feldlager vor der Schlacht bei Gaugamela als Wendepunkt für Alexanders Entwicklung, bei ihrem Gespräch auf dem Bal- kon des Palasts von Babylon, bei Hephaistions Ringübergabe im Vorraum des

185 Vgl. Worthington 2008, S. 235. 186 Vgl. Anson 2010, S. 89; Worthington 2008, S. 235. Zum Sonnenstern als moder- nes Politikum vgl. Danforth 2010, S. 587–589. 187 Hdt. 8,137–138 (besonders 8,137,3–5). 188 Vgl. Fredricksmeyer 1997, S. 103; Greenwalt 1994, S. 3–8; Rosen 1978, S. 11f. Es wird vermutet, dass es sich um das Wirken des Dionysos, manifestiert als Helios, handelt. Herodot scheint dies, obwohl er den Gott nicht namentlich bezeichnet, auch anzudeuten. Er erwähnt, dass Perdikkas in die Gärten des Midas gelangt sein soll, wo nach makedonischer Sage der Silen gefangen worden sei – Begleiter des Dionysos. Vgl. Müller 2014a. Hephaistion, Orient versus Okzident 107

Brautgemachs und zuletzt an seinem Sterbebett. In dieser Todesszene wirkt es bezüglich der Symbolik von Licht und Schatten besonders bezeichnend, dass Alexander zum Fenster geht und ins Helle hinausschaut, während Hephaistion verlassen im Dunkel zurückbleibt. Die argeadische Sonne scheint schon lange nicht mehr über ihm.

„We reach, we fall“: Fazit Alexander folgt in weiten Teilen dem antiken Stereotyp der Verfallsgeschichte, in der sich ein junger westlicher Herrscher von seinem Erfolg und den Lastern des besiegten Ostens korrumpieren lässt und in tyrannischer Entartung auf seinen Untergang zusteuert. Modern ist der Anklang an einen Mafiaboss. Da das Perserreich mit den gängigen „Orient“-Klischees geschildert ist, die stark sexualisiert sind, spielt Erotik als Gradmesser der moralischen Entwick- lung eine zentrale Rolle. Entsprechend fehlt keins der Standardelemente der westlichen Imaginationen der verruchten Seite des „Orients“: Harem, Hamam, Eunuchen, Effeminierung, Bauchtanz, Salome und die Hure Babylon. Aus dieser von Dekadenz- und Depravationstopik geprägten Kulisse sticht Hephaistion, der bewusst aus dem sexualisierten Kontext herausgehalten ist, positiv heraus. Im Gegensatz zu Alexander erliegt er nicht den topischen Ver- suchungen und hält bis zuletzt an Verhaltensmustern und Rollenmodellen fest, die als westlich – zur makedonischen „old world“ zugehörig, aber nicht im Sin- ne des auf Philipp projizierten „Barbarentums“ – konnotiert sind. Damit wird er an Alexanders Stelle zur Identifikationsfigur. Dieses Konzept ist in Hephaistions Rezeption im Film neu, basiert indes in seiner Grundidee auf traditionellen, tendenziösen Formeln einer Kontrastie- rung von Ost und West und hat mit dem historischen Hephaistion und seiner Rolle im makedonischen Reich nichts zu tun.

Abkürzungen Ael. VH = Aelian: Varia Historia Aischin. = Aischines App. BC = Appian: Bellum Civile Aristot. Eth. Nic. = Aristoteles: Nikomachische Ethik Aristot. Pol. = Aristoteles: Politik Arr. an. = Arrian: Anabasis Alexandrou Arr. Ind. = Arrian: Indika Arr. Per. = Arrian: Periplus Ponti Euxini Arr. Succ. = Arrian: Historia Successorum Alexandri 108 Sabine Müller

Athen. = Athenaios Curt. = Curtius Rufus Demost. = Demosthenes Dio = Cassius Dio Diod. = Diodor Diog. Laert. = Diogenes Laertios Epikt. = Epiktetos HA Carac. = Historia Augusta, Caracalla Hdn. = Herodian Hdt. = Herodot Jul. Val. = Julius Valerius Justin = Iustinus Luk. DM = Lukian: Dialogi Mortuorum Luk. Hdt. siv. Aet. = Lukian: Herodotus sive Aetion ME = Metzer Epitome Paus. = Pausanias Plat. Nom. = Platon: Nomoi Plat. Symp. = Platon: Symposion Plin. NH = Plinius: Naturalis Historia Plut. Alex. = Plutarch: Alexander Plut. Demetr. = Plutarch: Demetrios Plut. Demosth. = Plutarch: Demosthenes Plut. Eum. = Plutarch: Eumenes Plut. mor. = Plutarch: Moralia Plut. Pelop. = Plutarch: Pelopidas Polyain. = Polyainos Ps.-Kall. = Pseudo-Kallisthenes Strab. = Strabon Val. Max. = Valerius Maximus Xen. Kyr. = Xenophon: Kyroupaideia

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Film Alexander (USA 2004), Regie: Oliver Stone.

Michael Toussaint Manifesting Destiny oder Agenda Continuity: Kontextualisierung britischer imperialer Politik in der südlichen Karibik vor und nach Wien

Der Wiener Kongress wird oft primär im Bezug auf die Belange und Ambitionen der europäischen Staaten diskutiert, die Dinge in Europa per se betreffend.1 In erster Linie hauptsächlich aufgrund ihrer Beschäftigung mit der Eindämmung des napoleonischen Frankreichs war die Agenda dieser Staaten in Bezug auf die größere Welt vergleichsweise weit weniger im Fokus und, was noch wichtiger ist, es wurde ihr seitens der Wissenschaft nicht genügend Aufmerksamkeit ge- widmet.2 Die Karibik z.B. bleibt eine derjenigen Gegenden, die nur sehr wenig diskutiert und weitgehend historiographischem Schweigen überlassen bleiben. Diese Arbeit versucht, mit dieser Tradition zu brechen, indem sie sich bemüht, den Kongress in einen größeren historischen Blickwinkel zu betrachten. Das Auftauchen Großbritanniens als mächtigstes und einflussreichstes europäisches Land nach dem Kongress macht das Land zu einem Hauptziel für solch eine Untersuchung. Vor dem Hintergrund des Verständnisses für Großbritanni- ens imperiale Agenda in einem breiteren internationalen Kontext untersucht diese Arbeit das langjährige Interesse des Landes an der südlichen Karibik, an dem spanischen Kontinent in der Nähe sowie an den Konsequenzen aus

1 Ein klassisches Beispiel für diese Herangehensweise und sogar für ihre Notwendigkeit wird reflektiert in der Diskussion betreffend über das Thema der Balance of Power. Siehe Paul W. Schröder: Did the Vienna Settlement Rest on a Balance of Power?, in: American History Review 97 (3), 1992, S. 683–706. Ein Standardwerk bleibt Karl Griewank: Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814/15, Leipzig 1954. Siehe auch E.V. Gulick: Europe’s Classical Balance of Power, Ithaca (NY) 1953; Henry A. Kissinger: A World Restored. Metternich, Castlereagh and the Problems of Peace 1812–22, Boston 1957; Maurice Bourquin: Histoire de la Saint-Alliance, Genf 1954; und Alan Sked (Hg.): Europe’s Balance of Power 1815–1848, London u. Basingstoke 1979. Relativ neu ist Mark Jarett: The Congress of Vienna and its Legacy. War and Great Power Diplomacy after Napoleon, London u. New York 2014. 2 Es hat in jüngster Zeit Versuche gegeben, die Lücke zu füllen. Zu Konsultieren wäre z.B.: Maria Odileiz Sousa Cruz, Lodewijk Hulsman (in Zusammenarbeit mit Regi- naldo Gomes de Oliviera): A Brief Political History of the Guineas. From Tordesillas to Vienna, Boa Vista 2014. 118 Michael Toussaint der Entwicklung des Wiener Kongresses und der Entstehung des britischen Kolonialreiches auf den Westindischen Inseln und in Südamerika.

Der Kongress und sein Ziel und Zweck Die übliche Herangehensweise bei der Diskussion des Wiener Kongresses ist es, zunächst einmal über seinen Zweck zu sprechen: seine Beschäftigung mit Frieden und Sicherheit in Europa, die Notwendigkeit der Verhinderung einer künftigen französischen Aggression, die Bewahrung der Legitimität der Monar- chien in Europa, die Entwicklung einer tragfähigen Balance of Power sowie die Notwendigkeit, Staaten zu entschädigen, denen durch die Neuverteilung eines Teils ihres Landes geschadet worden war. All diese Ziele sind primär mit Europa verknüpft. Aber der Kongress operierte auf mehr als einer Ebene. Zuallererst waren einige Staaten mächtiger als andere.3 Zweitens hatten einige Interessen außerhalb Europas, die von anderen Staaten, welche mit am Verhandlungstisch saßen, nicht geteilt wurden. Drittens war der Kongress ein Verhandlungsaus- schuss (caucus of negotiation), man nahm an, dass die Teilnehmer von legiti- men Erwartungen gemäßigt würden - vor dem Hintergrund dessen, was vor der Ära Napoleons existierte, aber noch wichtiger von dem, was man, basierend auf einem breiten Konsens, für das Beste in der Zukunft hielt.4 Betrachtet man den ersten Aspekt, waren die Machthaber nicht neu und die Machtfaktoren und Schwächen, die es in jedem auf dem Kongress repräsen- tierten Staat gab, wie auch gegenwärtige und historische Trends und Orien- tierungen, bezogen auf die Angelegenheiten, Phänomene und Probleme, die im Mittelpunkt standen, dürften ihnen bekannt gewesen sein. Die hauptsäch- lichen Strippenzieher, die „Pentarchie“ (großen fünf) waren Großbritannien, Russland, Österreich, Preußen und Frankreich.5 Sie befanden sich nicht alle auf demselben Level, wie die mit den Koalitionskriegen von 1792–1815 verbun- denen Entwicklungen gezeigt hatten, die darauf abzielten, Europa von Proble- men zu befreien, die sie in Wien durch diplomatische Verhandlungen endgültig zu lösen versuchten. Bezüglich der zweiten Überlegung unterschieden sich Großbritannien und Frankreich vom Rest der großen fünf - obgleich nicht wesentlich von anderen auf der Konferenz - darin, dass sie Kolonien in Über- see besaßen. Schließlich gab es bezüglich des Hauptanliegens des Kongresses,

3 Jarett: Congress (wie Anm. 1), S. xiii. 4 Ebd. 5 Nikolai Ivanovich Grech: Die europäische Pentarchie, Leipzig 1839. Manifesting Destiny oder Agenda Continuity 119 der Wiederherstellung von Stabilität und Ordnung, ein offensichtliches Be- wusstsein für territoriale Fragen (ob in Europa oder Übersee) und bezüglich des Status der Staaten im Bezug darauf, was existierte, bevor Europa durch die Napoleonischen Kriege verwüstet wurde. Die Machthaber mussten sich darauf einstellen, Konzessionen zu machen. Vom imperialen Standpunkt aus gesehen war Großbritannien höchst formidabel. In Bezug auf die spirituelle Autorität belegten die mitteleuropäischen katholischen Staaten stets den ersten Platz. Einstweilen war Frankreich die Nation, die durch Beschwichtigung (pa- cification) in Schach gehalten werden musste. Auf den Westindischen Inseln waren Großbritannien und Frankreich in dieser Reihenfolge die bedeutendsten Kolonialmächte. Angesichts dessen konnte Großbritannien einige Streitfragen von einer bes- seren Warte aus angehen als die meisten anderen. Dies schloss selbstverständlich jene Fragen ein, die mit Sklavenhandel, der Sklaverei in der Neuen Welt, kolo- nialen Besitzungen in der Karibik und ferner mit Revolutionen in der Karibik und anderswo verbunden waren. Großbritanniens Diskussion jedoch wäre kein Monolog gewesen. Einige derjenigen europäischen Staaten, die in der Neuen Welt keine Kolonien hatten, hofften immer noch auf Erwerb solcher. Die meis- ten mitteleuropäischen Staaten waren durch die Unabhängigkeitsbewegungen und revolutionären Umbrüche in Lateinamerika, der Karibik und anderswo beunruhigt und tatsächlich ging es darum, ein neues Haiti zu verhindern. Für all dies aber hätte Großbritannien seine eigenen Orientierungspunkte gehabt. Hauptsächlich im Hinblick auf Frankreich, nicht auf Napoleon, der von den Franzosen, die nun am Verhandlungstisch saßen, ebenfalls als Bedrohung an- gesehen wurde, war Großbritannien bereit, eine Reihe von Zugeständnissen in der Karibik und andernorts zu machen.6 Großbritannien war auf globaler Ebe- ne die wichtigste imperiale Macht und seine Orientierung hin auf die Karibik sowie seine Bedürfnisse hinsichtlich der Region, insbesondere Sicherheit für die Klasse der Pflanzer und der Ausbau des Kontakts zu und des Handels mit Lateinamerika, dürften die Wahl des Landes beeinflusst haben. In der Arbeit geht es nicht speziell um eines dieser Themen, sondern darum, den weit gefächerten Kontext zu untersuchen, in welchem Entscheidungen ge- troffen werden mussten. Bis heute scheint es so, dass die Historiker die Karibik und Südamerika, genauer, das was man heute als Guayana bezeichnet, in der

6 Anthony Wood: Europe 1815 to 1945, London 1964, S. 1–4. 120 Michael Toussaint

Diskussion über den Wiener Kongress und seine Auswirkungen für die Welt kaum berücksichtigt haben. Vorweg stellen wir fest, dass Großbritanniens frühes Engagement in den bei- den Amerikas von zwei Entwicklungen signifikant beeinflusst wurde: Walter Raleigh und seinen Reisen in sowie Schriften über die Neue Welt, in denen er von der Suche nach El Dorado besessen war, der sagenhaften Stadt aus Gold, von der er glaubte, sie existiere in dem Teil des Kontinents, den er als Guaya- na bezeichnete. Raleigh war ein Schmeichler, Lobhudler und jemand, der sich selbst suchte, aber er war auch Staatsmann, Seefahrer und Soldat sowie Wis- senschaftler und Literat. Obwohl er schließlich bei Queen Elizabeth und später auch bei ihrem Nachfolger in Ungnade fiel, was zu seinem Tod durch Erhängen führte, übte er einen beträchtlichen Einfluss auf die Vorstellungen zur Existenz El Dorados aus. Zweitens lebte zeitgleich mit Raleigh Richard Hakluyt, des- sen Schriften, Denken und Aktivismus die Landwirtschaft und die britische Durchdringung und Besiedlung der Amerikas, einschließlich des südamerika- nischen Festlands, förderten. Hakluyt war einer der intellektuellsten Vorden- ker der britischen Kolonialpolitik. Aber er wurde von Raleigh beeinflusst.7 Wir wissen auch von Raleighs’ Einfluss auf Sir Robert H. Schombugk. Es war der Letztgenannte, der Raleighs’ The Discovery of the Large, Rich and Beautiful Em- pire of Guiana, with a Relation of the Great and Golden City of Manoa herausgab, wobei er es, wie auf dem Umschlag der Neufassung angedeutet, mit „umfang- reichen erläuternden Anmerkungen und einem von ihm selbst geschriebenen litera- rischen Bericht aus dem eigenen Leben“ (Biographical Memoir) ausschmückte.8

7 Richard Hakluyt (Hg.: John Winter James): Divers Voyages Touching the Discovery of America and the Islands Adjacent, London 1850; Ders.: A Particular Discourse Concer- ninge the Greate Necessitie and Manifolde Commodyties That Are Like to This Realme of England by the Westerne Discueries Lately Attempted, Written in the Yare, London 1584. Siehe auch Eric Williams: From Columbus to Castro. The History of the Carib- bean 1492–1962, London 1970, Kap. VI. 8 Siehe Walter Raleigh: The Discovery of the Large, Rich and Beautiful Empire of Gui- ana, with a Relation of the Great and Golden City of Manoa (which the Spaniards call El Dorado), etc. Performed in the Year 1595, by Sir W. Ralegh, Knt., Captain of Her Majesty’s Guard, Lord Warden of the Stanneries, and Her Majesty’s Lieutenant-General of the County of Cornwall. Reprinted from the Edition of 1596, with some Unpub- lished Documents Relative to that Country. Edited, with Copious Explanatory Notes and a Biographical Memoir, by Sir Robert H. Schomburgk, Ph.D., Knight of the Royal Prussian Order of the Red Eagle, of the Royal Saxon Order of Merit, of the French Order of the Legion of Honour, etc., London 1849. Manifesting Destiny oder Agenda Continuity 121

Vielleicht ist es unter Umständen und aus Gründen, die sich zeigen werden, ein guter Einstieg, mit den Koalitionskriegen selbst zu beginnen, und sei es nur, weil sie monothetisch und monolithisch diskutiert worden sind als ein Versuch, lediglich die damals zeitgenössischen Konflikte zu lösen. Aber Geschichte zwingt uns oft, weiter zurückzugehen. Die Kriege und ihre Konsequenzen auf dem Wiener Kongress gehören zu den mehr historiographischen Erfahrungen der modernen Welt. Die Rolle der Karibik bei ihrer Entstehung jedoch sowie die Verbindung zwischen diesen Erfahrungen und der Karibik waren Gegenstand sehr geringer Nachforschungen. Obwohl Großbritannien nach dem Kongress als die mächtigste Nation erschien, zog weder der Stellenwert britischer territo- rialer Interessen in der Karibik noch der Effekt des Kongresses für die europäi- schen Reiche in dieser Region genug wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich. Dieser Essay, der einer umfangreicheren Arbeit über den Wiener Kongress und die Karibik entnommen ist, ist ein Versuch, die Beziehungen zwischen den europäischen Mächten und den Westindischen Inseln in eine historische Perspektive zu setzen, indem das Beispiel Großbritanniens durchgearbeitet wird, seine Agenda in der Karibik, das Ergebnis der Konferenz sowie die Kon- sequenzen für die imperialen Mächte und die Kolonialisierten, insbesondere der südlichen Karibik. Er postuliert, dass, abgesehen von all dem, was die- se [die Karibik, M.B] bezogen auf die Entwicklung in Europa bedeutete, sie außerdem eine Basis (build-up) für die lange andauernde Rivalität zwischen Großbritannien und Frankreich war. Zweitens, dass die Karibik z.T. ein bedeu- tender Teil der Grundlage für diese Rivalität war und zum Auftakt der Periode der Napoleonischen Kriege zu dem geworden war, was Eric Williams in From Columbus to Castro als das „Cockpit Europas“ beschrieb.9 Drittens, dass die Muster in der Entstehung, den Ursachen and Konsequenzen der Periode, die dem Kongress vorausging, die Ära der Napoleonischen Kriege (einschließlich der Koalitionskriege), sich nicht besonders unterscheiden von jenen, die ihnen in den Jahrhunderten vorausgingen, in denen die Karibik wichtiger war. Wei- terhin, dass Großbritanniens unausgesprochene Vormachtstellung während und nach dem Kongress, wie auch diejenige seines Hauptrivalen Frankreich, ihre Entstehung dem Umstand verdankte, dass das Empire ursprünglich nach dem Kontakt Europas mit der Karibik im 15. Jahrhundert konzipiert worden war. Schließlich, dass in der Endphase der Napoleonischen Kriege und durch den Kongress sich für Großbritannien durch den Erwerb Trinidads, Tobagos,

9 Eric Williams: From Columbus (wie Anm. 7), S. 69. 122 Michael Toussaint

St. Lucias und des heutigen Guyanas die Realisierung seiner imperialen Ambi- tionen in der südlichen Karibik herauskristallisiert haben könnte. Auch könn- ten wir uns fragen, welche spezielle Rolle oder Bedeutung die europäischen Kolonisatoren diesen Territorien beimaßen, denn die europäischen Mächte waren ganz versessen auf sie.

Die Guianas Das heutige Guyana (der Begriff ist die moderne Entsprechung für Guiana) ist geographisch ein Teil des südamerikanischen Festlandes. Es wurde auf dem Kongress 1815 erdacht und konzipiert aus den britischen Erwerbungen De- merara, Essequibo und Berbice. Als geopolitische Demarkationslinie wurde es offiziell 1831 geschaffen, als Großbritannien die drei Gebiete am Fluss zu einem Land vereinte, das unverwechselbar als Britisch-Guiana bezeichnet wurde. Bri- tisch-Guiana grenzt südöstlich an Venezuela, welches im Zusammenhang mit den aufkommenden Guiana-Studien als Spanisch-Guiana bezeichnet wurde. Letzteres grenzt nordwestlich an Surinam, welches im Kontext dieser Diskussi- on über die Guianas richtigerweise als Niederländisch-Guiana anerkannt wer- den muss. Richten wir unsere Aufmerksamkeit (considerations) nach Südosten, folgt auf Surinam Cayenne, das als Französisch-Guiana bezeichnet wird. Süd- lich liegt Brasilien, das entsprechend als Portugiesisch-Guiana anerkannt wurde und wird, besonders Amapà, südlich von Cayenne, an dem alle europäischen Mächte Interesse zeigten. Der Schlüssel zum Verständnis dieses Gedankens liegt im Begriff Guiana, der bei den Indianern (das Wort stammt von ihnen) „Land der vielen Gewässer“ bedeutet. Die Gewässer, auf die die Indianer anspielten, waren der Orinoco und Amazonas sowie die vielen anderen Flüsse, die sie ver- binden. Bei der Kolonialisierung Südamerikas, insbesondere des östlichen Teils - der westliche Teil mit der Bergkette der Anden ist eine grundsätzlich andere Sache - hatte Europa das „Land der vielen Gewässer“ besiedelt. Rodway schrieb 1912: „Guiana ist der Name eines Landes, das zwischen den Flüssen Orinoco und Amazonas liegt, welche die Grenzen im Nordwesten und Süden bilden. Von ihm wurde im Allgemeinen als von einer Insel gesprochen und es wurde durch moderne Entdeckungen bestätigt, dass die beiden großen Grenzflüsse weit im Landesinneren […] über den Rio Negro und seine Nebenflüsse mit dem Orinoco verbunden sind.“10 Die Begriffsbildung wird von Sousa Cruz und Hulsman ausgearbeitet: „His- torisch ist dieses Gebiet, bekannt als ‚Guiana‘ oder ‚Guianas‘, Teil der größeren

10 James Rodway: Guiana British, Dutch and French, London 1912, S. 11. Manifesting Destiny oder Agenda Continuity 123 nördlichen Amazonas-Region, die begrenzt wird durch einen Streifen, der von den Flüssen Orinoco, Amazonas und Rio Negro gebildet wird […]. Gegenwärtig ge- hören diese Gebiete zu den Ländern Brasilien, Venezuela, Guyana, Surinam und Frankreich.“11 Den Indianern bedeuteten die geographischen Grenzen und Beschränkun- gen, die ihnen von den Europäern aufgezwungen wurden, geokulturell sehr wenig, abgesehen von dem Blockadeeffekt (stymieing effect) und den Auswir- kungen des Letzteren auf ihre fortlaufende Integration und Interaktion.12 Aber es waren die Indianer, die den Begriff an die Europäer weitergaben. Nach Co- lumbus’ Entdeckungs- und Eroberungsfahrten kämpften die im Wettstreit lie- genden westlichen Länder darum, einen Teil davon zu erlangen und zu halten. Basierend auf ihrer Erfahrung in Europa, auf den Kanaren, Azoren und anders- wo, waren sie sich völlig im Klaren darüber, wie wichtig nahegelegene Inseln für die Besiedlung kontinentaler Landmassen waren. Die spanische Besiedlung Südamerikas war schließlich eine Erweiterung ihrer Besiedlung der Westindi- schen Inseln, insbesondere Trinidads, gewesen. Sie waren darauf vorbereitet, um jeden Felsen auf den Westindischen Inseln zu kämpfen. Die Insel Trinidad liegt in sehr enger Nachbarschaft zu den geteilten Guianas Venezuelas und Guyanas (früher Britisch-Guiana). Es ist diejenige der Westin- dischen Inseln, die am dichtesten am spanischen Festland liegt. Trinidad liegt ebenfalls dicht an den Westindischen Inseln, die sich weiter nördlich befinden, begonnen mit Tobago, mit dem es nun einen einheitlichen Staat bildet (Repu- blik von Trinidad und Tobago), Grenada, St. Vincent, Barbados und St. Lucia. In der Kolonialgeschichte der Karibik hatte die enge Nachbarschaft dieser In- seln oft bedeutet, dass die Besetzung und Besiedlung durch irgendeine europä- ische Macht bedroht wurde durch die Okkupation irgendeiner anderen Insel durch irgendeinen der europäischen Gegenspieler.13 Diese südlichen Inseln,

11 Sousa Cruz, Hulsman: Brief Political History (wie Anm. 2), S. 7; Theodor Kock- Grünber: Do Roraima ao Orinoco. Observações de uma viagem pelo norte do Brasil a pela Venezuela durante os anos de 1911 a 1913. Bd. 1, Sao Paulo 2006, S. 111–128. Siehe auch Reginaldo Gomes De Oliveira: Pojecto Kuwai Kîrî a experiência Ama- zônica dos índios urbanos de Boa Vista – Roraima, Boa Vista 2010); Notas sobre os holandes no Amazenia no perido Colonial, in: Revista Textos 11, 2006. 12 Kock-Grünber: Do Roraima (wie Anm. 11), S. 111–128. 13 Siehe Francisco Morales Padrón: Spanish Trinidad (Aus d. Span. v. Armando Garcia de la Torre), Kingston u. Miami 2012, S. 121–129; Eric Williams: History of the People of Trinidad and Tobago, Port of Spain 1962, S. 52–65. 124 Michael Toussaint in erster Linie Trinidad, die südlichste aller Karibik-Inseln, waren Einfallstore nach Südamerika, insbesondere nach den Guianas des spanischen Festlandes. Das karibische Archipel, das die Karibische See umspannt, erstreckt sich von Aruba und Curaçao im Südwesten und im Südosten von Trinidad, Tobago und anderen Inseln über dem Winde bis nach Kuba und den Bahamas im Norden.

Muster europäischer globaler Konflikte Es wird nicht oft anerkannt, dass das europäische Interesse an der Karibik von dem Zeitpunkt an, an dem Kolumbus 1492 in der Region an Land ging, die kritische Konstante bei der Entstehung der atlantischen Ökonomien war, bis das Zeitalter des Neuen Imperialismus im 19. Jahrhunderts den Nordatlantik in ein fieberhaftes Ringen (scramble) um Territorien weltweit verwickelte, das im 1. Weltkrieg kulminierte. Bis dahin und darüber hinaus bis ins 20. Jahr- hundert hinein, verstanden die führenden europäischen Staaten Imperium in erster Linie als den Besitz von Kolonien. Es war diese Ausrichtung, die in der Folge von Europas zufälliger Entdeckung der so genannten Neuen Welt Spa- niens Anspruch auf sie untermauerte. Die päpstlichen Bullen teilten sie unter Spanien und Portugal auf und durch andere führende westeuropäische Staaten entstand den Iberischen Reichen in den Amerikas eine weitere Herausforde- rung. Folglich führte die Kontaktherstellung zwischen den Europäern und den Amerikas diese Welten zu einem Kampf, in denen Reiche nicht bloß anhand von Kolonien definiert wurden, sondern hauptsächlich durch Kolonien in der Neuen Welt. In der sich daraus ergebenden Rivalität um die Dominanz in Europa richteten die Niederlande, England und Frankreich ihre Kräfte in der Neuen Welt zuerst gegen Spanien (und Portugal) und sodann gegeneinander. Das war die Substanz der westeuropäischen internationalen Beziehungen im 16. und 17. Jahrhundert. War das spanische Monopol in der Region einmal zerrüttet, richteten England und Frankreich ihre Aufmerksamkeit darauf, die Niederländer zu schwächen, deren Dominanz im Handel und Kommerz in der Region die wachsende globale Bedeutung dieses Landes wiederspiegelte und ihre Projekte zur Schaffung und Konsolidierung von Reichen in der Neu- en Welt und anderswo gefährdete. Die Verdrängung der Niederländer durch Briten und Franzosen führte zu einem erbitterten Wettbewerb gegeneinander über anderthalb Jahrhunderte oder mehr hinweg, der ein Vorbote des Wiener Kongresses war. Die die Westeuropäer beherrschende Beschäftigung mit außereuropäischen Reichen begann nicht mit den Westindischen Inseln und der Schaffung des Manifesting Destiny oder Agenda Continuity 125 spanischen Imperiums. Es wurde an erster Stelle hervorgerufen durch das Auf- tauchen von Territorialstaaten in Europa und die begleitenden Konflikte unter ihnen.14 Entsprechend hatte der Großteil Europas eines gemeinsam, das Verlan- gen, seine jeweilige Position durch Handel und Imperium anderswo zu stärken. Eine Ambition, die sich nach der Ausdehnung Portugals nach Guinea und im westlichen Zentralafrika 1481 nachhaltig einprägte (well-inculcated). Kolum- bus’ Erfolg im Namen Spaniens 1492 war deshalb inmitten der stärkeren oder schwächeren europäischen Staaten anzusiedeln sowie unter anderen Abenteu- rern, die in Geist und Wagnis dem Genuesen gleichkamen.15 Kaum waren die Nachrichten vom Erfolg seiner Transatlantikreise in Europa eingetroffen, da begannen dessen Fürsten damit, den Erfolg von Kolumbus’ Unternehmung, wenn auch eingeschränkt, auf der Basis ihres früheren Engagements zu verur- teilen. Hauptakteure unter denjenigen, die sich beklagten, waren die Portugie- sen, Italiener, Engländer und Franzosen.16 Hauptsächlich wegen Portugal und Spanien musste die Angelegenheit der Legitimierung des Anspruchs auf einen Teil der westlichen Hemisphäre durch ein päpstliches Diktat geregelt werden und wurde es auch. In Wahrheit und in der Realität regelte dieses Diktat sehr wenig. Die Zahl von Anspruchstellern und Aspiranten auf ein Stück vom Land der Gründerväter in der Neuen Welt wuchs und schloss Dänen, Schweden, den deutschen Staat Brandenburg-Preußen, Kurland17 und Österreich ein. Die Kolonialisierung der Amerikas war nicht auf Westeuropa fixiert. Sie war eine gesamteuropäische Angelegenheit und prägte eine ganze Periode. Dieses Streben und in der Folge die Kriege, die von ihm inspiriert worden, wurden von bestimmten Ländern dominiert, mit denen aufstrebende Staaten Fürstentümer und Städte in seltener oder regelmäßiger Übereinstimmung agier- ten, welche ihre Bündnisse von Zeit zu Zeit oft wechselten, entsprechend ihrer Einschätzung des wahrscheinlichen Ergebnisses gegenwärtiger und zukünftiger Erfolge oder Gefahren. Imperialistische Agenden, merkantilistische Neigung, nationalistischer und ethnischer Chauvinismus, alles bezeichnenderweise unter

14 Patrick Richardson: The Expansion of Europe 1400–1660, London 1966, S. 41–72; William Oliver Stevens, Allan Westcott: A History of Sea Power, New York 1920. 15 Eric Williams: Documents of West Indian History 1492–1655, Port of Spain 1963, S. xxxi–xxxv. 16 Michael Mallet, Christine Shaw: The Italian Wars 1494–1559, Harlow 2012. 17 Ergänzung des Übersetzers: Das Herzogtum Kurland war in der Periode seines karibi- schen Besitzes Lehen des Königreichs Polen/Litauen; sein Territorium gehört heute zu Lettland. 126 Michael Toussaint dem Vorwand eines Übermaßes an religiöser Überzeugung und humanitärer Werte, wurden entfesselt in einer sich vergrößernden Welt einschließlich beider Teile Amerikas, Asiens, des Fernen Ostens und des Pazifiks. Beginnend mit den Westindischen Inseln, widmeten sich Spaniens europäische Gegenspieler der Zerstörung des spanischen Monopols, an erster Stelle durch illegalen Handel,18 Angriffe auf die spanische Schifffahrt und auf Siedlungen sowie durch die ef- fektive Besetzung, die in der Schaffung französischer und englischer Kolonien bis zum Wiener Kongress kulminierte.19 Diese Übergriffe gegen Spaniens Im- perium in der Neuen Welt und insbesondere auf den Westindischen Inseln sind offensichtlich. Andere, für unser Verständnis der Region relevante Über- griffe sind nicht so offensichtlich, da jeder Krieg in der Karibik nicht wegen der Karibik geführt wurde, genauso wie es in jedem in Europa geführten Krieg nicht um Europa per se ging.20 Querverbindungen existierten.21 Zwischen 1618 und 1648 wurde Spanien in den verheerenden Dreißigjähri- gen Krieg verwickelt. Der Krieg betraf den größten Teil Europas und wurzelte in der Rivalität zwischen den Habsburgern,22 die das Heilige Römische Reich so- wie Spanien und Österreich regierten, und den aufstrebenden protestantischen Staaten Mitteleuropas. Der wichtigste Streitpunkt war die Balance der Mächte in Mitteleuropa. Zum Teil hatte dies mit dem wachsenden Wohlstand und der wachsenden Macht Spaniens zu tun, von der viel aus der Neuen Welt ge- kommen war. Bedingt durch deren Ausdehnung, bestand außerdem die Gefahr einer Dominanz des Heiligen Römischen Reiches und der Habsburger in Zen- traleuropa. Es ist erstaunlich, wie es den protestantischen Staaten des europäi- schen Kernlandes gelang, Spaniens Feinde, sowohl Katholiken als Protestanten,

18 Tratado que el Obispo de la Ciudad Real de Chiapas, D. Fray Bartolome de las Casa, compuso por del Consejo Real de las Indias sobre la materia de los Indios que han hecho en ellos esclavos, Sevilla 1592, zitiert nach: José Antonio Saco: Historia de la esclavitud de la Raza Africana en el Nuevo mundo y en especial en los paises américo- hispanos. Bd. 1, 1879, S. 185–186. 19 Michael Craton: A History of the Bahamas, London 1962, S. 58–109. 20 Tony Martin: Caribbean History. Form Pre-colonial Origins to the Present, Boston 2012, S. 33–57; Williams: Documents (wie Anm. 15); L.G. Brandon: A Survey of British History. Bd. 2. 1485–1714, London 1957; F.R. Augier, S.C. Gordon: Sources of West Indian History, London 1962, S. 3–16. 21 D.M. Loades: The Making of the Elizabethan Navy, 1540–1590. From the Solent to the Armada, Woodbridge 2009, S. 1–53, 113–121. 22 A.J.P. Taylor: The Habsburg Monarchy 1809–1918. A History of the Austrian Empire and Austria-Hungary, Harmondsworth 1964, S. 11–25. Manifesting Destiny oder Agenda Continuity 127 um Hilfe zu bitten. England, das seiner Art des Christentums durch dessen Nomenklatur als „anglikanisch“ (was England bedeutet) bald einen offiziellen Titel, Anerkennung und Unverwechselbarkeit verleihen sollte, schloss sich der anti-spanischen Allianz an. So taten es auch Dänemark unter dem Lutheraner Christian IV. und die Nördlichen Niederlande („Holland“), Europas erste Re- publik, die unter dem Calvinisten Wilhelm von Oranien im vorangegangenen Jahrhundert eine spanische Regierung während des Spanisch-Niederländischen Krieges (Eighty Years War) hinausgeworfen hatten. Der Französisch-Spanische Krieg 1635–1659 war die Eskalation des Kon- flikts zwischen Frankreich, selbst römisch-katholisch, und den Habsburgern, die das Heilige Römische Reich regierten, weil Letzteres Spanien unterstützte und wegen der Unterstützung Frankreichs für die Feinde Spaniens. Frankreich war es müde geworden, von Regenten Habsburgs und habsburgischen Territo- rien in Europa umringt zu sein. Die Zeitspanne zwischen 1602 und 1663 sah den Niederländisch-Portugie- sischen Krieg. Anfänglich begann der Konflikt mit der Entfesselung der Kräfte der Niederländischen Ost- und Westindien-Kompanien gegen portugiesische Kolonien in den beiden Amerikas, in Afrika, in Indien und im Fernen Osten. Auch war es eine Folge des Spanisch-Niederländischen Krieges. Portugal stellte für die Niederländer ein Angriffziel dar, da Ersteres mit der spanischen Krone durch dynastische Heirat vermählt war, die aus dem Krieg um die portugiesi- sche Erbfolge resultierte. England, das den Niederländern während des Krieges gegen Portugal geholfen hatte, änderte seinen Kurs, als die Ersteren begannen, Nationalismus gegenüber Spanien zu betreiben. Mehr als das: Nach den Kriegen der Niederlande gegen Portugal zogen Eng- land bzw. Großbritannien und die Niederlande gegeneinander in den Krieg. Vier Kriege charakterisieren die Beziehung zwischen ihnen im Zeitraum vom englischen Interregnum bis zum der Französischen Revolution vorangehen- den Jahrzehnt. Am Ende dieses Zeitraums sehen wir die Niederländer als ver- brauchte Kraft, niemals ein Mitglied der „Pentarchie“ und anfällig für das, was ihnen britische und französische Interessen am Verhandlungstisch 1815 diktie- ren. Um einen solchen Moment zu verstehen, ist es notwendig, etwas über das Jahrhundert zu wissen, das ihm vorausgegangen ist. Die Konflikte des 18. Jahrhunderts unterscheiden sich von denjenigen des 17. Jahrhunderts lediglich in Bezug auf die Unvermeidbarkeit des Partikularis- mus. Es kam zur Intensivierung des Kapitalismus, aber dies war eine Orientie- rung, die sich von Kolumbus ableitete. In diesem Sinne weisen die Konflikte 128 Michael Toussaint des langen 18. Jahrhunderts, das den Beginn der Französischen Revolution und die Napoleonischen Kriege sah, auf ein bestimmtes Maß von Periodizität in den europäischen Angelegenheiten hin. Es unterstreicht unsere Schlussfolgerung, dass die Beschäftigung der Europäer mit Reichen in Übersee nicht von ihrem Kontakt zu den Westindischen Inseln und der Entstehung des auf Seemacht basierenden spanischen Imperiums herrührt, sondern von ihrer bereits vorhan- denen Auffassung vom Nationalstaat als Wurzel des Imperiums und darüber, wie dies erreicht und gefestigt werden könnte. Innerhalb dieses Bezugsrahmens hatte sich Europa, wie betont, im Embryostadium, im Morgengrauen der kapi- talistischen Ära entwickelt, in der „Geld für den Körper Politik zu dem geworden war, was Blut für den menschlichen Körper ist“.23 Wenn überhaupt, dann wirkte sich der Kontakt der Staaten mit der Neuen Welt bezüglich der Dominanz von Gruppen, persönlichem Wohlstand und Macht, der Klassendifferenzie- rung sowie der Konzeptionalisierung von Legitimität aus.24 Was Historiker oft übersehen ist, dass soweit dies so war, sich zwangsläufig ein langjähriges ins- titutionelles Gedächtnis, sozialpsychologisch, kulturelle Zwänge und, daraus resultierend, sich wiederholende Aktionen und Entwicklungen ergaben. Das Jahrhundert begann sichtbar mit dem Spanischen Erbfolgekrieg, einem Konflikttyp, der in Europa alles andere als neu war.25 Diesmal drehte sich der Konflikt darum, wer König Karl II von Spanien nachfolgen würde, der ohne einen direkten Erben verschieden war, aber einen Enkel von Ludwig XIV als Nachfolger vorgeschlagen hatte. Angesichts der Größe der spanischen und französischen Reiche, erschien jede solche Allianz zu gefährlich für England, das Heilige Römische Reich und die Niederländer, die entschlossen waren, ei- nen Nachfolger ihrer Wahl auf dem spanischen Thron zu platzieren. Der daraus resultierende Konflikt, gleichermaßen ein Wirtschaftskrieg, wurde maßgeblich in Europa wie auch den Amerikas einschließlich der Karibik ausgefochten. Die Leeward Islands, Guadeloupe, St. Eustatius, Curaçao sowie das südamerika- nische Festlandsterritorium Surinam waren Schauplätze bedeutender Kämpfe. Das Ende des Krieges brachte keinen überwältigenden geopolitischen Wan- del in Europa, aber im Frieden von Utrecht waren die Franzosen gezwungen,

