Plenarprotokoll 16/92

Deutscher

Stenografischer Bericht

92. Sitzung

Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 26: (DIE LINKE) ...... 9354 A a) Erste Beratung des von den Fraktionen der Dr. Ingolf Deubel, Staatsminister CDU/CSU und der SPD eingebrachten (Rheinland-Pfalz) ...... 9355 D Entwurfs eines Unternehmensteuer- reformgesetzes 2008 (CDU/CSU) ...... 9357 A (Drucksache 16/4841) ...... 9337 B Dr. (FDP) ...... 9358 C b) Antrag der Abgeordneten Dr. Barbara Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD) . . . . . 9359 B Höll, Dr. , Werner Dreibus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: Unternehmen leistungsge- Tagesordnungspunkt 27: recht besteuern – Einnahmen der öf- fentlichen Hand stärken a) Erste Beratung des von den Abgeordneten (Drucksache 16/4857) ...... 9337 B Jerzy Montag, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland, weiteren Abgeordneten und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/ in Verbindung mit DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der Telekom- Zusatztagesordnungspunkt 5: munikationsüberwachung (... Gesetz zur Änderung der Strafprozessord- Antrag der Abgeordneten Christine Scheel, nung) Dr. , , weite- (Drucksache 16/3827) ...... 9360 C rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Unter- b) Antrag der Abgeordneten Jörg van Essen, nehmensteuerreform für Investitionen und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Arbeitsplätze Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeord- (Drucksache 16/4855) ...... 9337 B neter und der Fraktion der FDP: Reform der Telefonüberwachung zügig umsetzen Peer Steinbrück, Bundesminister BMF . . . . . 9337 D (Drucksache 16/1421) ...... 9360 D Dr. Hermann Otto Solms (FDP) ...... 9340 D Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ Roland Koch, Ministerpräsident (Hessen) . . . 9343 A DIE GRÜNEN) ...... 9361 A Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 9345 D Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 9362 A Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9347 B DIE GRÜNEN) ...... 9364 C Jörg-Otto Spiller (SPD) ...... 9349 D Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 9364 D Dr. (FDP) ...... 9351 A Jörg van Essen (FDP) ...... 9365 B Dr. h. c. (CDU/CSU) . . . . . 9352 B Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU) ...... 9366 C II Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Brigitte Zypries, Bundesministerin BMJ . . . . 9368 B Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- NISSES 90/DIE GRÜNEN: US-Raketenab- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ wehr und Europa – Gemeinsame Sicher- DIE GRÜNEN) ...... 9370 C heit und Abrüstung fördern , Bundesministerin BMJ . . . . 9371 A (Drucksache 16/4854) ...... 9393 C (DIE LINKE) ...... 9371 B (BÜNDNIS 90/ Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) ...... 9372 C DIE GRÜNEN) ...... 9393 D Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ Dr. Karl A. Lamers () (CDU/CSU) 9394 C DIE GRÜNEN) ...... 9374 A (FDP) ...... 9396 B (SPD) ...... 9375 B (Wiesloch) (SPD) ...... 9397 B Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9376 B Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) ...... 9398 C (DIE LINKE) ...... 9378 B Ralf Göbel (CDU/CSU) ...... 9378 D Tagesordnungspunkt 31: a) Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Monika Tagesordnungspunkt 28: Knoche, weiterer Abgeordneter und der Antrag der Abgeordneten Gudrun Kopp, Jens Fraktion der LINKEN: Einsatz des Kom- Ackermann, Dr. , weiterer Abge- mandos Spezialkräfte in Afghanistan ordneter und der Fraktion der FDP: Engpässe beenden beim grenzüberschreitenden Stromhandel (Drucksache 16/4674) ...... 9399 A abbauen – Wettbewerb auf dem Elektrizi- tätsmarkt intensivieren b) Antrag der Abgeordneten Monika (Drucksache 16/3346) ...... 9380 D Knoche, Dr. , Paul Schäfer (Köln), weiterer Abgeordneter und der Gudrun Kopp (FDP) ...... 9381 A Fraktion der LINKEN: Das Mandat für Franz Obermeier (CDU/CSU) ...... 9381 D die Operation Enduring Freedom been- den – Einsätze des Kommandos Spezial- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE) ...... 