23 Eric WILLIAMS: Capitalism and Slavery, Capitol Hill u. London 1994 (Originalaus- gabe 1944). 24 Ders.: Documents (wie Anm. 15), S. xxxi–xxxv. 25 Jacque Godechot: France and the Revolution in the Eighteenth Century, 1770–1799, London u. Aylesbury 1971, S. 7–23. Siehe Morales Padrón: Spanish Trinidad (wie Anm. 13). Manifesting Destiny oder Agenda Continuity 129 ihren Teil von St. Kitts an die Briten abzutreten. Zusätzlich wurden, weil Groß- britannien und Spanien Frieden geschlossen hatten, tausende britischer Seeleu- te, die darauf trainiert waren, spanische und andere Feinde in der Neuen Welt und anderswo zu überfallen, von ihren Aufgaben entbunden. Sie wurden von der Piraterie in der Karibik angezogen und erhoben sie beinahe zum nobelsten Beruf in der Region. Ebenfalls als wichtige Folge des Friedens, sicherte sich Großbritannien das Asiento – das Monopol dafür, versklavte Afrikaner in die Karibik zu liefern, eine Entwicklung, die sich bedeutend auf die Demographie in der Region auswirkte. Während die Verhandlungen fortschritten, wurde der Begriff „balance of power“ erstmals benutzt. Im Allgemeinen waren die Franzo- sen und Briten die einflussreichsten Verhandlungspartner. Selbst die Franzosen, die der wachsenden britischen Macht gegenüber unterlegen waren, konnten die Niederländer mit den Worten verspotten „bon mot de vous, chez vous, sans vous“, was bedeutete, dass die Verhandlungen geführt werden würden, „über euch, in eurem Land, ohne euch“. Die Macht Großbritanniens und Frank- reichs wurde für die Niederländer bereits offensichtlich. Ähnliches lässt sich über die Beziehungen zwischen Großbritannien und Frankreich einerseits und anderen Kolonialmächten der Neuen Welt, wie Spanien und Portugal sagen, selbst wenn Großbritannien und Frankreich allmählich darauf zusteuerten, zu Erzrivalen zu werden. Der War of Jenkins’s Ear (1739–1748)26 z.B. wurde zwischen Großbritan- nien und Spanien wegen des Rechtes des Ersteren, Asiento-Verträge über den Transport versklavter Afrikaner über den Atlantik zu erhalten, und wegen des spanischen Rechtes, den Handel zu kontrollieren, geführt. Die Parteien jedoch wurden in einen anderen Konflikt verstrickt, den Krieg um die österreichische Erbfolge, einem Konglomerat von Konflikten in verschiedenen Teilen der Welt, wesentlich verursacht durch das Hinscheiden der Oberhäupter zweier zentra- ler europäischer Dynastien, nämlich Karl VI, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und Oberhaupt der österreichischen Linie des Hauses Habsburg, und Friedrich Wilhelm I von Preußen. Preußen und Österreich zogen gegeneinan- der in den Krieg und andere europäische Mächte schlossen sich dem Konflikt an, die beiden mächtigsten unter ihnen auf verschiedenen Seiten: Großbritan- nien auf der Seite Österreichs, Frankreich auf der Seite Preußens. Außerdem interessant ist, dass in der Karibik die wichtigsten Schlachten, die mit dem War

26 Ergänzung des Übersetzers: Auf dem Kontinent ist diese Kriegsperiode bekannt durch die beiden schlesischen Kriege. 130 Michael Toussaint of Jenkins’s Ear in Zusammenhang standen, in La Guira, im nordwestlichen Venezuela und Portobello in Panama stattfanden. Portobello wurde wiederholt von britischen Piraten, den Gefolgsleuten von Henry Morgan, attackiert. Wäh- rend der britische Feldzug gegen La Guira nicht erfolgreich war, war es der Versuch bei Portobello. Der Siebenjährige Krieg, vielerorts betrachtet als der erste Weltkrieg, war hauptsächlich ein Konflikt zwischen Großbritannien und Frankreich. Oft übersehen wird die Verbindung zu dem, was als der zweite „Hundertjährige Krieg“ des Hasses zwischen beiden Ländern wahrgenommen worden ist und was als Erklärung für die psychologische Motivation der Briten gegen Frank- reich besser verstanden werden mag durch die Würdigung eines kurzen einlei- tenden Satzes, der gewöhnlich in vielen King James-Versionen eines biblischen Textes zu finden ist und der ihn als „König von Großbritannien, Frankreich und Irland“ tituliert. Wie der erste Hundertjährige Krieg (1337–1453) wird und sollte der zweite Hundertjährige Krieg (ungefähr von 1669 oder 1715 bis 1815), wie in der Tat so viele Kriege in Europa, als ein dauerhafter Krieg und als Serie von Konflikten begriffen werden, charakterisiert durch eine bittere, blutige Rivalität. Der Siebenjährige Krieg selbst verwickelt uns in die Helden- taten von Admiral Rodney, Commander-in-Chief der Leeward Islands, dessen Streitkräfte 1762 Martinique angriffen, damals praktisch das kommerzielle Zentrum und Sitz der Regierung und Administration der französischen West- indischen Inseln. Hier in Martinique kapitulierten der Gouverneur und seine Truppen. Zudem eroberte dieselbe Expedition das benachbarte Guadeloupe, Marie Galante, La Désiderade, St. Lucia und Grenada. Frankreich blieb ledig- lich St. Dominique. Großbritannien erreichte sogar noch mehr und verwüstete Havanna, die Hauptstadt Kubas, deren spanische Verwaltung kapitulierte. Bri- tische Streitkräfte verhalfen sich zu enormer Beute. Im Frieden von Paris erhielt Großbritannien Tobago, St. Vincent, Dominica, Grenada und die Grenadinen sowie Kanada. Es gab Kuba an Spanien zurück, erhielt aber Florida. Die „Baymen“ in Honduras wurden anerkannt. Marti- nique, Guadeloupe, Marie Galante und La Désiderade wurden an Frankreich zurückgegeben. Großbritannien optierte deshalb dafür, die südlichen Inseln zu nehmen und Martinique und Guadeloupe seinem Erzrivalen zu überlassen.27

27 E. H. Carter, G. W. Digby, R.N. Murray: History of the West Indies People. 18th Cen- tury to Modern Times, London 1979, S. 9–22. Siehe auch Morales Padrón: Spanish Trinidad (wie Anm. 13). Manifesting Destiny oder Agenda Continuity 131

Bereits die führende Seemacht, warf Großbritannien ein Auge auf Süd- und Nordpol und ihr jeweiliges Umland (promontories), mit denen es völlig logi- scherweise obsessiert war. Seine Beschäftigung mit Honduras, den Falklandin- seln, mit Indien, Südafrika und dem Komplex von Australien und Neuseeland kündigte sich an. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf den Amerikanischen Unabhängig- keitskrieg lenken, stellen wir fest, dass die Dimension und Richtung der fran- zösischen Unterstützung für den Versuch zusätzliche Bedeutung erlangt, als kommerzielle Interessen, historisch bedingte Gehässigkeit, Nationalstolz sowie imperiales Interesse verknüpft werden. Frankreich warf sein gesamtes Gewicht gegen Großbritannien in die Waagschale, in einem Krieg, der an einem Punkt Großbritanniens Lage auch in der Karibik signifikant veränderte und zwar durch die französische Rückforderung all seiner westindischen Kolonien zu- sammen mit Montserrat und zusätzlich Nevis and St. Kitts, Großbritannien lediglich Jamaica, Barbados und Antigua überlassend. Das war so, bis Rodney die Linie der französischen Flotte unter De Grasse nahe den französischen Les Saintes-Inseln, gegenüber von Dominica liegend, in einer Weise durchbrach, die später bei Nelson in Trafalgar nostalgische Gefühle erwecken sollte und die das British Empire in der Karibik rettete. Frankreichs Beteiligung am Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg inner- halb des karibischen Theaters zerstörte seine Autorität in der Region völlig. Großbritannien war in der Lage, all seine Kolonien wiederzuerlangen, aber machte Frankreich Zugeständnisse hinsichtlich St. Lucias und Tobagos und dies trotz der Proteste Rodneys, der die strategische Bedeutung dieser beiden Inseln verstanden haben dürfte. Tobago war leidenschaftlicher umkämpft als irgendeine andere der Westindischen Inseln und wechselte den Besitzer (chan- ging hands) ungefähr 15 Mal von einer Großmacht (metropolitan power) zur anderen. St. Lucia wurde, nach anfänglichem Interesse der Spanier und Nie- derländer, zu einer Quelle dauernder Konflikte zwischen Briten und Franzo- sen. Beide, Tobago und St. Lucia, wurden zu einem bestimmten Zeitpunkt zu neutralen Inseln erklärt. Dies war of ein Zeichen dafür, dass, selbst wenn sie nicht um ihrer selbst willen gewünscht wurden, sie doch davor bewahrt werden sollten, in die Hände des Feindes zu fallen.

Die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege Großbritannien und Frankreich fuhren mit ihrem Schlagabtausch in den Revolutionskriegen und den Napoleonischen Kriegen, zusammen auch als 132 Michael Toussaint

Koalitionskriege (1792–1815) bekannt, fort. Diese letzte Periode markierte den Höhepunkt eines 200 Jahre alten Konflikts. In der Karibik hatten diese Konflikte nicht begonnen, auch wenn sie phasenweise einen notwendigen oder hinreichenden Casus Belli hätte darstellen können. Die Existenz von Imperi- en reichte dazu aus. Aber das Muster zukünftiger internationaler Beziehun- gen Großbritanniens, das sich durch den Siebenjährigen Krieg in einer guten Position befand, wurde bis 1815 sogar noch nachhaltiger bestimmt von der Französischen Revolution, dem Aufstand in St. Dominique sowie von den Na- poleonischen Kriegen. Die Französische Revolution beeinflusste Europa, die französische Gesell- schaft in der Karibik, den Aufstand in St. Dominique und durch ihn andere Ge- meinschaften auf den Westindischen Inseln tiefgreifend. Einige Wissenschaftler sprechen von der Französischen Revolution als einem der großen Ereignisse der Menschheitsgeschichte, das die Ideen und die Handlungsweisen der Menschen über Jahrzehnte und sogar bis in die Gegenwart hinein beeinflusst habe, da in kaum mehr als zehn Jahren die alte Sozialordnung Europas beiseite geworfen wurde. Eine andere Sozialordnung begann Form anzunehmen, ein republikani- scher Staat wurde etabliert und Innenpolitik sowie Außenbeziehungen nahmen einen Charakter und eine Ausrichtung an, die sich vom vorherigen unterschie- den. Die Revolution selbst, mit der Exekution der Monarchen, den Massakern und der „Herrschaft“ des Terrors, ängstigte Europa und forderte Frankreichs europäische Gegenspieler zum Krieg heraus, der den Kampf nicht nur ins In- nere Frankreichs trug, sondern auch zu den äußeren Feinden der Revolution. Außerdem exportierte es die Revolution, indem es die Konventionen brach und durch das, was revolutionäre Erklärungen, wie die der „Menschenrechte“, bedeuteten.28 Als in Frankreich die Nationalversammlung, die sich aus den Generalständen konstituiert hatte, die Deklaration der Menschenrechte veröffentlichte, begrüß- ten einige der in St. Dominique lebenden Weißen diese Entwicklung als Gele- genheit, Autonomie zu erlangen und die französische Kontrolle über Bord zu

28 H.L. Peacock: A History of Modern Europe, 1789–1970, London 1979, S. 1–4; C.L.R. James: The Black Jacobins. Toussaint L’Ouverture and the San Domingo Re- volution, New York 21989 (Originalausgabe 1938); Marcelo Svirsk, Simon Bignall: Agamben and Colonialism, Edingburgh 2012; John D. Garrigus: Before Haiti. Race and Citizenship in French Saint-Domingue, New York u. Basingstoke 2010; Laurent Dubois, John D. Garrigus: Slave Revolution in the Caribbean, 1789–1804. A Brief History with Documents, New York 2006. Manifesting Destiny oder Agenda Continuity 133 werfen. Die versklavten Massen jedoch sahen in der Spaltung, die unter den Wei- ßen erfolgte, eine Gelegenheit, das Kolonialsystem, die weiße Herrschaft und die Sklaverei zu beseitigen und die Kontrolle über ihr eigenes Leben zu übernehmen. 1791 inspirierte der Hohepriester des Voodoo, Boukman Dutty, im Rückgriff auf die traditionelle afrikanische Religiosität, Gruppen versklavter Gemeinschaf- ten dazu, zu revoltieren, wie es Makandal bereits vor ihm getan hatte. Das Er- gebnis war der formidabelste und erfolgreichste Sklavenaufstand in den beiden Amerikas, der in der Etablierung eines schwarzen republikanischen Staates resul- tierte. Trotz der Gefangennahme Boukmans und vieler anderer Anführer fuhren die ursprünglich aus Afrika stammenden Massen fort, französischen, britischen, spanischen und sogar polnischen (Söldner-)Truppen zu trotzen. In St. Domi- nique setzte sich die revolutionäre Ausrichtung, die von Makandal und Boukman erweckt wurde, unter Toussaint, Dessalines, Christophe und Boyer fort.29 Toussaint hatte seine militärische Karriere in dem Jahr begonnen, in dem die Haitianische Revolution ausbrach. Er war ihr Anführer, als die Koalitionskrie- ge begannen. Im Februar 1794, als der französische Konvent für die Abschaf- fung der Sklaverei votierte, dachte Danton, einer der Führer des revolutionären Frankreich, wie folgt über die Erklärung nach: „Seine Kommentare verrieten die französische Verachtung für die Engländer. Aber auch Verachtung für verschiedene Typen von Gruppen und Institutionen, die in Europa und der Neuen Welt zahl- reich sind. Ein Großteil Europas, einschließlich der Verbündeten, an deren Seite sich Großbritannien befand, hatten für das revolutionäre Frankreich nichts als Verach- tung übrig, wenn nicht für Frankreich generell.“ Als der Erste Koalitionskrieg begann, hatte Napoleon noch nicht begonnen, Frankreich zu führen, obwohl er bereits seine Präferenz für den Krieg als Lö- sung diplomatischer Probleme und seine Genialität als militärischer Taktiker demonstrierte. Als Führer Frankreichs jedoch hob er in überwältigendem Maße die militärische Schlagkraft Frankreichs hervor, die Großbritannien zwangswei- se an die Spitze (at the helm; alternativ: am Ruder) der Koalitionspartner tre- ten ließ, von denen viele bedeutend schwächer waren als Großbritannien oder Frankreich.30 Ein Verständnis all dessen würde uns helfen und in die Lage ver- setzen, die Herausforderungen und Optionen Großbritanniens sowie den Kon- text zu begreifen, in dem es in erster Linie in der Karibik - oder sogar anderswo

29 Garrigus: Before Haiti (wie Anm. 28); Dubois, Garrigus: Slave Revolution (wie Anm. 28). 30 John Holland Rose: The Life of Napoleon I, London 1910, S. 28. 134 Michael Toussaint

- agierte. Schließlich sind die Implikationen für die Karibik und endlich auch für Großbritannien sowie für den Ausgang des Kongresses zu berücksichtigen. Im Ersten Koalitionskrieg (1792–1797) attackierte Frankreich die Habs- burg-Monarchie (österreichische Linie) und eine Menge anderer Staaten, die der Seite Österreichs beigesprungen waren. Die erste war Preußen. Dann gab es Österreich selbst. Sie gehörten nicht zu den stärksten Staaten in Europa. Wären sie dies gewesen, hätten sie Kolonien in der westlichen Hemisphäre gehabt. Dann wurde „Großbritannien“ involviert. Eine der Dinge, die Frankreich ge- tan hatte, war die Batavische Republik und später das Königreich Holland mit Napoleons Bruder als Monarchen zu errichten. Die Batavische Republik war die Nachfolgerin der Republik der Niederlande. Die Niederländer waren des- halb beteiligt. Der Krieg einigte nahezu ganz Europa gegen Frankreich. 1797 war Frankreich in seinem Konflikt mit allen anderen Mächten mit Ausnahme von Großbritannien erfolgreich. Hieraus ergab sich das Ende der Ersten Koali- tion. Die Koalition war in der Tat zusammengebrochen und überließ Großbri- tannien alleine den Kampf gegen Frankreich. Was waren die Folgen des Konflikts für die Westindischen Inseln? Die Akti- onen wurden auf die französischen Kolonien auf den Westindischen Inseln aus- geweitet. Eine britische Flotte eroberte erfolgreich Martinique, St. Lucia und Guadeloupe, wenngleich Letzteres später im Jahr von den Franzosen zurück- gewonnen wurde. Jedoch blieben die Streitpunkte zwischen Großbritannien und Frankreich ungelöst. Wie diese Konflikte sich auf die langfristige imperiale Agenda auswirkten, kann in mehr als einem westindischen Territorium beob- achtet werden. St. Lucia z.B. war lange Niemandsland geblieben, seit die Nie- derländer um 1600 herum als Erste ein Camp errichtet hatten und 1605 ein britisches Schiff, das auf dem Weg nach Guiana vom Kurs abgetrieben worden war, die Inspiration zur Besiedlung der Insel gab. 1635 wurde die Insel von Frankreich beansprucht. 1639 machten die Briten einen zweiten Versuch, sie zu kolonialisieren, aber dieser Versuch verlief im Wesentlichen so wie ihr erster. Ein französisches Kontingent wurde 1643 von Martinique entsandt. Später er- hoben britische Streitkräfte unter Thomas Warner, benannt nach seinem Vater, dem Gouverneur von St. Kitts, Anspruch auf die Insel. Während der Franzö- sischen Revolution wurde ein Revolutionstribunal nach St. Lucia geschickt. 1794 erklärte der französische Gouverneur der Insel, dass alle Sklaven frei seien, wie es entsprechend in allen französischen Kolonien der Fall war. Außerdem hatte Großbritannien 1806 die Abschaffung des Sklavenhandels auf der Insel verkündet, nicht 1807, wie allgemein geglaubt. Manifesting Destiny oder Agenda Continuity 135

Gleiches kann von Tobago gesagt werden, zudem, weil es oft den Besitzer gewechselt hatte und, wie St. Lucia, einst zu Niemandsland erklärt worden war, zu einer neutralen Zone. Ein Schlüsselfaktor war seine strategische Lage unter den am südöstlichsten gelegenen Inseln der Karibik. Es war von Trinidad aus leicht zu erreichen, das sieben bis 11 Meilen entfernt vom östlichen Venezuela und vom Orinoco liegt, der lange als Tor zum Amazonas angesehen wurde. Trinidad jedoch, war auch aus einem anderen Grund wichtig, einem erheblich wichtigeren Grund: Es teilte die Nähe zu Venezuela mit den angrenzenden nie- derländischen Territorien Demerara, Essequibo und Berbice, die Großbritan- nien schließlich alle drei zu einem einzigen Territorium zusammenfasste und es Britisch-Guiana nannte. Beide, Trinidad und Guiana, lagen deshalb in un- mitttelbarer Nähe des legendären El Dorado, der sagenhaften Goldenen Stadt, von der Sir Walter Raleigh annahm, sie befände sich an der Grenze zwischen Guyana und Venezuela. Nach fünf Jahren Krieg bezwang die Französische Republik 1797 die Ers- te Koalition, in eben dem Jahr, in welchem Großbritannien die Kapitulation Trinidads sicherstellte, in dem Großbritannien, wie fast immer, allein gegen Frankreich stand und in diesem Fall auch gegen Spanien. Eine zweite Koalition wurde 1798 gebildet, aber war 1801 ebenfalls geschlagen und ließ Großbritan- nien erneut als einzigen Gegner der Franzosen zurück. Der Dritte Koalitions- krieg (1803–1806) resultierte aus der Unzufriedenheit mit dem Frieden von Amiens. Als die Koalition nach dem Frieden von Amiens Frankreich den Krieg erklärte, war Napoleon entschlossen, in Großbritannien einzumarschieren. Es gab Pläne, einer anfänglichen Konfrontation nahe des Englischen Kanals aus- zuweichen sowie sich in karibischen Gewässern umzugruppieren.31 Inzwischen lösten die Sorgen Preußens wegen des wachsenden französischen Einflusses in Mitteleuropa 1806 einen neuen Koalitionskrieg aus. Gleichzeitig mit dem Krieg der Sechsten Koalition fand der Krieg von 1812 statt, der, ob- wohl technisch nicht als Teil der Napoleonischen Kriege anerkannt, aber direkt von diesen beeinflusst und von ihnen angeheizt wurde. Die neutralen Vereinig- ten Staaten hatten Großbritannien den Krieg erklärt. Der Hauptgrund war die britische Einmischung in amerikanische Rechte den Handel mit Frankreich be- treffend, eine Entwicklung, die an den Hintergrund des Kampfes um die ameri- kanische Unabhängigkeit erinnert. Frankreich hatte sich ebenfalls eingemischt,

31 Glyndwr Williams: The Expansion of Europe in the Eighteenth Century. Overseas Rivalry, Discovery and Exploitation, New York 1967, S. 252. 136 Michael Toussaint sodass es nicht überraschend war, dass die Vereinigten Staaten an einem be- stimmten Punkt erwogen, den Franzosen ebenfalls den Krieg zu erklären. Der Krieg selbst kam Anfang 1815 zum Stillstand; Napoleon war inzwischen nach Elba ins Exil geschickt worden. Der Konflikt war zwar durch die Kriege gegen Napoleon ausgelöst worden, war aber nicht Teil von ihnen. Es war lediglich ein bewusster französischer Versuch, britische Truppen und Artillerie vom Napole- onischen Krieg fernzuhalten, was den Franzosen keine Ehre machte. Nach dem Krieg jedoch wurden Afro-Amerikaner, die auf der Seite der Briten am Krieg teilgenommen hatten, auf die Westindischen Inseln geschickt. Die Karibik war von der Entwicklung in Europa während des Zeitraums, der zum Wiener Kon- gress führte, vielfältiger betroffen, als hier ausgeführt werden kann.

Schluss Schon vor den Kriegen des 16. und 17. Jahrhunderts hatten die nordatlanti- schen Hauptmächte sich gegenseitig in militärischen Konflikten um ihre Reiche gegenübergestanden. Während des späten 18. Jahrhunderts wurde Europa in die Revolutionskriege von 1792 verwickelt, in denen Großbritannien in der Folge- zeit bis 1815 verschiedene Koalitionen gegen Frankreich und seine Verbündeten anführte. Was immer als Vorwand galt, ob Religion oder royale Erbfolge, der wichtigste Streitpunkt war in Wahrheit die Balance of Power, die für Groß- britannien und Frankreich im Übrigen an koloniale Interessen in der Karibik und anderswo gebunden war. Über die Jahrhunderte hinweg wechselten die Hauptakteure, aber zur Zeit der Koalitionskriege waren Großbritannien und Frankreich für lange Zeit die wichtigsten Rivalen. Die Westindischen Inseln und andere Territorien in der Neuen Welt blieben bis zum Ende des 18. Jahr- hunderts die prosperierendsten überseeischen Besitzungen der Engländer und Franzosen. Was die Kriege um die spanische Erbfolge, Jenkins’ Ear, der Sieben- jährige Krieg und natürlich ihre jeweiligen Friedensregelungen, also jene von Utrecht, Aix-la Chapelle und Paris, demonstrieren, ist die Verbindung zwischen den Westindischen Kolonien und der Rivalität im Handel. Weitgehend dasselbe gilt für den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, die französischen Napoleo- nischen Kriege und ihre jeweiligen Friedensverträge von Versailles und Wien.32 Für die britische Agenda von Dominanz und Kontrolle wurde die Karibik immer noch als relevant betrachtet, obwohl etwas in der Einstellung der eu- ropäischen Großmächte (all Euro-powers) eine Verlagerung ihrer Interessen

32 F.R. Augier u.a.: The Making of the West Indies, London 1960, S. 90–102. Manifesting Destiny oder Agenda Continuity 137 in andere Teile der Welt spiegelte. Für Großbritannien (wenn auch nicht so sehr für Frankreich, das während der vorangegangenen Kriege so viel verloren hatte und das versuchte, verzweifelt an dem festzuhalten, was mit Rücksicht auf Paris angeboten werden konnte, in der Absicht, Frankreich zu Vorkriegs- verhältnissen zurückkehren zu lassen) schien der Fokus auf der Stützung der Pflanzerklasse als Repräsentanten des Empire in einem sich enorm wandelnden globalwirtschaftlichen Szenario zu liegen, das durch die Fokussierung auf Indi- en zunehmend dominiert wurde, außerdem durch Australien, den Pazifik und Freihandel, Weltfrieden sowie ideologische und rassische Dominanz.33 Trinidad, Britisch-Guinea, St. Lucia and Tobago blieben wegen des Ziels Großbritanni- ens, Südamerika zu durchdringen und wegen eines über lange Zeit bestehenden Interesses an dem, was sich als das trügerische El Dorado herausstellte, die sa- genumwobene Stadt aus Gold. Deshalb wurden alle oben genannten Kolonien beim Wiener Kongress beansprucht.34 Es wäre unaufrichtig, die Frage der Guianas als für Großbritannien ein- zige und wichtigste Angelegenheit betreffend die Neue Welt der Karibik zu betrachten. Es gab eine Menge anderer, ähnlicher Fragen, einschließlich des Sklavenhandels, von Sklavenaufständen, der Legitimität weißer oder schwarzer Herrschaft und mehr. Der gegen sie gerichtete haitianische Aufstand fügte den europäischen Streitkräften, die versuchten, dort Sklaverei sowie Kolonialrecht und Ordnung wieder einzuführen, eine Reihe militärischer Niederlagen zu, die genauso beeindruckten wie eine Vielzahl von Aufständen, die durch die Karibik rasten.35 Diese Angelegenheiten hatten Großbritannien und Frankreich lange beschäftigt. Im Gegensatz zu Frankreich jedoch reagierte Großbritannien viel früher, indem es den Sklavenhandel in den neu erworbenen Gebieten 1806 beendete und nicht 1807, wie allgemein argumentiert wird. In einer Art, die an den Versuch Spaniens in der Neuen Welt und des Heiligen Römischen Reiches in Europa erinnerte, moralische Autorität zu beanspruchen, erklärte Großbri- tannien seine moralische Autorität in internationalen und humanitären Ange- legenheiten, indem es versuchte, die Welt mittels des europäischen Konzerts und - noch wichtiger - durch Entwicklung einer umgestalteten Weltordnung

33 A.G.L. Shaw (Hg.): Great Britain and the Colonies 1815–1865, London 1970, S. 2. 34 Raymond T. Smith: British Guiana, London u.a. 1962. 35 Diese entwickelten sich infolge der Invasion Spaniens durch Napoleon, der Absetzung des Königs, die Verbreitung der Aufklärung und revolutionärer Ideen. Siehe R.A. Hum- phrey, John Lynch (Hg.): The Origin of the Latin American Revolutions, 1808–1826, New York 1965, S. 1–27. 138 Michael Toussaint mittels der Pax Britannica zu führen. All dies aber wäre leichter zu erreichen gewesen in einer Welt, in der Großbritannien das Wesen des Friedens mit Frankreich für Europa hätte definieren können und wo Frankreich, das so vie- les verloren hatte, seine Würde zurückerlangen konnte, da es wichtig für alle war, dass es befriedet würde. Es war schließlich doch auch eine Welt, in der die westlichen Mächte, um zu überleben, lange auf Großbritannien gezählt hatten. Um zu überleben, hatten einige von ihnen ihre Kräfte längst verbraucht und einige bildeten nicht einen Teil der „Pentarchie“, ihres „inneren Rats“ oder „der Acht“. In der Pentarchie wurde Westeuropa in erster Linie durch Großbritan- nien und Frankreich repräsentiert. Einige waren nie so privilegiert gewesen, Teil der Bruderschaft zu sein. Was ihren mitteleuropäischen Teil, von dem viele Staaten keine Kolonien in der Neuen Welt hatten, betraf, so hatten sie sich Einfluss durch Heirat und eine Heilige Allianz gesichert. Diese Staaten strebten konzeptionell und von Beginn an danach, sich gegen einen französischen Ein- fall abzusichern. Sie hatten in erster Linie Interesse an Zentraleuropa. Entspre- chend hatten sie dort eine Herausforderung zu beseitigen, die, so mögen Einige argumentieren, oft genug von Großbritannien gestützt, wenn nicht gar von ihm finanziert werden musste. Frieden in Europa und der es umgebenden Welt war 1814 und 1815 abhängig von (contingent on) der Befriedung Frankreichs, das, wie Talleyrand durch seine Missbilligung des anfänglichen Verlaufs und der anfänglichen Prozeduren des Kongresses demonstrierte, die Unzufriedenen in einer unvorhersehbaren Weise hätte um sich scharen können. Großbritannien wünschte sicherzustellen, dass Frankreich zufrieden war, da es fühlte, dass es keinen Frieden geben würde, wenn dies nicht so wäre. Ös- terreich brauchte Frankreich als Gegner Preußens. Großbritannien seinerseits brauchte Frankreich zur Kontrolle Russlands und Preußens. Alle brauchten es schließlich, um Russland zu kontrollieren. Verhandlungen wurden auch im Interesse der Niederlande geführt. Sein Repräsentant hatte beste Verbindun- gen zu den Briten. Mehr Aufmerksamkeit wurde der Frage der Legitimität gewidmet, der Restauration der Vereinigung Österreichs und der südlichen Niederlande sowie der Wiedereinsetzung des Hauses Oranien auf dem nie- derländischen Thron. Was querulatorisch erscheint, aber weiterer Erforschung würdig ist, ist die Besetzung (the ward) der Guianas nach dem Entschädigungs- grundsatz. Großbritannien wurde belohnt mit Malta, Ceylon und dem Kap der Guten Hoffnung und die Niederländer erhielten eines der Niederländi- schen Guianas. Die Niederlande besaßen tatsächlich zwei Guianas. Den Spa- niern folgend, waren die Niederländer die ersten Europäer gewesen, die an Manifesting Destiny oder Agenda Continuity 139 diesem Teil der „wilden Küste“ ankamen. Das war der europäische Terminus, der verwendet wurde, um auf die Guianas zu verweisen und anzuzeigen, dass es praktisch Niemandsland war. Von Bedeutung ist auch die Tatsache, dass der Vertrag von Paris 1814 das an Frankreich zurückgab, was heute Cayenne ist, ein französisches Departement, welches erstmals 1604 von Franzosen besie- delt worden war und 1809 von englischen und portugiesischen Streitkräften erobert wurde. Wie Britisch-Guiana, das von Surinam abgetrennt wurde, mit dem es zusammenhing, wurde Französisch-Cayenne von Amapa separiert, das an Portugiesisch- Guiana grenzte. Um Cayenne war bis dato von den Briten, Franzosen und Portugiesen gekämpft worden. In der Retrospektive spiegelt der Wiener Kongress wider, dass es die Bri- ten und Franzosen gut ein Jahrhundert gekostet hatte, ihre Ansprüche in der Neuen Welt gegenüber anderen Mächten und gegeneinander zu befriedigen. Diesbezüglich sind der Fall Britisch-Guianas und die britischen Erfahrungen höchst interessant. Bis 1814 und bis ungefähr anderthalb Jahrzehnte danach gab es kein geopolitisches Britisch-Guiana. In der Tat hatte Großbritannien auf dem südamerikanischen Festland kein geopolitisches Territorium, das nach Jahrhunderten eines weltumspannenden Imperialismus (metropolitan Imperi- alism) legitim einen Teil seines Empire gebildet hätte. Dies war selbstverständlich nicht aus Mangel an Ambitionen oder Wün- schen so. Bestimmung (manifest destiny) war immer Teil des amerikanisch- europäischen Konzepts von der Neuen Welt und wie sie sie in Beziehung auf sich selbst wahrnahmen. Richard Kluger versorgt uns mit einigen Hinweisen darauf, wie Großbritannien den Vereinigten Staaten in der Ausrichtung vor- ausging.36 Er schreibt, dass Jahre nach Kolumbus’ erster Reise unter spanischer Flagge der englische Monarch Henry VII, der die enorme Bedeutung der Ent- deckungen begriff, einen italienischen Seefahrer, John Cabot, anheuerte, um eine Expedition zu unternehmen und Englands Anspruch auf die Neue Welt zu erheben. Cabots’ Expedition führte ihn nach Norden, weg von jenen Terri- torien. Er berührte die Cape Breton-Insel und Nova Scotia und beanspruchte alles Land dort für England. Er unternahm eine weitere Expedition, aber man hörte nie wieder vom ihm. England finanzierte keine weitere Expedition, aber vertiefte sich in die heillose Verwirrung, die Hawkins und Drake gegen die spanische Schifffahrt stifteten, bis beinahe 80 Jahre danach Humphrey Gilbert

36 Richard Kluger: Seizing Destiny. How America Grew from Sea to Shining Sea, New York 2007. 140 Michael Toussaint in der Lage war, eine Siedlung in Neufundland zu etablieren. England erhob dann Anspruch auf Nordamerika. Im selben Jahr unternahm Richard Hak- luyt, ein junger Kleriker aus Oxford mit einer Leidenschaft für Geographie und Reisen, seine Divers Voyages Touching the Discovery of America and the Islands Adjacent. Hakluyt hatte Erfahrung mit den Reisen der verschiedenen Euro- päer, aber war in seinem Denken einen Schritt weiter gegangen, nämlich die Siedlungen durch Förderung der Landwirtschaft, der Nutzpflanzenzucht sowie der Unterstützung der Bauern zu verbessern, da er sich bewusst war, dass ohne diese Maßnahmen der Besitz von Kolonien nicht gesichert war. Hatten nicht Spanien und Portugal die gesamte Neue Welt beansprucht? Und was hatte es genutzt? Bestimmung bedeutete mehr, als den Fuß auf ein fremdes Territorium zu setzen und es im Namen des Monarchen zu beanspruchen. Sie verlangte, die Grundlagen für „die Einkommen und Zölle ihrer Majestät sowohl extern als auch intern“ zu legen, um diese „zur Verbesserung der Versorgung und Sicherheit unserer Navy und insbesondere des großen Schiffsverkehrs, der die Stärke unseres Königreichs ist, sowie zur Unterstützung all jener Tätigkeiten, die selbigem die- nen“, zu verwenden.37 Hakluyt war auch ein hingebungsvoll religiöser Mann, der der Verbreitung der christlichen Tugenden und des Protestantismus sowie der englischen Herausforderung von Spanien und Portugal in der Neuen Welt wegen aller ihrer wahrgenommenen Verfehlungen (falsities) und Gräueltaten verpflichtet war.38 Zu all dem, war er ein großer Verehrer von Walter Raleigh, der eine sei- ner Inspirationen war und in dessen Namen er einmal an Königin Elizabeth zwecks Unterstützung des El Dorado-Unternehmens schrieb. Die europäische Geschichte der Guianas in der Neuen Welt nahm ihren Beginn mit den Hel- dentaten Raleighs’. Für Britisch-Guiana ging es einen ausgesprochenen Schritt vorwärts, als Großbritannien auf dem Wiener Kongress 1815 die Territorien Demerara, Essequibo und Berbice erwarb. Diese wurden dann 1831 zu einer einzigen Kolonie vereinigt.

37 Richard Hakluyt: A particular discourse concerning the great necessity and manifold commodities that are like to grow to this Realm of England by the Western discoveries lately attempted, Written in the year 1584 * known as DISCOURSE OF WESTERN PLANTING [Excerpts], http://nationalhumanitiescenter.org/pds/amerbegin/explora- tion/text5/hakluyt.pdf. 38 Peter C. Mancal: Hakluyt’s Promise. An Elizabethan’s Obsession for an English Ame- rica, New Haven 2007. Manifesting Destiny oder Agenda Continuity 141

27 Jahre nach dem Wiener Kongress und fast zweieinhalb Jahrhunderte nachdem Raleigh seine erste Reise nach Trinidad gemacht hatte, entführte man den Gouverneur der Insel und brachte ihn nach Venezuela. Bei der Suche nach El Dorado werden wir Sir Robert H. Schomburgk vorgestellt, dem in Deutsch- land geborenen Entdecker, der mit der Verantwortung betraut wurde, Bri- tisch-Guiana detailliert zu vermessen und die Grenzen dieses neuerworbenen Gebiets zu skizzieren. Seine Skizzen sollten hinterher zum Gegenstand eines Grenzstreits zwischen dem benachbarten Venezuela und Großbritannien wer- den, Letzteres als imperiale Macht verantwortlich für die Kolonie bis zum Er- reichen der Unabhängigkeit 1966. Nur zwei Dinge müssen wir hier festhalten. Schomburgks’ Schriften über Raleigh sind ziemlich interessant zu lesen. Er ist der Meinung, die britische Besiedlung habe mit Raleigh begonnen. Schließlich zeichnete er in seiner Verantwortung als Kartograph für Großbritannien drei Karten, jede eine Überarbeitung der vorangegangenen und jede eine weitere Involvierung (inveighing) in den Disput um die Grenzzone. Wir sollten uns merken: obwohl, wie die Zeit zeigte, El Dorado nicht im entferntesten mehr seinem legendären Namen entsprechend wieder auflebte, glaubte man, es läge in der umstrittenen Grenzzone und dort liegt es tatsächlich.39

Übersetzung: Michael Bertram, Schellerten

39 Leslie B. Rout, Jr.: Which Way Out? An Analysis of the Venezuela-Guyana Boundary Dispute, East Lansing 1971, S. 1–8; Jacqueline A. Braveboy-Wagner: The Venezuela- Guyana Border Dispute. Britain’s Colonial Legacy in Latin America, Boulder 1984, S. 96–104; Jai Narine Singh: Diplomacy or War. The Guyana-Venezuela Border Cont- roversy, Georgetown 1982, S. 1–11; Michael F. Toussaint: Afro-West Indians in Search of the Spanish Main. The Trinidad-Venezuela Referent in the Nineteenth Century, Dis- sertation, The University of the West Indies, St. Augustine, 2000, S. 51–54, 242–243, 257, 259; Jesse Noel: Spanish Colonial Administration and the Socio-economic Foun- dations of Trinidad, 1777–1779, Dissertation, University of Cambridge, 1966, S. 1–5; Owen Rutters: A Traveller in the British West Indies, London 19562 (Originalausgabe 1933), S. 123–126.

Jason W. Moore Vom Objekt zum Oikos. Die Schaffung der Umwelt in der kapitalistischen Welt-Ökologie

Vom Objekt zum Oikos. Die Schaffung der Umwelt in der kapitalistischen Welt-Ökologie1 „Worte sind wie luftleere Ballons, die uns dazu einladen, sie mit Assoziationen zu füllen. Während sie sich füllen, beginnen sie eine immanente Kraft zu gewinnen und schließlich formen sie unsere Vorstellungen und Erwartungen. So ist es auch mit dem Wort ‚Ökologie‘“.2 Für beinahe ein halbes Jahrhundert hatte grünes Denken mit zwei Fragen gerungen: Ist die Natur exogen gegenüber den essentiellen Beziehungen der Menschheitsgeschichte, in der sie größtenteils eine Rolle spielt, weil man sie an- zapfen (Rohstoffe) und als Senkgrube (Verschmutzung) verwenden kann? Oder ist die Natur ein Netz des Lebens, das sämtliche menschlichen Aktivitäten, ein- schließlich des Anzapfens der Natur und der Nutzung als Senkgrube, aber auch Dinge weit darüber hinaus umfasst? Ist die Natur etwas, dem entsprechend Menschen handeln, oder durch das sie handeln? Die umfangreiche „grüne“ Literatur, die seit den 1970er Jahren erschienen ist - politische Ökologie, Umweltgeschichte, Umweltsoziologie, ökologisches Wirtschaften, Ökosysteme und vieles mehr - haben (in der einen oder anderen Form) zur Beantwortung beider Fragen mit „ja“ geführt. Einerseits stimmen die meisten Wissenschaftler darin überein, dass die Menschheit tatsächlich Teil der Natur ist, und lehnen den cartesianischen Dualismus ab, der die Gesellschaft (ohne die Natur) in eine Schublade steckt und die Natur (ohne die Menschen) in eine andere. Andererseits bleiben das konzeptionelle Vokabular und der Bezugsrahmen, die unsere empirischen Untersuchungen bestimmen, fest ver- wurzelt in der Interaktion zweier grundlegender undurchdringlicher Bereiche, „Natur“ und „Gesellschaft“. Dieses „doppelte Ja“ stellt ein echtes Puzzle dar: Wie übersetzen wir die materialistische, dialektische und holistische Philoso- phie vom „Menschen in der Natur“ in ein brauchbares (und funktionierendes)

1 Ein besonderer Dank für Gespräche und Kommentare geht an: Henry Bernstein, Holly Jean Buck, Bram Büscher, Carole Crumley, Harriet Friedmann, Diana C. Gildea, Re- becca Lave, Phil McMichael, Mike Niblett, and Richard Walker. 2 Donald Worster: Nature’s Economy. A History of Ecological Ideas, Cambridge 21994 (Originalausgabe 1977). 144 Jason W. Moore

Vokabular sowie einen analytischen Bezugsrahmen des Kapitalismus im Netz des Lebens? Die Arithmetik von Natur plus Gesellschaft ist seit den 70er Jahren das täg- liche Brot von Umweltstudien gewesen. Alles andere als eine Schwäche, ist die Etablierung dieser Arithmetik als einer legitimen Domäne wissenschaftlicher Aktivität der größte Beitrag zum „grünen“ Denken gewesen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde es zunehmend schwieriger, Kernbereiche (core issues) sozialer Theorie und des sozialen Wandels anzusprechen, ohne einigen Bezug auf Umweltveränderungen zu nehmen. Die Umwelt- und Geisteswissenschaf- ten sowie die Sozialwissenschaften brachten die andere, zuvor vergessene oder marginalisierte Seite des cartesianischen Dualismus ans Licht: Die Welt der Umweltauswirkungen. Dies ist keine kleine Errungenschaft. „Die“ Umwelt ist heute als legitimer und relevanter Analysegegenstand fest etabliert. Die Signalwirkung betreffend, möchte ich zwei Beobachtungen machen. Erstens ist die Arbeit, die Natur der Gesellschaft bei der Erforschung des welt- weiten Wandels hinzuzufügen, größtenteils abgeschlossen. Umweltfreundliche Wissenschaftler werden hinzufügen, dass noch viel zu tun bleibt, aber die Legi- timität dieses Vorhabens wird nicht länger infrage gestellt. Zweitens verschleiert die Wiederholung dieses Dualismus heute mehr den Platz der Menschheit im Netz des Lebens, als dass sie ihn erhellt. Die Cartesianische Arithmetik erscheint besonders ungeeignet, um sich mit den gegenwärtig wachsenden Krisen - nicht zuletzt mit jenen, die mit Klimawandel und Finanzierung verbunden sind - und auch mit den Ursprüngen und der Entwicklung dieser Krisentendenzen im mo- dernen Weltsystem auseinander zu setzen. Ist es nun notwendig, über die Umwelt als Objekt hinauszugehen? Kann das Vorhaben, Umweltgeschichte sozialer Prozesse zu schreiben, adäquat die vielfältigen Wege erfassen, in denen diese Prozesse nicht nur die Produzenten von Umwelt sind, sondern auch ihre Produkte? Die Idee, dass soziale Organi- sation Konsequenzen im Hinblick auf die Umwelt mit sich bringt, hat uns weit gebracht, aber es ist schlicht noch unklar, wie viel weiter uns die Arithmetik von „Gesellschaft“ plus „Natur“ - von Menschen ohne Natur und Natur ohne Menschen - noch bringen kann. Aber wenn uns die Arithmetik von Natur plus Gesellschaft nicht dahin brin- gen kann, wo wir heute hin müssen, was kann uns dann hinbringen? Meine Antwort beginnt mit einem simplen Vorschlag. Notwendig, und ich denke impliziert von einem wichtigen Teil „grünen“ Denkens, ist ein Konzept, das sich von der Interaktion undurchdringlicher und voneinander unabhängiger Vom Objekt zum Oikos 145

Bestandteile - Natur und Gesellschaft - wegbewegt, hin zu einem, das sich da- rum bemüht, die Dialektik der vertrackt und unordentlich gebündelten, sich gegenseitig durchdringenden und interdependenten Beziehungen menschli- cher und nicht-menschlicher Natur zu erfassen. Notwendig ist, mit anderen Worten, ein Konzept, welches ein Vokabular der Humanität in der Natur eher gedeihen lässt als eines, das auf Humanität in der Natur beruht.

Der Oikos: Dialektik in der Frage der Natur als Matrix Ich schlage vor, dass wir mit dem Oikos beginnen. Oikos ist eine Möglichkeit, die kreative, historische und dialektische Bezie- hung zwischen der menschlichen und der nicht-menschlichen Natur so wie immer auch innerhalb beider Naturen zu bezeichnen. Oikos ist ein Kürzel (a shorthand) für Oikos topos oder „günstigen Ort“, ein Begriff, geprägt von dem griechischen Philosophen und Botaniker Theophrastus. Für Theophrastus ver- wies der Topos Oikos auf „die Beziehungen zwischen einer Pflanzenart und der Umwelt“.3 Genau genommen (properly speaking) ist Oikos ein Adjektiv, aber während des langen Weges hin zu einem Wortschatz, der die zwei Kulturen (Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften) überschreitet, bitte ich den Leser, einige Freiheiten in Bezug auf die Sprache zu entschuldigen. Neologismen gibt es wie Sand am Meer im grünen Denken und wir brau- chen uns nicht lange nach Konzepten umzusehen, die darauf abzielen, die Be- ziehungen von menschlicher und nicht-menschlicher Natur zu verschmelzen oder zu kombinieren.4 Und doch fehlt uns nach Jahrzehnten energischen grü- nen Theoretisierens und Analysierens immer noch ein analytischer Ansatz, der den Oikos ins Zentrum rückt. Solch eine Perspektive würde die kreative und generative Beziehung von Arten und Umwelt als ontologische Achse des histo- rischen Wandels platzieren. Diese Neuorientierung wirft die Frage auf nach der Bedeutung der Natur - eher als Matrix denn als Ressource oder als Daseinsvo- raussetzung (enabling condition) historischer Analyse. Sie erlaubt die Rekonst- ruktion der großen Strömungen der Menschheit, von der Kriegsführung, über

3 Donald J. Hughes: Theophrastus as Ecologist, in: Environmental Review 9 (4), 1985, S. 296–306; Ders.: Pan’s Travail, Baltimore 1994, S. 4 (Hervorhebung des Verfassers). 4 Sicherlich stammten die ideenreichsten Begriffe (Cyborg, Natur-Kultur) aus dem wich- tigen Werk von Haraway. Der Hang zum Detail in diesem Wek sollte uns nicht von seiner Relevanz für weltweite ökologische Themen ablenken. Siehe Donna J. Haraway: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, New York 1991; Dies.: When Species Meet, Minneapolis 2008. 146 Jason W. Moore die Literatur bis zur wissenschaftlich-technischen Revolution, als ob die Natur für den historischen Prozess insgesamt eine Rolle spielt, nicht bloß ihr Kontext oder ihre unvorhersehbaren Konsequenzen. Das ist der intendierte Beitrag des Oikos. Er macht aufmerksam auf die subtile Beziehung zwischen Spezie und Umwelt.5 Es ist eine vielschichtige Dialektik, die Flora und Fauna, aber auch die mannigfaltige geologische und biosphärische Konfigurationen unseres Planeten, Zyklen und Bewegungen um- fasst. Mittels des Oikos formen und reformieren sich die Beziehungen und Be- dingungen, die das menschliche Mosaik aus Kooperation und Konflikt schaffen und zerstören: das, was typischerweise als „soziale Organisation“ bezeichnet wird. Natur als Oikos wird dann nicht dargeboten als zusätzlicher Faktor, der neben Kultur, Gesellschaft oder Wirtschaft zu stellen wäre. Natur wird stattdes- sen die Matrix, in welcher sich die menschliche Gesellschaft entfaltet und das Feld, auf dem geschichtliche Wirkungsmacht agiert. Aus der Perspektive des Oikos interagieren Zivilisationen (ein weiteres Kür- zel) nicht mit der Natur als Ressource (oder als Abfalleimer), sondern sie entwi- ckeln sich durch die Natur als Matrix. Der Klimawandel ist ein gutes Beispiel. Zivilisationen entwickeln sich, indem sie gegebene klimatische Gegebenheiten internalisieren, vorteilhafte und unvorteilhafte. Das Klima selbst ist ein Akteur, dessen Wirksamkeit sich herleitet aus der Beziehung zu den Menschen und dem Rest der Natur, ungleich gebrochen durch bestimmte historisch-geogra- phische Formationen. Der Klimawandel (und das Klima ändert sich ständig) ist eine Tatsache, die der Historiker E.H. Carr als Grundtatsache bezeichnet,6 also Rohmaterial historischer Erklärung. Grundtatsachen werden durch Inter- pretation zu historischen Fakten. Da nicht alle Tatsachen auf gleiche Art und Weise entstehen, verändert sich die Auswahl der Grundtatsachen, entsprechend den Paradigmen und des konzeptionellen Rahmens, den wir verwenden. Es ist nicht so lange her, dass praktisch alle Narrative der Menschheitsgeschichte so organisiert waren, als ob die Natur - selbst im cartesianischen Sinne - keine Rol- le gespielt hätte. Heute hat eine breit angelegte Umweltgeschichte triumphiert. Jeder Versuch die weiten Konturen und Kontraktionen der Weltgeschichte zu interpretieren, ohne gebührende Aufmerksamkeit für Umweltbedingungen und -veränderungen, wird zu Recht als nicht adäquat wahrgenommen.

5 Richard Levins, Richard Lewontin: The Dialectical Biologist, Cambridge (MA) 1985. 6 E.H. Carr: What is History?, New York 1962. Vom Objekt zum Oikos 147

Das ist eine bedeutende Leistung. Der Erfolg bringt notwendigerweise eine neue Herausforderung mit sich: Ist die „Wirkung“ der menschlichen und der nicht-menschlichen Natur ontologisch unabhängig oder abhängig vonein- ander? Hier betrachte ich die Wirkung als die Fähigkeit, einen historischen Wandel hervorzurufen (Brüche zu produzieren) oder existierende historische Arrangements zu reproduzieren (ein Äquilibrium zu reproduzieren). Zu sagen, die Natur sei eine „historische Protagonistin“,7 klingt sehr pfiffig. Aber was bedeutet es wirklich? Sind wir einfach dabei, die Natur einer langen Liste histo- rischer Akteure hinzuzufügen? Oder impliziert die Anerkennung der Wirkung der Natur ein grundlegendes Umdenken bezüglich der Wirkung selbst? Wir können nun viele, viele Studien lesen, die danach streben, die Wirkung der Natur zu erläutern (z.B. Steinberg,8 Herron).9 Aber es ist keinesfalls klar, dass die Wirkung der Natur - ob nun in cartesianischen oder dialektischen Begriffen wahrgenommen - die Geschichte des Kapitalismus und Tendenzen zu Regie- rungskrisen verdeutlichen könnte. „Wirkt“ das Klima in der gleichen Weise, in der Klassen oder Imperien Geschichte „machen“? Wenn die Natur tatsächlich eine geschichtliche Protagonistin ist, kann ihre Wirkung adäquat nur begriffen werden, wenn wir den Schritt weg vom Car- tesianischen Dualismus machen. Das Problem besteht ausdrücklich nicht in der Wirkung der Natur und der Wirkung der Menschen, da diese ohne den jeweils anderen undenkbar sind. Die Frage ist eher, wie menschliche und nicht- menschliche Natur gebündelt werden können: Gewiss machen Krankheiten Geschichte, aber nur als epidemiologische Vektoren, gebunden an die Mecha- nismen von Handel und Imperium. Das ist es, was so oft weggelassen wird bei der Argumentation zur Wirkung der Natur: Die Fähigkeit, Geschichte zu ma- chen, hängt ab von spezifischen Strukturen menschlicher und nicht-mensch- licher Akteure. Die Wirkung des Menschen findet innerhalb der Natur statt und ist dialektisch an diese als Ganzes gebunden - was soviel heißt, dass die Wirkung des Menschen überhaupt nicht rein menschlich ist. Sie ist eher mit dem Rest der Natur verknüpft.

7 Bruce M.S. Campbell: Nature as Historical Protagonist. Environment and Society in Pre-industrial England, in: Economic History Review 63 (2), 2010, S. 281–314. 8 Ted Steinberg: Down to Earth. Nature, Agency, and Power in History, in: American Historical Review 107(3), 2002, S. 798–820. 9 John Herron: Because Antelope Can’t Talk. Natural Agency and Social Politics in American Environmental History, in: Historical Reflections 36 (1), 2010, S. 33–52. 148 Jason W. Moore

Die weltweite ökologische Alternative nimmt diese Verknüpfungen zum Ausgangspunkt. Zivilisationen sind große, aussagekräftige Beispiele für diese dialektische Bündelung. Von den groß angelegten und lang andauernden Mus- tern der von Menschen herbeigeführten Veränderung der Umwelt (environ- ment-making) können wir die praktische Unendlichkeit grundlegender Fakten gegenüber historischen Fakten erkennen. Der Klimawandel wird in diesem Schema der Dinge zu einem Vektor der planetarischen Veränderung, eingebet- tet in eben das Gewebe zivilisatorischer Macht und Produktion (Klasse, Impe- rium, Landwirtschaft usw.). Weit entfernt davon, ein neues Phänomen zu sein, reicht dieses sozialökologische Gewebe Jahrtausende zurück.10 Dies ist der Geist einer breit angelegten Klimahistoriographie,11 auch wenn er nicht immer den Buchstaben entspricht.12 Jedoch geschieht dies nicht deshalb, weil das Klima mit zivilisatorischen Strukturen interagiert, die irgendwann einmal Probleme im Leben dieser ansonsten unabhängigen Strukturen verursachen. Wir würden besser daran tun, die Sichtweise zu ändern, um zu verstehen, dass Klimabe- dingungen bei der Entstehung gegenwärtig sind und eine Rolle spielen. Zi- vilisationen sind ohne Klima nicht denkbar. Das Klima selbst ist ein Kürzel (noch ein weiteres) für die Diversität atmosphärischer Prozesse, die gemeinsam Beziehungen zwischen Macht und Produktion herstellen. Als solches ist das Klima nur ein Bündel von Determinationen - nicht Determinanten -, die die vielfältigen Gesamtheiten geschichtlichen Wandels antreiben, zustande brin- gen und transformieren. Wenn sich das Klima dramatisch verändert hat, sind

10 William F. Ruddiman: Plows, Plagues, Petroleum. How Humans Took Control of the Climate, Princeton 2005. 11 Wissenschaftler, die sich mit den gegenwärtigen Dynamiken des Kapitalismus und des Klimas beschäftigen, sind gewillt gewesen, weiterzugehen, indem sie eine charakteris- tische Welt-Ökologie-Synthese vorschlagen, deren paradigmatische Auswirkungen zu- mindest einstweilen unterschätzt bleiben. Hier denke ich vor allem an Larry Lohmanns’ Analyse des Kohlemarktes und dessen Finanzierung: Larry Lohmann: Financialization, Commodification and Carbon. The Contradictions of Neoliberal Climate Policy, in: Leo Panitch, Gregory Albo, Vivek Chibber (Hg.): The Crisis and the Left, London 2012, S. 85–107 sowie an Christian Parantis’ verwobene Erzählung von Klima, Klasse und Konflikt im frühen 21. Jahrhundert: Christian Parenti: Tropic of Chaos. Climate Change and the New Geography of Violence, New York 2011. 12 Zum Beispiel: Mike Davis: Late Victorian Holocausts. El Niño Famines and the Ma- king of the Third World, London 2001; Brian Fagan: The Great Warming. Climate Change and the Rise and Fall of Civilizations, New York 2008; Dipesh Chakrabarty: The Climate of History. Four Theses, in: Critical Inquiry 35, 2009, S. 197–222. Vom Objekt zum Oikos 149 die Ergebnisse oft ebenso dramatisch und epochal gewesen, wenn gelegentlich auch zufällig. Betrachten wir z.B. den Niedergang Roms nach dem Ende des Klimaoptimums der Römerzeit um 300 oder den Kollaps der feudalen Zivilisa- tion mit dem Beginn der Kleinen Eiszeit, 1000 Jahre später.13 Aber betrachten wir auch jene Klimawechsel, die für den Aufstieg der römischen Macht ca. 300 Jahre vor unserer Zeitrechnung verantwortlich waren, oder den Anbruch der mittelalterlichen Wärmeperiode (ca. 800–900) und die schnelle Vervielfachung neuer „Charter-Staaten“, in ganz Eurasien, von Frankreich bis Kambodscha.14

Weltweite ökologische Vorstellungen: Hin zum Kapitalismus in der Natur Obwohl Theophrastus den Topos Oikos in einer recht konventionellen Weise benutzt zu haben scheint, um das zu bezeichnen, was wir ökologische Nische nennen würden, wurde nach beinahe einem Jahrhundert holistischen Denkens eine dialektische Alternative vorgeschlagen.15 In dieser dialektischen und holis- tischen Alternative, bietet der Oikos eine Perspektive auf den geschichtlichen Wandel im Netz des Lebens als zeitgleich umfassendes und sich entfaltendes Gewebe.16 Diese Alternative ist es, die ich als Welt-Ökologie-Synthese bezeich- net habe.17 Wie viele andere grüne Sichtweisen bietet die Herangehensweise der

13 Carole Crumley: The Ecology of Conquest, in: Carole Crumley (Hg.): Historical Ecol- ogy. Cultural Knowledge and Changing Landscape, Santa Fe (NM) 1994, S. 183–201; Jason W. Moore: Ecology in the Making (and Unmaking) of Feudal Civilization, un- veröffentl. Manuskript, Department of Sociology, Binghamton University, 2013. 14 Victor Lieberman: Strange Parallels. Southeast Asia in Global Context, c. 800–1830. Bd. 2. Mainland Mirrors. Europe, Japan, South Asia, and the Islands, Cambridge (MA) 2009. 15 Jan C. Smuts: Holism and Evolution, New York 1926; Fritjof Capra: The Turning Point. Science, Society, and the Rising Culture, New York 1982; John Bellamy Foster: Marx’s Ecology, New York 2000; David Harvey: The Nature of Environment. The Di- alectics of Social and Environmental Change, in: Ralph Miliband, Leo Panitch (Hg.): Real Problems, False Solutions, London 1993; Richard Levins, Richard Lewontin: The Dialectical Biologist, Cambridge (MA) 1985; Eugene P. Odum: Fundamentals of Ecology, Philadelphia 31971; Ders.: The Emergence of Ecology as a New Integrative Discipline, in: Science 195, 1977, S. 1289–1293; Bertell Ollman: Alienation. Marx’s Conception of Man in a Capitalist Society, Cambridge 1971. 16 David Bohm (Hg.: Lee Nichol): The Essential David Bohm, New York 2003. 17 Jason W. Moore: Capitalism as World-Ecology. Braudel and Marx on Environmen- tal History, in: Organization & Environment 16 (4), 2003, S. 431–458; Ders.: The 150 Jason W. Moore

Welt-Ökologie eine Geschichtsphilosophie, basierend auf dem Menschsein in der Natur.18 Die Besonderheit der Welt-Ökologie liegt in dem Versuch, die phi- losophische Prämisse in eine welthistorische Methode zu übersetzen und dabei die Bündelung menschlicher und nicht-menschlicher Natur mittels des Oikos zu betonen. Eine solche Bündelung führt uns notwendigerweise weit über die (sogenannte) „Umweltdimension“ menschlicher Aktivität hinaus. Unser Inter- esse gilt deshalb menschlichen Beziehungen als stets bereits vom Rest der Natur interpretierten Beziehungen und deshalb gilt es schon immer beidem, den Pro- duzenten und den Produkten des Wandels im Netz des Lebens.19 Welt-Ökologie bietet deshalb einen Bezugsrahmen zur Theoriebildung be- züglich dieser strategischen Bündelung von Beziehungen, die für die kapitalisti- sche Zivilisation grundlegend sind. Diese strategischen Beziehungen - vor allem

Modern World-System as Environmental History?, Ecology and the Rise of Capitalism, in: Theory & Society 32 (3), 2003, S. 307–377; Ders.: Transcending the Metabolic Rift, in: Journal of Peasant Studies 38 (1), 2011, S. 1–46; Ders.: Ecology, Capital, and the Nature of Our Times, in: Journal of World-Systems Analysis 17 (1), 2011, S. 108–47; Ders.: Wall Street is a Way of Organizing Nature. Interview, in: Upping the Anti 12, 2011, S. 47–61. Siehe auch: Steffen Böhm, Maria Ceci Misoczky, Sandra Moog: Greening Capitalism? A Marxist Critique of Carbon Markets, in: Organization Studies 33 (11), 2012, S. 1617–1638; Sharae Deckard: Mapping the World-Ecology. Conjectures on World-Ecological Literature, unveröffentl. Manuskript, School of Eng- lish, Drama, and Film, University College Dublin, 2012, online: http://www.academia. edu/2083255/Mapping_the_World-Ecology_Conjectures_on_World-Ecological_Lite- rature; Emanuele Leonardi: Biopolitics of Climate Change. Carbon Commodities, Environmental Profanations, and the Lost Innocence of Use-Value, PhD dissertation, Graduate Program in Theory and Criticism, University of Western Ontario, 2012; Jonathan Leitner: An Incorporated Comparison. Fernand Braudel’s Account of Dutch Hegemony in a World-Ecological Perspective, in: Review 30 (2), 2007, S. 97–135; Birgit Mahnkopf: Peak Everything – Peak Capitalism? Folgen der sozial-ökologischen Krise für die Dynamik des historischen Kapitalismus, Working Paper 02/2013, DFG- KollegforscherInnengruppe Postwachstumsgesellschaften; Michael Niblett: World- Economy, World-Ecology, World Literature, in: Green Letters. Studies in Ecocriticism 16 (1), 2012, S. 15–30; Kerstin Oloff, “Greening” the Zombie. Caribbean Gothic, World-Ecology, and Socio-Ecological Degradation, in: Green Letters. Studies in Eco- criticism 16 (1), 2012, S. 31–45. 18 Zum Beispiel: Capra: Turning Point (wie Anm. 15); C. Folke u.a.: Resilience Thin- king. Integrating Resilience, Adaptability and Transformability, in: Ecology and Society 15 (4), 2010, 20, [online] URL: http:// www.ecologyandsociety.org/vol15/iss4/art20/. 19 Raymond Williams: Problems in Materialism and Culture, London 1980. Vom Objekt zum Oikos 151

Wert/Kapital als abstrakte Arbeit in der Natur20 - werden typischerweise als sozi- ale Beziehungen begriffen: als Beziehungen zwischen, an erster Stelle, Menschen und, lediglich daraus folgend, als Interaktionen mit dem Rest der Natur. Von ihrer Entstehung her gesehen, trachtet Umweltgeschichte danach, diesen Sozi- aldeterminismus mittels eines neuen Ansatzes aufzulösen. Vier Jahrzehnte zuvor argumentierte Alfred Crosby, Menschen wären zuallererst biologische Wesen, bevor sie Katholiken, Kapitalisten, Kolonisten oder irgendetwas anderes seien.21 Leider löste Crosbys’ bahnbrechende Argumentation das Problem des Sozial- determinismus weniger, als dass sie es umkehrte. Da die biologische Existenz der Menschheit kollektiv und auf Zusammenarbeit ausgerichtet ist, dreht sie sich um artspezifische Fähigkeiten zur Schaffung von Symbolen und zur kol- lektiven Erinnerung. Biologie und Sozialität sind nicht zu separieren und dies zu vermuten, heißt, für Hobsons’ Wahl zwischen biologischem Determinismus oder sozialem Reduktionismus zu optieren. Glücklicherweise lässt uns der Oi- kos eine echte Wahl. Hier nehmen wir „die erste(n) Prämisse(n) der gesamten Menschheitsgeschichte“ als Produzent-Produkt-Beziehungen im Netz des Lebens an.22 Demnach waren (und sind) Nahrungsbeschaffung und Familiengründung kulturelle/soziale Angelegenheiten, als Wege zur Aushandlung biologischer und geographischer Beziehungen, als Wege gebündelter Umweltbeeinflussung (enviroment-making). Sie bilden nicht „die natürliche Grundlage bzw. die na- türlichen Grundlagen“ eines mechanischen Basis- bzw. Aufbaumodels geschicht- lichen Wandels, sondern vielmehr eine konstitutive Beziehung zum „Rest der Natur“, durch welche Menschen produzieren und gleichzeitig Produkte „eines bestimmten Lebensmodus bzw. mehrerer bestimmter Lebensmodi“ sind.23 Die Beobachtung trifft nicht nur auf Beziehungen im täglichen Leben zu, sondern auch auf die großangelegten Muster von Macht und Produktion im modernen Weltsystem. Die Idee, dass der Kapitalismus eher auf die Natur

20 Moore: Transcending (wie Anm. 17); Ders.: Value. Nature. History: Capitalism and the Great Frontier in the Web of Life, unveröffentl. Manuskript, Department of Socio- logy, Binghamton University, 2011; Farshad Araghi: Accumulation by Displacement. Global Enclosures, Food Crises, and the Ecological Contradictions of Capitalism, in: Review 32 (1), 2009, S. 113–146. 21 A.W. Crosby: The Columbian Exchange. The Biological and Cultural Consequences of 1492, Westport (CT) 1972, S. xiii. 22 Karl Marx, Frederick Engels (Hg.: R. Pascal): The German Ideology. Parts 1 & 3, New York 1970, S. 42; Dt.: Die deutsche Ideologie (Marx-Engels-Werke 3), Berlin (O) 1958. 23 Ebd. 152 Jason W. Moore einwirkt als sich durch das Netz des Lebens entwickelt, ist in kritischen Um- weltstudien heute selbstverständlich weit verbreitet: sie ist die Wirkung der Ontologie in den meisten umweltorientierten Studien innerhalb der Weltsys- temanalyse aber auch in der politischen Ökologie.24 Wir haben nun eine robuste politische Ökonomie der Umwelt, aber wenige Rekonstruktionen der Kapita- lakkumulation als Art, die Natur als Matrix zu organisieren.25 Dies erlaubte allen möglichen neomalthusianischen Tendenzen, sich in die linke Ökologie einzuschleichen. Beim cartesianischen Ansatz wird dazu tendiert, Ressourcen als Dinge aufzufassen, was soweit führt, sie als mit speziellen Kräften ausge- stattete Dinge zu begreifen, die Geschichte gestalten können - nirgends ist dies klarer als in der Literatur zum „fossilen Kapitalismus“.26 Die Sichtweise, dass Ressourcen für sich genommen Dinge sind und dass die Grenzen des Kapitalismus eher äußere Beschränkungen als innere Wider- sprüche seien, ist in unserer Zeit selbstverständlich nicht neu und war es selbst in den 1970er Jahren nicht. Es ist eine Ansicht, welche die Wurzel der Gren- zen des Kapitalismus nicht nur außerhalb der strategischen Beziehungen des Kapitalismus lokalisiert, sondern zudem außerhalb des historischen Wandels. Soziale Beschränkungen in diesem Schema der Dinge sind historisch, flexi- bel und offen für eine Revision; natürliche Grenzen liegen praktisch außerhalb der Geschichte. Teil der Konsequenzen dieses neocartesianischen Modells von Natur und Gesellschaft ist eine ausgeprägte Tendenz hin zu einer neomalthu- sianischen Umrahmung welthistorischer Probleme und ein „externe“ Sicht auf die Grenzen. Die Beobachtung des sozialen Reduktionismus beim Nachden- ken über die Grenzen des Kapitalismus ist ein biosphärischer Determinismus. Nun stellt die Biosphäre selbstverständlich weiterhin eine Art Grenze dar, aber die cartesianische Interpretation der inneren Krisentendenzen des Kapitalismus kann uns nicht dazu verhelfen, biosphärische Grenzen als Produkte einer zwei- fachen Innerlichkeit - der Verinnerlichung biosphärischer Bedingungen und der Beziehungen innerhalb der kapitalistischen Zivilisation - sowie der Ver- innerlichung von Werte-Beziehungen in der biosphärischen Reproduktion zu

24 Repräsentativ z.B.: John Bellamy Foster, Brett Clark, Richard York: The Ecological Rift. Capitalism’s War on the Earth, New York 2010; Richard Peet, Paul Robbins, Michael Watts (Hg.): Global Political Ecology, London 2011. 25 Paul Burkett: Marx and Nature, New York 1999; Moore: Transcending (wie Anm. 17). 26 Elmar Altvater: The Social and Natural Environment of Fossil Capitalism, in: Leo Panitch, Colin Leys (Hg.): Coming to Terms with Nature. Socialist Register 2007, London 2006. Vom Objekt zum Oikos 153 bestimmen. Eben aus diesem Grunde können uns „Fuß“ und „Fußabdruck“ nicht näher an die realen Beziehungen der gegenwärtigen globalen Konjunk- tur heranführen: eben, weil eine Metapher, die für alle historischen Effekte wirksam ist, der Menschheit keinen Raum lässt für die Kreativität der Natur als Ganzes. Daher das außergewöhnliche Auftauchen der Wirkung der Natur (Natur als Oikos) in der ökologischen Fußabdruck-Metapher. Ist das Bild von der Natur als passiver Schlamm und Dreck - einem Ort, an dem jemand ei- nen Fußabdruck hinterlässt - wirklich die beste Metapher, um die Vitalität des Netzes des Lebens bei der gemeinsamen Inszenierung des historischen Wandels einzufangen? Die Welt-Ökologie-Perspektive fordert deshalb den Dualismus von Kapita- lismus und Natur heraus, indem sie den Meta-Antrieb des „sozialen“ Wandels als sozialökologischen Antrieb platziert. Die Zielsetzung besteht darin, Kapi- talismus als Welt-Ökologie neu zu denken - und nicht nur Kapitalismus. Wir können, mittels des Oikos, die größtmögliche Bandbreite von Meta-Prozessen in der modernen Welt als sozialökologisch einbeziehen, von der Familiengrün- dung über „rassische Ordnungen“ bis hin zur Industrialisierung, Imperialismus und Proletarisierung. Aus dieser Perspektive, entwickelt sich der Kapitalismus nicht so sehr entsprechend der globalen Natur, als dass er vielmehr durch die chaotischen und kontingenten Beziehungen der Menschen zum Rest der Na- tur entstanden ist. Es steht außer Frage, dass, für die meisten von uns, diese großen Prozesse der Weltgeschichte wie Hybriden oder Fusionen wirken (Be- griffe, die nur Sinn machen, wenn wir vermuten, dass Gesellschaft und Natur am Anfang voneinander getrennt waren): Tatkräftige Regierungsformen und agrarische Revolutionen ja, aber auch Nation als „gedachte Gemeinschaften“, Entwicklungspolitik (developmentalism), Literatur sowie Finanzialisierung (Finanzmarkt-Kapitalismus). Tatsächlich, wenn wir einmal beginnen, uns diese strategischen Bündelungen näher anzusehen, beginnen wir zu begreifen, wie tief sie wirklich im Oikos verwurzelt sind. Was ist das Finanzkapital heute an- deres als eine symbolische Buchhaltung und materielle Übung zur Umformung der globalen Natur, in einer Art und Weise, die für die endlose Akkumulation von Kapital günstig ist? Durch diese Bewegung des gebündelten Oikos können wir die Anliegen der Umweltgeschichte und der Sozialwissenschaft einbezie- hen, indem wir die Umweltgeschichte sozialer Prozesse schreiben, während wir gleichzeitig zeigen, dass die sozialen Prozesse ebenfalls Produkte des Netzes des Lebens sind. Das ist der Übergang von der Umweltgeschichte der Moderne zur Moderne als Umweltgeschichte In diesem Sinne kann das moderne Weltsystem 154 Jason W. Moore als kapitalistische Welt-Ökologie verstanden werden, die Kapitalakkumulati- on. die Produktion der Natur sowie das Streben nach Macht in einer „vielfälti- gen Gesamtheit vieler Determinationen“ zusammenführt.27

Environment-Making So gesehen ist es Aufgabe der Theorie, die grundlegende Verflechtung menschli- cher Aktivitäten im Netz des Lebens freizulegen. Daraus folgt dann, dass „Ökolo- gie“ im Wort Welt-Ökologie nicht ein Nomen ist, das durch ein geographisches Adjektiv modifiziert wurde. Noch weniger ist es ein Synonym für Interaktio- nen innerhalb der nicht-menschlichen Natur. Vielmehr stammt „-ökologie“ in Welt-Ökologie vom Oikos, innerhalb dessen und durch welches Arten mannig- fache Umwelt im Netz des Lebens schaffen - und immer wieder neu erschaffen. Als solches ist Environment-Making das entscheidende Konzept. Natur kann weder geschützt noch zerstört werden; sie kann lediglich transformiert werden. Somit repräsentiert Oikos eine radikale Ausarbeitung der dialektischen Logik, die in Marx‘ Metabolismus-Konzept immanent ist (Stoffwechsel).28 Stoffwech- sel kennzeichnet „einen Metabolismus der Natur … in welchem weder die Ge- sellschaft noch die Natur mit der Beständigkeit stabilisiert werden kann, die ihre ideologische Separation beinhaltet“.29 Bei der dialektischen Elaboration schaffen und vernichten sich Arten und Umwelt unmittelbar wechselseitig, immer und auf Schritt und Tritt. Aus diesem Grunde ist die Umwelt ein Analyseobjekt für die Weltökologen. Das ist der und ist es gleichzeitig auch nicht. Das ist die Verlagerung von der Umwelt, hin zum Environment-Making, mit der sich ständig ändernden, sich wechselseitig durchdringenden und sich austauschenden Dialektik von Mensch und Umwelt im historischen Wandel im Fokus. Wir betrachten die Beziehun- gen, die das Environment-Making steuern und auch den Prozess, der neue Re- geln für das Environment-Making erzwingt, wie in der langen Übergangszeit

27 Karl Marx: Grundrisse. Introduction to the Critique of Political Economy (Aus d. Dt. v. Martin Nicolaus), New York 1973, S. 100; Dt.: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. (Rohentwurf) 1857–1858 (Marx-Engels-Werke 42), Berlin (O) 1983. 28 Karl Marx: Capital. Vol. 1 (Aus d. Dt. v. Ben Fowkes), New York 1977, Kap. 3.2 u. 7.1; Dt.: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 1 (Marx-Engels-Werke 23), Berlin (O) 1962; und besonders Foster: Marx’s Ecology (wie Anm. 15). 29 Neil Smith: Foreword, in: Nik Heynen, Maria Kaika, Erik Swyngedouw (Hg.): In the Nature of Cities. Urban Political Ecology and the Politics of Urban Metabolism, New York 2006, S. xii–xv, hier S. xiv. Vom Objekt zum Oikos 155 vom Feudalismus zum Kapitalismus.30 Auf die Gefahr hin, ganz offen zu sein, besteht Umwelt nicht nur aus Feldern und Wäldern, sie besteht auch aus Häu- sern, Fabriken, Bürotürmen, Flughäfen sowie allen Arten von geschaffener, ländlicher und städtischer Umwelt. Zu sagen, dass sich Kapitalismus durch die Produktion der Natur, das Stre- ben nach Macht sowie die Anhäufung von Kapital konstituiert, bedeutet drei voneinander unabhängige Beziehungsblöcke nicht zu erkennen, die dann mit- tels Feedbacklinks miteinander verbunden sein könnten. Vielmehr durchdrin- gen diese drei Momente sich bei der Schaffung des historischen Kapitalismus wechselseitig - und bei seiner Auflösung (unraveling) heute. Leicht misszuver- stehen, ist die Produktion der Natur keine billige Behauptung des promethei- schen Konstruktivismus.31 Ja, es gibt eine Natur, die außerhalb dessen existiert, was wir uns unter ihr vorstellen. Und nein, die Widersprüche des Kapitals sind in der Tat keine „Willensverfügung des Kapitalismus“ (will of the capitalism writ) gegenüber dem Rest der Natur.32 In weltökologischer Perspektive bezeich- net die Produktion der Natur das Erscheinen bestimmter historischer Zusam- menhänge, die bestimmte menschliche und nicht-menschliche Aktivitäten und Bewegungen zusammenbringen (bündeln). Mit der Produktion der Natur rü- cken wir schließlich die strategischen Zusammenhänge in den Vordergrund, die Entstehung, Leben und Tod spezifischer Zivilisationen bestimmen.33 Wenn es für den Leser von Nutzen ist, könnte man sich die Produktion der Natur als Koproduktion vorstellen. Eine einheitliche Sichtweise der Koproduktion wird, was das betrifft, jedenfalls in jeder dialektischen Lesart (reading) der Produktion

30 Moore: Modern World-System (wie Anm. 17); Ders.: Amsterdam Is Standing on Nor- way. Part I. The Alchemy of Capital, Empire, and Nature in the Diaspora of Silver, 1545– 1648, in: Journal of Agrarian Change 10 (1), 2010, S. 35–71; Ders.: Amsterdam Is Standing on Norway. Part II. The Global North Atlantic in the Ecological Revolution of the Long Seventeenth Century, in: Journal of Agrarian Change 10 (2), 2010, S. 188–227. 31 Neil Smith: Uneven Development, Oxford 1984; Ders.: Nature as Accumulation Stra- tegy, in: Panitch, Leys (Hg.): Coming (wie Anm. 26), S. 16–36. 32 Morgan M. Robertson: The Neoliberalization of Ecosystem Services. Wetland Miti- gation Banking and Problems in Environmental Governance, in: Geoforum 35, 2004, S. 361–373. 33 Zu einer Zeit, da kein ernsthafter Marxist argumentieren würde, dass die Produktion von Werten die ungehinderte Macht des Kapitals bei der Schaffung bzw. Umgestaltung von Klassen der Arbeit repräsentiere, bleibt es akzeptabel, die These von der Produkti- on der Natur als individualisierte und unidirektionale Deutung der sozialökologischen Kontraktionen des Kapitalismus zu charakterisieren. 156 Jason W. Moore oder Evolution angedeutet. Wenn Marx beobachtet, dass der Mensch „auf die externe Natur einwirkt und auf diese Weise … gleichzeitig seine eigene Natur verändert“,34 bringt er ein Argument für die zentrale Bedeutung des Arbeitspro- zesses vor, wie er im Sinne des Begriffs Welt-Ökologie gebündelt ist. Die „ex- terne Natur“ steht nicht außerhalb des Arbeitsprozesses, sondern sie ist für ihn konstitutiv. Der Punkt, den ich unterstreichen möchte, ist nicht der, dass die Umwelt (teilweise) vom Menschen hervorgebracht worden ist,35 sondern, dass der entscheidende Zusammenhang, abwechselnd befreiend und limitierend, ei- ner zwischen der menschlichen und der nicht-menschlichen Natur, mittels des Oikos, ist. Environment-Making ist eine menschliche Handlung und ebenso eine Handlung allen Lebens; Menschen stellen auch Umwelt dar, die von nicht- menschlichen Einwirkungen „gemacht“ wurde. Sicherlich, Menschen sind ungewöhnlich effektiv beim Environment-Ma- king: Umgestaltung des Netzes des Lebens und seines geologischen Substrats, um bestimmte Zusammenhänge von Macht und Produktion anzupassen und zu ermöglichen. (Und, nicht zuletzt, die erweiterte Reproduktion menschli- cher Populationen.) In der weltökologischen Perspektive wirken Zivilisationen nicht auf die Natur ein, sondern entwickeln sich mittels des Oikos. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass Zivilisationen überhaupt keine menschli- chen Konstrukte sind. Sie sind vielmehr Bündel von Beziehungen zwischen Menschen und nicht-menschlichen Akteuren. Diese Bündel werden durch den Oikos geformt, stabilisiert und periodisch unterbrochen. Menschen sind als Ganzes, von innen heraus, mit der Natur verknüpft, nicht von außen. Wir sind selbstverständlich eine besonders mächtige, die Umwelt verändernde Art, aber menschliches Handeln ist wohl kaum „ausgenommen“ vom Rest der Natur. Vor allem sind wir wohl kaum ausgenommen von den umweltverändernden Aktivitäten nicht-menschlichen Lebens, für welches Menschen (individuell und kollektiv) „Umwelten“ sind, die man schaffen und zerstören kann.36 „Zu sagen, dass die physische und mentale Existenz des Menschen mit der Natur ver- bunden ist, bedeutet schlicht, dass die Natur mit sich selbst verbunden ist, da der