9383 C kräfte in Afghanistan einstellen Rolf Hempelmann (SPD) ...... 9384 A (Drucksache 16/121) ...... 9399 C Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 9399 D DIE GRÜNEN) ...... 9385 C (CDU/CSU) ...... 9400 D Heike Hänsel (DIE LINKE) ...... 9401 D Tagesordnungspunkt 29: Dr. Rainer Stinner (FDP) ...... 9403 A Antrag der Abgeordneten Oskar Lafontaine, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, weiterer Petra Heß (SPD) ...... 9404 A Abgeordneter und der Fraktion der LINKEN: (BÜNDNIS 90/ Steuerpflichtige mit mehr als 500 000 Euro DIE GRÜNEN) ...... Einkommen gleichmäßig und regelmäßig 9405 D prüfen Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) ...... 9406 C (Drucksache 16/3699) ...... 9386 B Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 9386 C Zusatztagesordnungspunkt 6: (CDU/CSU) ...... 9387 C Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion Dr. Volker Wissing (FDP) ...... 9389 C der LINKEN: Konsequenzen der Bundes- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) ...... 9390 C regierung aus den UN-Berichten des Son- derberichterstatters, Vernor Muñoz, zum Gabriele Frechen (SPD) ...... 9391 B deutschen Bildungssystem Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9392 C Cornelia Hirsch (DIE LINKE) ...... 9407 B Steffen Flath, Staatsminister (Sachsen) . . . . . 9408 C Tagesordnungspunkt 30: Sevim Dağdelen (DIE LINKE) ...... 9409 C Antrag der Abgeordneten Alexander Bonde, Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, weiterer Nächste Sitzung ...... 9411 C Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 III

Anlage 1 Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) ...... 9416 B Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 9413 A (CDU/CSU) ...... 9417 A

Anlage 2 (Spandau) (SPD) ...... 9417 D Zu Protokoll gegebene Reden zur Aktuellen Dorothee Bär (CDU/CSU) ...... 9418 C Stunde: Konsequenzen der Bundesregierung Gesine Multhaupt (SPD) ...... 9419 A aus den UN-Berichten des Sonderbericht- erstatters, Vernor Muñoz, zum deutschen Bil- (CDU/CSU) ...... 9419 D dungssystem (Zusatztagesordnungspunkt 6 ) (Nürnberg) (SPD) ...... 9420 B Andreas Storm, Parl. Staatssekretär BMBF ...... 9413 D Patrick Meinhardt (FDP) ...... 9414 C Anlage 3 Jörg Tauss (SPD) ...... 9415 C Amtliche Mitteilungen ...... 9421 B

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9337

(A) (C) Redetext

92. Sitzung

Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. : Unternehmensteuerreform für Investitionen Die Sitzung ist eröffnet. und Arbeitsplätze – Drucksache 16/4855 – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich begrüße Sie alle herzlich und wünsche Ihnen einen guten Morgen. Damit Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) wir uns der bevorstehenden Osterpause möglichst zügig Ausschuss für Wirtschaft und Technologie nähern, steigen wir ohne Verzug in die für heute vorge- sehene Tagesordnung ein. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Dazu höre Ich rufe die Tagesordnungspunkte 26 a und b sowie ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. den Zusatzpunkt 5 auf: Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu- 26 a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/ nächst dem Bundesfinanzminister, Peer Steinbrück. (B) CSU und der SPD eingebrachten Entwurfs eines (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (D) Unternehmensteuerreformgesetzes 2008 – Drucksache 16/4841 – Peer Steinbrück, Bundesminister der Finanzen: Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, meine Überweisungsvorschlag: Finanzausschuss (f) sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe bei meinen Rechtsausschuss letzten Reisen ins Ausland, insbesondere nach Brüssel, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie aber auch in andere europäische Hauptstädte und nach Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und New York und Washington, zunehmend die Erfahrung Verbraucherschutz gemacht, dass all meine Gesprächspartner überrascht Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung sind, wie gut sich die Wirtschaft in Deutschland entwi- Ausschuss für