34 Marx: Capital (wie Anm. 28), S. 283 (Hervorhebung des Verfassers). 35 Victor Wallis: Species Questions. From Marx to Shiva, in: Organization & Environ- ment 13 (4), 2001, S. 500–507. 36 Riley E. Dunlap, William R. Catton, Jr.: Struggling with Human Exemptionalism. The Rise, Decline and Revitalization of Environmental Sociology, in: American Socio- logist, 25, 1994, S. 5–30; Levins, Lewontin: Dialectical Biologist (wie Anm. 5). Vom Objekt zum Oikos 157

Mensch Teil der Natur ist“.37 Es mag daher in gewisser Weise ein Fehler sein, von der Moderne (oder vom Kapitalismus) und von der Natur zu sprechen, als ob man adäquat über Kapitalismus oder Natur nachdenken könnte, in Abwesen- heit des jeweils anderen. Aber wäre es nicht fruchtbarer, von Zivilisationen in der Natur, Kapitalismus in der Natur sowie von der Moderne als Umweltge- schichte zu sprechen? Wenn alle Beziehungen zwischen Menschen, alles menschliche Handeln sich mittels des Oikos entfaltet (der sich selbst ebenfalls entfaltet), folgt daraus, dass diese Beziehungen immer und überall eine Verbindung mit dem Rest der Natur sind. Es ist eine Dialektik, die wechselseitig von innen nach außen und von außen nach innen funktioniert: die Erde ist die Umwelt für die Menschen und die Menschen ihrerseits sind Umwelt (und Umweltgestalter) für den Rest des Lebens auf dem Planeten Erde. Die übliche Herangehensweise an diese Fra- gen in Geschichte und Sozialwissenschaften ist, die Dialektik der menschlichen und nicht-menschlichen Natur als eine Dialektik der Interaktion zu betrach- ten. Das interaktionistische Modell jedoch basiert auf einem großen - und ich denke heutzutage ungerechtfertigten - Reduktionismus. Die Menschen selbst sind komplexe Netze biologischer Determination: Wir sind unter anderem eine „Umwelt“ für zigtausende mikrobischer Symbionten (des Mikrobioms), die uns bewohnen und unser Leben möglich machen. Wir haben es mit anderen Worten mit „Welten in Welten“ zu tun.38 Folglich ist Interaktion nicht Dialektik. Der Unterschied mag trivial erschei- nen. Ich behaupte, er ist alles andere als das. Der Unterschied ist einer, der bedeutende Auswirkungen darauf hat, wie wir Zivilisation, Modernität und die sich verschärfenden Widersprüche im Kapitalismus sehen, ausgelöst durch die große Rezession. Sogar unter radikalen Kritikern herrscht der cartesianische Dualismus einer Gesellschaft (Menschheit ohne Natur) und der Natur (Um- welt ohne Menschen).39 Aus der Perspektive des Oikos ist die cartesianische Sichtweise theoretisch unausgegoren (arbitrary) und empirisch irreführend. Versuchen wir eine Linie um das „soziale“ und das „natürliche“ bei der Kul- tivierung und beim Konsum von Nahrung zu ziehen. In einem Reisfeld oder

37 Karl Marx (Hg.: Dirk J. Struik): Economic and Philosophic Manuscripts of 1844, New York 1969, S. 112; Dt.: Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844 (in: Marx-Engels-Werke 40), Berlin (O) 1968. 38 Ruth E. Ley u.a.: Worlds within Worlds. Evolution of the Vertebrate Gut Microbiota”, in: Nature Reviews Microbiology 6 (10), 2008, S. 776–788. 39 Foster, Clark, York: Ecological Rift (wie Anm. 24). 158 Jason W. Moore einem Weizenfeld, in einer Rindermastparzelle oder auf unserem Esstisch, wo hört der natürliche Prozess auf und wo beginnt der soziale Prozess? Die Frage selbst spricht für den unsicheren Gebrauch unseres cartesianischen Vokabulars angesichts der alltäglichen Realität, in der wir leben und die wir zu analysieren versuchen. Man kann sagen, dass wir soziale und natürliche Wesen sind, aber das geht an der eigentlichen Frage vorbei: Wann sind Menschen „soziale“ We- sen, wann sind wir „natürliche“ Geschöpfe und welches sind die Beziehungen, die diese sich verschiebenden Grenzen in Griff haben? Wenn es um Nahrung geht (und nicht nur um Nahrung), dann ist jeder Schritt im Prozess gebündelt. Die Frage lautet dann nicht: „Ist es ‚sozial‘ oder naturbedingt?“, sondern sie lautet: „Wie passen menschliche und nicht-menschliche Natur zusammen?“ Ich schlage vor, dass jede adäquate Antwort auf diese Frage eine Form von dialektischem, durch den Oikos begründeten Denkprozess durchlaufen muss. Environment-Making verzeichnet eine dreifache Transformation: von Arten, Umwelt und Oikos.40 Gleiches trifft für Zivilisationen während der sehr ausge- dehnten longue durée zu. Zivilisationen sind sowohl Produzenten als auch Pro- dukte. Sie bewirken nicht nur Veränderungen der Umwelt, sie entstehen durch die mannigfaltigen Einflüsse (agencies) der Biosphäre: Wichtiger noch, bei der Durchsetzung (imposing) einer neuen Logik der Macht und Produktion wer- den entstehende Zivilisationen in ihren sie definierenden Reproduktionsregeln transformiert. Indem er die grundherrschaftliche Form (manorial form) der Produktion in Europas diversen Landschaften generalisierte, schuf der frühe europäische Feudalismus eine Zivilisation, die nicht auf einer zentralisierten imperialen Macht (dem karolingischen Projekt) basierte, sondern auf der tief- greifenden geographischen Zersplitterung der Macht (dem feudalen Prozess).41 Ähnlich endete das ambitionierte Vorhaben von Karl V, im 16. Jahrhundert in Europa ein Weltreich zu schaffen, mit der Schaffung eines polyzentrischen Staatensystems aus konkurrierenden kapitalistischen Staatsallianzen, einem Prozess, der vor allem mit dem zellulären und zivilisatorischen Druck unglei- cher Anpassung von Potosí bis Danzig zusammenhing.42

40 Besonders Marx: Capital. Bd. 1 (wie Anm. 28), S. 283; sowie Levins, Lewontin: Dialectical Biologist (wie Anm. 5). 41 Moore: Ecology (wie Anm. 13). 42 Immanuel Wallerstein: The Modern World-System I: Capitalist Agriculture and the Origins of the European World-Economy in the Sixteenth Century, New York 1974; Moore: Amsterdam. Part I (wie Anm. 30); Ders.: Amsterdam. Part II (wie Anm. 30). Vom Objekt zum Oikos 159

Während Zivilisationen - vor allem der Kapitalismus - dazu tendiert haben, die nicht-menschliche Natur als äußerlich zu betrachten, stimmt dies nur teil- weise. Einerseits sehen sich die Projekte kollektiver Akteure der Menschheit - man denke an Globalisierung oder Developmentalismus (Entwicklungspolitik) oder an die Finanzialisierung (Finanz-Kapitalismus) unserer Zeit - dem Rest der Natur als äußere Hindernisse und natürlich auch als Quellen von Reichtum und Macht gegenüber. Auf der anderen Seite sind diese Projekte auch Kopro- duktionen: Prozesse, widerspenstige Regungen gebündelter Natur, durch wel- che Zivilisationsprojekte auf spektakuläre Widersprüche gestoßen sind: globale Erwärmung im 21. Jahrhundert oder das Mitte des 14. Jahrhunderts stattfin- dende Zusammentreffen von agrarökologischer Erschöpfung, Krankheit (und einmal mehr) Klimawandel. In diesem Licht verinnerlichen Zivilisationen die Beziehungen der Natur als Ganzes, diese jedoch formt, innerhalb der Prozes- se und mittels der Projekte anteilsmäßig und quasi-linear die (sogenannte) menschliche Geschichte. Die Welt-Ökologie-Synthese unterscheidet sich deshalb von einem breiten cartesianischen Denkansatz, der Menschen als dafür verantwortlich ansieht, die „globale Umwelt“ zu zersetzen (to degrade), ohne jedoch zu verstehen, dass die Beziehungen, die mit dem Begriff „globale Umwelt“ bezeichnet werden, nicht nur partielle Objekte menschlichen Handelns, sondern auch Subjekte (Mittel) historischen Wandels sind. Cartesianisches grünes Denken verneint die Aus- tauschbarkeit von Subjekt/Objekt, Organismus/Umwelt sowie Ursache und Wirkung zugunsten der Hybris, dass die Umweltgestaltung durch den Men- schen auf einen „ökologischen Fußabdruck“ reduziert werden könne.43 Die Na- tur so passiv wie Schlamm und Dreck zu begreifen, ist das wirklich das Beste, was wir tun können? Die weltökologische Perspektive betrachtet Natur als eine generative und dynamische Relation. Es ist hier, wo historische Wirksamkeit sich herausbildet, auf des Messers Schneide des Oikos. Hier sehen wir, dass die Fähigkeit, Geschichte zu gestalten, nicht nur ein Ausdruck intern differenzierter Bedingungen und Beziehungen innerhalb menschlicher Populationen, sondern auch differenzierter Bedingungen und Beziehungen der Biosphäre ist. Die Menschheit ist ebenfalls ein Objekt der historischen Bewegungen und Ausflüsse des Lebens sowie der geophy- sikalischen Veränderungen unseres Planeten. Folglich können diese Fähig- keiten, Geschichte zu machen, sich von außen nach innen und von innen

43 Mathias Wackernagel, William Rees: Our Ecological Footprint, Gabriola Island 1996. 160 Jason W. Moore nach außen verlagern. Zweifelt heutzutage noch jemand ernsthaft daran, dass Krankheiten, Klima oder Pflanzen im gleichen Maße Geschichte machen, wie jedes Imperium? Ist es gleichzeitig möglich, die Rolle von Krankheiten, Pflanzen oder der Klimate gesondert von derjenigen der Akkumulation, von Imperium oder Klasse zu artikulieren? Diese Art der Fragestellung gestattet es uns, über die Sichtweise der Natur als einem Platz. an dem jemand einen Fußabdruck hinterlässt, hinauszugehen. Sie ermutigt dazu, die Natur als akti- ve Bewegung des Ganzen, einschließlich der Abholzungen, Vergiftungen und allem anderen zu sehen, aber keineswegs reduziert darauf. Der Oikos ermög- licht es uns, weit mehr in der Natur sehen - und historisch rekonstruieren zu können - als eine Gesamtheit, bestehend aus Konsequenzen (Abholzung, Bo- denerosion, Umweltverschmutzung usw.). Die Bewegungen und Kreisläufe der nicht-menschlichen Natur sind Produzenten bzw. Ergebnisse historischer Veränderungen, die den Bewegungen des historischen Wandels innewohnen. Die Natur als Matrix ist Zweck, Ursache und konstituierendes (gebündeltes) Mittel in der Geschichte der Zivilisationen - eben weil sich Zivilisationen im Netz des Lebens entfalten. Es stellt schon eine große Herausforderung dar, diese Argumente im Be- reich der Philosophie und der Regionalgeschichte vorzubringen. Narrative zur longue durée zu konstruieren, als ob die Natur eine Bedeutung hat - als Produ- zent ebenso wie als Produkt - ist eine noch größere Herausforderung. Dies ist die Herausforderung, auf welche die Welt-Ökologie direkt trifft. Wenn Natur in unserer Geschichtsphilosophie ontologisch ist, dann führt uns dies dazu, die doppelte Innerlichkeit der Dialektik von Mensch und Biosphäre zu analysie- ren. Menschen schaffen und zerstören gleichzeitig Umwelt (wie alle Arten es tun) und unsere Beziehungen werden deshalb gleichzeitig - wenn auch durch Zeit und Raum differenziert - mit dem und durch den Rest der Natur geschaf- fen und zerstört. Aus dieser Sichtweise betrachtet, macht der Status der Natur einen radikalen Wandel in unserem Denken durch: einen Übergang von der Natur als Ressource hin zur Natur als Matrix. Das bedeutet, dass Natur weder zerstört noch geschützt werden kann. Sie kann nur neu gestaltet werden, auf eine Weise, die mehr oder weniger emanzipatorisch, mehr oder weniger repres- siv ist. Aber beachten wir: unsere Begriffe „emanzipatorisch“ und „repressiv“ werden nicht vom eng ausgelegten Standpunkt des Menschen aus angebo- ten, sondern vom Oikos aus, der pulsierenden, erneuernden Dialektik vom Menschen und vom Rest der Natur. Auf dem Spiel steht jetzt - vielleicht in einer ins Auge springenderen Weise als jemals zuvor in der Geschichte unserer Vom Objekt zum Oikos 161

Art - genau dies: Emanzipation oder Repression nicht vom Standpunkt der Menschheit und der Natur aus gesehen, sondern aus der Perspektive der Menschheit in der Natur.

Übersetzung: Michael Bertram, Schellerten

Arnold Heitzig Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? Einleitung Der Begriff BRIC wurde durch die Studie des Chefvolkswirts von Goldman Sachs, Jim O’Neill, 2001 geprägt.1 Die Studie sprach den BRIC-Ländern ein sehr weitreichendes, höheres Wirtschaftswachstum für lange Zeit gegenüber der gesamten Weltwirtschaft zu, mit großen Investitionen vor Ort. Es bleibt ein Verdienst von Goldman Sachs, den Fokus auf große Emerging Market Länder2 und deren wirtschaftliche Chancen gerichtet zu haben.3 BRIC steht für Brasilien, Russland, Indien und China. 2010 wurde Südafrika als großes afrikanisches Land auf BRIC-Initiative zu den Aktivitäten der Ländergruppe hinzugezogen. Seitdem ist „BRICS“ die international geläufige Bezeichnung für diese Ländergruppe. Der nachstehende Beitrag soll Einblick in die Entwicklung der BRICS-Län- der und ihre Wettbewerbspositionen geben. Dabei soll der Blick nicht nur den einzelnen Ländern und ihrer Gesamtheit gelten, sondern auch ihre Einbindung in die Weltwirtschaft betrachtet werden – an der sie ja teilhaben. Dabei werden natürlich auch historische Gegebenheiten mit in die Betrachtung einbezogen, soweit sie für Risiken und Chancen der wirtschaftlichen Entwicklung relevant sind. Inwieweit die aus heutiger Sicht in vielen Betrachtungen erfolgreichen Wachstumsergebnisse auch modellhaft für die Weltwirtschaft sind und zu- kunftsweisend sein können, soll Gegenstand der Analyse sein. Der Schwer- punkt liegt dabei auf der langfristigen Betrachtung, d. h. Ansätze, die nicht für

1 Jim O’Neill: Goldman Sachs Global Economics Paper No: 66, 30th November 2001 unter: http://www.goldmansachs.com/our-thinking/archive/archive-pdfs/build-better- brics.pdf (Zugriff 26.9.2015). 2 Vgl. die näheren Erläuterungen im nächsten Abschnitt. 3 Die Deutsche Bundesbank bestätigt wirtschaftliche Erfolge in ihrem Monatsbericht vom Juli 2015, S. 15 unter „Zur Wachstumsverlangsamung in den Schwellenländern“: „Die Schwellenländer haben in den letzten 20 Jahren einen eindrucksvollen Aufstieg erlebt. Ihr Anteil an der globalen Wirtschaftsleistung und am weltweiten Handel hat erheblich zugenommen.“; Deutsche Bundesbank: Monatsbericht Juli 2015, 67. Jahr- gang, Nr. 7, Selbstverlag der Deutschen Bundesbank, Frankfurt am Main 2015 https:// www.bundesbank.de/Redaktion/DE/Downloads/Veroeffentlichungen/Monatsberich- te/2015/2015_07_monatsbericht.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff 26.9.2015). 164 Arnold Heitzig nur wenige Jahre sondern eher für die Zeitspanne einer Generation von Bedeu- tung sind.4 Dabei wird auf gegebene Strukturen der Weltwirtschaft abgestellt. Dies gilt insbesondere hinsichtlich der ökonomischen Größenklassen, die zur Veranschaulichung in der Tabelle 1 „Größenordnungen in der Weltwirtschaft“ zusammengefasst dargestellt sind. Andere Ansätze sieht der Autor als eher un- realistisch an. Auch klassische Industrieländer mit ihrem hohen Anteil an der Weltwirt- schaft müssen sich großen strukturellen Herausforderungen stellen, um ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Wegen bestehender Interde- pendenzen in der Weltwirtschaft impliziert dies wiederum Auswirkungen auf Schwellenländer. Dieses umfassende Feld soll jedoch nicht Gegenstand dieser Ausarbeitung sein.

Definitionen Bevor auf die eigentlichen Zusammenhänge eingegangen wird, ist es notwen- dig, sich über einige Grundlagen zu verständigen, um für spätere Aussagen die Anschaulichkeit zu erhöhen und Nachvollziehbarkeiten sowie Vergleich- barkeiten zu vereinfachen. Wer sind die „BRICS“?5 Das Handelsblatt schreibt dazu: „Mit BRIC nahm die Akronymisierung der Schwellenländer […] ihren Anfang.“ Fondsmanager sehen dies aus Marketingsicht als brillant an, aus fachlicher Sicht als angemessen.6 Für diese Länder als Gruppe ist jedoch keine ausgeprägte Einheitlichkeit gegeben, weder ethnisch, noch nach Geschichte, Kultur oder Religion. Auch sind die BRICS nicht durch völkerrechtlich ver- bindliche Verträge miteinander verbunden. „Die Länder verstehen sich […] als Partner in Wirtschaftsfragen, ihre Regierungschefs treffen sich regelmäßig“.7 Die wirtschaftlichen Aktivitäten unter gemeinsamer Flagge sind bisher sehr

4 Eine Generation wird hier mit 33 Jahren angesetzt. 5 Offizielle Staatsbezeichnungen: Föderative Republik Brasilien, Russische Föderation, Republik Indien, Volksrepublik China und Republik Südafrika. Hier nachstehend: Bra- silien, Russland, Indien, China, Südafrika. 6 Investieren nach Buchstaben, in: Handelsblatt, 20.7.2015, S. 34f. Dort wird weiter vermerkt: „Heute gibt es viele neue Akronymisierungen für Anlageregionen. Ihr Wert bleibt jedoch begrenzt, da sie in der Regel nicht besser abschneiden als breit gestreute Schwellenländerfonds.“ 7 Ebd. Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? 165 begrenzt.8 Gemeinsam ist ihnen jedoch im gegenwärtigen Jahrhundert ein ho- hes Wirtschaftswachstum, eine jeweils große Bevölkerung und ihre Offenheit (Brasilien und Südafrika) bzw. Öffnung zur marktwirtschaftlichen Welt (Russ- land, Indien und China). Das größte wirtschaftliche Gewicht in dieser Gruppe hat China.9 Der Aufsatz nimmt im Zusammenhang mit Russland auch auf die Gemein- schaft Unabhängiger Staaten „GUS“ Bezug. Es handelt sich um die Verbindung unabhängiger Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Gegründet wurde die GUS am 8. Dezember 1991 von Russland, Weißrussland und der Ukraine. Später traten weitere Nachfolgestaaten der Sowjetunion der GUS bei. Unter „Modellen“ werden Aussagen zur Belastbarkeit und Zukunftsfähig- keit zur Diskussion gestellt. Wenn wir hier von Modell sprechen, so beinhaltet dieser Begriff eine Vorbildlichkeit, die dann erfüllt ist, wenn das Wirtschafts- wachstum überproportional zum Weltdurchschnitt positiv ist. Und zwar in der Welt der Wirtschaftswissenschaften – gerechnet in Einkommen real und pro Kopf. Analog der Themenstellung ist ferner nicht von einem BRICS Modell sondern von Modellen (Mehrzahl) die Rede, was durch große strukturelle Un- terschiede der Länder sicher gerechtfertigt ist. „Emerging Markets“ werden im deutschen Sprachraum auch Schwellenlän- der genannt. Es handelt sich um aufstrebende Länder, die an der Schwelle der Industrialisierung stehen. „Direktinvestitionen“ sind grenzüberschreitende Beteiligungsinvestitionen. Direktinvestitionen sind im Zuge der Globalisierung weltweit massiv gestiegen.10 Das sogenannte Bruttoinlandsprodukt „BIP“ ist die wichtigste Maßein- heit der Volkswirtschaftslehre. Hier handelt es sich um das Maß für die wirt- schaftliche Leistung einer Volkswirtschaft in einem bestimmten Zeitraum. Es misst den Wert der im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen (Wertschöpfung).

8 Die kürzliche Gründung der durch die BRICS mit Sitz in Shanghai mit einem Startkapital von 50 Mrd. USD kann jedoch als Ansatz von wirt- schaftlichem Gewicht gewertet werden. Mit China als größtem Kapitaleigner soll sie der Finanzierung von Infrastrukturprojekten in den BRICS dienen. 9 Große Bevölkerung als Kriterium gilt nicht für Südafrika. 10 Der Begriff kommt aus dem anglo-amerikanischen Raum. „Direct Investment“ steht für Beteiligungsinvestitionen. 166 Arnold Heitzig

Wichtig ist ebenfalls das „Pro-Kopf-Einkommen“. Dazu gibt es allerdings divergierende statistische Ansätze. Zum internationalen Wohlstandsvergleich nach PPP (Purchasing Power Parities), was Kaufkraftparitäten entspricht, wer- den lokale Preise für Produktbündel als Maßstab herangezogen. PPP steht im Gegensatz zum traditionellen Ansatz des Einkommensvergleichs nach Wech- selkursen. Für internationale Vergleiche gesamtwirtschaftlicher Größen, die in inländischen Geldeinheiten gemessen werden und zudem von der Höhe des inländischen Preisniveaus abhängig sind, treten in der PPP-Systematik Kauf- kraftparitäten an die Stelle von Wechselkursen. Kaufkraftparitäten werden von statistischen Ämtern internationaler Organisationen errechnet. PPP wurde ent- wickelt, weil Wechselkurse nicht nur vom Warenhandel sondern auch von in- ternationalen Kapitalbewegungen bestimmt werden.11 Im Ergebnis wird nach PPP armen Ländern lokales Einkommen hinzugerechnet. PPP ist in gewissem Maße für internationale Wohlstandsvergleiche geeignet. Hochgerechnetem lokalem Einkommen haftet bei der Preissetzung jedoch erhebliche Willkür an. Ferner existiert für ein Einkommen auf PPP-Basis keine real verfügbare Tauschmöglichkeit zu den unbegrenzt konvertiblen Weltleitwährungen USD, Euro und Yen, welche die anerkannt dominierenden Transaktionswährungen des Welthandels sind und außerdem weltweit als Reservewährungen verwendet werden.12 Mit PPP-Einkommen kann ein Emerging-Market-Land nicht auf internationalen Märkten einkaufen, Kredite aufnehmen und Investitionen rea- lisieren. PPP ist somit zur Bewertung wirtschaftlicher Macht ungeeignet. Diese ist definiert über Verfügungsgewalt über Kaufkraft. Fazit: Wechselkurse bleiben hier maßgeblicher Ansatz, der auch in der Tabelle 1 „Größenordnungen in der Weltwirtschaft“ zur Anwendung kommt.13

11 Vgl. Statistisches Bundesamt: Was sind Kaufkraftparitäten?, https://www.destatis.de/ DE/ZahlenFakten/GesamtwirtschaftUmwelt/Preise/InternationalerVergleich/Metho- den/Kaufkraftparitaeten.html (Zugriff 26.9.2015). 12 Bert Rürup: Leitwährung auf Abruf, in: Handelsblatt, 14.9.2015, S. 16: „2014 entfie- len 63 Prozent der internationalen Devisenreserven auf den Dollar, 22 Prozent auf den Euro und […] vier Prozent auf […] den japanischen Yen.“ 13 Die Goldman Sachs Studie von 2001 arbeitet auch mit PPP-Zahlen. Diese verbessern statistische Aussagen für die BRIC Länder gegenüber traditionellen Industrieländern sehr deutlich. Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? 167

„Nachhaltiges Wirtschaftswachstum“ setzt nicht auf die Betrachtung nur weniger Jahre, sondern eher auf die Zeitspanne einer Generation.14 Risiko- und Chancenbewertungen, zum Beispiel von Ratingagenturen greifen üblicherwei- se zeitlich nicht so weit. Dies ist auch verständlich. Einmal wegen gegebener Bewertungsunsicherheiten für sehr lange Zeiträume aber auch angesichts einer für viele wirtschaftliche Aktivitäten ausreichenden kürzeren Zeitspanne. Sehr langfristige Länderrisikobewertungen werden von nationalen Exportkreditver- sicherungen in enger Zusammenarbeit im System der OECD kontinuierlich erarbeitet und zeitnah überprüft.15 „Produktionspotenzial“ ist das Leistungsniveau einer Volkswirtschaft bei einer Normalauslastung ihrer Kapazitäten, um das der tatsächliche Output im Kon- junkturverlauf schwankt. Es wird überwiegend durch angebotsseitige Faktoren bestimmt, wie die Ausstattung einer Wirtschaft mit Arbeitskräften und Sach- kapital sowie durch eine Produktivitätskomponente. Entsprechend wird das Wachstum des Produktionspotenzials wesentlich von den Veränderungen dieser Größen geformt. Das Produktionspotenzial ist nicht unmittelbar beobachtbar und muss daher geschätzt werden. Zu den möglichen Schätzmethoden gehö- ren komplexe ökonometrische Modelle (…) Diese Verfahren setzen eine gute Datenbasis voraus, wie sie für die Schwellenländer häufig nicht vorhanden ist.16

Was treibt Wirtschaftswachstum nachhaltig? Nachstehende, in vieler Hinsicht sensible Eckpunkte sollen treibende Kräfte für das Wirtschaftswachstum zusammenfassen: Verkäufe von Rohstoffen sind für viele Länder nachhaltige Einkommensquellen. Dies gilt jedoch nur solange und soweit diese Verkäufe einkommenswirksam realisiert werden können, das heißt, die Erlöse die Produktionskosten hinreichend übersteigen.

14 Nachhaltigkeit steht ursprünglich für „sich länger stark auswirkend“ (Duden, Mann- heim, Leipzig, Wien, Zürich, Bd. 1, 24. Auflage, 2006, S. 713). Später entwickelte sich eine Definitionsvielfalt insbesondere im umweltpolitischen Raum. In der Wirtschafts- wissenschaft steht Nachhaltigkeit für dauerhaften wirtschaftlichen Erfolg. 15 OECD Country Risk Classification; http://www.oecd.org/tad/xcred/crc.htm (Zugriff 26.9.2015) In Deutschland: Euler Hermes Deutschland AG (HERMES) als Mandatar des Bundes. http://www.agaportal.de/pages/aga/deckungspolitik/laenderklassifizierung. html (Zugriff 26.9.2015). Es gibt acht OECD Länderkategorien. Kategorie 0 ist ein gutes Risiko, 7 ein schlechtes. Die BRICS-Länder haben z. Zt. folgende Kategorien: China 2, Brasilien und Indien 3, Russland und Südafrika 4. 16 Deutsche Bundesbank: Monatsbericht Juli 2015 (wie Anm. 3), S. 17. 168 Arnold Heitzig

Hohe, zumindest ausreichende Investitionen, die den Verbrauch des Kapital- stocks (einschließlich Wertverschlechterungen durch technischen Fortschritt) übersteigen. Sie bedürfen langfristigen Schutzes, intern durch Gewährleistung der Eigentumsrechte und extern ggf. auch militärisch. Investitionen bedürfen auch der Investitionsfreudigkeit des Landes bestimmt u.a. durch Freiheitlichkeit für Investitionsentscheidungen und diesbezügliche Rechtssicherheit. Investiti- onen können für viele Menschen den Alltag dramatisch verändern und auch innerhalb eines Landes große Machtverschiebungen bewirken. Dies gilt ins- besondere für kommerzielle Großgeschäfte wie Chemieanlagen, Staudämme, Flughäfen und Autobahnen, deren Investitionsvolumina häufig mehr als eine Milliarde Euro betragen. Daher ist Offenheit von staatlichen Institutionen und Bevölkerung gegenüber Investitionen von weitreichender Bedeutung. Dies bleibt ein besonders sensibles Thema für Emerging-Market-Länder in denen große Investitionen stattfinden, da diese Länder wirtschaftlich vergleichsweise klein sind.17 Sicherer Zugang zu langfristigen Finanzierungsmöglichkeiten hat hohes Ge- wicht.18 Für Investoren in Emerging-Market-Ländern sind langfristige Finan- zierungen häufig nur aus dem Ausland darstellbar, da der eigene Kapitalmarkt benötigte Finanzierungsvolumina und erforderliche lange Finanzierungslauf- zeiten nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung stellt. Die Gründe liegen in geringer, nicht ergiebiger Ersparnis, da Einkommen gering sind. Weitere Gründe sind oft in hohen Risiken im Land zu sehen, die Kapitalflucht be- wirken, zum Beispiel wegen häufig berechtigter Sorge vor dem Zugriff der Staatsmacht oder staatlich verfügter Begrenzung von Devisenverfügbarkeit. Weiterhin haben das marktwirtschaftliche Umfeld mit freiem, risikobereitem und risikobewusstem privaten Unternehmertum sowie die innovative Kraft

17 Vgl. Tabelle 1. 18 Beispiele erfolgreicher Industriefinanzierung aus Ressourcen ausländischer Kapitalmärk- te sind der Aufbau von Industrie und Eisenbahnen in den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und großvolumige Investitionsgüterexporte unter nationalen Export- finanzierungs- und Deckungssystemen großer Exportnationen der OECD wie Deutsch- land und die USA seit mehr als 50 Jahren mit denen in Emerging-Market-Ländern industrielle Infrastruktur für eine stark wachsende Bevölkerung auf- und ausgebaut wur- de und wird. Vgl. Ralf Roth: Wie wurden die Eisenbahnen der Welt finanziert? Zeit- schrift für Weltgeschichte (ZWG) 10 (1), 2009, S. 55–80 und Arnold Heitzig: Globale Netzwerke und lokales Engagement am Beispiel der Commerzbank als international operierender Großbank, ZWG 14 (1), 2013, S. 127ff. Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? 169 eines Landes, bestimmt von politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedin- gungen und Grundhaltungen der Bevölkerung einen nachhaltigen Einfluss auf die Wachstumsergebnisse. Auch ist eine wettbewerbsfähige Arbeitsbevölkerung von großem Vorteil. Ihre Leistungsfähigkeit wird vorrangig bestimmt durch gute Ausbildung einschließ- lich solider wissenschaftlicher Basis, sichere Ernährung und einen günstigen Bevölkerungsaufbau, etwa durch eine junge Bevölkerung. Ferner ist Leistungs- willigkeit von signifikanter Bedeutung, auch festzumachen an weltoffener Grundhaltung, Flexibilität der Wahl des Arbeitsstandortes, Bereitschaft zur In- tegration in industrielle Fertigungs- und Dienstleistungsprozesse, das heißt zum Beispiel 50 Stunden Arbeit pro Woche und mehr sowie ein 40 Jahre langes Arbeitsleben. Auch möchte ich noch Eliten als tragende Schicht anfügen, die das Land vor- anbringen wollen und dabei über antizipatives, zukunftsorientiertes Grundver- halten verfügen. Eliten, denen z.B. internationale Reputation nicht gleichgültig ist, die Verträge einhalten und ihren Verpflichtungen nachkommen und auch zu ihren Zahlungsverpflichtungen stehen.

Veränderungen der Welt seit 2000 Das starke Wachstum der Weltbevölkerung setzte sich fort. Sie stieg von 6,1 Mrd. im Jahr 2000 auf 7,2 Mrd. Menschen im Jahr 2013.19 Die weltweite Hinwendung zur Marktwirtschaft setzte sich weiter fort. Dieser Prozess wurde bereits Ende der 1980er Jahre deutlich sichtbar als während der Präsidentschaft von Ronald Reagan sich immer mehr Länder der Marktwirtschaft zuwandten. Das Wachstum des Weltmarktes setzte sich fort. Getrieben von Ein- kommenswachstum und Vertiefung internationaler Arbeitsteilung verdreifachte sich der Weltexport wertmäßig.20 Die wirtschaftliche Welt ist – vereinfacht formu- liert – massiv größer geworden. Dieser Prozess war für Emerging-Market-Länder

19 Zu den Angaben um 2000 vgl.: Jährlicher Stand der Weltbevölkerung 1950 bis 2100, http://pdwb.de/nd02.htm (Zugriff 31.10.2015). Für die aktuellen Werte siehe Uni- ted Nations, Population and Vital Statistics Report, S. 7, New York 2015 http:// unstats.un.org/unsd/demographic/products/vitstats/Sets/Series_A_2015.pdf (Zugriff 26.9.2015). 20 International Trade Center: Der Weltexportwert stieg von 6.114 Mrd. USD im Jah- re 2001 auf 18.659 Mrd. USD im Jahre 2014 für Warenexporte. Vgl.: http://www. trademap.org/%28X%281%29S%28stvcvk45uv3dy255ic4go555%29%29/tradestat/ Country_SelProduct_TS.aspx (Zugriff 27.9.2015). Dienstleistungsexporte stiegen von 170 Arnold Heitzig mit Herausbildung privaten Unternehmertums verbunden. Vor Ort bildeten sich in vielen Ländern private Banken und private Corporates heraus, die heute wichtige Kunden der westlichen Exportwirtschaft sind. Ein starker Zustrom an Direktinvestitionen stützte den wirtschaftlichen Aufbau der Emerging-Market- Länder, die so ihr Einkommen signifikant verbessern konnten.21 Heute sind wohl mehr als 30 Prozent der Weltindustriekapazität in Emerging-Market-Ländern in- stalliert. Das heißt jedoch nicht, dass diese Industrie sich bereits vollkommen im Eigentum dieser Länder bzw. ihrer Einwohner befindet. Die Investitionen sind oft von sehr langfristigen Finanzierungen begleitet, die über Jahrzehnte bezahlt werden – wie einst der Aufbau der industriellen Infrastruktur Amerikas. Weiter sind Emerging-Market-Länder nur begrenzt Eigentümer der in Arbeitsprozessen und Prozessketten vor Ort zur Anwendung kommenden Patente, zum Beispiel in der Informationstechnologie. Der wirtschaftliche Wert von Patenten ist schwer quantifizierbar. Ihr relativer Wertanteil an Endprodukten dürfte angesichts signi- fikant steigender internationaler Patentanmeldungen und ansteigendem Bestand genutzter Patente ständig steigen.22 Wenn wir vor diesem Hintergrund die Belastbarkeit der „Modelle der BRICS“ betrachten, wird schnell klar, dass hier unendlich viele Probleme auf der Hand liegen, ungelöst sind und wir von modellhafter Zukunft weit entfernt sind.23 Aber die wirtschaftliche Zukunft ist stets in vieler Hinsicht offen, da man nie weiß, was alles passieren wird, welche Innovationen die Welt verändern

etwa 1.800 Mrd. USD im Jahre 2005 auf etwa 5.000 Mrd. USD im Jahr 2014. http:// www.trademap.org/Country_SelService_TS.aspx (Zugriff 27.9.2015). 21 Zum Beispiel stieg Chinas Pro-Kopf-Einkommen in der Zeit von 2000 bis 2013 von 932 auf 6.560 USD. Vgl.: http://de.kushnirs.org/makrookonomie/gdp/gdp_china. html#p1_2 (Zugriff 11.8.2015). Unter „Das Bruttosozialprodukt (BIP) Chinas von 1970 bis 2012“. 22 Vgl. World Intellectual Property Organisation unter World Intellectual Property Indi- cator, Dezember 2014, S. 17 und 18, http://www.wipo.int/edocs/pubdocs/en/wipo_ pub_941_2014.pdf (Zugriff 4.8.2015). Die obersten fünf Technologiebereiche (u.a. Computer, digitale Kommunikation und Medizin-Technologie) verzeichneten einen Anstieg der Anmeldungen von 151.000 im Jahre 1995 auf 613.000 im Jahre 2012. Die Anmeldungen aus China wachsen stark. Patente in Kraft (20 Jahre lang ab Anmeldung) stiegen von 8,72 Mio. im Jahre 2012 auf 9,45 Mio. im Jahre 2013. 23 Dazu die Deutsche Bundesbank in einer sehr detaillierten wirtschaftlichen Analyse in ihrem Monatsbericht Juli 2015 (wie Anm. 3), S. 16 unter „Zur Wachstumsverlangsa- mung in den Schwellenländern“: „Die Hartnäckigkeit der Wachstumsschwäche in den Schwellenländern lässt es zunehmend unwahrscheinlich erscheinen, dass ein einziger Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? 171 werden und Vermögen und Einkommen und damit Macht verschieben. Ein besonders deutliches aktuelles Beispiel stellt die Schiefergas- und Schieferöl- produktion in Amerika dar, die zur Halbierung des Ölpreises innerhalb sehr kurzer Zeit, insbesondere in den letzten Monaten, führte24 – mit weitreichen- den negativen Konsequenzen für traditionelle ölexportierende Länder wie Saudi Arabien, Venezuela und Russland, aber auch Großbritannien und – positiv – für ölimportierende Länder. Die Wirkung des niedrigen Gaspreises in Amerika wird bald noch deutlichere weltweite Auswirkungen haben, weil der Aufbau von Tankertransportkapazität der Leitungsabhängigkeit für Erdgastransporte zu Verbrauchsschwerpunkten stark entgegenwirkt und dadurch den Wettbe- werb für traditionelle Energieanbieter außerordentlich verschärft.25 Ein wei- teres Beispiel für eine innovative und wettbewerbsverschärfende Veränderung ist im angestrebten Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP) Partnerschaftsabkommen zu sehen – und zwar nicht nur im Abbau von Han- delshemmnissen sondern auch in seiner aller Voraussicht nach struktur- und normenprägenden Kraft in der Weltwirtschaft.26

nachfrageseitiger Faktor oder auch eine Kette negativer Ereignisse dafür ausschlagge- bend ist. Vielmehr dürfte sich der Pfad des Produktionspotentials abgeflacht haben“. 24 Von mehr als 100 USD pro Barrel im Jahre 2012 auf sogar weniger als 50 USD im Jahr 2015 in den USA. Vgl.: http://www.tecson.de/historische-oelpreise.html Entwicklung der Rohölpreise 1965–2015 und http://www.wiwo.de/finanzen/boerse/opec-rekord- foerderung-drueckt-weiter-auf-den-oelpreis-/12138044 unter OPEC Rekordförderung drückt weiter den Ölpreis (Zugriff 27.9.2015). 25 BP Energy Outlook 2035, presentation slides S. 19 Growth of LNG und S. 20 Sources of gas supply to Europe, http://www.bp.com/content/dam/bp/pdf/Energy-economics/ energy-outlook-2015/Energy_Outlook_2035_presentation.pdf (Zugriff 27.9.2015). Siehe auch: Boom ohne Pipeline (unter Nennung der International Gas Union als Quelle), in: Handelsblatt, 19.8.2015, S. 22. 26 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Informationen zum Transat- lantischen Partnerschafts-und Investitionsabkommen (TTIP) http://www.bmwi.de/ DE/Themen/Aussenwirtschaft/Freihandelsabkommen/TTIP/was-ist-ttip.html (Zugriff 27.9.2015). 172 Arnold Heitzig

BRICS als Teil der Weltwirtschaft Da die BRICS Teil des Weltmarktes sind können sie nicht isoliert, d. h. nicht ohne die traditionellen Industrieländer betrachtet werden. Dazu in der Tabelle einige zentrale ökonomische Daten:27

Tab 1: Größenordnungen in der Weltwirtschaft

Land Bevölkerung Einkommen Bruttoinlands- Bestand Bestand Direkt- in Mio. pro Kopf in Produkt in Direkt- Investitionen in USD Mrd. USD Investitionen Mrd. USD in 2013 in Mrd. USD Industrievermögen in 2000 in Mrd. USD in 201528 USA USA, Japan und Deutschland verfügen über große Anteile an den Unternehmen der Welt. Dieses Industrievermögen wurde aus nationalen und internationalen Technologisch 316 53.670 16.800 Ressourcen in Generationen führende Nation29 aufgebaut. Allein der Anteil an den 100 größten börsennotierten Unternehmen der Welt beträgt USD 9.879 Mrd.30

27 Vgl.: Der neue Fischer Weltalmanach 2015 zu Bevölkerung und Einkommen sowie UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Developement) zu Direktinves- titionen unter World Investment Report 2015 vom 24.06.15, http://unctadstat.unctad. org/wds/TableViewer/tableView.aspx (Zugriff 2. September 2015). Die Zahlen wurden der Übersichtlichkeit halber gerundet. 28 Zahlen nach Handelsblatt, 12.1.2015. Das Handelsblatt gibt Bloomberg als Quelle an. 29 Die zentrale Aussage eines Vortrags von Nicola Fucks-Schündeln, in dem sie sich auf mehrere internationale Forscher berief, lautete: Von 1995 bis 2006 wuchs die amerikani- sche Produktivität 2,2 Prozent p. a., in Europa dagegen nur 1,4 Prozent p. a. Vgl. Nicola Fucks-Schündeln: War of Talents, Vortrag auf dem 1. Innovationsforum 2012 / Goethe- Universität und Handelsblatt, 8.9.2012, http://www.muk.uni-frankfurt.de/42966765/ innovationsforum_2012#6 (Zugriff 18.10.2015). Der Vortrag wurde dem Verfasser von Frau Fucks-Schündeln zur Verfügung gestellt. 30 Errechnet aus den 100 größten Unternehmen der Welt nach dem Börsenwert vom 7. Januar 2015. Quelle hierfür sind Angaben von Bloomberg und Handelsblatt Research Institute (HRI). Ich danke Frau Gudrun Mathee-Will für die Überlassung der Liste. Länderzuordnungen nach Sitz des jeweiligen Unternehmens. Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? 173

Land Bevölkerung Einkommen Bruttoinlands- Bestand Bestand Direkt- in Mio. pro Kopf in Produkt in Direkt- Investitionen in USD Mrd. USD Investitionen Mrd. USD in 2013 in Mrd. USD Industrievermögen in 2000 in Mrd. USD in 2015 Japan Vgl. auch Chinas Industrievermögen. Wettbewerb um 127 46.140 4.902 technologische Führung Deutschland Hochwertige 81 46.100 2.738 Anteile in globalen Wertschöpfungsketten31 Brasilien 200 11.690 2.243 122 725 Russland Rohstoffexport 144 13.860 2.118 32 576 getrieben Indien 1.252 1.570 1.871 16 227 China 957 Großer Binnenmarkt 1.365 6.560 9.181 193 Anteil an 100 größten börsennotierten Unternehmen USD 2.217 Mrd.32 Südafrika Rohstoffexport 53 7.190 351 43 140 getrieben

31 Vgl. BMWI im Dialog mit der Wirtschaft am 15. Mai 2014 Berlin, www.bmwi.de/go/ exportdialog2014 (Zugriff 19.6.2014). 32 Errechnet aus den 100 größten Unternehmen der Welt nach dem Börsenwert vom 7. Januar 2015 (vgl. Anm. 30). Die Zahl macht deutlich, dass China auch hier erfolgreich agiert hat und in einer Generation einen signifikanten Anteil von etwa 15 Prozent an den 100 größten börsennotierten Unternehmen der Welt aufbauen konnte. Laut Nati- onal Bureau of Statistics of China haben Chinas Direktinvestitionen im Ausland 2014 in non financial sectors einen Bestand von 102,9 Mrd. USD erreicht. Vgl. Statistical Communique of the People’s Republic of China on the 2014 National Economic and So- cial Developement vom 26. Februar 2015, Tabelle 12, http://www.stats.gov.cn/english/ PressRelease/201502/t20150228_687439.html (ZUgriff 28.9.2015). Vgl. auch Stephan Scheuer: Eroberer auf der „neuen Seidenstraße, Handelsblatt, 28.7.2015, S. 28. 174 Arnold Heitzig

Die in der Tabelle aufgeführten Länder schließen insgesamt 50 Prozent der Weltbevölkerung ein. Die BRICS alleine 43 Prozent. Unter ihnen ist erwäh- nenswert, dass das Pro-Kopf-Einkommen der traditionellen Industrieländer hoch, das der BRICS noch niedrig ist. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Ein- kommensdifferenzen innerhalb der BRICS sehr ausgeprägt sind. China allein stellt mit 55 Prozent des BIPs der BRICS das größte Einzelgewicht innerhalb der Gruppe dar. Die Entwicklung der Direktinvestitionen liefert weitere interessante Einbli- cke. So waren 2000 die Bestände von Russland und Indien im Vergleich zu Bra- silien und China niedrig. Dies dürfte auch historische Gründe haben. So hatte die marktwirtschaftliche Ausrichtung Russlands und Indiens im Gegensatz zu anderen Ländern erst in den 1990er Jahren begonnen. Gemeinsam ist, das in allen BRICS-Ländern bis 2013 die Bestände anstiegen – massiv in China. Zur Berechnung des Industrievermögens wurden die hundert größten Unter- nehmen der Welt herangezogen und zwar nach dem Börsenwert vom 7. Januar 2015.33 Zur Veranschaulichung hier „Industrievermögen“ genannt. Nicht alle Unternehmen sind börsennotiert, zum Beispiel nicht kleine und mittelstän- dische Unternehmen und auch Staatsunternehmen in der Regel nicht. Somit unterliegt die Aussagekraft der Zahlen Einschränkungen. Doch repräsentieren sehr große Unternehmen weltweiten Einfluss und starke, oft über Generati- onen stabile Marktpositionen. Börsennotierte Unternehmen unterliegen bör- senaufsichtlichen Veröffentlichungsvorschriften und sind in einer Welt hoher Transparenz und großer Wettbewerbsintensität vom Vertrauen der Investoren getragen. Etwa Zweidrittel dieses Industrievermögens hat seinen Sitz in USA, Japan und Deutschland. Zu den Auslandsinvestitionen von Russland sollte nicht unerwähnt bleiben, dass es diese aufbaut. Der Bestand liegt bei 3,2 Mrd. Euro allein in Deutschland Ende 2012 und damit höher als die gesamten Direktinvestitionen der anderen BRICS Länder in Deutschland. Zu diesem Betrag kommt eine Investition in Höhe von 5,1 Mrd. Euro einer Investorengruppe aus Luxemburg hinzu, hinter der russische Investoren stehen.34

33 Vgl. Anm. 30. 34 So Michail Boloton: „Deutschland trotz Krise als Standort gefragt“, in: Handels- blatt, Russia Beyond the Headlines (Beilage des Rossiskaja Gaseta Verlags, Moskau), 8.10.2014, S. 6f. Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? 175

Zu beachten ist auch der in der vorletzten Zeile unter China angeführte Hin- weis auf den großen Binnenmarkt des Landes. Der hohe Wert eines großen, kulturell einheitlichen Binnenmarktes wird durch den Aufstieg der USA zur führenden Industrienation 1890 und die wirtschaftlichen Erfolge der EU seit 1993 bestätigt. Selbst Länder, die kritisch zur EU stehen, wollen heute ihren Zugang zum Binnenmarkt bewahren. Aufgabe hier ist nunmehr für jedes Land seine Modellhaftigkeit im Detail zu überprüfen.

Brasilien Brasilien ist bereits seit Generation (schon zu kolonialer Zeit) in die Weltwirt- schaft integriert. Es wurde früh Standort international operierender Konzerne. Das Land hat große regionalpolitische Investitionen früh angefasst. So wurde Brasilia als moderne neue Hauptstadt in den 1960er Jahren im Landesinneren gebaut, um das weite Hinterland zu erschließen. Unmittelbar mit der ersten Ölkrise begann Brasilien in den 1970er Jahren seine Ölimportabhängigkeit zu reduzieren und aus Wasserkraft und Atomener- gie eine sichere Energieversorgung aufzubauen – für die angestrebte weitere Industrialisierung des Landes.35 Seine internationalen Schulden hat Brasilien weitgehend korrekt bedient. Als weitere Pluspunkte kommen hinzu: Brasilien hat noch eine junge Bevöl- kerung. Ethnische Konflikte sind sehr überschaubar. Außenpolitische Konflik- te hat das Land nicht. Das Land hat mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 1.690 USD für 200 Millionen Menschen viel erreicht. Ob die Schwelle zum Industrieland sub- stanziell überschritten werden kann, hängt stark vom Abbau des traditionell geprägten landwirtschaftlichen Sektors und dem erfolgreichen weiteren Ausbau des industriellen Sektors unter intensiverer Nutzung eigener Rohstoffreserven zur Weiterverarbeitung ab. Die dortige Industrie liefert eine hohe Wertschöp- fung. Daraus folgt: Brasilien hat hohes Potenzial und gute Zukunftschancen.

Russland Russland ist ein Vielvölkerstaat mit hohem internem ethnischen und religiö- sen Konfliktpotential, zum Beispiel mit Tschetschenen und Tataren. Nach dem

35 ITAIPU als leistungsstärkstes Wasserkraftwerk der Welt und die Atomkraftwerke Angra

I und II. Diese Energie steht sogar CO2-frei zur Verfügung. 176 Arnold Heitzig

Untergang der Sowjetunion kam eine substanzielle Einwanderung von mehre- ren Millionen Menschen aus zentralasiatischen GUS-Republiken hinzu, die als potenzielles Sicherheitsrisiko eingestuft wird.36 Wirtschaftliche Verflechtungen aus sowjetischer Zeit sind seit Gründung der GUS durch Ländergrenzen ge- trennt. Industriebetriebe, Rohstoffe und Absatzmärkte befinden sich jetzt viel- fach in unterschiedlichen Ländern. Den daraus resultierenden Machtverlust versucht Russland zu begrenzen oder auch zurückzudrehen, was am Beispiel Ukraine zurzeit deutlich wird. Auch dies bewirkt ein gravierendes Konfliktpo- tential für Russland. Ein latentes Risiko besteht ferner für die bevölkerungsar- men sibirischen Außenregionen an der Grenze zu China.37 Mit der Jelzin / Gaidar Regierung kam in den 1990er Jahren die herausfor- dernde Abkehr des Landes von seinen sowjetischen Strukturen.38 Die markt- wirtschaftliche Ausrichtung ging einher mit Hinwendung zum Westen und seinen internationalen Strukturen und Institutionen. Heute ist Russland ein kapitalistisches Land mit weitreichender Integration in die Weltwirtschaft. Rus- sen und russische Unternehmen haben freie Devisenverfügbarkeit.39 Russische

36 Vgl. Alexander Maier: Russland Gastarbajtery. Die Migrationsfrage Russlands, in: www.laenderanalysen.de/russland, N. 286, 21.11.2014 (Zugriff 3.8.2015). Dort heißt es: „In der im Jahr 2003 verabschiedeten ‚Konzeption zur Regulierung der Migrations- prozesse in der Russischen Föderation‘ stellen die Autoren, geprägt von den Ereignissen des 11. September 2001 sowie vom Krieg in Tschetschenien, Masseneinwanderung so- wie die Präsenz großer Immigrantengruppen aus Zentralasien als potentielles Sicher- heitsrisiko dar.“ 37 Vgl. Dimitri Trenin: Russland. Die gestrandete Weltmacht, Hamburg 2005, S. 265: „Der Rückgang der russischen Bevölkerung und der Immigrantenstrom aus dem Fernen Osten ins europäische Russland werden angesichts des gewaltigen Bevölkerungsdrucks in China […] erhebliche langfristige Folgen haben.“; „Ein selbstbewussteres China, das einen beherrschenden Einfluss auf die Region ausübt, wird sich vielleicht mit den ‚un- gleichen Verträgen‘ befassen wollen, die Russland die Kontrolle über Primorje und den Transbaikal verschafft haben.“; ebd., S. 277. 38 Die Neuausrichtung Russlands erfolgte mit starker Orientierung an der Lehre der Chi- cagoer Schule. Milton Friedman, Nobelpreisträger und inhaltlich prägender Vertreter dieser Lehrmeinung schrieb u. a in: Milton u. Rose Friedman: Free to choose. A perso- nal statement, New York u. London 1980, S. 65 unter „The Tyranny of Controls“: „An essential part of economic freedom is freedom to choose how to use our income: how much to spend on ourselves and on what items; how much to save and in what form; how much to give away and to whom […].“ 39 Freie Devisenverfügbarkeit ist ein hohes Gut. Sie ist Voraussetzung für kontinuierlich reibungslose Realisierung industriebedingten Importbedarfs, für Aufbau und Erhalt von Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? 177

Unternehmen sind an westlichen Börsen notiert. Russland stand zu seinen Zah- lungsverpflichtungen im Ausland und übernahm und bezahlte auch die Schul- den der untergegangenen Sowjetunion. Hohe Einnahmen aus Rohstoffexporten erleichterten Bedienung und Tilgung der hohen Auslandsschulden. Heute hat Russland eine geringe Staatsverschuldung.40 Internationale Vertragsusancen werden von Russlands Institutionen, Banken und Unternehmen anerkannt und praktiziert. Große russische Unternehmen und russische Banken praktizieren internationale Bilanzierungsstandards. Das gewährleistet weltweite, zeitnahe Transparenz für ihre Geschäftspartner. Russlands wirtschaftliche Kraft stützt sich immer noch überwiegend auf Roh- stoffexporte. Diese können kurzfristig quantitativ kaum ausgedehnt werden, da Häfen und Leitungssysteme nur über begrenzte, vielfach ausgelastete Kapazitä- ten verfügen. Immerhin wird mit der Ostseepipeline und ihrem weiteren Ausbau ein von Drittländern unabhängiger Weg zu wichtigen Exportmärkten für ein großes Gasexportvolumen etabliert. Hoher Abhängigkeit von Rohstoffexporten bei limitierten Exportkapazitäten ist ein hohes Risiko inhärent. Rohstoffpreise können wegen ziemlich starrer Nachfrage der wichtigsten Verbraucher bereits bei geringfügigen Änderungen von weltweiten Angebotsmengen stark schwan- ken, das heißt stark sinken. Wenn in einer solchen Situation Exportmengen trotz gigantischer Vorräte nicht erhöht werden können, ergeben sich starke Er- lösminderungen. Dies ist Russlands altes Problem und hat auch in den 1980er Jahren die Sowjetunion in Zahlungsschwierigkeiten gebracht. Nun noch ein Blick auf diverse hemmende Faktoren für Investitionen. Hier sind zunächst Rechtsunsicherheit und politische Eingriffe von hoher Hand zu nennen, die das Marktgeschehen massiv beeinträchtigen und unliebsame Inves- toren wichtiger Industriebereiche in ihren geschäftlichen Aktivitäten behindern. Jedoch wird Eigentum ausländischer Investoren häufig durch internationale

Auslandspositionen aller Art wie Aufnahme von Fremdwährungskrediten, Aufbau von Auslandsniederlassungen wie z.B. Tochtergesellschaften und auch Vertriebsaktivitäten auf fremden Märkten. Ferner gibt sie den Menschen Konsumfreiheit für Importwaren und ist Voraussetzung jeder Reisefreiheit über die Grenzen des eigenen Landes hinaus – und zwar unabhängig von Genehmigungen durch die Staatsmacht des eigenen Landes. 40 17,92 Prozent des russischen BIP im Jahre 2014; vgl. http://www.statista.com/stati- stics/271357/national-debt-of-russia-in-relation-to-gross-domestic-product-gdp/ (Zu- griff 4.10.2015). Deutschland hat eine Staatsverschuldung von 81,9 Prozent des BIP am 31.12.2012; vgl. www.destatis.de, Kapitel 9, Finanzen und Steuern, S. 261, Tabelle 9.4.1 Entwicklung des Schuldenstandes des öffentlichen Gesamthaushalts. 178 Arnold Heitzig

Abkommen geschützt, die Russland respektiert.41 Weitere negative Faktoren sind im Schrumpfen der Arbeitsbevölkerung und regionaler Immobilität der Bevölkerung zu sehen. Besonders gravierend wirken sich hohe Ineffizienzen in der Struktur des Landes aus. In der Planwirtschaft sind Preise systembedingt nicht marktge- steuert und somit nicht von Ressourcenknappheit bestimmt. So folgt aus so- zialistischer, d. h. planwirtschaftlicher Vergangenheit ein struktureller Aufbau des Landes und seiner Industrien, der in vieler Hinsicht marktwirtschaftlichen Strukturen widerspricht. Zum Beispiel steht das sehr große Stahlwerk Magni- togorsk an unverändertem Standort seit Ende der 1920er Jahre, obwohl die Transportwege zu den Küsten für heute wirtschaftlich wertvolle Exporte un- endlich weit sind, Kohleeinkäufe auch mit langen Transportwegen aus Ländern herangezogen werden, die nicht mehr zu Russland gehören, deren Preise somit nicht mehr von russischem Staatsinteresse, sondern von Marktgegebenheiten bestimmt werden und darüber hinaus der Standort auch innerrussisch nicht mehr optimal ist, da wegen inzwischen vor Ort verbrauchter Vorräte Eisenerz herantransportiert werden muss. So muss das Stahlwerk um seine Profitabilität trotz hohen technischen Wissens der Belegschaft sehr kämpfen.42 Organisatorische Ebenen der Landesverwaltung und interne Haftungsstruk- turen im föderativen Aufbau wurden nur wenig modernisiert.43 Ebenso sind in russischen Konzernen Haftungsstrukturen häufig traditionell und weniger von wirtschaftlichen Erfordernissen geprägt. Auch sind die Entscheidungsträger des Landes erst seit weniger als einer Generation mit westlichen Managementme- thoden konfrontiert. Erfahrungsgemäß dauert es erhebliche Zeitspannen, bis Wissen und Erfahrung für modernes Management ausreichend akkumuliert, institutionell gefestigt und in allen Ebenen tief verankert sind. Die regionale Erschließung des Landes durch Fernstraßen, LKWs, Flughä- fen etc. ist noch weit von Chancen und Erfordernissen entfernt, wird jedoch vorangetrieben.

41 In Deutschland werden Investitionsgarantien von PwC als Mandatar des Bundes be- reitgestellt. Sie basieren auf völkerrechtlichen Vereinbarungen. Deckungsschutz gegen politisch verursachte Schäden wird üblicherweise bis zu 15 Jahren auf Antrag gewährt. 42 „Targeting efficiency and outsourcing non-core business“; vgl. http://eng.mmk.ru/up- load/iblock/e0b/Annual_report_MMK_2013_eng.pdf (Zugriff 28.9.2015). 43 Gemäß dem institutionellen Aufbau Russlands haftet die Russische Föderation nicht für Subjekte der Russischen Föderation (Regionen). Jedoch hat die Russische Föderati- on von Anfang an die rechtliche Unabhängigkeit der Zentralbank etabliert. Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? 179

Signifikant gefallene und dauerhaft niedrige internationale Gaspreise sind Russlands größtes unmittelbares Risiko. In den USA sank der Gaspreis 2013 auf ein Drittel des deutschen Marktpreises.44 Auch die deutschen Gasimport- preise sind seit 2012 massiv gesunken.45 Angesichts großer Gasmengen auf dem Weltmarkt werden weltweit Gastankerflotten und Terminals für die Verschif- fung aufgebaut, die in wenigen Jahren die Abhängigkeit des Transports von Leitungssystemen massiv verringern.46 Dies wird das Fallen der Gaspreise be- schleunigen, was Russland und seine Einnahmesituation wiederum unmittelbar trifft – zumal Russlands Produktions- und Transportkosten nicht unerheblich sind. Auch die um 50 Prozent gesunkenen Ölpreise verschärfen Russlands Risi- kolage signifikant, da hier prinzipiell das Gleiche gilt.47 Daraus folgt: Russlands gigantisches Rohstoffvermögen zerrinnt. Russland hat für seine unmittelbare Zukunft noch viele Chancen, seine lang- fristige Wettbewerbsfähigkeit auf breiter Front signifikant zu verbessern und seinen Wohlstand so weiter deutlich zu heben. Durch Hinwendung zum Wes- ten ist der beschleunigte Aufbau leistungs- und wettbewerbsfähiger industriel- ler Infrastruktur auch zur Weiterverarbeitung eigener Rohstoffvorräte immer noch möglich. Dies ist keine theoretische, sondern eine unmittelbar greifbare Option. Russland verfügt über fest etablierte, stabile Geschäftsbeziehungen zu den traditionellen Industrieländern und ihren Industrieunternehmen, insbe- sondere zu Deutschland und den USA. Russland ist zahlungsfähig und genießt weltweit einen Ruf als guter Zahler. „Für die Rohstoffe exportierenden Schwel- lenländer ist es wichtig, sich auf das geänderte externe Umfeld einzustellen und die sektorale Diversifikation ihrer Volkswirtschaften voranzutreiben. Dazu zählt vor allem das Schaffen günstigerer Rahmenbedingungen für die Entfal- tung des verarbeitenden Gewerbes, dem im Rahmen von Konvergenzprozessen

44 Sehnsucht nach dem billigen Gas, in: Handelsblatt, 4.6.2014, S. 16 unter Nennung von Enerdata als Quelle. 45 Der Erdgaseinfuhrindex sank um etwa 30 Prozent von Januar 2012 bis Januar 2015; vgl.: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2015, Preise, Daten zur Energiepreisentwick- lung – Lange Reihen von Januar 2000 bis Juni 2015, Schaubild 4.2, S. 14 https://www. destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Preise/Energiepreise/Energiepreisentwick- lungPDF_5619001.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff, 28.9.2015) und: Gaspreis- rückgang für Gazprom, in: Handelsblatt, v. 12.9.2014. 46 BP Energy Outlook 2035. 47 Ebd. 180 Arnold Heitzig eine entscheidende Bedeutung zukommen dürfte.“48 Dieses Zeitfenster ist je- doch nicht mehr lange offen zumal die klassische verarbeitende Industrie und der Maschinen- und Anlagenbau in Russland bisher in der erforderlichen Brei- te fehlen.49 Ob die Eliten Russlands diesen Weg gehen?50 Daran sind Zweifel angebracht. Der derzeitige Weg der Rohstoffexportorientierung ist kein Zukunftsmodell für das Land. Russland ist ein wackeliges Gebilde und bleibt dies auf absehbare Zeit. Die Aufarbeitung der Vergangenheit als Großmacht und im Bereich der Staatsmacht erfolgt heute nur unter Einschränkungen, was der Modernisie- rung des Landes im Wege steht.51 Anerkennenswert bleibt, dass Russland nach den Turbulenzen des Untergangs der Sowjetunion mit unendlichen internen Anpassungsschwierigkeiten und einer endlosen Reihe internationaler Neurege- lungen aus alten sowjetischen Strukturen heraus eine gewisse Stabilität erreicht hat und heute unter den BRICS-Ländern mit 13.860 USD das höchste Pro- Kopf-Einkommen erzielt.

Indien Nach jahrzehntelanger Ausrichtung an planwirtschaftlichen Strukturen der Sowjetunion kam erst mit deren Untergang für Indien eine gewisse markt- wirtschaftliche Orientierung.52 Noch heute sind die Verwaltungsstrukturen des Landes mit ihrer aufgeblähten Bürokratie von effizienten Strukturen wichti- ger Welthandelsländer unendlich weit entfernt. Jahrzehntelang war die Ernäh- rung der stark wachsenden Bevölkerung ohne westliche Hilfe nicht möglich. Inzwischen ist dies mengenmäßig wohl gelöst. In weiten Landesteilen sollen

48 Bundesbank: Monatsbericht Juli 2015 (wie Anm. 3), S. 32, „Herausforderungen der Wirtschaftspolitik“. 49 Vgl. Jakow Mirkin: Rationaler Liberalismus, in: Handelsblatt, Russia Beyond the Headlines (Beilage des Rossiskaja Gaseta Verlags, Moskau), 7.10.2015, S. 9: „Ein wei- teres Problem ist der absehbare Technologiemangel. Die Importabhängigkeit beträgt im Maschinenbau, bei Elektronik, bei Werkzeugen und Metallverarbeitung 80 bis 90 Prozent.“ 50 Vgl. Dimitri Trenin: Russland (wie Anm. 37), S. 305. Wahrscheinlicher wird dies, wenn die kapitalistische Entwicklung in Russland zur Erstarkung des Mittelstands führt. 51 Im Grunde ein ähnliches Problem, wie es Großbritannien und Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg plagte. 52 Henry Kissinger: Weltordnung, München, 2014, S. 234: „Mit Ende des Kalten Krie- ges wurde Indien von vielen widersprüchlichen Zwängen befreit und hatte einige seiner sozialistischen Illusionen verloren.“ Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? 181 jedoch auch heute noch gravierende organisatorische Mängel in der Verteilung die sichere Versorgung der Bevölkerung verhindern. Indien verfügt über eine große, ziemlich junge und weiter wachsende Bevölkerung. „In einigen Jahr- zehnten wird Indien China als bevölkerungsreichstes Land Asiens (und der Welt) ablösen.“53 Die koloniale Vergangenheit begünstigt die internationale Ausrichtung des Landes. Das Land mit seinen 1,25 Milliarden Menschen lebt seit Jahrzehnten mit gravierenden Konflikten. Da ist der traditionelle außenpolitische und militäri- sche Konflikt mit Pakistan zu nennen und auch der latente Konflikt mit China, der derzeit nicht im öffentlichen Bewusstsein ist. Weiter liegen intern massive religiöse und ethnische Differenzen vor. „Als besonders kompliziert werden sich zudem Indiens Beziehungen zur weiteren islamischen Welt erweisen, der es als integraler Bestandteil angehört. Obwohl häufig als südasiatisches Land klassifi- ziert, hat Indien […] einen muslimischen Bevölkerungsanteil, der größer ist als der Pakistans und sogar größer ist als jedes islamisch geprägten Landes außer Indonesien.“54 Indiens Rüstung – u.a. die aufwändige atomare Rüstung55 – ver- schlingt seit Jahrzehnten Unmengen Geld, das für Investitionen im Land fehlt. International operierende Unternehmen versuchen Indiens vergleichsweise preiswertes Humankapital zu nutzen. So senken internationale Banken ihre globalen Personalkosten mit Tausenden neuer Stellen in Bangalore:56 „Ange- sichts der Größe und Qualität des Talentpools ist Indien für uns ein Markt von zunehmend hoher Priorität.“57 Jedoch sind die Investitionshemmnis- se offensichtlich.58 Indiens wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ist noch im- mer gering. Dies gilt sowohl für das Pro-Kopf-Einkommen als auch für das

53 ebd. 54 ebd., S. 235. 55 Indien hat den Atomwaffensperrvertrag vom 1. Juli 1968 nicht unterzeichnet und ist seit 1998 Atomwaffenstaat. 56 Vgl.: Die Billig-Banker kommen, in: Handelsblatt, 20.7.2015, S. 32. 57 Ebd., Zitat eines Vorstands von Morgan Stanley. 58 Ebd., zitiert aus einer Studie: „Dass Billiglohnländer wie Indien auch Schwierigkeiten mit sich bringen, machten Architekten der Bank vor Baubeginn in Bangalore klar: Kor- ruption und schlechte Abwassersysteme könnten zum Problem werden, hieß es in dem Bericht, der an die Öffentlichkeit gelangte. Zudem liege das Niveau der Bauwirtschaft unter dem, was Goldman Sachs üblicherweise erwarte. Die Empfehlung lautet: nichts planen, was unbedingt Präzision verlangt.“ 182 Arnold Heitzig

Bruttoinlandsprodukt.59 Die für außenwirtschaftliche Aktivitäten erforderliche Infrastruktur ist noch viel zu schwach, zum Beispiel für betriebssichere Kom- munikationssysteme und eine zuverlässige, landesweite Stromversorgung. Wei- ter unterliegt die Devisenverfügbarkeit für Private und auch für Unternehmen gravierenden Einschränkungen und staatlichen Kontrollen. Der außenpolitische Ansatz zur strategischen Zusammenarbeit mit USA bie- tet Indien voraussichtlich neue Chancen. Ein Zukunftsmodell kann aus geringem Einkommen heute nicht abgeleitet werden. Oft stehen Indien und China als große asiatische Mächte mit jeweils sehr großer Bevölkerung im Fokus internationaler Betrachtungen und Bewer- tungen. Es bleibt in historischer Rückschau jedoch festzuhalten, dass Indien erst 20 Jahre später als China den Weg zur Marktwirtschaft eingeschlagen hat. Viel- leicht sollte die Frage der Modellhaftigkeit in 10 Jahren erneut geprüft werden.

China China war ein armes Land unter Mao Tse-tungs mörderischem Regime. Öko- nomisch absolut falsche Entscheidungen der Machtzentrale warfen das Land regelmäßig um Jahrzehnte zurück. Drei Beispiele sollten hier genannt werden. Maos „Großer Sprung nach vorn“ mit Stahlproduktion in allen Dörfern sollte in der frühen Zeit des Kommunismus in China die Industrialisierung voran- treiben. Allein diese Entscheidung soll 30 Millionen Menschenleben gekostet haben.60 Ende der 1950er Jahre wurden sowjetische Spezialisten ausgewiesen bzw. verließen nach Differenzen zwischen Moskau und Peking das Land. In den 1960er Jahren folgte die „Große Kulturrevolution“, als die intellektuellen Eliten des Landes von Bauern eine tragfähige Zukunft erlernen sollten. Außenpolitische, auch militärische Konflikte gab es jahrzehntelang um Tai- wan und mit Amerika und auch ziemlich latent mit der Sowjetunion und Indien. Nicht zuletzt in diesem Zusammenhang startete China früh als fünfte Atom- macht seine aufwändige atomare Rüstung.61 Weiterhin gibt es in China nachhal- tige ethnische Konflikte, zum Beispiel in Tibet und im Uigurengebiet. Anfang der 1970er Jahre begann durch Nixon und Kissinger in direkten Verhandlungen in Peking mit Tschu En-lai und dem greisen Mao Tse-tung die

59 Vgl. Tabelle 1. 60 Niall Ferguson: Krieg der Welt, Berlin 2006, S. 786. Frank Dikötter: Mao’s Great Famine: The History of China’s Most Devastating Catastrophe, 1958–62, London 2010, S. 333, schätzt die Verluste an Menschenleben sogar auf 45 Millionen Menschen. 61 Der erste erfolgreiche chinesische Atomtest datiert vom 16. Oktober 1964. Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? 183

Öffnung Chinas zur Marktwirtschaft und zum Weltmarkt.62 Dieser geopoliti- sche Schachzug Amerikas veränderte die Welt nachhaltig. China stellte gegen die Anerkennung Taiwans als Teil Chinas seine Ansprüche auf Wiedervereini- gung mit Taiwan zurück. Dies blieb einer friedlichen Lösung vorbehalten.63 Weiter sah China sich nicht mehr im Bündnis mit der Sowjetunion.64 Im Ge- genzug strömten westliches Wissen und nach und nach viel westliches Kapital ins Land.65 Hohe Anteile kommen von Auslandschinesen, die schon mehrere Jahrzehnte auf internationalen Märkten sehr erfolgreich unterwegs waren und bereits viel Geld verdient hatten. Über ihre Familienbande kennen sie sich gut in China aus. China nutzt Wettbewerbsmöglichkeiten u. a. auch durch Unterlaufen inter- nationaler Standards. Die Regierung arbeitet jedoch daran, dies unter Kontrolle zu bringen. China hat große Anstrengungen unternommen, seine Rohstoffversorgung langfristig zu sichern. Chinas Arbeitsbevölkerung ist sehr mobil.66 Chinesen haben ferner eine solide Arbeitshaltung und verdienen durch Exporte viel Geld für das Land. Ein großes Risiko für seine Wettbewerbsfähigkeit besteht darin, dass Chinas Arbeitsbevölkerung rasch altert. Es ist absehbar, dass die Arbeitsbevölkerung dauerhaft quantitativ sinkt, was wegen der Bedeutung des Produktionsfaktors Mensch sehr gravierend ist. Der Bestandsrückgang ist u.a. eine Folge der Ein-Kind-Politik. Somit hat auch China nur noch begrenzte Zeit, seine Strukturen durch Produktivitätssteigerung auf ein nachhaltiges Ge- schäftsmodell umzustellen, um zu weiterhin stabilen Einkommenssteigerungen zu finden.67 Die Chancen sind grundsätzlich da. China verfügt über etablierte

62 Vgl. Henry Kissinger: China, München 2011, S. 11: „Das amerikanische Motiv für die Öffnung Chinas bestand darin, den Amerikanern eine Vision des Friedens zu ver- mitteln, die über das Elend des Vietnamkrieges und die bedrohlichen Perspektiven des Kalten Krieges hinausgehen sollte. China war damals offiziell mit der Sowjetunion ver- bündet, wollte jedoch den notwendigen Spielraum gewinnen, um einen drohenden Angriff aus Moskau abzuwehren.“ 63 Vgl. Shanghaier Kommunique v. 27. Februar 1972, zit. n.: Ebd., S. 283. 64 Ebd., S. 281. 65 Vgl. Tabelle 1. 66 „China’s migrant miracle grinds to halt as rural labour supply runs dry“. 278m workers moved to cities since 1978, in: Financial Times, 5.5.2015, S. 1. 67 Vgl. ebd. 184 Arnold Heitzig und belastbare Geschäftsverbindungen zur westlichen Welt und außerdem über außerordentlich hohe finanzielle Reserven, um Investitionen zu realisieren.68 Ein großes Problem besteht in dem fehlenden Willen der kommunistischen Führung ihre Macht aus der Hand zu geben. Strenge Devisenkontrollen hem- men massiv die Chancen von Investitionen – auch für chinesische Firmen.69 Der administrative Aufwand im Geschäftsleben ist enorm.70 Auch entsprechen Hand- habungen staatlicher Verpflichtungen und Haftungsstrukturen häufig nicht in- ternationalen Gepflogenheiten, was ebenfalls markante Wachstumshemmnisse bewirkt.71 Die Rechtssicherheit ist gering. Auch greift Chinas Staatsmacht un- mittelbar ins Marktgeschehen ein, wenn ihr dies opportun erscheint. So wurden Aktienbesitzer durch die Verhängung eines sechsmonatigen Verkaufsverbots der Börsenaufsicht entmündigt, um fallenden Kursen entgegenzuwirken.72 So sind Chinesen nicht frei. Fehlende Freiheit ist ein Wachstumshemmnis. Auch drängt die Weltbank schon seit geraumer Zeit auf die Freigabe des Yuan.73 Für Chinas Führung ist dies eine Herausforderung, die ihr aber offensichtlich nicht gleichgültig ist. China arbeitet ja daran, aus wirtschaftlichen Erforder- nissen heraus und auch um seine internationale Reputation zu wahren.74 Die

68 Vgl. China, Wirtschaft, in: http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laen- der/Laenderinfos/China/Wirtschaft_node.html (Zugriff 28.9.2015). China verfügt mit 3,9 Billionen USD über die höchsten Devisenreserven der Welt. 69 Selbst absolut kleine Beträge für Auslandsüberweisungen auch von chinesischen Unter- nehmen wurden bislang von der State Administration of Foreign Exchange, SAFE, in Peking rigoros kontrolliert. 70 Vgl.: Chinesische Modernisierung: „Eine chinesische Mauer“ aus Überweisungskont- rollen hat noch vor wenigen Jahren das Yuan Land vom Ausland getrennt, in: Handels- blatt, 4.2.2015, S. 32f. 71 So haftet die Volksrepublik China formal nicht für die Verpflichtungen der chinesischen nationalen Exportkreditversicherung . In anderen großen Exportländern haf- tet der Staat für die Verpflichtungen seiner nationalen Exportkreditversicherung. Diese Staatshaftung stellt eine große Stütze bei langfristigen Finanzierungen von Exporten mit Exportkreditdeckung dar, da nur so das gedeckte Risiko dem Staatsrisiko entspricht. Das Staatsrisiko ist wesentlich positiver zu bewerten als das Risiko einer staatlichen Versicherungsgesellschaft. 72 Vgl.: Die Konterrevolution. Betrifft Anleger mit mehr als 5 % der Aktien eines Unter- nehmens, in: Handelsblatt, 9.7.2015, S. 1. 73 Vgl.: IWF will freie Devisenkurse in China, in: Handelsblatt, 27.5.2014, S. 28, und: China’s Yuan Gains New Clout, in: The Wall Street Journal, 4.5.2015, S. 1f. 74 Vgl.: China baut um, in: Handelsblatt, 16.3.2015, S. 1ff. Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? 185

Freiheiten für den Devisenzugang mit administrativen Erleichterungen und marktorientierte Zinsgestaltungen in China werden sukzessive erweitert.75 Chi- na hofft, bereits 2015 eine weitgehende Kapitalmarktöffnung zu erreichen.76 Dessen ungeachtet bleibt die totalitäre Führung und die Missachtung vieler in- ternationaler Standards ein Nachteil des derzeitigen Modells. Dies beeinträch- tigt auch den Transfer von Spitzentechnologie, die China sucht und für seinen Weg nach oben braucht.77 China hat in einer Generation viel erreicht. Sein Pro-Kopf-Einkommen ist in der Zeit von 2000 bis 2012 von 932 USD auf 6.560 USD gestiegen.78 Und das für 1,3 Milliarden Menschen. Dennoch ist China so aller Voraussicht nach kein Zukunftsmodell. Werden die internen Barrieren in China aus- und den Chinesen fundamen- tale Freiheiten eingeräumt, wird China in einer weiteren Generation sein Ziel erreichen und in der Welt ganz vorn mitspielen.79

Südafrika Von Goldman Sachs wurde Südafrika nicht der hier diskutierten erfolgverspre- chenden Ländergruppe zugeordnet. Nach wirtschaftlichen Größenordnungen ist dies auch kaum gerechtfertigt. Die Zuordnung erfolgte politisch für Süd- afrika als großes afrikanisches Land. Traditionell, d. h. seit kolonialer Zeit, ist

75 Vgl.: SAFE NEWS, 18.5.2015 der State Administration of Foreign Exchange: „Stepping up Efforts to streamline Laws and Regulations and Press Ahead with Law-based Foreign Exchange Administration“, www.safe.gov.cn/wps/portal/english (Zugriff 21.7.2015). Vgl. zur Globalisierung des Yuan: „Ziel ist letztlich ein konkurrenzfähiges Finanzsystem auf internationalem Niveau“, in: Handelsblatt, 7.1.2015, S. 29. 76 So Zhou Xiaochuan, chinesischer Notenbankchef zitiert nach: Yuan-Handelsplatz Frankfurt, in: Handelsblatt, 24.3.2015, S. 29. 77 Die Lage von Chinas Führung ist historisch vielleicht in vieler Hinsicht mit dem preu- ßischen Adel 1806 vergleichbar. Auch Preußen, das zuvor ein Zentralstaat war, führte bürgerliche Freiheiten wie Gewerbefreiheit ein und gliederte das Land durch kommuna- le Selbstverwaltung neu, um nach der Niederlage gegen Napoleon wieder nach oben zu kommen und erneut europäische Großmacht zu werden, was Preußen ja auch gelang. 78 Vgl.: http://de.kushnirs.org/makrookonomie/gdp/gdp_china.html#p1_2 (Zugriff 11.8.2015). 79 Zum Wert wirtschaftlicher Freiheit meinte Ludwig Erhard in Ausführungen zu den wirt- schaftlichen Grundrechten: „Konsumfreiheit und die Freiheit wirtschaftlicher Betätigung müssen in dem Bewusstsein jedes Staatsbürgers als unantastbare Grundrechte empfun- den werden […].“, in: Ludwig Erhard: Wohlstand für alle, Düsseldorf 2014, S. 23. 186 Arnold Heitzig

Südafrika in die Weltwirtschaft integriert – vorrangig durch Edelmetall- und Diamantenexporte. Dies sichert im Vergleich zu anderen Ländern Afrikas ein erhebliches Pro-Kopf-Einkommen. Die noch zur Zeit der weißen Herrschaft aufgebaute industrielle Infrastruktur bedarf dringend wesentlicher Erneuerun- gen. Insbesondere gilt dies für die Beseitigung von Engpässen bei der Energie- versorgung, zumal große Braunkohlereserven verfügbar sind. Der friedliche Übergang von weißer zur schwarzen Herrschaft gelang. Außenpolitische Konflikte hat das Land nicht. Unter Berücksichtigung der schwierigen Entwicklung Afrikas ist die Modell- haftigkeit Südafrikas in einer Dekade erneut zu prüfen.80

Kritische Würdigung Weltreiche neigen seit Jahrtausenden dazu, ihre Existenz-, Einkommens- und Machtsicherung über Größe an Menschenzahl und Fläche langfristig zu si- chern. In einer freien, wettbewerblichen, globalisierten Welt, wo Ressourcen wie Rohstoffe weltweit frei und zu tendenziell gleichen Preisen verfügbar sind, geht die traditionelle Rechnung der Macht nicht mehr auf. Die Effizienz einer Volkswirtschaft entwickelt sich zur entscheidenden Größe. Dies begann mit der Globalisierung vor mehr als hundert Jahren. So haben auch kleine Län- der gute Chancen, ihr Einkommen zu steigern und Wohlstand zu erreichen. Aus historischer Sicht bestätigen der Niedergang des Britischen Weltreiches und des Sowjetimperiums einerseits sowie der Aufstieg und Wiederaufstieg Deutschlands und Japans andererseits, dass die Größe eines Landes nicht der entscheidende Faktor ist. „Der nach wie vor große Einkommens- und Pro- duktivitätsabstand zu den Industrieländern legt nahe, dass die Schwellenländer grundsätzlich noch ein erhebliches Wachstumspotenzial besitzen. Allerdings sind nachhaltige Fortschritte bei der ökonomischen Konvergenz nur unter pas- senden wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen möglich.“81 Hier kommt dem Faktor Mensch besonders große Bedeutung zu. Lange Traditionen von Industriekultur mit tiefer Verwurzelung in der Bevölkerung prägen persönliche Entscheidungswilligkeit und Entscheidungsfreiheit und bewirken eine hohe

80 Vgl. zu Afrika Dambisa Moyo: Dead Aid, New York 2010. Das Handelsblatt schrieb dazu: „Moyo argumentiert streng nach marktwirtschaftlichen Prinzipien […]. Wirt- schaftliches Wachstum sei die wichtigste Grundlage, um Armut weltweit zu reduzie- ren.“, in: Handelsblatt, 29.1.2015, S. 12f. 81 Vgl. dazu Bundesbank: Monatsbericht Juli 2015 (wie Anm. 3), S. 31 im Abschnitt „Herausforderungen der Wirtschaftspolitik“. Die BRICS — Zukunfts- oder Auslaufmodelle der Weltwirtschaft? 187

Akkumulation von Kompetenz.82 Sie sind somit von außerordentlich hohem Wert auch für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Hier zeigen sich deut- liche und verfestigte Unterschiede traditioneller großer Industrieländer wie USA, Deutschland und Japan zu den BRICS. Wenn sich auch überborden- de Hoffnungen am Anfang des Jahrtausends für die BRICS nicht voll erfüllt haben, so ist für viele Millionen Menschen doch viel erreicht worden und sie konnten durch ihre Hinwendung zur Marktwirtschaft vom wirtschaftlichen Fortschritt der Welt bedeutende Anteile für sich gewinnen. Sie haben ihre In- tegration in die Weltwirtschaft weit vorangetrieben. Dadurch haben sie Wissen und wertvolle Beteiligungen in den traditionellen Industrieländern erworben und können so ihre Produkte in weitaus größerem Umfang auf dem Weltmarkt absetzen. Auch können die BRICS vor dem Hintergrund gestiegener eigener Leistungsfähigkeit tiefgreifenden Veränderungen aus dem weltwirtschaftlichen Umfeld, wie zum Beispiel dem erwarteten Zinsanstieg in den USA und dem weltweiten Verfall von Rohstoffpreisen grundsätzlich gefasster entgegensehen.83 Trotz aller Probleme und Herausforderungen besteht angesichts ihrer großen Potenziale die prinzipielle Möglichkeit, den Abstand zu den traditionellen In- dustriestaaten weiter zu verringern und auch die internationale Zusammenar- beit durch ihre Integration in die Weltwirtschaft weiter zu vertiefen.84

82 Das bestätigt auch die moderne Weltgeschichtsschreibung: „Die wirtschaftliche Über- legenheit des Zentrums beruht im Kern auf der – im Konkurrenzsystem – erfolgten Akkumulation von Kompetenzen.“; Hans-Heinrich Nolte, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Wien u.a. 2009, S. 246. 83 So beim erwarteten „Fed Beben“, das großvolumige Kapitaltransfers aus Emerging Mar- ket Ländern in die Industriestaaten bewirken und mit Schwächung der Währungen der BRICS einhergehen dürfte. 84 Der Beitrag über die BRICS stellt keine offizielle Position der Commerzbank dar.