Bildung, Forschung und ckelt hat und wie deutlich die Arbeitslosigkeit abgenom- Technikfolgenabschätzung men hat. Das Interesse an dem Wirtschaftsstandort Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Deutschland hat in den letzten anderthalb Jahren deut- Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO lich erkennbar zugenommen. b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Die meisten dieser Gesprächspartner beobachten sehr Barbara Höll, Dr. Axel Troost, Werner Dreibus, genau – gelegentlich habe ich den Eindruck, sie wissen weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- besser Bescheid als diejenigen, die sich an der innenpoli- KEN tischen Debatte beteiligen –, was mit der Agenda 2010 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder und der Politik Unternehmen leistungsgerecht besteuern – Ein- der Großen Koalition in Deutschland in Gang gesetzt nahmen der öffentlichen Hand stärken worden ist, um das Wirtschaftswachstum zu fördern und – Drucksache 16/4857 – die Arbeitslosigkeit zu verringern. Überweisungsvorschlag: (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Finanzausschuss (f) der CDU/CSU) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Man muss sich vor Augen führen, dass die Wirtschaft ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Christine in Deutschland im letzten Quartal 2006 schneller ge- Scheel, Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, wachsen ist, als das in den USA der Fall war. Wer hätte weiterer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- das je für möglich gehalten? Die Aussichten für die NISSES 90/DIE GRÜNEN Jahre 2007 und 2008 sind nicht sehr viel schlechter. 9338 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Alle Gesprächspartner, vornehmlich in der Europäi- ker schlechtzureden, als es ist. Bei der derzeit guten Ent- (C) schen Union, sind sehr an der Frage interessiert, ob wicklung habe ich den Eindruck, dass es Übertreibungen Deutschland zu seiner alten Funktion als Wachstums- nach oben gibt, die jedes Maß verlieren. Ich rate dazu, lokomotive zurückfinden kann. Ich glaube, dass es dafür unter dem Eindruck guter Einnahmezahlen, guter gute Chancen gibt. Um das richtig einzuordnen: Die Po- Wachstumsperspektiven und guter Entwicklung auf dem litik ist gewiss nicht allein für diese Entwicklung verant- Arbeitsmarkt das Bild nicht wieder so zu zeichnen, als wortlich. Das behauptet übrigens niemand von der Großen ob bereits alle Probleme gelöst seien. Nein, insbesondere Koalition oder von der Bundesregierung. Die Politik – das haushaltspolitisch haben wir noch dieselben Probleme gilt insbesondere für die Reformagenda Agenda 2010 und wie vor anderthalb Jahren. die Maßnahmen der Großen Koalition der letzten andert- halb Jahre – ist aber zumindest beteiligt. Ich halte daran (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) fest, dass die Entscheidungen der Großen Koalition die Wir leben in einer sehr schnelllebigen Welt. Sie ist gute Entwicklung über die, wie ich es nenne, doppelte durch einen rasanten Wandel geprägt. Ich finde, dass die Tonlage – auf der einen Seite zu konsolidieren und auf Bundesrepublik Deutschland auf einem guten Weg ist. der anderen Seite Impulse für Wachstum und Beschäfti- Dies gilt auch mit Blick auf die Unternehmensteuerre- gung zu geben – unterstützt haben. form. Wir debattieren heute in erster Lesung über den (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Gesetzentwurf. Mit dieser Reform stärken wir die Wachstumsbasis in Deutschland. Vor allen Dingen be- Das spiegelt sich in einem erfreulichem Ergebnis wi- wirken wir eine Entwicklung, die darauf hinausläuft, der: Sie alle wissen, dass wir ungefähr 825 000 Arbeits- dass Unternehmensgewinne, die Wertschöpfung, die in lose weniger haben als vor einem Jahr. Es gibt vor allem Deutschland erzielt wird, auch in Deutschland versteuert 450 000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte mehr, werden, anstatt ins Ausland abzuwandern, und dass die was eine sehr gute Entwicklung ist. Ich freue mich für Verluste, die im Ausland gemacht werden, nicht steuer- die Menschen, die neue Arbeit gefunden haben, und für mindernd in Deutschland wirken. Das ist die Kernziel- die vielen, die nicht mehr so große Angst um ihren Ar- setzung der Unternehmensteuerreform. beitsplatz haben müssen wie noch vor anderthalb Jahren. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) der CDU/CSU) Als Finanzminister, der auch Anwalt kommender Ge- nerationen sein muss – eine ganze Reihe junger Men- Diejenigen, die die Unternehmensteuerreform kriti- schen hört uns zu –, und als Anwalt derjenigen, die den sieren – sachlich, teilweise aber auch polemisch –, müs- Kapitaldienst der hohen Staatsverschuldung nicht als sen die Frage beantworten, ob es der Bundesrepublik (B) (D) derart großen Wackerstein im Gepäck haben sollen, Deutschland auf Dauer besser ginge, ob es für Deutsch- freue ich mich über den Rückgang der gesamtstaatlichen land günstiger wäre, wenn wir die Unternehmensteuerre- Neuverschuldung. Von 2005 zu 2006 haben wir sie hal- form unterließen. Die Antwort lautet eindeutig: Wenn biert. Viele von Ihnen wissen, dass ich für dieses Jahr ein wir keine Unternehmensteuerreform machen, wird Defizitkriterium in einer Größenordnung von 1,2 Pro- Deutschland weiter an Steuerbasis – die Technokraten zent angeben kann. Das ist eine ausgesprochen erfreuli- nennen es Steuersubstrat – verlieren, und die Staatsein- che Entwicklung. nahmen zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben werden auf Dauer nicht mehr, sondern weniger. Das heißt, wir Manche wirtschafts- und finanzpolitische Debatte des hätten Nachteile aus einem Unterlassen. Die Verantwor- letzten Jahres klingt mir aber noch in den Ohren. Herr tung muss sich nicht nur bei der Frage stellen, was man Solms, es wurden Horrorgemälde über die Auswirkun- tut, was die Konsequenzen des Handelns sind, sondern gen unserer Politik, insbesondere der Mehrwertsteuer- es muss politisch auch die Frage gestellt werden: Welche erhöhung, gemalt. Die Begriffe „Unfug“, „Steuerirrsinn“ Konsequenzen hat das Unterlassen von notwendigen und ähnliche fielen in diesem Zusammenhang. Jetzt ent- Maßnahmen, die die Steuerbasis in Deutschland stärken? puppt sich vieles von dem, was damals gesagt wurde, als Horrorszenario. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Die Unternehmensteuerreform ist in meinen Augen übrigens durchaus ein Beleg für die Handlungsfähigkeit Es wäre nicht schlecht, wenn der Lerneffekt aus den und Gestaltungskraft der Großen Koalition. Ich füge mit Erfahrungen des letzten Jahres derjenige wäre, in zu- einer gewissen Befriedigung hinzu: Nicht zuletzt die er- künftigen Debatten etwas abgewogener und seriöser, mit freulich unaufgeregte Art ihres Zustandekommens ist ein einem etwas größeren Augenmaß und mit weniger Auf- Beleg dafür, dass es der Politik außerordentlich gut tun regung zu debattieren. kann, wenn sie sich Zeit nimmt, um ein so komplexes (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Werk zu erarbeiten, und diese Zeit auch bekommt. Ein so komplexes Werkstück wie diese Unternehmensteuer- Dieses Augenmaß sollte auch unter dem Eindruck ganz reform muss reifen können, ohne mit täglichen Wasser- guter Zahlen walten. Ich habe gelegentlich den Ein- standsmeldungen medial zerrieben zu werden. Ich glaube, druck, dass wir zu Übertreibungen neigen, nicht nur dass ist uns über die Wegstrecke von zwölf Monaten ge- dann, wenn es uns nicht so gut geht, sondern auch, wenn lungen. es uns besser geht. Wenn sich unsere Wirtschaft schlecht entwickelt, dann haben wir die Neigung, alles noch stär- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9339