Igor P. Smirnov Russland und Deutschland. Einwände zu Noltes Konzept der Weltregionen

Hans-Heinrich Noltes Artikel „Reichweite von Kulturkreiskonzepten: Europa und Russland – von Rückert und Dilke bis Danilewskij und Spengler“ wurde im Buch „Der Prozess der Zivilisationen. 20 Jahre nach Huntington“ veröf- fentlicht. Der Schwerpunkt dieses Sammelbandes liegt auf der Frage der Zi- vilisationsdeutungen und ihrer analytischen Funktion für das Verständnis der Weltgeschichte und der Gegenwart. H.-H. Nolte wendet sich an die Konzep- te der Kulturkreise in Europa und in Russland, seine Forschung ist definitiv komparatistischer Natur. Der viel diskutierte theoretische Nachlass von S.P. Huntington dient dabei als aktueller Anlass für die Betrachtung der Ideen von H. Rückert, C.W. Dilke, N.J. Danilewskij und O. Spengler. Ich würde außer- dem die Arbeit von H.-H. Nolte als einen Vergleich der deutschen und rus- sischen Denktradition interpretieren, der bezüglich der analysierten Verfasser den Hintergrund des Artikels bildet. Berechtigterweise beginnt H.-H. Nolte mit der klassischen Differenz zwi- schen dem Volks- und Nationsbegriff. Als Beispiel für das kaleidoskopartige Nebeneinander der vom Staat getrennten Völker nimmt er Herder, als Beispiel für den Versuch, eine Hierarchie der Nationen zu begründen, – Hegel. In bei- den Ideen sieht Nolte die Wurzeln der Kulturkreistheorie, die in der Spannung zwischen Globalisierungen und Differenzierungen entsteht und Einheit und Vielheit zusammen denkt. Nolte beschreibt die Konzepte von Heinrich Rückert und Charles Went- worth Dilke, dargestellt vor allem im „Lehrbuch der Weltgeschichte in organi- scher Darstellung“ von Rückert und in „Greater Britain – a record of travel in English-speaking countries during 1866 and 1867“ von Dilke. Rückert hat die gesamte deutsche Entwicklung im großen weltgeschichtlichen Zusammenhang erfasst, indem er die Schöpfung des allgemein erwachenden Nationalbewusst- seins in Deutschland schilderte. Sowohl ihn als auch Dilke bezeichnet Nolte durch ihren biologischen Begriff der Rasse und durch den Anspruch, die von ihnen herausgestellten Rassen mit naturwissenschaftlicher Gültigkeit als über- legen zu definieren. Für die russischen Denker (bei Nolte sind in dieser Hinsicht Tschaadajev, Herzen und Kireevskij erwähnt) war dieses Gedankengut fremd, vielmehr haben sie die Zukunft der Menschheit mit dem Wechsel und dem Kreislauf 190 Igor P. Smirnov verschiedener, mehr oder weniger abgeschlossenen Kulturen verbunden. Die „organische Darstellung“ war auch für die Russen charakteristisch, aber in der Regel nicht im biologischen Sinne, sondern als ein Synonym und organische Analogie für das historisch Gewachsene und Gewordene. Trotzdem kann man von einem Zusammenhang und sogar von einer Reihen- folge reden. Einige Ansichten von Danilewskij wurden aus Rückert geschöpft, und seinerseits, mit den Worten Noltes, „wirkte Danilewskijs Kulturtypenlehre über Oswald Spengler auf den Westen zurück“ (76). Es sei dabei bemerkt, dass die Theorie der Kulturkreise in Russland nicht nur von Danilewskij entwi- ckelt wurde; die Vorläufer waren die frühen Slawophilen – I.V. Kireevskij, A.S. Chomjakov, J.F. Samarin, – die Nachfolger waren K.N. Leontjev, F.M. Dosto- jewskij und andere russischen Verfasser. Bei Chomjakov steht der utilitaristische katholisch-protestantische Westen dem geistigen orthodoxen Osten entgegen. Wie die Slawophilen prophezeiten, wird die Welt nach dem Untergang Europas den russischen Weg nehmen. Da- nilewskij trat gegen ihren Anspruch auf, „Aufgaben der ganzen Menschheit“ zu lösen – er beschränkte sich auf den eigenen kultur-historischen Typ. Das Subjekt der Geschichte war für ihn ein Kulturkreis, nicht die Menschheit insge- samt. Die Lehre von Danilewskij wurde von Leontjev präzisiert: ein Typ kann von anderen erben, sie sind nicht abgeschlossen. Danilewskij wird manchmal Gründer des Konzeptes der Zivilisationen ge- nannt. Aber ebenfalls bei den frühen Slawophilen spielte die „Zivilisation“ be- reits eine große Rolle, sie haben zwischen der organischen und der entlehnten, nachgeahmten Zivilisation unterschieden. Über den Zusammenstoß von zwei Zivilisationen im europäischen Raum hat der russische Dichter und Diplomat F.I. Tjutschev geschrieben. In Deutschland hat sein Zeitgenosse Jakob Phil- ipp Fallmerayer über Russland als eine auf Europa heranrückende „besondere Welt“ geschrieben, man warf ihm übrigens panslawistische Propaganda vor. Im Gegensatz zu Tjutschev, der „Westen und Osten“ als zwei zu denkende Projekte für ein einiges Europa meinte, betrachtete Danilewskij Europa und Russland als zwei selbstständige Räume, die unvereinbar sind. Wie sein Kritiker N.I. Kareev glaubte, diente die Kulturkreistheorie bei Danilewskij nur einem Ziel: Russland von Europa zu trennen.1 In Deutschland war es Oswald Spengler, der den Zivilisationszugang, die entsprechende Methode und die Theorie übernommen hat. Danilewskijs

1 N. I. Kareev: Istoriko-filosofskie i sociologicheskie etjudy, Sankt Petersburg 1899, S. 468. Russland und Deutschland. Einwände zu Noltes Konzept der Weltregionen 191

„Russland und Europa“ hat das spätere einflussreiche Werk von Spengler „Untergang des Abendlandes“ vorweggenommen (das deutsche Buch ist in Russland vielsagend unter dem Titel „Untergang Europas“ bekannt). Ideen von Spengler weckten Interesse in Russland, und es sind sowohl Übereinstim- mungen als auch die Differenzen zwischen ihm und den russischen Denkern festzustellen. Wie Nolte betont, ordnet Spengler die Rasse der Kultur unter (77). Seinen Erfolg in Russland erklärt Berdjaev gerade dadurch, dass sich der deutsche Philosoph dem Problem der Auseinandersetzung von Kultur und Zi- vilisation zuwendet. Nach Berdjaev, findet „der Geist der Kultur seinen Tod in der Zivilisation“.2 Nach seiner Meinung, fehlt im Spenglers Buch die Erklärung für dieses Phänomen, die Berdjaev im Willen zur Macht (wie es bei Nietz- sche heißt) und im industriellen, maschinellen Charakter der Zivilisation sieht. Die kulturpessimistische These von Spengler – die Zivilisation sei das unaus- weichliche tragische Schicksal der Kultur – fand im russischen Denken großen Anklang und beruht hier auf der großen eigenen Tradition. Ein Unterschied zwischen Europa und Russland liegt eigentlich darin, dass dieses Problem DAS Thema in Russland war. Die russische Denker – A.S. Chomjakov, F.M. Dostojewskij, K.N. Leont- jev, P.A. Florenskij, S.N. Bulgakov, Wjatsch. I. Ivanov, um verschiedene und weit voneinander entfernte Personen zu nennen, – verehren europäische Kul- tur und huldigen ihren „heiligen Steinen“, aber gegenüber der europäischen Zivilisation, der gottlosen und seelenlosen, waren sie vorsichtig oder feindlich eingestellt. Ungefähr zur gleichen Zeit mit Spengler hat S.N. Trubeckoj in sei- nem Werk „Europa und Menschheit“ (1920) das Konzept der „zivilisierten Menschheit“ infrage gestellt. Er macht sich Gedanken über den Umschwung in der Gesinnung der Menschen, den der Erste Weltkrieg hervorgerufen hat. Der Krieg erschüttert nach seiner Meinung den Glauben an die „zivilisierte Menschheit“ und hat vielen die Augen geöffnet. In diesem Sinne und gleich- zeitig mit Trubeckoj äußerte sich auch Spengler. Wie Trubeckoj schreibt: „Die zivilisierte Menschheit muss einig sein und eine gemeinsame Kultur haben. Die unzivilisierten Völker müssen diese Kultur annehmen, in die Familie der zivili- sierten Völker eintreten, mit ihr den Weg des allgemeinen Fortschrittes gehen. Zivilisation ist das höhere Wohl und Gut, dem die nationalen Besonderheiten

2 N. A. Berdjaev: Smysl istorii, Neuauflage Moskva 1990, S. 163. 192 Igor P. Smirnov geopfert werden müssen“.3 Solche Logik hat dem russischen Verfasser nicht gepasst. Wie er bemerkt: „Bei der Einschätzung des europäischen Kosmopoli- tismus muss man immer bedenken, dass die Wörter „Menschheit“, „allgemein- menschlichen Werte“ und anderen äußerst ungenaue Ausdrücke sind und dass dahinter ganz bestimmte ethnographische Begriffe stecken. Die europäische Kultur ist nicht die Kultur der Menschheit. Das ist ein Ergebnis der Geschichte einer bestimmten ethnischen Gruppe“.4 Im Noltes Artikel wird dieser Gedanke so geäußert: „Menschen und Kulturen haben Ziele, aber nicht die Menschheit“ (78). Statt der Gradierung der Kulturen und Völker nach dem Grad der Voll- endung, muss laut dem russischen Denken ein neues Prinzip her – Originalität und Inkommensurabilität jeder Kultur. Im Weiteren konzentriert sich Nolte auf die konzeptuellen und methodolo- gischen Nachteile und Ungenauigkeiten der Kulturkreistheorie. Er folgt Heinz Gollwitzer und seiner „Geschichte des weltpolitischen Den- kens“, indem er die Kulturkreistheorie als eine Panideologie auslegt, die im Interesse des Imperialismus entstanden sei: „Kulturkreis tendiert zur Legiti- mierung von Herrschaft über mehrere Nationen und Völker“ (79). Man kann hinzufügen, dass die Idee auch zur Adorno-Tradition gehört: „Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein blo- ßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch“.5 Nolte dehnt dieses Fa- zit auf die betrachteten Autoren aus und schreibt ihnen die Absicht zu: „Mit dem Konzept Kulturkreis wurden imperialistische Erfolge beschrieben, wie bei Rückert und Dilke, und Ziele, wie bei Danilewskij“ (80). Hinsichtlich der Auf- klärungskritik, die in Russland wirklich richtungsweisend war, meint er: „Für das Imperium musste die Kritik der Aufklärung so formuliert werden, dass nationale Fragen in den Hintergrund traten“ (74). Für das russische Denken trifft das allerdings wenig zu. Dank der Idee von „Sobornost‘“ war die nati- onale Frage verwischt. Für die Slawophilen und ihre Nachfolger spielten die nationalen Grenzen kaum eine Rolle, sondern die kulturellen: zum russischen Kulturkreis gehören alle, die die entsprechenden geistige Werte akzeptieren.

3 N.S. Trubeckoj: Evropa i chelovechestvo in: Ders.: Istorija Kul’tura. Jazyk, Neuauflage Moskva 1995, S. 55–104; hier S. 57. 4 Ebda. S. 59. 5 Theodor W. Adorno: Schuld und Abwehr, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 9/2, Frankfurt 1975, S. 121–324. Russland und Deutschland. Einwände zu Noltes Konzept der Weltregionen 193

Die Imperium-Idee war in Russland nicht nach außen orientiert als Idee der Herrschaft, sondern nach innen als Idee des gemeinsamen höheren Dienstes. Ich möchte eine ungewöhnliche Ansicht von Nolte unterstreichen, der zu- folge die Renaissance teilweise eine Gegenbewegung zur Aufklärung sei. In Russland nämlich wurde das immer als ein und dieselbe geistige Linie verstan- den. Sehr interessant finde ich die Beobachtung von Nolte, dass Spengler eine Diskontinuität Europas zur Antike betont: die Renaissance behauptet sich bei ihm gegen den Geist des „faustischen Nordens“, der erst im Barock wieder die Oberhand gewinnt (77). Diese Diskontinuität wurde auch im russischen Den- ken thematisiert, auf andere Weise: Antike wurde hier anders begriffen, und zwar ambivalent. Einerseits, hat man Antike als eine geschlossene römisch- griechische Einheit verstanden. Die Vertreter dieser Position sprachen in der Regel von einer Reihe der nacheinander kommenden Zivilisationen, wobei die Zeit der antiken, byzantinischen und westeuropäischen Zivilisation vorbei sei, der „jungen“ russischen dagegen die Zukunft gehöre. Andererseits, deutet man die Antike zwiespältig: ihr geistiges Erbe zerfällt nach dieser Auffassung in zwei Grundsätze – die griechische Philosophie und das römische Zivilrecht. Wie I.W. Kireewskij meinte, wurde das rationale Denken der Westeuropäer vom Rom geprägt, während das organische einheitliche Denken der Russen vom Griechenland ausgeht. I.W. Kireewskij und A.S. Chomjakov haben in der Rezeption des römischen Rechts einen der wichtigsten Ausgangspunkte für den Widerspruch zwischen der westeuropäischen („Ratio“) und der russi- schen („Logos“, später „Sophia“) Denkweise gesehen. So wurde das Problem der in der russischen Geschichte fehlenden Renaissance aufgehoben. Die ech- te, vollkommene Synthese der Antike und des Christentums habe nicht im Westen Europas, sondern in Byzanz stattgefunden, wo die griechische Sprache und Philosophie harmonischerweise mit dem nicht durch Schisma entstellten christlichen Glaube verbunden wurden. Russland sei ein Nachfolger von By- zanz, nicht nur auf Grund des gemeinsamen orthodoxen Glaubens, sondern auch im Bereich der religiös-politischen Ideen. Deshalb, wie es z.B. bei F.M. Dostojewskij heißt, soll Russland Europa nicht außen, sondern in sich selbst finden. Angemessen wiederholt Nolte seine These von der Einsamkeit, die mich schon früher auf ihn aufmerksam gemacht hatte: „Um die „Einsamkeit“ so herauszustreichen, musste man sie als etwas Unnormales empfinden: wir waren zusammen (Deutschlands Stellung im Heiligen Römischen Reich des europäi- schen Mittelalters), und nun sind wir einsam geworden. Im russischen Denken 194 Igor P. Smirnov war das etwas Selbstverständliches“.6. Das Einsamkeitsgefühl liegt im gewissen Sinne der Kulturkreistheorie in Russland zugrunde, man empfindet seine Un- ähnlichkeit mit dem Westen sowie mit dem Osten. Die russische Kultur sucht nach einer Synthese des europäischen Individualismus und des östlichen Kol- lektivismus, und das nationale Denken sieht die originelle Stellung Russlands in der Mitte. Noch eine treffende Bemerkung macht Nolte hinsichtlich der europäischen Expansion und ihrer Rolle in der Entstehung des Weltsystems, wie auch hin- sichtlich ihres Endes und seiner Folgen. Ausführlicher kann man darüber in seinem früheren Buch „Die eine Welt“ lesen, wo er bereits zur Schlussfolge- rung kommt: „Dass Europa in seinen Expansionen über Jahrhunderte hinweg so erfolgreich war, gehört mit zu jenem Bündel von Charakterzügen, welches die europäische Geschichte einzigartig gemacht hat. Die Annahme liegt nahe, dass dieses Europa von Vancouver bis Vladivostok seine Struktur ändern muss, wenn es nicht weiterhin expandieren kann“.7 Aus seinen Überlegungen schließt Nolte, dass das Konzept „Weltregion“ erklärungsfähiger als „Kulturkreis“ ist. Der Kulturkreis bei S.P. Huntington scheint ihm zu immobil zu sein im Sinne der geschichtlichen Kontinuität der Region und der Schärfe der Grenzen. Als Beispiel für seine Kritik nimmt der Verfasser die Grenze zwischen Westeuropa und Russland als eine Kulturgrenze (80). Die sprachliche Teilung („Slavica non leguntur“) und der Unterschied zwischen der griechischen und lateinischen Hierarchie der Kirche reichen für ihn als Begründung der genannten Grenze nicht (83). Diese Ungenauigkeiten vermeidet nach Noltes Meinung „Weltregion“, dieses Konzept schätzt er als „weniger missverständlich“ ein. Keine Frage, die Missverständnisse muss man im jeden einzelnen Fall sehen und vermeiden. Die Einschätzung eines großen theoretischen Konzeptes soll jedoch meines Erachtens möglichst nicht zu pau- schal sein. Die Erklärungsmöglichkeiten des kulturellen Ansatzes sind nicht so begrenzt. So lassen sich die Ähnlichkeiten zwischen Russland und Spanien nicht nur durch die halbperiphere Lage erklären, wie das Nolte überzeugend

6 I. P. Smirnov: Einwände zu Hans-Heinrich Nolte: Geistesgeschichte im Weltsystem. Die Reaktion Deutschlands und Russlands auf allgemeine Entwicklung und halbperi- phere Lage, in: Verein für Geschichte des Weltsystems. Rundbrief Nr. 37, (März) 1999. S. 100f., hier S. 100. 7 H.-H. Nolte: Die eine Welt. Abriss der Geschichte des internationalen Systems. 2. Auflage. Hannover 1993, S. 166. Russland und Deutschland. Einwände zu Noltes Konzept der Weltregionen 195 zeigt (84), sondern auch durch die Besonderheiten der Geistesgeschichte beider Länder, wie es zum Beispiel in der Arbeit von L.E. Jakovleva8 dargestellt wird. Der Prämisse, dass die Weltregionen aufeinander bezogen, während die Kul- turen isoliert seien, kann ich nicht zustimmen. Wie gesagt, eine Kultur kann von anderen erben, sie sind nicht ganz abgeschlossen. Die Überein-stimmun- gen zwischen der spanischen und russischen Literatur, wie auch zwischen der deutschen und russischen Philosophie9, bestätigen diese Ansicht und weisen auf die Berührungspunkte der verschiedenen Kulturkreise hin. Die Offenheit der Regionen ist ihrerseits eine ziemlich umstrittene These, allein die Geogra- phie isoliert die Weltteile genug. Der Ausdruck „Weltregion“ wirkt neutral und ohne kulturellen Inhalt wenig aussagend. Die Region Pazifik umfasst russische, chinesische, angelsächsische (in der nordamerikanischen und australischen Ver- sion) Kultur. Zur Mittelmeerregion gehören Teile der islamischen Welt – Nord- afrika, der Nahe Osten, Türkei, auch im westeuropäischen Bereich der Region sind solche Städte wie Marseille mittlerweile beträchtlich islamisiert. Nach meiner Beobachtung, verwendet man oft den Begriff „Weltregion“ praktisch gesehen als andere Form vom „Kulturkreis“, eher als einen gewünschten Ersatz dafür. Die „Weltregion“ braucht die ethnokulterelle und geistesgeschichtliche Sinngebung, wodurch diese Bezeichnung an der Aussagekraft gewinnt. Als ein Unterdrückungsmittel der Völker dient die Kulturkreistheorie in meinen Au- gen wiederum nicht, die Argumente kann man aber aus jeder Theorie schöpfen, wenn man will: die „zentralen“ Regionen dürfen gegenüber den „peripheren“ auch einige Vorrechte genießen? Im entscheidenden Punkt möchte ich Nolte vollkommen unterstützen: „die Erkenntnis, dass das lineare Geschichtsbild der Ausbreitung des Lichtes der Aufklärung in alle Richtungen von Raum und Zeit der historischen Realität nicht entspricht“ (86). Diese Erkenntnis ist ein Verdienst der Kulturkreisthe- orie. Das Konzept der Weltregionen eines „Weltsystems“ geht meiner Mei- nung nach im Wesentlichen von dieser linearen Logik aus, jedenfalls erlaubt es sich auf solche Weise missverstanden und missbraucht zu werden. Je nach Stellung im Weltsystem kann man die Länder und Völker als entwickelt und

8 L. E. Jakovleva: Nacional’nye filosofskie tradicii v kontekste komparatistiki, in: Isto- rija mysli. Russkaja myslitel’naja tradicija, Pod. Red.: I. P. Smirnov, Vypusk 6 2013, S. 218–236. 9 I. P. Smirnov: Zur Rezeption deutscher Romantik in der russischen Geistesgeschichte in Zeitschrift für Weltgeschichte, Nr. 8.1, (2007) S. 131–166. 196 Igor P. Smirnov unentwickelt, zentral und peripher, fortschriftlich und regressiv beurteilen. Die Fortschrittskritik bildet einen unentbehrlichen Teil der russischen Philosophie und des russischen Denkens insgesamt. Die Reichweite der Kulturkreiskonzepte sehe ich in Russland und in Deutsch- land ziemlich anders – im Vergleich war sie in Russland grösser. Ursprünglich benützte man diese Theorie als ein wichtiges Mittel, sich als selbstständiges historischer und kulturelles Subjekt zu begreifen, was in Deutschland ähnlich geschah. Aber auch in der Herausbildung solcher geschichtswissenschaftlicher Gebiete wie der Methodologie hat sie eine wesentliche Rolle gespielt. In der sowjetischen Zeit hat das historiographische Interesse für diese Theorie bei I.D. Kowaltschenko den Übergang von der sozial-ökonomischen und wirtschafts- geschichtlichen zur methodologischen Thematik hervorgerufen und schluss- endlich zur Gründung des Lehrstuhls für Methodologie an der Historischen Fakultät der Moskauer Lomonosov-Universität geführt. In seinem Buch10 ha- ben die aus der Kulturkreistheorie geschöpften Ideen zur methodologischen Begründung der historischen Typologie beigetragen. Ob die kulturellen Identitäten wirklich die prägenden Kräfte der heutigen internationalen Politik sind, wie es bei Huntington heißt, kann man durch- aus bezweifeln. Aber seine Rücksicht auf die Abwehrreaktion der Kulturen ge- gen die westliche Globalisierung kann man nachvollziehen. Die verbreiteten Thesen von allgemeinmenschlichen Werten, vom gemeinsamen Europäischen Haus, machen die „alternative“ Kulturkreistheorie heute relevant und aktuell. Ich teile die Sichtweise, dass man das Allgemeinmenschliche nur durch das Nationale verstehen kann. Und das Konzept des Weltsystems, dem Nolte sei- ne Stütze gibt, soll von einer Kombination mit der Kulturkreistheorie nur an Erkenntnisergiebigkeit gewinnen, besonders bei einem solch komplexen und komplizierten Thema, wie „Europa und Russland“.

10 I. D. Kovachenko: Metody istoricheskogo issledovanija, Moskva 1987. Carl-Hans Hauptmeyer

Review: Transformation des Kapitalismus?

Carsten Kaven: Transformation des Kapitalismus oder grüne Marktwirtschaft? Pfade zur Nachhaltigkeit bei Altvater, Jänicke, Nair und Rifkin, München: oekom verlag, 2015, 210 S. ISBN-13: 978-3-86581- 750-1, Paperback € 22,95 (e-Book € 18,99) „Nur noch kurz die Welt retten…“, singt Tim Bendzko: „Die Zeit läuft mir da- von, zu warten wäre eine Schande für die ganze Weltbevölkerung. Ich muss jetzt los, sonst gibt’s die große Katastrophe. Merkst du nicht, dass wir in Not sind?“ Recht hat er, wenn wir global sehen: Klimakatastrophe, Überbevölkerung, extreme soziale Diskrepanzen, Unregierbarkeit. Wir wissen alle davon, und zwar seit langem. Ideen, Maßnahmen und Modelle gibt es zuhauf. Viele kleine Schritte führen in richtige Richtungen. Doch können wir uns mit vielen kleinen Schritten zufrie- dengeben, werden diese nicht von eiligen neuen Katastrophensprüngen über- holt? Auf welche Zukunftsmodelle bauen wir, aus welchen Theorien lassen sich Modelle am erfolgversprechendsten ableiten? Gemeinhin gehen die Beiträge in dieser Zeitschrift davon aus, dass für die aktuellen Weltprobleme der expansive Kapitalismus verantwortlich sei, dessen globalen Warenketten mittlerweile das Persönlichste und Intimste eines jeden Menschen an jedem Ort umschließen, oder, wie Kaven schreibt: „dass Prin- zipien kapitalistischen Wirtschaftens maßgeblichen Einfluss auf Strukturen und Entwicklungen dieser Gesellschaften haben“ (S. 18). Nachhaltigkeit ist das Mo- dewort, wenn es um „nur noch kurz die Welt retten“ geht, nämlich, „dass sich gesellschaftliche Verhältnisse so gestalten, dass Chancen und Perspektiven künfti- ger Generationen nicht beeinträchtigt werden“ (S. 18). Wir sind in der größten globalen Bedrängnis bescheiden geworden. Die Frage nach der Weltrevolution wird üblicherweise nicht mehr gestellt. So fragt auch Carsten Kaven behutsam: „Transformation des Kapitalismus oder grüne Marktwirtschaft?“ Auf’s erste möchte man naiv die Gegenfrage stellen: Wäre nicht grüne Marktwirtschaft eben diese Transformation des Kapitalismus? „Pfade zur Nachhaltigkeit“ will Kaven suchen. Benötigen wir aber nicht längst breite Straßen, um zu ihr zu gelangen? Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Kaven hat ein rundum lesenswertes, notwendiges Buch geschrieben. Doch ich befürchte, es wird nur von einer kleinen Zahl von Spezialistinnen und Spezialisten gelesen. Es hat so viel Potential, ist freilich in den Schlussfolgerungen zu wissenschaftlich vorsich- tig. Der Rezensent hat allerdings gut schreiben, ist er doch Regionalhistoriker, 198 Carl-Hans Hauptmeyer gar mit Schwerpunkt auf Deutschland, hat nichts zum Thema vorzuweisen, außer dass er sich gelegentlich mit dem Beziehungsgeflecht von Regionalem und Globalen beschäftigt und dabei selbst u.a. auf Rifkin gestoßen ist. Doch die Lektüre zeigt: Kaven gräbt tiefer, als es die Zitate aus dem Buchtitel vermuten lassen, wenn er die Zentralfrage stellt, ob eine kapitalistische Ökono- mie in der Lage ist, ein nachhaltiges Naturverständnis zu entwickeln. Falls sie es kann, ist nach dem Wie zu fragen; falls sie es nicht kann, nach dem Was-Statt- dessen: „Transformation als radikaler Systemwechsel oder als Weiterentwicklung des Kapitalismus“? (S. 9) Die vier Protagonisten garantieren Antworten. Elmar Altvater streitet für das notwendige Ende des weltweiten Kapitalismus und ver- langt eine solidarische Ökonomie. Martin Jähnicke hofft auf die ökologische Modernisierung von Wirtschaft und Staat. Chandran Nair setzt auf regulierten Kapitalismus samt eigener Zukunftsvarianten für asiatische Länder. Jeremy Rif- kin sieht am Ende des fossilen Zeitalters in der dritten industriellen Revolution mit Dezentralität und regionaler Kooperation die Hoffnung (S. 10–13). Die Auswahl der Autoren bietet ein gebührend weites Spektrum, um vier De- tailfragen, die Kaven stellt, jeweils einzeln und im Vergleich zu erörtern, näm- lich zum System (innerhalb des Kapitalismus oder nicht), zum Wachstum, zur Globalität der Perspektive und zu den Technologien (S. 13). Dies führt zu einer Gliederung, die für alle vier Autoren angewandt wird: der Imperativ, Strukturen und Tendenzen, die Vision, Akteure und Strategien, abschließende Würdigung. Dieses systematische Vorgehen ermöglicht den Leserinnen und Lesern, sich rasch mit den Positionen der Autoren vertraut zu machen und zugleich deren unterschiedlichen Zugangsweisen und Schlussfolgerungen zu erfassen, zumal Kaven eine differenzierte vergleichende Diskussion anfügt (S. 156–193). Auf diese Weise bietet Kaven gelungene, kritische und ausführliche Rezensionen der vier Werke, auf die er sich vorrangig stützt:1 Altvater, Das Ende des Kapi- talismus, wie wir ihn kennen; Jänicke, Megatrend Umweltinnovation; Nair, Der große Verbrauch (im Original Consumptionomics); Rifkin, Die dritte industrielle Revolution.

1 Elmar Altvater: Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Ka- pitalismuskritik, Münster 2005; Martin Jänicke: Megatrend Umweltinnovation. Zur ökologischen Modernisierung von Wirtschaft und Staat, München 2008; Chandran Nair: Der große Verbrauch. Warum das Überleben unseres Planeten von den Wirt- schaftsmächten Asiens abhängt (Aus d. Engl. v. Elisabeth Liebl), München 2011; Jere- my Rifkin: Die dritte industrielle Revolution. Die Zukunft der Wirtschaft nach dem Atomzeitalter (Aus d. Engl. v. Bernhard Schmid), Frankfurt/Main 2011. Review: Transformation des Kapitalismus? 199

Altvater stellt eine Steigerung der Krisenformen im globalen finanzmarktge- triebenen Kapitalismus fest, die letztlich zu dessen Scheitern führen werde. Eine neue solidarische Ökonomie müsse auf dezentral gewonnener, regenerativer Energie basieren und auf kleinteiligen gesellschaftlichen Organisationformen beruhen. Kaven wirft allerdings die Frage auf, ob dieses nicht auch innerhalb des kapitalistischen Systems erfolgen könne. Jänicke argumentiert optimistischer, allerdings primär mit Blick auf Europa bzw. die am höchsten industrialisierten Staaten. Für den Fall aber, dass eine ökologische Modernisierung nicht ausreiche, vermisst Kaven weitere Strategien: „Im schlimmsten Fall könnte man sich ausmalen, dass das Artensterben voranschrei- tet, die Ozeane kippen und der Klimakollaps kommt, wir aber in energieeffizienten Autos herumfahren, die dann abends vor Passivhäusern parken“ (S. 83). Nair kritisiert mit Blick auf Asien die These Wachstum entspreche Wohl- stand, die für weite Weltteile nicht aufgehe. Ressourcennutzung müsse in die Waren eingepreist werden. Wie aber, so fragt Kaven, kann „Preiswahrheit“ ein- geführt werden, solange globale Einigungen nicht in Sicht sind? Rifkin sieht eine Welt in globaler Kollaboration vor sich. Der Kapitalismus modernisiere sich gleichsam regional, weil Energie dezentral gewonnen werde. Kaven hält dagegen: „Mir scheint es nicht undenkbar, dass auch künftig Felder der Energiewirtschaft und Mobilität von altbekannten Konzernen beherrscht bleiben“ (S. 154). Er bezeichnet das Werk als „politisches Motivationsbuch“ (S. 155), aber keineswegs nur im negativen Sinne: „Vielleicht ist es gerade das, was notwendig ist, angesichts eines auch nach diversen Krisen noch dominanten neoliberalen Den- kens. Wenn dieses mit ‚effizienten Märkten‘ und ‚schlanken Staaten‘ über starke Bilder verfügt, muss man dem genauso starke und motivierende Bilder entgegen- setzen … ‚Dritte Industrielle Revolution‘ und ein Zeitalter der Kollaboration sind bestimmt keine schlechten Kandidaten“ (S. 155). Wie Kaven sich differenziert und abwägend mit den vier Autoren ausein- andersetzt, kann hier nur in letztlich unzulässiger Verkürzung angedeutet wer- den. Kaven hat ein kluges und anregungsreiches Buch geschrieben ‑ so wollte ich die Rezension ausklingen lassen, als ich die Lektüre des vorletzten Kapitels „vergleichende Diskussion“ beendet hatte. Aber da erwartete mich ja noch das sechste Kapitel mit dem Titel „Folgerungen“. Ich war besonders gespannt: „Ob ein Weg hin zu einem nachhaltigen Naturverhältnis im Rahmen kapitalistischer Verhältnisse möglich ist oder nicht, ist auch am Ende nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Will man die Frage bejahen, ist die conditio sine qua non die absolute Entkopplung des Wachstums vom Ressourcenverbrauch. Gegen 200 Carl-Hans Hauptmeyer ein solches Ja sprechen viele Faktoren … Gegen ein eindeutiges Nein spricht hin- gegen die historische Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus und die Tatsache, dass ökologische Modernisierung wohl das einzige Konzept ist, das bisher Früchte in einem nennenswerten Maße getragen hat …“ (S. 194). Kaven bezweifelt daher die Sinnhaftigkeit der Systemfrage. Aber was dann? Kaven weicht auf einen historischen Vergleich aus. Laut Marx untergrabe der Kapitalismus Arbeit und Natur. Aus der Tatsache, dass ‑ wenigstens regional ‑ die kapitalistische Produk- tionsweise keine Massenverelendung des Proletariats zur Folge gehabt habe, schließt Kaven, dass auch der Natur gegenüber entsprechende Flexibilität zu erwarten wäre. Da aber vor 150 Jahren die Transformation von einer Gesell- schaftsformation zu anderen ein längerfristiger Prozess war, käme es auch heute darauf an, „einen Pfadwechsel als bewusste Gestaltung (als ‚Design‘) gesellschaft- licher Verhältnisse zu verstehen“ (S. 195). Somit redet er bewusster politischer Gestaltung das Wort, und zwar für Dimensionen mittlerer Reichweite und mit der Einschränkung, dass in hochgediegenen Industriegesellschaften entwickelte Konzepte sich keineswegs durchgängig für Schwellenländer eignen. Angesprochen hat Kaven insgesamt „Probleme der Systemfrage, die Grenzen des bewussten Gestaltens transformativer Prozesse und die (nicht nur geographische) Relativität der eigenen Position. Eine progressive Antwort ist jedoch nicht die einzig mögliche. Eine andere Antwort läge in einer Realpolitik, welche mit technischen und militärischen Mitteln versucht, die Folgen kommender ökonomischer Krisen für die eigene Bevölkerung abzumildern und auf anderer Seite Zugang zu Ressour- cen erzwingt … Um dieses Szenario zu vermeiden lohnt es allemal, Überlegungen über alternative Pfade anzustellen“ (S. 199). Als ich diese letzten Sätze des Buches gelesen hatte, war ich von den Schluss- folgerungen dieses im Übrigen so argumentationsreichen Buches enttäuscht. Am selben Tage las ich in verschiedenen Artikeln und Nachrichten einer nam- haften deutschen Tageszeitung einmal mehr, welche ungeheuere Kapitalhäu- fung bei den wichtigsten Großkonzernen der Welt erreicht sei, welche große Bedeutung die Datenvernetzung bis in die Verästelungen einer nahen Industri- alisierung 4.0 habe und dabei die eigentliche digitale Revolution erst anstehe, wie weit der Grad der Entstaatlichung auf der Welt sich steigere, freilich mit Ausnahme von bürgerrechtsfernen Gewaltsystemen, wie erschreckend die Welt durch Terror bedroht sei und wie wenig aktuelle Umweltkonferenzen brächten. Sind wir nicht mittendrin im „Systemkampf“, in dem den Leitakteuren reich- lich gleichgültig ist, wie es um die Nachhaltigkeit steht? Geht es nicht allein um ökonomische und politische Macht? Sind es nicht auf Ideologien beruhende Review: Transformation des Kapitalismus? 201

Konflikte, gleichgültig, ob es sich dabei um ein rücksichtsloses Gewinnopti- mierungsprinzip oder um eine vermeintlich religiöse oder brutale politische Doktrin handelt. Das alles kommt mir so mittelalterlich und frühneuzeitlich vor. Sollten wir nicht die System- und die Pfadfrage hintanstellen und in Längs- schnittperspektive wieder über Macht und Ideologie nachdenken, also darüber, wie aus historischer Kenntnis Humanität und Aufklärung, Caritas und Mit- bestimmung wiederzubeleben und den heutigen Herausforderungen gemäß neu zu entwickeln sind? ‑ So schließt denn die Rezension mit dem besonderen Dank an Carsten Kaven, dass sein Buch Gedanken wie diese anstößt.