Bundesminister Peer Steinbrück (A) Ich möchte deshalb an dieser Stelle all denjenigen Wir haben sehr darauf geachtet, dass insbesondere die (C) danken, die behilflich gewesen sind, insbesondere de- vielen kleinen und mittleren Unternehmen durch die nen, die fachlich versiert in den Landesverwaltungen Verbreiterung der Bemessungsgrundlage nicht in Mitlei- von Hessen, von Bayern, von Rheinland-Pfalz insbeson- denschaft gezogen werden. Deswegen wehre ich mich dere in den Bundesressorts tätig gewesen sind. Ich gegen die Äußerung, dass es eine Mittelstandslücke gibt. möchte auch denjenigen danken – viele von ihnen sind Übrigens hat gerade das sehr renommierte Zentrum für anwesend –, die mit mir in der politischen Arbeitsgruppe Europäische Wirtschaftsforschung in deut- zusammengearbeitet haben, namentlich Herrn Minister- lich gemacht, dass der Mittelstand einer der Gewinner präsidenten Koch, der die Seite der Union dabei geleitet dieser Reform ist. hat. Ich glaube, das war ein gutes Beispiel für das Zu- sammenwirken innerhalb dieser Großen Koalition. Das liegt zum Teil daran, dass die Tarifsenkung bei mittelständischen Unternehmen voll positiv wirkt, wäh- (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) rend sie von den Elementen der Gegenfinanzierung auf- grund von Freigrenzen und Freibeträgen, übrigens auch Wir haben absichtlich keinen Systemwechsel vorge- aufgrund niedrigerer individueller Grenzsteuersätze, im nommen. Sie wissen, dass wir am Beginn dieser Debatte Gegensatz zu den großen Unternehmen nicht betroffen über die Unternehmensteuerreform von Sachverständi- sind. Es ist auch daran zu erinnern, dass der deutsche gen aufgefordert wurden – dem Sachverständigenrat Mittelstand durch die Maßnahmen der Vorgängerregie- genauso wie der Stiftung „Marktwirtschaft“ –, eine fun- rung und die Steuerreformen bereits zu Beginn dieses damentale Veränderung, einen richtigen Paradigmen- Jahrzehnts um 13 Milliarden Euro entlastet worden ist. wechsel, des Unternehmensteuersystems in Deutsch- land zu machen. Wir haben vorsätzlich darauf verzichtet, (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hartmut weil eine solche fundamentale Veränderung eindeutig Koschyk [CDU/CSU]) mit unwägbaren Asymmetrien, mit Nebeneffekten ver- Die Steuerreformschritte des Jahres 2000 und folgende bunden gewesen wäre, die unkalkulierbar sind und zu ei- haben dazu geführt, dass die Effektivbesteuerung von nem unübersehbaren Nachjustierungsbedarf geführt hät- 80 bis 85 Prozent der kleinen und mittleren Unterneh- ten und im Übrigen auch zu Einnahmenverlusten in men in Deutschland inzwischen bei unter 20 Prozent zweistelliger Milliardenhöhe, die sich mit dem gemein- liegt. samen Ziel der Konsolidierung der öffentlichen Haus- halte nicht vertragen hätten. Mit Blick auf die jetzigen Maßnahmen möchte ich darauf hinweisen, dass insbesondere aufgrund der Ver- Die wesentlichen Maßnahmen der Unternehmensteu- besserung der Ansparabschreibung und der Thesaurie- erreform sind Ihnen so weit bekannt, dass ich aus Zeit- rungsmöglichkeiten keine Mittelstandslücke existiert. In (B) gründen nicht im Einzelnen darauf eingehe. Aber ich (D) Deutschland gibt es ungefähr 3 Millionen kleine und will die wichtigsten Punkte nennen. Wir tun etwas, was mittlere Unternehmen. 1 Million von ihnen werden in von vielen – übrigens einem breitem Spektrum – in die- der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft betrieben. Sie sem Haus vor Beginn der Unternehmensteuerreform alle profitieren von der Absenkung des Nominalsteuer- immer für richtig erachtet worden ist: Wir senken die no- satzes. Darüber hinaus gibt es 2 Millionen Personenge- minalen Steuersätze und erweitern dabei die Bemes- sellschaften in Deutschland. Von diesen 2 Millionen sungsgrundlage. Das heißt, wir schränken die Gestal- Personengesellschaften haben lediglich 70 000 Unter- tungsmöglichkeiten, die derzeit legalen Möglichkeiten nehmen – mehr nicht – ein Eigenkapital von mehr als der Steuervermeidung, in Deutschland ein. Das war 210 000 Euro und können daher nicht die Möglichkeiten eine der Zielsetzungen der Unternehmensteuerreform. der Verbesserung der Ansparabschreibung in Anspruch Die Zahlen, wie hoch der Betrag ist, der am deutschen nehmen. Fiskus „vorbeigestaltet“ werden kann, gehen auseinan- Es sind also ungefähr 2 Prozent der Personengesell- der. Das DIW hat kürzlich eine Zahl von 100 Milliarden schaften, die von diesen Vergünstigungen nicht profitie- Euro genannt. Ein eher der Wirtschaft nahestehendes In- ren. Ich möchte deutlich darauf hinweisen, dass der weit stitut redet von 30 Milliarden Euro. Egal wie hoch dieser überwiegende Teil der Mittelständler durch die Thesau- Betrag genau ist, er ist auf