Hans-Heinrich Nolte

Review: Deutschland als neue Zentralmacht Michael Gehler: Deutschland als neue Zentralmacht Europas und seine Außenpolitik 1989–2009, in: Michael Gehler, Paul Luif, Elisabeth Vyslonzil (Hg.): Die Dimension Mitteleuropa in der Europäischen Union, Hildesheim u.a.: Olms, 2015, S. 25–78, € 68; ISBN-13: 978-3-48715-268-4

Herfried Münkler: Macht in der Mitte. Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, Hamburg: Körberstiftung, 2015, 203 S. davon 11 S. Literaturverzeichnis, € 18; ISBN-13: 978-3-89634-165-0 Der Österreicher Michael Gehler beschreibt – im Anschluss an seine Geschich- te Europas1 - den Machtanstieg der „Berliner Republik“ seit der Wiederverei- nigung Deutschlands. Er unterscheidet 8 Phasen, die auch unterschiedliche thematische Schwerpunkte der Politik hatten. Der Macht-Anstieg Berlins ging mehrfach auf Kosten Frankreichs, z.B. sieht Gehler die Konzeption der Kon- vergenzkriterien in der Währungsunion als „stark von deutscher Handschrift ge- prägt“ (S. 31). Er stellt die Rolle Joschka Fischers beim Eingreifen im Kosovo heraus, der mit der „verqueren und völlig überzogenen Behauptung“ operierte, „ein neues Auschwitz müsse verhindert werden“, womit der grüne Politiker die Out-of-area-Einsätze deutscher Truppen ab 1999 legitimierte (S. 35). „Der fälschlich als >Kosovokrieg< bezeichnete Krieg gegen Serbien“ wurde dann zum „Testfall für die neu konzipierte NATO als Interventionsbündnis“ (S. 37). Der Af- ghanistan-Einsatz und die Verweigerung der Teilnahme an der Irak-Interventi- on kennzeichnen dann die Rahmenbedingungen für „eine neue und selbständige deutsche Außenpolitik“ (S. 45), wie Schröder sie betrieb. Schröder förderte auch den Beitritt der Türkei zur EU und legte Wert auf den Draht nach Russland. Die Erweiterung der EU 2004/2007 „wäre ohne die deutsche Förderung und französische Unterstützung nicht denkbar gewesen“ (S. 51). Als der deutsche Einsatz für eine EU-Verfassung an den negativen Voten Frankreichs und der Niederlande scheiterte, gelang es der Regierung Merkel doch, negative Wir- kungen mit einem nur von den Parlamenten abgesegneten „Vertrag“ aufzu- fangen, der 2007 in Lissabon unterzeichnet wurde und nach dem Urteil des

1 Michael Gehler: Europa. Ideen, Institutionen, Vereinigung, München 2005. 204 Hans-Heinrich Nolte

Bundesverfassungsgerichts in einigen Punkten geändert wurde, bevor er 2009 vom Bundestag ratifiziert werden konnte. Die entscheidende Stellung Deutschlands wurde bei der Auseinandersetzung mit der globalen Finanzkrise und der nationalen Verschuldungskrise Griechen- lands vollends deutlich. 2009 forderte der Chef der Europäischen Zentralbank Jean-Claude Trichet während der Beratungen des Bundestags über Kreditgaran- tieen für Griechenland in Höhe von bis zu 147,6 Milliarden Euro von den Deut- schen eine Vorreiterrolle: „Es sei nicht einfach, aber Deutschland müsse diese Rolle“ (S. 63) und zustimmen. Deutschland wurde zum „Bürgschafts-, Haftungs-, und Zahlstaat der EU“ (S. 69). Herfried Münklers Buch ist ein Versuch, die Deutschen auf diese Rolle ein- zustimmen. Der Berliner Politikwissenschaftler gehört zu den wichtigsten politi- schen Beratern in Deutschland.2 Im vorliegenden Buch greift er die Diskussion um Deutschland als Mitte auf, obgleich dieses Konzept weithin – nach Friedrich Naumanns Mitteleuropavorstellung und nationalsozialistischen Konzepten von Großraumwirtschaft – als Ausdruck deutschen Vormachtstrebens in Ost-Mittel- Europa verstanden wird.3 Hinzu kommt, dass auch andere Nationen der Region in Anspruch nehmen, als „Ost-Mittel-Europa“ zur Mitte Europas zu gehören,4 und vielleicht auch, dass der Terminus in Kunst- und Kulturgeschichte nach der Attacke gegen die Moderne als „Verlust der Mitte“ eher negativ besetzt ist.5 Münkler geht überzeugend davon aus, dass die politischen und wirtschaftli- chen Eliten, die das europäische Projekt vorangetrieben haben, nach dem Schei- tern der Pläne für eine europäische Verfassung durch die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden 2005 den Lissabon-Vertrag untereinander, also eben ohne Volk ausgehandelt und 2008 in Kraft gesetzt haben. Sie legiti- mierten sich durch die „demokratietheoretisch heikle Behauptung der Alternativ- losigkeit“ (S. 21) und gaben damit eigentlich zu, dass eine europäische Nation nicht entstanden ist. Mit der Eurokrise ist jedoch auch diese bürokratische Ei- nigung gescheitert oder doch infrage gestellt und die Nationalstaaten haben

2 Vgl. auch Herfried Münkler (Hg.): Was Imperien leisten und woran sie scheitern = Zeitschrift für Weltgeschichte 11 (2), 2010. 3 Ivan T. Berend: German Penetration in East Central Europe in Historical Perspective, in: Stephen E. Hanson, Willfried Spohn (Hg.): Can Europe Work? Germany and the Reconstruction of Postcommunist Societies, Seattle 1995, S. 129–150. 4 Jenö Szücs: Die drei historischen Regionen Europas (Aus d. Ung. v. Béla Rásky), Frank- furt/Main 1994 (ungar. Originalausgabe 1983). 5 Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte, Salzburg 1948. Review: Deutschland als neue Zentralmacht 205

Bedeutung zurückgewonnen. Münkler ist skeptisch gegenüber den auf Identität zielenden Begründungen für Europa und führt z.B. aus, dass die Außengren- zen Europas weder durch Religionen noch durch Kultur, sondern durch Poli- tik bestimmt wurden und werden. Innerhalb der EU aber hat Deutschland an kultureller und wirtschaftlicher Macht gewonnen und ist so „tatsächlich … zur Zentralmacht Europas geworden“ (S. 43). Die militärische „Machtsorte“, in der Berlin immer schwächer war als Paris oder London, hat dagegen an Bedeutung verloren – solange es nicht zum Krieg kommt bzw. solange man nicht mit einem Flugzeugträger vor der syrischen Küste zeigt, was der andere eben nicht hat. In einem längeren ideengeschichtlichen Kapitel über die Geschichte des Konzepts von Deutschland als Mitte setzt Münkler sich auch mit Winklers These auseinander, dass Deutschland inzwischen zum Westen gehört. Aller- dings hätte dann die EU auf Staaten protestantischer und katholischer Tra- dition beschränkt werden müssen; „der mangelnde Wille der Europäer, sich auf eine klare, ein für alle Mal verbindliche Ostgrenze der Union festzulegen, hat das Erfordernis einer starken Mitte noch weiter vergrößert“ (S. 107). Im dritten, poli- tikgeschichtlichen Kapitel skizziert Münkler die Rolle des Heiligen Römischen Reichs nach dem Westfälischen Frieden als schwache Mitte, welche die „Vor- aussetzung für die politische Ordnung Europas“ (S. 123) bis Napoleon bildete, und die Bewegungen der politischen Position Deutschlands von der Mitte zum Rand (während des Kalten Krieges) und wieder zurück in die Mitte. Münkler führt den Machtzuwachs Deutschland ideologisch auf den Erfolg im Aufholprozess Ostdeutschlands (von 50 auf 80% Westdeutschlands, S. 47) und ökonomisch auf Wirtschafts- und Finanzkraft (ein Viertel der EU-Mittel, S. 137) zurück, aber auch auf das Disengagement der USA. Die „Verwundbar- keit … aus der Geschichte“ (S. 139) begrenzt die deutschen Machtmöglichkeiten weiterhin. Aus der Leitidee, dass es keinen militärischen Konflikt mit Russland geben kann, folgt, dass die Zahl „eingefrorener Konflikte“ an den Peripherien zunehmen wird (S. 155); sollte allerdings eine Bedrohung aus Russland als dau- erhaft angesehen werden, würden mehr Mittel in die Rüstung gesteckt werden. Das würde auf Kosten von Münklers Votum gehen, mehr Geld in kulturelle Entwicklungen zu stecken. Mehr Mittel für die Stabilisierung des europäischen Südens – sowie der peripheren Länder jenseits der EU-Grenzen, aus denen die Flüchtlinge kommen – wird Deutschland in jedem Fall einplanen müssen, da kann man Münkler nur zustimmen. Ein wichtiges Buch. Im Einzelnen kann man z.B. einwenden, dass Münkler sich aufs modische Russland-Bashing einlässt – weder spielte Russland keine 206 Hans-Heinrich Nolte

Rolle für das europäische Gleichgewicht, wie er schreibt (S. 123) – im Frieden von Teschen sicherte es den deutschen Dualismus, und ohne Russland hätten Napoleon und Hitler gesiegt - noch ging die Destabilisierung von Räumen an der Ostgrenze der EU allein von Russland aus (S. 151). Ein grundsätzlicher Einwand ist, dass „Macht“ bei Münkler zu einer ins- titutionell und ökonomisch wenig hinterfragten Kategorie wird. Die Akteu- re der Politik werden allgemein als „Eliten“ bezeichnet, ohne ins Kalkül zu ziehen, welche Machtmittel Banken und Industrie im Verhältnis zu anderen Machtgruppen haben. Kritik aus den Peripherien an Deutschland als dem „4. Reich“ wird abgebügelt (S. 37, 142f.), aber ein allgemeiner Vergleich der Ge- winne und Kosten von EU-Expansion (wie Münkler ihn auf S. 35 anreißt) ist ja nicht erklärungskräftig, da zwischen Gewinnen der Betriebe und Kosten der öffentlichen Hand nun mal kleine Unterschiede bestehen. Auch institutionelle Akteure bleiben aus dem Blick, etwa die Rolle der mit Rom unierten Kirche im Ukrainekonflikt durch die Forderung nach Übergabe orthodoxer Kirchen. Weiter wird die Gefährdung demokratischer Verfassungen durch den steigen- den Nationalismus bei den Freunden, welche Deutschland „umringen“, nicht eingerechnet; wäre Deutschland noch „Mitte“, wenn sich (durchaus mit Ähn- lichkeiten zur Zwischenkriegszeit) von Polen bis Ungarn ein Streifen autoritärer Staaten hinziehen würde? Aber die Kernthese ist wichtig: Deutschland hat in der EU eine neue Macht- stellung gewonnen und es muss lernen, mit dieser Position angemessen um- zugehen. Macht wird von den anderen, die sie erdulden müssen, stets negativ erfahren. Aus dieser Erfahrung heraus wird Deutschland, nicht nur im Süden der EU, sondern auch in einigen Gruppen Osteuropas als „Viertes Reich“ atta- ckiert, wie Münkler notiert. Aber selbst, wenn er gegen meine oben skizzierte Kritik in der Sache Recht hat - politisch entscheidend ist doch die Angst der Peripherie vor Fremdbestimmung, oder positiv gewendet ihr demokratischer Wille zur Selbstbestimmung. Aus dem heraus dürfte noch oft zu historisie- renden Argumentationen gegriffen werden, wenn sich an der aktuellen Praxis nichts ändert und nicht mehr Selbstbestimmung möglich wird. Deutsche In- vestitionen in Osteuropa werden von vielen skeptisch gesehen6 – und diese Kri- tik wird sicher ansteigen, wenn einige dieser Investitionen nach dem Auslaufen

6 Hannes Hofbauer: Osterweiterung. Vom Drang nach Osten zur peripheren EU-Integra- tion, Wien 2003. Review: Deutschland als neue Zentralmacht 207 von Subventionen der öffentlichen Hände dann auch schnell wieder abgezogen werden. Eine Kernfrage ist also, wie die neue deutsche Macht mit den Bundesge- nossen in der Europäischen Union, den globalen Nachbarn und in der Welt- gemeinschaft diskutiert wird, mit welchen Aktionen sie vorgestellt wird. Das erfordert, auch wenn die jetzige neoliberale Position in der Wirtschaftspolitik beibehalten wird, mehr Diskursivität als zumindest in der Politik gegenüber Griechenland. Münkler hat recht, dass das Argument „Alternativlosigkeit“ ei- nen antidemokratischen Kern hat – eigentlich besagt das Argument ja nur, dass die Elite – oder hier eben: eine Gruppe der Elite – aus den Lehren der Chicago- School und den Börsenkursen geschlossen hat, dass eine bestimmte Politik „zur Rettung der Banken“ und jedenfalls zu Lasten des Steuerzahlers durchgesetzt werden muss. So kann man vielleicht in Deutschland verfahren, weil wir davon profitieren, aber z.B. nicht gegenüber Spanien. Lohnt sich also das Risiko, das mit einer erklärten Politik als Macht der Mitte verbunden wäre? Deutschlands „Machtsorten“ sind auf Wirtschaft und Ideologie beschränkt. Die militärische Macht muss man angesichts der letz- ten Supermacht USA und den drei Deutschland benachbarten Großmächten United Kingdom, Russland und Frankreich, welche über Atomwaffen, global einsetzbare Waffensysteme und Vetorechte im Sicherheitsrat verfügen, als dritt- rangig bestimmen (auch wenn man annimmt, dass die deutschen militärischen Mittel mehr als „bedingt einsatzbereit“ sind). Die kulturelle Macht scheint, in Konkurrenz zur romanischen und angelsächsischen Welt, ebenfalls nur zweit- klassig zu sein (auch wenn die Berliner das z. Zt. anders sehen) – weder gibt es eine deutsche Universität unter den besten zehn der Welt, noch wird deutsche Literatur in Frankreich oder den USA „verschlungen“ (sie wird vielmehr von Staats wegen „gefördert“, was vermutlich das Gegenteil von kultureller Macht bedeutet). Deutsche Macht ist, wie ein Stuhl mit zwei Beinen, ziemlich instabil und kann schon in der nächsten Wirtschaftskrise kippeln oder sogar umfallen. Lohnen sich die Risiken, welche dieser Macht inhärent sind, für das Land und die Eliten? Und vor allem: lohnen sie sich für jene Bürger, die nicht zur politi- schen Elite gehören und sich nicht irgendein neues Programm als Erfolg an das Revers heften können, bevor man die langfristigen Ergebnisse beurteilen kann? Ob es sinnvoll ist, diesen Lernprozess mit dem Terminus Mitte zu propagie- ren, ist eine weitere Frage. Der von Michael Gehler aus österreichischer Sicht vorgeschlagene Terminus „Zentralmacht“ scheint nüchterner. Und haben wir die richtigen Leute an der Spitze für solch eine Politik? Ist das gegenwärtige 208 Hans-Heinrich Nolte politische Establishment eine „Elite“, welche den geforderten Prozess der Um- steuerung der Ressourcen zugunsten der Peripherien in und um die EU leisten kann? Das ist jedenfalls nicht sicher, da unsere Elite für die Kontrolle deutscher Finanz- und Großfirmen wie Deutsche Bank oder Siemens auf amerikanische Gerichte angewiesen ist. Dass VW erst durch USA-Gerichte auf die Pflicht zu Einhaltung staatlich gesetzter Normen hingewiesen wurde, hat einen Beige- schmack, weil Niedersachsen per Gesetz an der Leitung dieses Unternehmens beteiligt ist, aber niemand aus der Wirtschaftsbürokratie der Landesregierung für die Einhaltung der Gesetze gesorgt hat. Gewiss kann man zu erklären su- chen, dass die deutsche politische Elite auf wirtschaftliche Erfolge besonders angewiesen ist, was Vermutungen über ihre Unabhängigkeit gegenüber deut- schen Unternehmen nahe legt - aber wenn die Ministerialbürokratie nicht in der Lage ist, für die Beachtung der Gesetze jener Staaten zu sorgen, in denen ein Produkt verkauft werden soll, liegt entweder Unfähigkeit oder Käuflichkeit vor. Dass in Deutschland, vermutlich doch nicht ohne Einflüsse von Korrup- tion, mehrere Großprojekte in den Sand gesetzt wurden, ergänzt dieses Bild. Eine schwache Mitte ist, wie Münkler erinnert, nicht die schlechteste Variante, aber auch sie muss politisch gekonnt umgesetzt werden.

Rezensionen Hermann Hiery (Hg.): Lexikon zur Überseegeschichte, Stuttgart: Steiner, 2015, 922 S. zweispaltig, systematische Übersichten von Geld und Maßen, etwa 2000 namentlich gezeichnete Stichwörter; € 99, ISBN-13: 978-3-51510-000-7 Das Lexikon will „mit Hilfe von lexikalischen Stichwörtern eine profunde Er- stübersicht zu möglichst vielen Bereichen und Aspekten der europäischen Kontaktge- schichte außerhalb von Europa“ (Heraushebung im Text) geben. Dazu wurden Stichworte zu Personen, Ethnien und Regionen, zu Staaten und Handelskom- panien von über 300 Wissenschaftlern in aller Welt, oft auch Mitgliedern der Gesellschaft für Überseekunde, geschrieben. Die Lemmata werden jeweils durch zwei, manchmal auch mehr Literaturangaben ergänzt. Die Länge der Lemmata ist nicht immer überzeugend: Namibia erhält eine Spalte, Nan Man- dol (eine befestigte Stadtanlage aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. in Mikrone- sien) und Henry Nanpei, ein Häuptling in Mikronesien, anderthalb Spalten. Man kann aber Namibia als Verweis-Cluster lesen und wird dann z.B. auf Lü- deritz, Leutwein oder Maherero und Deutsch-Südwestafrika als eigene Beiträge verwiesen; es fehlt allerdings Lothar von Trotha, den man jedoch unter dem Lemma „Herero-Nama-Aufstand“ auch findet. Nordasien östlich des Ural wird in mehreren Beiträgen behandelt – zusam- menfassend mit drei dreispaltigen Aufsätzen von Eva-Maria Stolberg zu Ta- taren, Sibirien und zum Russischen Kolonialreich. Sie plädiert zu Recht für dessen Einordnung in den Prozess der europäischen Expansion, wozu allerdings bisher wenig konkret vergleichende Arbeiten vorliegen.1 Ergänzt werden diese Beiträge zu russischen Institutionen und zu Personen, z.B. zu, der Umschrift des Lexikon folgend, Timofeeivich Yermak oder Semjon Deschnjow. Schade, dass man nicht einen der Gegner – etwa den >freien Mann Zar Kuchum< in Sibirien oder Scheich Schamil im Kaukasus – ähnlich vorgestellt hat. Bei der Darstellung der USA ist die Auswahl aus den vielfältigen und gut aufgearbeiteten Stoffen schwierig. Volker Depkat legt ein mutig und knapp strukturiertes Lemma vor, in dem er die Vernichtung und/oder Verdrängung der Vorbewohner jedoch nicht unter die fünf „zentralen, die Geschichte der USA bestim- menden Faktoren“ (S. 840) rechnet. Abraham Lincoln und George Washington,

1 Vgl. Vladimir Bobrovnıkov: Russkij Kavkaz i Francuzskij Alzhir, in: Martin Aust, Ri- karda Vulpius, Aleksej Miller (Hg.): Imperium inter pares, Moskau 2010, S. 182–209. 210 Rezensionen nicht aber Andrew Jackson oder FDR haben Lemmata. Eigene Beiträge sind Indianerkriegen und einzelnen ethnischen Gruppen bzw. Föderationen gewid- met, sowie den Häuptlingen Sitting Bull und Tecumseh; über die indianische Bevölkerung der Ostküste – etwa die Narrangasset oder Pequot - erfährt man wenig und das Stichwort Pocahontas berichtet mehr über die Liebesgeschichte als über Ackerbau, Viehzucht oder Sozialstruktur der Powhatan-Indianer. Und wo finde ich Informationen über Organisationen der Einwanderungsgruppen? Zum Beispiel St. Olaf’s College in Northfield, Minnesota? Die dichtesten Informationen erhält man über Deutsche, die in Übersee tä- tig waren, und über deutsche Übersee-Institutionen wie Kolonien oder Verbän- de. Es ist aber kein Lexikon europäischer Emigrationen nach Übersee, welches die Enzyklopädie der europäischen Migrationen ergänzen könnte.2 Die Gewichtungen überzeugen mehrfach nicht. Über die 10 Millionen- Stadt Kanton am Perlfluss wird auf 17 Zeilen berichtet, über die 9km² große Insel dieses Namens im Pazifik auf 79. Man findet ein Lemma über die Papua- Sprache Kuanua, die im souveränen Papua-Neuguinea keine Schulsprache mehr ist, aber keins über Ibo oder Yoruba. Dafür findet man Lemmata über den Admiral Zheng Ho und den Reisenden Ibn Battuta, über Rechtsbegriffe wie terra nullius und ideologische Konzepte wie The White Man’s Burden, über Bilharziose, Bootsflüchtlinge und den Boxeraufstand, gegen den die „ers- te internationale Eingreiftruppe überhaupt formiert“ wurde (S. 120). Trotz der Ungleichgewichte: der Gesamteindruck ist sehr positiv. Wer über ein Thema der Weltgeschichte arbeitet, wird immer nachsehen, was das Lexi- kon anbietet, und sehr oft fündig werden. Ein Lemma Weltgeschichte fehlt, aber Wolfgang Reinhard hat auf der Grundlage der Mainstream-Literatur zu Globalisierung und Globalgeschichte zwei Texte beigesteuert, in denen er die Überlegenheit gegenüber der „uralten Weltgeschichte“ betont und die „alte Uni- versalgeschichte“ kritisiert, da sie nach dem Scheitern marxistischer Varianten auf eine „positivistische Addition eines maximum of diversity“ hinauslaufe. Gegen die Globalgeschichte wendet er ein, dass sie „aus politischen Gründen gezwungen [ist], von historischer Gleichrangigkeit der Menschheit auszugehen und die geschicht- liche Rolle Europas herunterzuspielen“, was der Empirie nicht gut tue (Zitate S. 297, Heraushebung dort). Also doch, wenn auch im globalgeschichtlichen

2 Klaus J. Bade u.a. (Hg.): Enzyklopädie Migration in Europa, Paderborn 2007. Dort findet man z.B. 12 Lemmata zu italienischen, aber auch sechs zu chinesischen Migrati- onen innerhalb Europas. Rezensionen 211

Gewande, eine Anerkennung der weltgeschichtlichen Sonderrolle Europas für die Perioden seiner Expansion?3 Horst Pietschmann steuert ein Stichwort zur iberischen Expansion bei und Eva-Maria Stolberg über das russische Kolonial- reich; Wolfgang Reinhard nennt sein zusammenfassendes Lemma dann jedoch Europäisierung und betont: „(D)er Kolonialismus hat langfristig eben nicht nur Unterdrückung gebracht, sondern auch Befreiung von den Fesseln der eigenen Tra- dition …“ (S. 253). Gilt das nur für die angelsächsischen Expansionen? Chris- toph Kuhl führt mit dem Stichwort Kolonialschuld knapp in diese Debatte ein. Man freut sich, dass das anspruchsvolle Unternehmen dieses Lexikons zu einem guten Ende gebracht worden ist. Es gibt einen breiten Einblick dar- über, wozu im deutschen Sprachraum geforscht und nach welchen Kriterien Geschichte eingeordnet wird.

Hans-Heinrich Nolte, Barsinghausen

Christof Dejung, Martin Lengwiler (Hg.): Ränder der Moderne. Neue Perspektiven auf die Europäische Geschichte (1800–1930), Köln u.a.: Böhlau, 2016, 247 S.; ISBN-13: 978-3-41222-535-3 Die Herausgeber beziehen globalhistorische Ansätze auf die europäische Ge- schichte und propagieren eine neue Sicht „auf die europäischen Binnenperi- pherien“ (S. 9). Im Unterschied zu der klassischen, vom politischen Interesse ausgehenden und ja auch politisch geförderten Europahistoriographie versu- chen sie eine „globalhistorische Neuperspektivierung“ von den Rändern her: Sie sehen dafür drei Felder: • „die Formulierung einer nicht-teleologischen Vorstellung historischer Prozesse“, • „die Analyse der Außenbeziehungen Europas“ und • „den verstärkten Einbezug der europäischen Binnenperipherien in die europäi- sche Geschichte“ (Zitate S. 26). Martin Schaller und Bernhard Struck verdeutlichen den Ansatz an Reisebe- schreibungen des späten 18. Jahrhunderts (also vor 1800), wobei sie an den spätaufklärerischen Schriften, in denen – etwa von Friedrich Carl Grimm – die Armut auf dem Lande mit schlechten Wegen, Unbildung sowie Aber-glauben erklärt und ganz ähnlich auf den Reichtum des Adels und dessen Konsump- tion in der Hauptstadt zurückgeführt wird, wie von William Coxe in seinem

3 Vgl. Wolfgang Reınhard: Geschichte der europäischen Expansion. Bde. 1–4, Stuttgart 1983–1990. 212 Rezensionen

Reisebericht über Polen und andere Länder 1784. Daraus folgt eine Kritik an der in dem Konzept „Osteuropa“ zusammengefassten Vorstellung von Rück- ständigkeit, wenn auch noch ohne genauere Diskussion der Sachaussagen die- ses Konzepts. Angelika Epple gelingt ein Schritt über solche geistesgeschichtliche Kritik hinaus, indem sie an den Verflechtungen des Solinger Eisenwarenhandels mit der Kolonialpolitik z.B. Portugals zeigt, wie die Sozialstruktur des bergischen Landes durch diesen Handel verändert wurde und kapitalkräftige „Reider“ die Handwerksmeister mediatisierten. Zugleich bindet die Autorin die Sorge der entsprechenden Händlergruppe vor der englischen Konkurrenz in Afrika in die große Politik und die Einwirkungen auf die Berliner Kongokonferenz 1884 ein. Patrick Kupper und Bernhard C. Schär machen ihren Punkt von Reiseberich- ten aus: denen von Paul und Fritz Sarasin aus dem Basler Patriziat. Sie mach- ten aus eigenen Mitteln am Ende des 19. Jahrhunderts Reisen nach Ceylon und wirkten mit Forschungen und Sammlungen auf die europäische Debatte, z.B. über Darwin, zurück. Durch ihre Kritik an den muslimischen Herrschern der Küstenregionen in Celebes/Sulawesi bereiteten sie die Übernahme direkter Macht durch die Niederländer 1905 vor. Die Basler legitimierten die Erobe- rung als Zivilisierung; allerdings in der Vorstellung, dass man Reservate für Naturvölker schaffen müsse – oder doch, wenn schon die Völker nicht museal leben wollten, für eine dann eben ohne Menschen auskommende „Natur.“ Sie plädierten für Sonderregionen und waren daran beteiligt, einen Schweizer Na- tionalpark im „rückständigen“ Rätien zu schaffen. Siegfried Weichlein beschreibt die Rolle der Statistik bei der Herstellung von Staatsräumen, konkret die Entscheidung, Sprache zu einem Kriterium der Sta- tistik zu machen, was in Österreich ab 1846 durchgesetzt wurde. Die Debatten um die unterschiedlichen Definitionen waren besonders für die „umstrittenen Räume“, die „Ränder“ des jeweiligen Sprachgebiets, relevant. Dabei gelang es niemals, die nationalen Räume gänzlich zu schließen - das Bedürfnis der Wis- senschaften nach Eindeutigkeit war mit der Realität nicht überein zu bringen, da Mehrfachidentitäten bestehen blieben. Johannes Feichtinger interpretiert „Diskurse der Modernisierung, Zivilisierung und Kolonisierung“ als „Argumente der kollektiven Selbstermächtigung“ (S. 149). Nach der Verdrängung aus der italienischen und deutschen Politik 1859 bzw. 1866 eröffnete die Okkupation Bosnien-Herzegowinas 1878 „der Habsburger- monarchie“ eine neue „Chance, die Zivilisierungsmission in die Tat umzusetzen“ Rezensionen 213

(S. 155), durch welche Bürokratie und Intelligenz zur Intervention „ermäch- tigt“ wurden. Auch Frithof Benjamin Schenk setzt mit einer Kritik der Konzepte „Rückstän- digkeit“ und „nachholende Entwicklung“ ein, die „etwas aus der Mode gekommen sind“ (S. 185). Er argumentiert am Beispiel des russischen Eisenbahnbaus, dem Konzept der „multiple modernities“ folgend, für eine „dezidiert russische Spielart der Moderne“, sieht dabei aber durchaus den „gedankliche(n) Gleichklang von postkolonialem Diskurs im Westen auf der einen und antiwestlichem Nationalis- mus in vielen Weltregionen auf der anderen Seite“ (S. 202). An diese Problematik knüpft Susan Rößner mit ihrer Skizze des Russlandbilds deutscher Historiker um 1920 insofern an, als die Ausgrenzung Russlands aus dem Kontext Europas nach der Oktoberrevolution eben dazu führte, dass Russland zu Asien gerechnet wurde oder als „europäisch-asiatisches Mischwesen“ auftrat (S. 220). Es wurde also auf die isolierte russische Nation zurückgeworfen. Ludger Mees skizziert das Verhältnis von Zentrum und Peripherie in Spanien. Ein spannender Sammelband, der die Ergiebigkeit der Wechselbeziehung zwischen Mikro- und Makrohistorie vielfältig aufzeigt. Schade ist, dass die Au- toren – abgesehen von einer Auseinandersetzung Feichtingers mit Komlosy – so tun, als ob sie über etwas ganz Neues schrieben und z.B. die seit 1991 erschiene- nen Bände über „Innere Peripherien“ nicht rezipieren.1 Diese Bände bieten viele Beiträge aus Irland, Spanien, Mecklenburg, Polen, Perm, Tatarstan etc. und entsprechen damit zumindest der Forderung, nicht nur Wissenschaftler aus Ös- terreich, der Schweiz und einigen „zugewandten Orten“, sondern „Subalterne“ zu Wort kommen zu lassen. Auch die Arbeiten, die Ender Hárs und andere2 sowie jene, die Andrea Bonoldi und Andrea Leonardi3 herausgegeben haben, werden kaum oder gar nicht herangezogen. Die Kritik am alten Zentrum-Pe- ripherie-Ansatz ist sehr bedenkenswert, auch wenn sie nicht allein im Rahmen der Diskurskritik entschieden werden kann. Aber die Beispiele innerhalb Euro- pas sind ja weithin dieselben und die Methoden von Mikroforschungen - von

1 Vgl. als Bericht zum Forschungsstand Hans-Heinrich Nolte: Lokales und Globales. Der Vermittlungsversuch Innere Peripherien, in: Christiane Schröder u.a. (Hg.): Ge- schichte, um zu verstehen. Traditionen, Wahrnehmungsmuster, Gestaltungsperspekti- ven. Carl-Heinz Hauptmeyer zum 65. Geburtstag, Bielefeld 2013, S. 110–124. 2 Endre Hárs u.a. (Hg.): Zentren, Peripherien und kollektive Identitäten in Österreich- Ungarn, Tübingen 2006. 3 Andrea Bonoldı, Andrea Leonhardı (Hg.): Recovery and Development in the Euro- pean Perphery (1945–1960), Bologna u.a. 2007. 214 Rezensionen der Verbandsgeschichte über Reiseberichtsforschung bis zur Wissenschaftsge- schichte - sind auch bekannt. Kooperation ist also angesagt.

Hans-Heinrich Nolte, Barsinghausen

Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution (Historische Bibliothek der Gerda-Henkel- Stiftung), München: Beck, 22013, 1504 S., 36 Tabellen, 11 Karten, 1 Diagramm; € 49,95, ISBN-13: 978-3-40664-551-8 Mit seiner Geschichte Russlands legt Manfred Hildermeier zweifellos ein neues Standardwerk vor. Die vom Verlag C.H. Beck gemeinsam mit der Historischen Bibliothek der Gerda-Henkel-Stiftung herausgegebene Gesamtdarstellung der Russischen Geschichte setzt im Mittelalter ein und endet mit der Oktoberre- volution von 1917. Diesen Zeitraum gliedert der Autor in sechs Teilabschnitte. Beginnend mit der Entstehung und Geschichte der Kiever Rus’ (9. Jahrhundert.-1240) und der mongolischen Epoche (1240–1304), führt das Buch über in das das Mos- kauer Reich (1533–1689) bzw. das Zeitalter Ivans IV. Der daran anschließende Abschnitt beschäftigt sich mit den Kriegen und Reformen Peters des Großen (1700–1725), dem Europa als Modell diente, sowie mit der Epoche Katharinas der Großen (1762–1796), die das Erbe Peters nicht nur verwaltete, sondern Russ- land zu einer europäischen Macht formte. Das fünfte Hauptkapitel beleuchtet die Entwicklungen in der Zeit zwischen 1796 und 1855, die Hildermeier unter der Überschrift „Halbherzige Reformen und verpasster Anschluss – vom Sieger zum Besiegten“ zusammenfasst. Eckpfeiler bilden der Sieg Russlands gegen Napoleon unter Alexander I (1801–1825) einerseits, sowie die programmatische Autokratie bzw. die minimalen Reformen zu Zeiten Nikolajs I (1825–1855) andererseits. Der sechste und letzte Hauptabschnitt umfasst die Epoche von 1855–1917. Un- ter dem Titel „Reformen und Revolutionen“ analysiert Hildermeir die Ursachen für den Wiederaufstieg, die Verwestlichung und den schließlichen Untergang des Zarenreichs. Die Binnengliederung der Großabschnitte ist nicht genau identisch. Dennoch folgt sie im Wesentlichen aber demselben Grundmuster: a) ein oder mehrere Abschnitte zur politischen Geschichte, also Herrschaft, Politik, Verwaltung; b) Gesellschaft, soziale Struktur, Korporationen, Schichten; c) Wirtschaft, Land- wirtschaft, Manufakturen, Gewerbe, Industrie, Handel; d) materielle Kultur im Allgemeinen, gemessen v.a. an „Wohnkomfort“ und Kleidung, sowie geis- tige Kultur, unter besonderer Berücksichtigung von Bildung, Religion, Kirche, Rezensionen 215 säkularer Denkströmungen und bezeichnender Entwicklungen von Kunst und Ästhetik. Am Schluss jedes dieser Großabschnitte bzw. Teile läßt Hildermeier die je- weils behandelte Epoche nochmals Revue passieren und fasst Thesen und Er- gebnisse zusammen. Am Ende des Bandes schließlich folgen ein Resümee sowie eine Kurzzusammenfassung des Gesamtwerks. Dies ermöglicht es dem Leser, das Buch auch wie ein Nachschlagewerk zu benutzen. Den roten Faden innerhalb der gewaltigen Stofffülle bildet das Verhältnis Russlands zu Europa. Dies allerdings nicht in erster Linie im Sinne diplomati- scher und sonstiger auswärtiger Beziehungen, obwohl diese keineswegs ausge- spart werden, sondern im Hinblick auf Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede von Entwicklungen und Strukturen in den genannten Kernbereichen des histori- schen Geschehens. Hildermeier macht die Synthese zwischen der historischen Entwicklung Russlands und dem übrigen Europa zum hauptsächlichen Gegenstand seiner Untersuchung. Es gelingt ihm auf beeindruckende Weise, zu zeigen, dass Russ- land, im Verlauf seiner Geschichte bis zum Ersten Weltkrieg einerseits immer näher an Europa heranrückte, und dies nicht nur als politischer und militäri- scher Machtfaktor, sondern auch in kultureller Hinsicht. Den Grundstein zu diesen Entwicklungen hatte Peter der Große durch seine Reformen gelegt, für die er sich Westeuropa zum Vorbild nahm. Katharina II be- zeichnete in ihrer „Großen Instruktion“ ihr Reich danach bereits 1767 als euro- päische Macht. Die Kapitel bzw. Abschnitte über die Zeit Peters I (S. 410–458) und den darauf aufbauenden Reformabsolutismus Katharinas II (S. 490–695) gehören meines Erachtens zu den besten des gesamten Bandes. Hildermeier schildert und analysiert hier in aller Ausführlichkeit die durch eben diese Re- formen geschaffenen Voraussetzungen für den Sieg Russlands über Napoleon und für den Machtzuwachs bzw. Prestigegewinn, der dem Zarenreich daraus innerhalb Europas erwuchs. In der Folgezeit avancierte es nicht zuletzt mittels der von Alexander I. angeregten und entworfenen „Heiligen Allianz“, die 1815 gegründet wurde, zum „Gendarm Europas“. Die Niederlage des Zarenreichs im Krimkrieg (1853–1856) sowie die fol- genden tiefgreifenden, vom Autor im Detail beschriebenen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen – u.a Bauernbefreiung von 1861 durch Alexan- der II – bilden einen weiteren Schwerpunkt der Darstellung. Hildermeier weist zu Recht darauf hin, dass diese Reformen einen Prozess in Gang setzen, in des- sen Verlauf sich die Verhältnisse in Russland, zumindest was den europäischen 216 Rezensionen

Reichsteil betrifft, denen in Westeuropa annäherten. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass Russland am Vorabend des Ersten Weltkriegs Europa so nahe gewesen sei wie niemals zuvor in seiner Geschichte (S. 1243), was auch und gerade im Hinblick auf seine Kultur, Kunst und Architektur gelte. Angesichts des Umfangs und der Fülle des in der vorliegenden Untersu- chung präsentierten Stoffs versteht es sich von selbst, dass es wegen der gebo- tenen Kürze der Rezension nicht möglich ist, auf alle vom Autor behandelten Aspekte einzugehen. Umso wichtiger scheint es mir, abschließend nochmals auf das Besondere des Bandes hinzuweisen, nämlich die gelungene Verbindung zwischen den wichtigsten historischen, militärischen, außen- und innenpoliti- schen, ökonomischen sowie gesellschaftlichen Aspekten, mit solchen der, Ar- chitektur, Kunst und schließlich des Alltagslebens der „kleinen Leute“ (z.B. Wohnverhältnisse). Auf diese Weise entsteht ein Gesamtbild der Geschichte Russlands, wie es in anderen Werken selten zu finden ist. Vielleicht wird es in- nerhalb des Fachpublikums Leser geben, die den Umstand bemängeln werden, dass sich Hildermeiers Darstellung im Wesentlichen auf den europäischen Teil des Russlands konzentriert und den asiatischen weniger berücksichtigt. Dies ist aber vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Zentren des Riesenreichs stets im in seinem westlichen Teil lagen. Die wichtigsten Entscheidungen seiner Entwicklung wurden in Kiev, Moskau und Sankt Petersburg und eben nicht jenseits des Urals getroffen. Das unterstreicht Hildermeiers These, dass es sich bei Russland um ein europäisches Land handelt, auch wenn der Großteil seiner Landmasse sich in Asien befindet. Eindrucksvoll belegt der Autor, dass die vermeintliche Rückständigkeit des Zarenreiches gegenüber Westeuropa eher eine Ungleichzeitigkeit von Entwick- lungen gewesen ist. Hildermeier macht außerdem deutlich, dass in der „Rück- ständigkeit“ auch eine Chance für das Zarenreich lag, da es so die Möglichkeit erhielt, im Zuge der nachholenden Entwicklung nicht jede Etappe derselben chronologisch nachvollziehen zu müssen, sondern, wie etwa beim Eisenbahn- bau, auf dem neuesten Stand der Technik zu sein, indem es die neuesten Ver- fahren und die neueste Technik erhielt. „Rückständigkeit“ als Chance ist eine der Hauptthesen Hildermeiers. Abschließend noch einige Bemerkungen zur Lesbarkeit: Der gewaltige Zeit- raum von der Entstehung der Kiever Rus bis zur Oktoberrevolution von 1917 ist übersichtlich gegliedert, der Text ist verständlich geschrieben und wird durch die oben genannten Karten und Tabellen ergänzt, was das Buch auch für inte- ressierte Laien mit gewissen Vorkenntnissen sehr gut lesbar macht. Was beim Rezensionen 217

Lesen stört, hat daher nichts mit diesem vermutlich zukünftigen Standardwerk selbst zu tun, sondern damit, dass die rund 1500 Seiten, vermutlich aus Kos- tengründen, in nur einem Band vorliegen, sodass die Schriftgröße, um Seiten zu sparen, sehr klein ausfällt. Dies macht das Lesen sehr mühsam, obwohl man das Buch eigentlich gar nicht aus der Hand legen möchte. Vielleicht könnte der Verlag sich beim nächsten derartigen Projekt entschließen, den Inhalt mit Blick auf die Lesefreundlichkeit auf zwei Bände zu verteilen? Dem Werk selbst tut dies aber keinen Abbruch, es ist aus meiner Sicht jedem an der Geschichte Russlands Interessierten uneingeschränkt zu empfehlen.

Michael Bertram, Schellerten

Frank Wolff: Neue Welten in der Neuen Welt. Die transnationale Geschichte des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes, 1897–1947, Köln u.a.: Böhlau, 2014. 558 S., 41 Tabellen; € 69,90, ISBN-13: 978-3-41222-211-6 Das Buch handelt von einem meist weniger beachteten Teil der (internatio- nalen) Arbeiterbewegung, die im jüdischen Milieu des zaristischen Russland entstand, sich durch die anhaltenden Pogrome und die Revolution 1905 ra- dikalisierte und dabei Gegenpositionen sowohl zu den Bolschewiki wie zum Zionismus einnahm. Aufgrund der wiederkehrenden Pogrome wie dann auch durch die politische Repression der Bolschewiki migrierten zahlreiche Teilnehmer dieses Flügels der Arbeiterbewegung und verschob sich der Schwerpunkt der Bewegung erst von Russland nach Polen und dann weiter in die Schwerpunkte der Migration, also einerseits in die USA und hier insbesondere nach New York und andererseits nach Argentinien und hier vor allem nach Buenos Aires. Der Verfasser unternimmt es, dieses komplexe Geschehen anhand einer Fülle von autobiographischen Dokumenten auf der einen Seite und einer intensiven Archivrecherche in den entlegensten Winkeln der transnationalen Migrations- bewegung auf der anderen zu rekonstruieren. Dazu teilt er den Band in drei Teile und widmet sich im ersten Teil insbesondere den Aktionsformen des Bun- des in seiner osteuropäischen Umgebung, also sowohl in Russland als auch in Polen. Er wendet sich im zweiten Teil der Erinnerungsliteratur dieser Bewegung an diese Zeit als Teil der revolutionären Massenbewegung von den migrierten Teilnehmern in den neuen Milieus der Auswanderungsländer zu und kommt im dritten Teil auf die Versuche, als Bewegung in den Milieus von New York 218 Rezensionen bzw. Buenos Aires Fuß zu fassen, zu sprechen, inklusive einer ausführlichen Beschreibung der dann dort entfalteten politischen und kulturellen Arbeit. Im „transnationalen“ Vergleich arbeitet Wolff die Übergänge der politischen Praxis von einer durch ihr Selbstverständnis als Juden geprägten Bewegung in dem repressiven zaristischen und sowjetischen System mit wenig Spielraum für legale Aktionsformen zum Agieren in den politischen Freiräumen der USA und Argentinien heraus, wobei noch lange der eigentliche Ort der Bewegung in den Ursprungsregionen Osteuropas angesehen wird, und ein wesentlicher Teil des politischen Selbstverständnisses darin bestand, die alte Bewegung von der Fremde aus zu unterstützen, vor allem indem Literatur von dort bezogen und vertrieben wurde und ein intensives pekuniäres Fundraising betrieben wurde. Dominierte dies die Zwischenkriegszeit, so lösten sich die Bande danach im- mer mehr und begann der Ausbau der Organisation in der neuen Heimat, wobei sich der für den Bund charakteristische Aktionismus zunehmend hin zu den Versuchen einer kulturellen Stabilisierung der vom Autor zentral betonten „yidishkayt“ verschob. Am deutlichsten trat dies bei dem argentinischen Teil des Bundes in Buenos Aires hervor, wo sich dieser Trend in zahlreichen Schul- gründungen niederschlug. Es ist eine große Leistung, ein solches Panorama einer über die Kontinente hinweg agierenden Bewegung in Angriff genommen zu haben, und mehr noch als die Darstellung besticht die immer wieder durch- scheinende Akribie der diesem Buch zugrundeliegenden Quellenrecherche. Das hat jedoch auch zuweilen seine Schattenseiten. Die vielen Fundstücke und Fundstellen fügen sich nicht immer zu einer eingängigen Erzählung. Auch werden an manchen Stellen naheliegende Erzählstränge nicht aufgenommen. So fehlt eine Charakteristik der Rolle des jüdischen Milieus im zaristischen Russland oder ein Überblick über die Organisationsgeschichte. Wenn die Emigranten mit ihrer national verstandenen „yidishkayt“ versuchten, sich als gesondertes Milieu in der Fremde zu etablieren, dann hätten Vergleiche mit dem Verhalten und dem Selbstverständnis anderer Einwanderer-gruppen in die USA oder nach Argentinien auf der Hand gelegen. Doch genau diese vielfach beschriebene Milieubildung von Migranten, die so verblüffend dem Verhalten der Bund-Mitglieder ähnelt, bezieht der Verfasser leider nicht in seine Untersu- chung mit ein, es hätte aber gerade bei der ausführlich beschriebenen Drift von der aktionistischen Politik zur Kultur auf der Hand gelegen. Fast alle Einwan- derer, die in größerer Zahl in ein Land migrieren, bilden mit als Erstes Kultur- vereine, um die Zumutungen der Trennung von der Heimat zu kompensieren. Rezensionen 219

Doch insgesamt beeindruckt das von dem Verfasser zusammengetragene Quellenmaterial und auf welchen Reichtum an Informationen zurückzugreifen er in der Lage ist. Mit den Arbeitern und der internationalen Arbeiterbewegung ein eher selten gewordenes Thema der Weltgeschichte aufgegriffen zu haben, ist zusätzlich ein großes Verdienst dieser Studie.

Ralf Roth, Frankfurt/Main

Moritz von Brescius, Friederike Kaiser, Stephanie Kleidt (Hg.): Über den Himalaya. Die Expedition der Brüder Schlagintweit nach Indien und Zentralasien 1854 bis 1858 (Publikation des Deutschen Alpenvereins), Köln u.a.: Böhlau, 2015, Quart-Format, 382 S., darin Abstracts, Literaturverzeichnis, Register der Orte und der Personen, Notizen zu den 14 Autorinnen und Autoren; € 29,90, ISBN-13: 978-3-41222-493-6 Hermann, Adolph und Robert Schlagintweit haben in der Mitte des 19. Jahr- hunderts, gefördert durch Alexander von Humboldt, im Auftrag der East-India- Company das indische Tafelland, Himalaya und Karakorum erforscht. Die drei Brüder hielten danach für eine Weile den Rekord für gemessene Höhe (6.785 m). Sie veröffentlichten 1859 einen Katalog von Panoramas and Views from In- dia and High Asia und Hermann hat 1869–1880 die Forschungsergebnisse in einem mehrbändigen Werk dem deutschen Publikum vorgestellt. Die Familie hat ihren Besitz an Aquarellen, Zeichnungen und Gegenständen dem Alpinen Museum des Deutschen Alpenvereins zur Verfügung gestellt und der vorgestellte Band bietet eine Einführung zu der vom DAV organisierten Ausstellung. Der Sammelband entstand in Kooperation von Historikern, Kunsthistori- kern, Wissenschaftshistorikern, Anthropologen, Meteorologen und Glaziolo- gen, Geographen und Forschern zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die Autorinnen und Autoren führen jeweils von ihrem Fach aus zu ihrem The- ma in Kenntnisse und Ausbildung der Reisenden ein, z.B. Cornelia Lüdecke in den schulischen und universitären Hintergrund der Brüder. Zu den Karten und Zeichnungen der Ausstellung fügt der Katalog frühere Zeichnungen hinzu, z.B. vom Pasterzengletscher 1850 oder dem Gorner Gletscher 1854. Die viel- fältigen Rekurse auf die Wissenschaftskultur, aber auch die Malschulen der Zeit erleichtern das Verständnis des Materials, z.B. auf S. 153 eine Zeichnung Her- mann Schlagintweits vom Lama-Yuru-Kloster in Ladak sowie seine romanti- sierte Wiederholung, oder auf S. 155 Zeichnung und kolorierte Fotografie (der Zeichnung) einer Palme. Viele mitgebrachte Gegenstände – Gebetsmühlen, 220 Rezensionen

Masken, Manisteine, ein Klosterplan, ein Spielbrett – erweitern das Bild auch heute noch. Mit den Gipsmasken von Indern und Tibetern folgten die Brüder einer Mode der Zeit. Hermann Kreutzmann geht auf ein tödliches Abenteuer ein, das für einen der Brüder am Ende der Expedition stand. Robert Schlagintweit spielte eine Rolle im „Great Game“ zwischen Russland und Großbritannien um die Vor- herrschaft in Zentralasien, als er über die Westprovinz Chinas und Turkestan zurückreisen wollte. Im August 1857 geriet er in Kaschgar in einen antichine- sischen Aufstand und wurde enthauptet, weil er - einem 1861 erschienenen Bericht der Russischen Geographischen Gesellschaft zufolge – dem lokalen Anführer des Aufstands das Beglaubigungsschreiben nicht aushändigen wollte, das für den Khan von Kokand bestimmt war. Auch später konnte sein Schä- del aus der Pyramide aus abgeschlagenen Köpfen nicht identifiziert werden, welche der Anführer als Zeichen seiner Macht hatte errichten lassen. Der Tod Schlagintweits beförderte in Großbritannien wie Russland die Debatte um den Kulturauftrag der Christen in Asien, wie er von Rudyard Kipling und Fedor Dostojewski formuliert wurde. Das führte 30 Jahre nach seinem Tod dazu, dass die Russische Geografische Gesellschaft Schlagintweit als „gefallen … für die geografische Wissenschaft“ in Kaschgar ein Denkmal setzte – die chinesischen Be- hörden mussten es 1880 akzeptieren. „Die Ermordung eines deutschen Reisenden in britischen Diensten durch einen aufständischen Lokalpotentaten … wurde von einem russischen Konsularbeamten aufgegriffen“ (S. 107). Invention of memories für eine Politik der Denkmale … Moritz von Brescius skizziert die Rezeption der Expedition, die unmittel- bar nach dem Sepoy-Aufstand in England auf nationalistische Kritik stieß. Einerseits bezog sich z.B. das neu eingerichtete Meteorologische Zentralamt Indiens noch jahrzehntelang auf die Messungen der Brüder, andererseits gab es in Großbritannien eine Welle der Kritik, an der – zusammen mit den ho- hen Kosten - eine geplante umfangreiche englischsprachige Edition scheiter- te. Englische Wissenschaftler behaupteten, dass alles schon bekannt gewesen sei, was die Brüder aufgezeichnet hatten. So wurde aus dem Auftrag der 1857 angeschlagenen EIC eine britisch-deutsche Debatte darüber, wer die besten Wissenschaftler hatte. Von Brescius kennzeichnet fein die soziale Komponente dieses Streits – die Brüder wurden aus den akademischen Clubs der Insel aus- geschlossen, aber „(d)a sowohl soziales wie auch fachlich einwandfreies Verhalten im Ruf eines viktorianischen Gelehrten untrennbar miteinander verbunden wa- ren, bedeutete der soziale Ausschluss der Brüder von ihren britischen Kollegen den Rezensionen 221 grundsätzlichen Entzug professioneller Anerkennung“ (S. 261). Die Orden konti- nentaler Königreiche konnten diese Exklusion, von Oxbridge aus gesehen, nun wirklich nicht ausgleichen. Insgesamt öffnet der Katalog in den Werken der Brüder Schlagintweit einen vielfältigen, spannenden und manchmal auch zu Spott reizenden Zugang zu Tibet und Indien, zur Konkurrenz der Mächte, zum frühen Alpinismus und zur europäischen Gesellschaft sowie dem Wissenschaftsbetrieb in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Hans-Heinrich Nolte, Barsinghausen

Philipp Altmann: Die Indigenenbewegung in Ecuador. Diskurs und Dekolonialität, Bielefeld: transcript, 2013, 352 S.; € 49,99, ISBN-13: 978-3-83762-570-7 Im Kontext der jüngsten Beratungen in den Verfassungsgebenden Versamm- lungen in den Andenstaaten Bolivien und Ecuador lieferten die indigenen Bewegungen wichtige Impulse für die Debatten um staatliche Transformati- onsprozesse und alternative Entwicklungsmodelle. Mit seiner Schrift Die Indigenenbewegung in Ecuador. Diskurs und Dekoloni- alität legt Philipp Altmann eine aktuelle Auseinandersetzung um zentrale Be- grifflichkeiten aus diesen Debatten vor und nimmt diese zum Ausgangspunkt einer kritischen Analyse der indigenen Bewegungen. Seine zentralen Fragestellungen lauten, wie die beiden Begriffe »Plurinati- onalität« und »Interkulturalität« genau zu fassen sind, wie sich diese entwi- ckelt haben und ob sie als alternative Diskurse für eine Dekolonialisierung der Machtbeziehungen in Lateinamerika dienen können. Seine zentrale These lau- tet dabei, dass die beiden Konzepte auf eine Dekolonialisierung der gesamten Gesellschaft Ecuadors zielen, wobei sie unterschiedliche Ansatzpunkte beinhal- ten: Plurinationalität verkörpert sowohl universelle als auch partikulare Werte. Universell, da sie sämtliche Gesellschaftsgruppen über Demokratisierung und Erweiterung der Repräsentation einbinden will. Partikular, weil sie auf die in- digene Autonomie und Selbstbestimmung gegenüber einen monokulturalisti- schen und paternalistischen Staat abzielen. Interkulturalität andererseits richtet sich auf das gesellschaftliche Wissen für einen respektvollen (dekolonialen) Umgang unter verschiedenen Kulturen auf Augenhöhe. Darüber hinaus bezieht Altmann eine historische Perspektive in seine Analyse ein, indem er u.a. die Primärschriften von Protagonist_innen der verschiedenen indigenen Organisationen berücksichtigt. Dabei geht er mit 222 Rezensionen

Fingerspitzengefühl durch die Narrative bedeutender indigener Akteure und leitet die Genese zentraler Argumente her. Damit liefert er neue Forschungs- perspektiven auf die indigenen Bewegungen in Ecuador, wie etwa die Rolle der Bildungseliten und der Einfluss von transnationalen Diskursen auf die indige- nen Bewegung. Darüber hinaus und in Abgrenzung zu philosophischen Diskussionen sowie der empirischen Forschung über Struktur und Rolle der Basis dieser Bewe- gungen, hinterfragt Altmann, ob die Diskurse um Plurinationalität und In- terkulturalität Alternativen zur anhaltenden systematischen Ausgrenzung der indigenen Völker und Nationalitäten anbieten können. Er bezieht sich auf Quijanos Konzept der „Kolonialität der Macht“ und zeigt auf, wie in den Dis- kursen der indigenen Bewegungen die sozialen Ungleichheiten, die als zent- rales Element der Gesellschaftsstruktur in Lateinamerika gelten, als Produkt fortdauernder (post-)kolonialer Machtasymmetrien und Herrschaftsstrukturen wahrgenommen werden. Der Autor konstatiert, dass im Diskurs der indigenen Bewegungen anstelle des Versuchs, einen vorkolonialen Staat aufzubauen, eben der Anspruch erhoben wird, die Machtbeziehungen und die ihnen zugrun- deliegenden Strukturen zu verändern, um ein Land für alle Ecuadorianer zu denken. Vor diesem Hintergrund wäre interessant zu diskutieren, inwiefern von „De- kolonialität“ gesprochen werden kann, da diese entscheidenden Diskurse, wie von Philipp Altmann dargestellt, maßgeblich von der indigenen Eliten bzw. diesen nahestehenden urbanen Akademiker_innen und Angehörigen linker Parteien bestimmt wurden. In diesem Sinne wäre zu hinterfragen, ob sich nicht eher eine urbane und klassenspezifische Perspektive in diesen Diskursen durch- gesetzt hat und wie es dazu gekommen ist. Eine andere Frage besteht hinsichtlich des gewählten Zugangs durch die Eng- führung der Analyse mit den zwei zentralen Begrifflichkeiten. In Anbetracht dessen, dass es sich bei beiden Begriffen, sowohl Plurinationalität als auch In- terkulturalität, um relativ neue Konzepte handelt, die im Spiegel verschiedener politischer Akteure und Interessen entstanden sind, ist zu bezweifeln, ob sie den Widerspruch zwischen den Diskursen der indigenen Bewegungen und ih- rer Basis ausreichend beleuchten können. Insgesamt bietet Philipp Altmanns Werk jedoch eine fundierte Basis, um die historische Entwicklung und die Entstehung des politischen Diskurses der indigenen Bewegungen in Ecuador nachzuvollziehen. Offen bleibt die Frage, wie dieser akademische Diskurs innerhalb der Basis der indigenen Bewegungen Rezensionen 223 vermittelt wird. Wie werden diese Diskurse in der breiteren Bevölkerung wahr- genommen und diskutiert? An dieser Stelle könnte der Blick noch erweitert werden auf die Frage, wie Herrschaftsmechanismen innerhalb der Bewegun- gen, zum Beispiel in den Generationen- und Geschlechterbeziehungen, (re-) produziert und perpetuiert werden.

Daniela Célleri, Hannover

Zenonas Norkus: On Baltic Slovenia and Adriatic Lithuania. A Qualitative Comparative Analysis of Patterns in Post-Communist Transformation, Wilna: Apostrofa CEU PRESS, 2012, 375 S.; ISBN-13: 978-9-95560-568-3, Preise bei Amazon zwischen € 72,36 und 143,66 „Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache“ – hat einmal der griechische Dichter Archilochos, der im 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrech- nung lebte, gesagt. Nach der Interpretation von Isaiah Berlin versucht der Igel, Verbindungen herzustellen und sie in ein bestimmtes Denkmuster einzufügen. Der Igel betrachtet die Dinge aus dem Blickwinkel eines übergreifenden Prin- zips und misst ihre Bedeutung an diesem Prinzip, wohingegen der Fuchs sich für die Dinge um ihrer selbst willen interessiert.1 Der litauische Soziologe Zenonas Norkus will zugleich der Igel und der Fuchs sein – der Igel, weil er den Anspruch erhebt, eine umfassende Theorie der Transformationsprozesse nach 1989/1990 darzulegen, die die ost-, ostmit- tel- und südosteuropäischen Staaten ebenso wie den Kaukasus und Zentral- bzw. Ostasien umfassen soll (wobei der Schwerpunkt letztendlich eindeutig auf Europa liegt); der Fuchs, weil er einer speziellen Fragestellung folgt und beantworten will, warum Litauen dabei nicht so erfolgreich war wie Slowenien. Aber der Reihe nach. Der erste Teil des Buches besteht aus vier Kapiteln, in denen grundsätz- lich die Muster der postkommunistischen Transformation konstruiert wer- den. Ausgehend von den Ausführungen zu Kommunismuskonzepten, befasst sich Norkus mit den Methoden und Richtungen der Übergangsprozesse, diskutiert deren ökonomische und politische Ergebnisse, um schließlich den

1 Isaiah Berlın, Ramin Jahanbegloo: Den Ideen die Stimme zurückgeben. Eine intel- lektuelle Biographie in Gesprächen (Aus d. Engl. v. Robert Kaiser), Frankfurt/Main 1994, S. 229, 251; Isaiah Berlın: Der Igel und der Fuchs. Essay über Tolstojs Ge- schichtsverständnis (Aus d. Engl. v. Harry Maór), Frankfurt/Main 2009. 224 Rezensionen theoretischen Rahmen herauszuarbeiten. Dabei fallen schnell die historischen Vorbilder der Transformationsprozesse ins Auge: So wurde in den baltischen und einigen ostmitteleuropäischen Staaten die Zwischenkriegszeit als „Gol- denes Zeitalter“ betrachtet und kräftig idealisiert – nicht zuletzt, weil den jeweiligen Eliten zum ersten Mal in ihrer Geschichte die Bildung eines Natio- nalstaates gelungen war. Die Wiedererrichtung eines unabhängigen Staatswe- sens stellte somit den Höhepunkt des Ausstiegs aus dem Monopolsozialismus dar. Hier reiht sich Norkus zufolge auch Russland ein mit den Versuchen, eine Restauration des zaristischen Regimes aus der Zeit vor 1917 oder sogar 1905 zu bewirken. In Zentralasien wiederum beruhte die soziale Ordnung auf dem religiösen Gesetz des Islam. Außerdem wurde in Serbien das politische Projekt des „Großen Serbien“ verfolgt. Einen ganz anderen Weg haben hingegen Polen, Ungarn und die DDR ein- geschlagen, wo von Anfang an „mimetische“ Orientierung überwog, die darin bestand, den Transfer ökonomischer, politischer und rechtlicher Institutionen aus dem „Westen“ zu übernehmen. Bei der Einordnung und Bewertung wirt- schaftlicher und politischer Ergebnisse der Transformationen folgt Norkus ei- ner Typologie des Kapitalismus, die zwischen dem rationalen Unternehmertum (also dem sog. Weberschen/Schumpeterschen Pfad), politisch-oligarchischen und staatlich-kapitalistischen „Modell“ unterscheidet und sich historisch ent- lang der Kondratieff-Zyklen bewegt. Dabei beinhalten die Übergangsprozesse zwei sich überlappende Faktoren: das technologische Aufholen und die Integ- ration in die Weltökonomie durch Zuordnung in der internationalen Arbeits- teilung. Im Endergebnis ergeben ich Norkus zufolge drei verschiedene Typen des postkommunistischen Kapitalismus: in Ostmitteleuropa und im Baltikum eine (vom Westen) „abhängige“ Marktwirtschaft; in Russland, in der Ukraine, in den meisten postsowjetischen Staaten und auf dem Balkan die politisch- patrimoniale Form „von oben“; sowie in China bzw. Vietnam in den frühen 1990er Jahren und in Weißrussland oder Usbekistan um 2010 eine Hybride, die die sozialistisch/kapitalistisch-staatliche Ordnung mit Aktivitäten „von un- ten“ kombiniert. Dass diese Kapitalismustypen in politischer Hinsicht häufig mit demokratisch-liberalen, autoritären bzw. diktatorischen Verfassungen über- einstimmen, überrascht nicht. Der erste Teil des Buches wird mit einem Kapitel abgeschlossen, das ver- schiedene Wege und Muster der Transformationen theoretisch zusammen- zufassen versucht und das – nebenbei bemerkt – eine ziemlich anstrengende Lektüre darstellt. Dass zahlreiche Tabellen die Messbarkeit gesellschaftlicher Rezensionen 225

Entwicklungen widerspiegeln und nahezu die naturwissenschaftliche Exaktheit vorgaukeln sollen, lässt sich noch nachvollziehen. Recht mühsam sind jedoch die vielen Kürzel in den Tabellen, die nicht immer direkt erklärt werden, son- dern deren Auflösung der Leser irgendwo im Text suchen muss (z.B. Conpact- nim, Restrevolmin, Contrefgrad; vgl. Tabellen 4.1. bis 4.19.). Der Autor dieser Worte folgt hier Karl R. Poppers Diktum: Jede wissenschaftliche Position soll so einfach und klar wie möglich dargestellt werden (freilich nicht einfacher).2 Der zweite Teil erfrischt mit der Frage, warum die Transformation in Litau- en nicht so erfolgreich war wie in Estland und Slowenien. Warum also „lag“ Litauen hinter Estland? Norkus weist nicht nur auf die Implementierung der sog. Schocktherapie und die Veränderungen in der Staatsverwaltung infolge der Demokratisierung hin, sondern hebt überwiegend den „nordischen Faktor“ hervor, der historisch auf die pietistische Erneuerung innerhalb des Lutherani- schen Protestantismus seit dem 18. Jahrhundert zurückgeht. Interessant sind auch seine Ausführungen zu Slowenien, das als das einzige postkommunistische Land innovationsgetrieben ist und dem Zentrum der Weltwirtschaft zugerech- net werden könnte. So konnte Slowenien durch den Einkauf von Technolo- gielizenzen beachtliche eigene Firmenmarken wie Gorenje (Haushaltsgeräte), Krka (Pharmaindustrie), Tomos (Motorräder, Mopeds und Außenbordmotore) etablieren. Wenn man bedenkt, dass einige der oben erwähnten Branchen zu den Schlüsselsektoren der nächsten Generation gehören, erscheint Slowenien nicht nur als Produzent von Verbrauchsgütern, sondern als ein potenzieller Ent- wickler von Zukunftstechnologien. Die Unterschiede zu Litauen (aber auch den meisten anderen post-kommunistischen Ländern) liegen auf der Hand. Sie resultierten aus der ökonomischen Struktur und Stellung in der sozialistischen Entwicklungsphase ebenso wie aus politischen Entwicklungen nach 1989 und der Verwirklichung bzw. Nicht-Verwirklichung radikaler Reformen. Hätten slo- wenische „Falken“ neoliberale Reformen durchgesetzt, hätte sich das Land nicht zu einer „koordinierten“ Form der Marktwirtschaft entwickelt, sondern den Status einer der „abhängigen“ Varianten erlangt – so Norkus. Inwieweit Slowe- nien allerdings den „litauischen Weg“ bzw. – umgekehrt – Litauen den „slowe- nischen“ hätte einschlagen können, bleibt dahingestellt. Der Autor spricht hier jedenfalls eines der zentralsten Themen der Sozial- und Geschichtswissenschaft

2 Karl R. Popper: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München 1984, S. 99, 103. 226 Rezensionen an: nämlich die Frage, warum einige Länder im Weltsystem aufsteigen können, andere wiederum nicht? Am Rande ergibt sich: Für eine objektive Einschätzung des Erfolges oder Misserfolges eines Landes nach 1989 fehlt noch die zeitliche Perspektive: Ge- fragt, welche Konsequenzen er aus der Französischen Revolution von 1789 ziehe, antwortete der chinesische Kommunistenführer Mao, dass es noch ein wenig zu früh sei, um das sagen zu können. Unsere Nachkommen werden si- cherlich die Transformationsprozesse nach 1989 ganz anders bewerten als wir es heute zu tun vermögen – so wie 1989 die Wahrnehmung von 1789 veränderte.1

Dariusz Adamczyk, Hannover

John R. McNeill, Corinna Unger (Hg.): Environmental Histories of the Cold War, Washington, D.C.: Cambridge University Press, 2010, 362 S.; $ 32,99, ISBN-13: 978-0-52176-244-1 Die Zeit des Kalten Kriegs schien langsam eine Angelegenheit vor allem für Historiker zu werden, bevor pünktlich zum 25jährigen Jubiläum seines Endes im letzten Jahr die internationalen Spannungen wieder dramatisch zunahmen. Es ist deshalb nicht schlecht, sich zu erinnern, was Kalter Krieg bedeutete und wie tiefgreifend er Politik und Wirtschaft, aber auch Alltagsleben, Kultur und eben auch den Umgang mit der Natur bestimmte. In der jüngst erschiene- nen Geschichte der Welt – Die Globalisierte Welt (1945 bis heute) führen John R. McNeill und Peter Engelke in ihrem Beitrag zu „Mensch und Umwelt im Zeitalter des Anthropozän“ aus, dass die Sowjetunion von 1945 bis 1973 nicht weniger als 40 Prozent ihrer wirtschaftlichen Ressourcen allein für ihren gewal- tigen militärisch-industriellen Komplex vereinnahmte.2 Beide Mächte legten damals gewaltige Infrastrukturprojekte auf, die ganze Teile von Kontinenten veränderten wie etwa die größten Straßen- und Eisenbahnbauprogramme der Geschichte, die Umleitung gewaltiger Ströme oder das Trockenlegen von Bin- nenmeeren. In den paradiesischen Gefilden Ozeaniens oder in der weniger pa- radiesischen Polarregion Nordsibiriens und der Sahara explodierten mehrere hundert Atombomben allein zur Demonstration der Macht. Die Grundlagen

1 Timothy Garton Ash: Solidarność. Eine Sache der Vergangenheit, in: Transit 2, 1991, S. 47–69, hier S. 67. 2 John R. McNeıll, Peter Engelke: Mensch und Umwelt im Zeitalter des Anthropo- zäns, in: Akira Iriye, Jürgen Osterhammel (Hg.): Geschichte der Welt – Die globalisier- te Welt (1945 bis heute), München 2013, S. 357–534, hier S. 491f. Rezensionen 227 für die Ausführungen in diesem Abschnitt hat John R. McNeill zusammen mit Corinna Unger in dem bereits früher erschienen hier zu besprechenden Band zusammengetragen und 2010 veröffentlicht. Ihre damalige Intention bestand darin, politische Geschichtsschreibung und Umweltgeschichte zusammenzu- bringen und das sich überlappende Potential beider Forschungsfelder auszulo- ten. Das ist ihnen in beeindruckender Weise gelungen. Der Sammelband enthält 13 Beiträge, die in vier Unterabteilungen – Wis- senschaft und Planung, Geopolitik und Umwelt, Umweltbewegung und einen zusammenfassenden Ausblick – gegliedert sind. Im Einzelnen geht es um den Raubbau an Mensch und Natur in der Sowjetunion in der Zeit der Hochrüs- tung (Paul Josephson), um Klimaforschung als militärische Ressource (Mathew Farish) sowie um die Kontaminierung im Zuge der nuklearen Rüstung und zwar real wie auch als strategisches Potential (Jacob Darwin Hamblin). Es schließen sich Artikel an, die von der Möglichkeit handeln, das Wetter zu beeinflussen, um es als potentielle Waffe zu nutzen (Kristine C. Harper und Ronald E. Doel), die Großprojekte zur Sicherung der strategischen Ressource Wasser (Richard P. Tucker) vorstellen und die Umfunktionierung Ozeaniens als große Schaubühne der nuklearen Vernichtungsmöglichkeiten und ihre Folgen (Mark D. Merlin and Ricardo M. Gonzalez) beschreiben. Weitere Beiträge liefern Einblicke in die Vernichtung von naturbelassener Natur (Dschungel) oder kultivierter Na- tur (Landwirtschaft) als militärische Ressource in sogenannten konventionellen Kriegen (Greg Bankoff), in die Gründe für den bemerkenswerten Ausschluss der Chemiewaffen bei den Abrüstungsverhandlungen in den späten 1960er und 1970er Jahren (David Zierler) und in den Aufstieg der Umweltbewegung (Kai Hünemörder). Weiterhin geht es um das langsame Umdenken in Sachen Umwelt, um die „new ecology“ als „soft power“, also die Rolle von Vorden- kern wie Rachel Carson (Silent Spring) sowie globaler Institutionen wie die UN und den Einfluss der Huxley-Brüder in diesem Kontext (R. S. Deese), um den langsamen Lernprozess im Umgang mit dem nuklearen Risiko (Toshihiro Hi- guchi) und um das erwachende Umweltbewusstsein in China (Bao Maohong). Am Ende resümiert Frank Uekoetter über den internationalen Aufschwung der Achtsamkeit gegenüber Umweltfragen und verknüpft dies mit dem Ende des Kalten Kriegs, das eben Ressourcen freimachte, sich um die wichtigeren Dinge in der Welt zu kümmern, als die Machtkomplexe zweier sich über den Rest der Welt stellender Mächte. In einer Rezension des Buches wies Sandra Chaney vom Erskine College darauf hin, dass der Kalte Krieg unbeabsichtigt zahlreiche Umweltprobleme 228 Rezensionen erzeugte.3 Das hätte auch die Friedensbewegung geprägt, die in den 1970er Jah- ren in vielen Regionen der Welt mit der Umweltbewegung überlappte. Auf der anderen Seite lieferten Satellitenaufnahmen nicht nur Bilder von den Waffe- narsenalen, sondern auch von der ganzen Erde, dem blauen Planeten, ein nicht zu unterschätzendes Signal, Verantwortung zu übernehmen, wie Carl Friedrich von Weizsäcker dies im Kontext der Aufgabenstellung des Max-Planck-Insti- tuts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt einmal bemerkte. Die Beiträge sind von Kennern ihres Themas geschrieben, ordnen die je- weiligen Fragen in den globalen Kontext ein und liefern außerordentlich tiefe Einblicke in den Hintergrund und zahlreiche Seiteneinstiege in komplexe Zu- sammenhänge. Indem die Geschichte des Kalten Kriegs mit der Umweltge- schichte in Verbindung gebracht wird, gelingt es den Herausgebern wie den Autoren an vielen Stellen neue Forschungsfelder aufzudecken. Weiterhin wer- den in den Beiträgen Hinweise auf weiterführende Literatur und Archivquellen gegeben, die in dieser Konzentration selten zu finden sind. Die Lektüre ist außerordentlich spannend. Auch wenn das Buch schon vor einiger Zeit er- schienen ist, hat es nichts von seiner Aktualität für die Weltgeschichte verloren.

Ralf Roth, Frankfurt/Main

3 Rezension des vorliegenden Buches von Sandra Chaney für geschichte.transnational und H-Soz-u-Kult am 27. Mai 2011. Übergabe des Preises der ZWG

Die Übergabe des Preises der Zeitschrift für Weltgeschichte für die beste Erst- lingsmonographie des Jahres 2015 fand am 27. Januar 2016 im Center for At- lantic und Global Studies der Universität Hannover statt. Preisgekrönt wurde: Ruben Quaas: Fairtrade. Eine global-lokale Verflechtungsgeschichte am Bei- spiel des Kaffees, Böhlau Köln 2015, 432 S., Register der Sachen, Personen und Orte, ISBN 978-3-412-22513-1. Privatdozentin Ulrike Schmieder verwies zur Einführung darauf, wie gut das Buch in den Kontext des Zentrums passt, und Prof. Hans-Heinrich Nolte er- klärte kurz das Auswahlverfahren der Herausgeber der ZWG sowie die Tätig- keiten des „Vereins für Geschichte des Weltsystems“, der den Preis gestiftet hat. Professor Volker Wünderich, für das Thema bestens ausgewiesen,1 stellte den überzeugenden Forschungsansatz von Quaas heraus – er beschreibt den globa- len Zusammenhang offen und von den Akteuren her und kommt, auf Grund systematischer Arbeit in den Quellen, zu erstaunlichen Ergebnissen, zum Bei- spiel beim Einfluss der sandinistischen Revolution auf den Verkauf von Kaffee in der damaligen Bundesrepublik. Der Autor begründete die Übernahme des Konzepts des sozialen Feldes von Bourdieu für die Arbeit an seinem Thema und stellte den Gang seines Argumen- tes übersichtlich und mit vielen Reklamebildern und auch Karikaturen anschau- lich dar. Er skizzierte die Bedeutung des Wechsels von der Modernisierungs- zur Dependenztheorie für den ersten Wechsel in den Konzepten des fairen Kaffee- handels von der „Nachbarschaftshilfe in der klein gewordenen Welt“ zum Kon- zept „Handel statt Hilfe“ in den christlichen Gemeinden. Ende der 70 Jahre kamen linkspolitische Akteure in dieses soziale Feld, welche den Kaffeeverkauf als Akt der Solidarität zur Revolution in Nikaragua verstanden und als Teil des Kampfes gegen den Imperialismus der USA. Die Identitifi-kationsmuster für die Konsumenten wurden – durchaus in Auseinandersetz-ungen zwischen den Or- ganisationen – vom apathischen, hilfebedürftigen „Indio“ zum „revolutionären Kleinbauern“ verändert. Mit der Wahlniederlage der Sandinisten 1990 entfiel

1 Vgl. Christiane Berth, Dorothee Wierling, Volker Wünderich (Hg.): Kaffewelten. His- torische Perspektiven auf eine globale Ware im 20. Jahrhundert, V&R unipress Göttin- gen 2015. 230 Übergabe des Preises der ZWG die „antiimperialistische Wertzuschreibung“ unter den Konsumenten, wenig vorher hatte die Aussetzung des Kaffeeabkommens den weltweiten Verfall der Kaffeepreise bestärkt. Konnte die um die Jahrhundertwende schnell anwachsen- de Bewegung des „Fairtrade“ aber etwas für das Überleben von Kleinbauern in der 3. Welt bewirken? Der Markt wurde durch den Übergang zu Produkten mit Fairtrade-Siegeln, die auch in Supermärkten verkauft werden, vergrößert – aber kam noch etwas bei kleinen Bauern an? In der Diskussion stellte Prof. Brigitte Reinwald die gelungene Verflechtung von politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen in Vortrag und Buch heraus, durch die Quaas zur Periodisierung dieser Periode beitrage. Er- gänzend verwies sie auf die „verheerenden“ Wirkungen der von der Weltbank geförderten (und ggfs. geforderten) Strukturanpassungen auf die afrikanischen Kaffeebauern, so dass afrikanische Konsumenten schließlich den Kaffee in der Form von eingeführtem Nescafé trinken. Dr. Carsten Kaven eröffnete die Fra- gen nach den Wirkungen des Fairtrade für die Produzenten, wozu es Forschun- gen gibt, wie Quaas erklärte, die aber hier weniger im Zentrum standen als die Wirkungen auf und für die Konsumenten. Eine weitere Frage betraf die Kate-gorien – warum entschied sich Quaas für „soziales Feld“ und nicht für „soziale Bewegung“? Aber hätte er die Vielfalt der einzelnen kirchlichen oder revolutionären Bewegungen dann angemessen herausarbeiten können? Eine spannende Diskussion. Eins jedenfalls hat Fairtrade bewirkt: Kam der Kaffee in Deutschland früher aus Hamburg oder Bremen, dann jetzt aus Äthi- opien oder Nikaragua. Beiträge zu früheren Ausgaben der ZWG können über ingentaconnect on- line erworben werden: http://www.ingentaconnect.com/content/plg/zfw/ Verzeichnisse der Beiträge zu den Heften 1–11 (mit Autoren von Eisen- stadt bis Wallerstein, Elsenhans bis Frank, Galtung bis Pomeranz, Wein- berg bis Vourkoutiotis – und vielen anderen) steht beim Verlag online: www.peterlang.com/?84500

Autorinnen und Autoren der ZWG 17.2

Dariusz Adamczyk ist Privatdozent am Historischen Seminar der Leibniz Uni- versität Hannover und dem DHI Warschau Email: [email protected]

Dr. Michael Bertram ist privater Forscher in Schellerten (Hildesheim) Email: [email protected]

Christopher Chase-Dunn ist Professor und Director of the Institute for research on world-systems, University of California/Riverside Email: [email protected]

Dr. Daniela Célleri ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziolo- gie der Leibniz Universität Hannover Email: [email protected]

Carl-Hans Hauptmeyer war Professor für Regionalgeschichte am Historischen Seminar der Leibniz Universität Hannover Email: [email protected]

Evan Heimlich ist Forschungsassistent am Institute for research on world-systems, University of California/Riverside Email: [email protected]

Arnold Heitzig war als Diplom-Ökonom in der langfristigen Exportfinanzie- rung der Konzernzentrale der Commerzbank AG tätig und ist Gesellschafter der 3H Value GmbH, Düsseldorf. Email: [email protected]

Hiroko Inoue ist Research Assistant am Institute for research on world-systems, Uni- versity of California/Riverside Email: [email protected]

Andrea Komlosy ist a.o. Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialge- schichte der Universität Wien Email: [email protected]

232 Autorinnen und Autoren

Jason W. Moore ist Professor am Department of Sociology and Fernand Braudel Center, Binghamton University Email: [email protected]

Sabine Müller ist Professorin für Alte Geschichte an der Philipps-Universität Marburg Email: [email protected]

Teresa Neal ist Research Associate am Institute for research on world-systems, Uni- versity of California/Riverside Email: [email protected]

Hans-Heinrich Nolte war Universitätsprofessor für Osteuropäische Geschichte an der Leibniz Universität Hannover und arbeitet als „retired scholar“ E-mail: [email protected]

Ralf Roth ist Professor für Neuere Geschichte an der Goethe Universität Frank- furt a.M. Email: [email protected]

Dr. Igor Pavlovich Smirnov ist stellvertretender Direktor des Zentrums für Ge- sellschaftswissenschaften der Lomonosov-Universität Moskau Email: [email protected]

Dr. Michael Toussaint ist Lecturer am Department of History der University of the West Indies Email: [email protected]