jeden Fall zu hoch. Diese Ver- rierungsbegünstigung für ertragsstarke größere Perso- schiebebahnhöfe müssen unterbunden werden. nengesellschaften und durch die Möglichkeiten der (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Ansparabschreibung im Rahmen der Unternehmensteu- erreform begünstigt wird. Insgesamt kann man feststel- Wenn wir nur einen Teil dieser legalen grenzüber- len, dass der deutsche Mittelstand, was die Besteuerung schreitenden Verlagerung eindämmen können, dann si- betrifft, im europäischen Vergleich im besten Drittel an- chern wir die Steuerbasis in Deutschland, und das langfris- gekommen ist. tig. Ich möchte nicht, dass die Unternehmensführungen vor allem in ihre Steuerabteilungen investieren, um Um einen weiteren Punkt aufzugreifen: Gelegentlich herauszufinden, welche die besten legalen Steuervermei- höre ich, dass darauf hingewiesen wird, wie schädlich dungsstrategien sind, sondern ich möchte, dass die Unter- die Gewerbesteuer sei. Insbesondere aus den Reihen nehmen in Arbeitsplätze und in Realkapital in Deutsch- der FDP wurde ein Plädoyer dafür gehalten, die Gewer- land investieren. besteuer abzuschaffen. In der Wahrnehmung der politi- schen Arbeitsgruppe war dieser Vorschlag immer ein (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Irrweg. Da ungefähr 60 Prozent der öffentlichen Investi- 9340 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Bundesminister Peer Steinbrück (A) tionen von den Kommunen getätigt werden und diese In- form Bürokratiekosten verbinden. Ich möchte darum (C) vestitionen vornehmlich dem deutschen Mittelstand zu- bitten, die Proportionen nicht aus den Augen zu verlie- gute kommen, muss man die Einnahmebasis und die ren: Richtig ist, dass dieser Gesetzentwurf mit Nach- Investitionsfähigkeiten der Kommunen stärken. Das tun weispflichten und Meldevorschriften zusätzlichen Auf- wir mit der Unternehmensteuerreform. wand für die Unternehmen nach sich zieht, somit Bürokratiekosten entstehen. Aber dies ist im Interesse (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) des deutschen Fiskus notwendig, sonst verlieren wir Ein- Das bedeutet in meinen Augen nicht, dass die Kommu- nahmen. nen irgendeinen Zuschlag bzw. einen Hebesatz aus den Einnahmen der Einkommensteuer oder einen größeren Entgegengehalten wird auch, dass der Normen- Anteil an den Einnahmen aus der Mehrwertsteuer be- kontrollrat mit Blick auf die Anlageverzeichnisse für ge- kommen müssen, sondern es bedeutet, dass sie eine ringwertige Wirtschaftsgüter, für Wirtschaftsgüter bis eigene wirtschaftskraftbezogene Steuereinnahme mit ei- 1 000 Euro, mit Bürokratiekosten von 180 Millionen genem Hebesatzrecht brauchen. Dies ist im Zusammen- Euro rechnet. Aber ich bitte, auch hier im Blick zu be- hang mit der Unternehmensteuerreform gelungen. halten, dass sich diese 180 Millionen Euro, die dafür aufgewandt werden müssen, auf 5 Millionen Unterneh- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der men erstrecken. Das heißt, pro Unternehmen und Jahr CDU/CSU) sind es 36 Euro Mehraufwand, 3 Euro pro Monat. Das sind die Proportionen, die wir im Blick behalten müssen. Eigentlich geht es um noch mehr: Wir halten nicht nur Das heißt, diese bombastische Zahl – nach dem Motto: die gute Perspektive im Hinblick auf die Einnahmesitua- Was inszenieren die da wieder für eine Bürokratie? – tion der Kommunen offen, sondern wir verstetigen auch rückt sich doch zurecht, wenn man bereit ist, zu beden- ihre Einnahmen in erkennbarem Umfang, zum Beispiel ken, dass diese Summe auf die in Rede stehende Anzahl durch Verbesserungen der Bemessungsgrundlage. Ich der deutschen Unternehmen umzulegen ist. weiß, dass es Kritik daran gegeben hat, nach dem Motto: Ihr führt mehr ertragsunabhängige Elemente in die Be- Mit dieser Unternehmensteuerreform setzt die Große messungsgrundlage ein, was dazu führt, dass die Unter- Koalition ihre erfolgreiche Arbeit am Wirtschafts- und nehmen nicht mit der Konjunktur atmen können. – Ich Sozialmodell der Bundesrepublik Deutschland fort. Die möchte darauf hinweisen, dass der Anteil der ertragsun- Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass der Mut zu abhängigen Elemente an der Besteuerung in Deutsch- grundsätzlichen Reformen, zu Strukturreformen, am land einer der niedrigsten in ganz Europa ist. Wo also ist Ende mit mehr Wachstum und mit weniger Arbeitslosig- in diesem Zusammenhang das Problem? Es wird in mei- keit belohnt wird. Dies sage ich auch für diese Unterneh- nen Augen jedenfalls deutlich übertrieben. (B) mensteuerreform voraus. Man braucht einen langen (D) Es ist richtig, dass sich mit dieser Unternehmensteu- Atem dafür. Helfen wird eine gute Lunge; das Rauchver- erreform Mindereinnahmen verbinden. Aber noch ein- bot ist in diesem Zusammenhang vielleicht ganz hilf- mal: Nichtstun würde dauerhaft zu größeren Minderein- reich. nahmen führen. Man muss sehen, dass man diese (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Mindereinnahmen bei einer vollen Jahreswirksamkeit BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wider- auf 5 Milliarden Euro begrenzen kann. Das heißt, zu spruch des Abg. Dr. Peter Struck [SPD] und dem Zeitpunkt, wo alle entlastenden und alle belasten- weiterer Abgeordneter) den Elemente in einem Jahr wirken, haben wir die häufig genannten 5 Milliarden Euro. Richtig ist, dass wir im – Der Fraktionsvorsitzende der SPD ist dort anderer ersten Kassenjahr mit Mindereinnahmen von 6,5 Milliar- Auffassung. – Ich will darauf hinaus: Diese Steuerre- den Euro zu rechnen haben. Aber entscheidend ist, wie form ist kein Geschenk an irgendjemanden, sondern be- sich die öffentlichen Haushalte in den nächsten Jahren deutet eine Investition in den Standort Deutschland, in tatsächlich entwickeln, unter Berücksichtigung, dass wir die Finanzierung öffentlicher Aufgaben. Ich wäre dank- Steuersubstrat zurückgewinnen, und unter Berücksichti- bar, wenn das so bewertet werden könnte. gung der wirtschaftlichen Entwicklung. Alle Indikatoren weisen darauf hin, dass wir bei der Gewerbesteuer nach Vielen Dank. zwei Jahren und bei der Körperschaftsteuer nach drei (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Jahren auf demselben Einnahmeniveau sind wie 2007. Ich will an dieser Stelle dem Verdacht begegnen, wir Präsident Dr. Norbert Lammert: hätten dort Selbstfinanzierungseffekte eingerechnet. Wir Für die FDP-Fraktion erhält nun das Wort der Kollege haben definitiv keine Selbstfinanzierungseffekte in diese Dr. Hermann Otto Solms. Berechnungen einfließen lassen, sondern wir gehen von den Wachstumsmöglichkeiten, von den Wachstumsper- (Beifall bei der FDP) spektiven aus und, in einem sehr bescheidenen Ausmaß, davon, dass wir über solche Verbesserungen die Steuer- Dr. Hermann Otto Solms (FDP): basis, die in Deutschland verloren zu gehen droht, erhal- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich ten können. habe den Aufruf des Bundesfinanzministers zu Augen- Ein weiterer Vorwurf lautet – um zum Schluss zu maß als einen Aufruf in seine eigenen Reihen verstan- kommen –, dass sich mit dieser Unternehmensteuerre- den. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9341

Dr. Hermann Otto Solms (A) ( [SPD]: Das haben Sie falsch ver- ersenkung bei der Wirtschaft an, oder fangen Sie die (C) standen!) positiven Effekte durch Ihre Gegenfinanzierungsmaß- nahme nicht gerade wieder ein? Sie gaukeln der Wirt- Denn die Oppositionstätigkeit innerhalb der Koalitions- schaft vor, sie würde entlastet, sagen aber nicht öffent- fraktionen und zwischen den Koalitionsfraktionen ist lich, dass die Wirtschaft die Entlastung selbst bezahlen sehr viel reger als das, was die Opposition gegenwärtig muss. Noch viel schlimmer ist aber, dass Sie die Wirt- leisten kann. schaft mit Ihren Maßnahmen nicht gleichmäßig treffen. ( [SPD]: Ist das jetzt Selbstkritik? – Es mag richtig sein, dass der Vorwurf einer Mittel- [CDU/CSU]: Nur keinen standslücke nicht genau trifft; allerdings stimmt es, dass Neid!) Sie die gewinnschwachen, kapitalschwachen und for- Wir können uns ja kaum noch Gehör verschaffen, weil schungsintensiven Unternehmen zusätzlich belasten, Sie die Oppositionsrolle mit übernommen haben. während Sie die ertragsstarken, international tätigen Un- ternehmen entlasten. Sie erzeugen genau die falsche (Beifall bei der FDP – Reinhard Schultz Lenkungswirkung. [Everswinkel] [SPD]: Alles muss man selber machen!) (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Das Zweite, was ich dazu sagen wollte: Sie haben Joachim Poß [SPD]: Das hängt davon ab, wo- eine sehr wortreiche Verteidigungsrede für dieses Mo- für gestaltet wird!) dell der Unternehmensteuerreform vorgetragen. Aus vie- len Worten wird aber noch kein schönes Gedicht, Herr Das ist eine Steuerreform für Siegerunternehmen. Finanzminister; denn die Frage lautet: Welchen Maßstä- (Joachim Poß [SPD]: Das ist so nicht richtig!) ben muss eine solche Unternehmensteuerreform gerecht werden? Sie muss doch offenkundig dem Maßstab ge- Sie müssten dagegen die forschungsintensiven, die recht werden, die internationale Wettbewerbsfähigkeit neuen und die noch kapitalschwachen Unternehmen hinsichtlich des Forschungsstandorts Deutschland, des stärken, damit sie im internationalen Wettbewerb überle- Investitionsstandorts Deutschland – und damit des Ar- ben können und neue wirtschaftliche Tätigkeit entstehen beitsplatzmarkts Deutschland – und schließlich auch des kann. Das ist offenkundig nicht in Ordnung. Finanzplatzes Deutschland im Bereich der Steuern zu- rückzugewinnen. Hier sind wir international enorm zu- Darüber hinaus ist die Reform verfassungsrechtlich rückgefallen. Daran gibt es keine Zweifel. äußerst bedenklich, weil Sie die Grundprinzipien der Be- steuerung über Bord geworfen haben. Ich erinnere die (B) Eine Unternehmensteuerreform ist aus Sicht der FDP Kollegen von der CDU/CSU und besonders den Kolle- (D) überfällig. Sie muss mit Entlastungen der Unterneh- gen Wolfgang Schäuble an die Steuerreformkommission men verbunden sein. Wenn ich mir die Diskussion inner- des Jahres 1996 unter dem Vorsitz von Theo Waigel. In halb der Reihen der SPD gegenwärtig anhöre und das der ersten Sitzung ist die Frage gestellt worden, ob wir betrachte, was die Fraktion der Linken vorträgt, dann an den Grundprinzipien der Besteuerung nach der Leis- kann ich mich nur wundern. Der Volkskongress Chinas, tungsfähigkeit und dem objektiven Nettoprinzip festhal- einer der letzen kommunistischen Staaten dieser Welt ten wollen. Niemand hat sich dagegen ausgesprochen. – und zwar kein kleiner –, hat vor 14 Tagen beschlossen, Alle waren selbstverständlich dafür. Diese Prinzipien dass alle Unternehmen jedweder Rechtsform nur noch sind ja verfassungsrechtlich fundiert. – Heute spielt das mit 25 Prozent besteuert werden sollen. keine Rolle mehr. (Oskar Lafontaine [DIE LINKE]: Hier zahlen Umso mehr habe ich mich darüber gewundert, dass sie weniger als die Hälfte!) Ministerpräsident Koch aus Hessen zusammen mit Herrn Steinbrück durch das bekannte Koch/Steinbrück’sche Das hat man in Deutschland noch nicht verstanden. Das Papier damit begonnen hat, die Grundprinzipien der Be- ist der Maßstab, der gesetzt wird. steuerung sozusagen zur Beliebigkeit zu erklären. (Beifall bei der FDP) ( [Heidelberg] [SPD]: Das ist Die Frage ist, wie wir dagegen bestehen wollen. Sie doch Quatsch!) diskutieren darüber, ob 30 Prozent niedrig genug sind. Ganz egal, ob Sie das gut oder schlecht finden: Diesen Gegenwärtig wird ein Gutachten beim Bundesfinanz- Maßstäben können Sie sich in einem globalisierten Wett- hof eingereicht – alle Fraktionen dieses Hauses sind da- bewerb nicht entziehen. Die Reform, die Sie uns vor- rüber informiert und tragen dies mit –, in dem der Ver- schlagen, ist bedauerlicherweise völlig unzusammen- fassungsrechtler Professor Waldhoff noch einmal darauf hängend und ein Bündel von Einzelmaßnahmen, die sich hinweist, dass diese Prinzipien Verfassungsrang haben. teilweise widersprechen. Sie ist unsystematisch, unge- Ich will nur zwei Sätze zitieren: recht und verfassungsrechtlich äußerst bedenklich. Da- Die ständige Rechtsprechung des Bundesverfas- rauf will ich eingehen. sungsgerichts leitet aus dem allgemeinen Gleich- (Beifall bei der FDP) heitssatz ein grundsätzliches Gebot der Steuerge- rechtigkeit her, das sich als Gebot der Besteuerung Zunächst einmal begrüßen wir die Senkung der nomi- nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit er- nalen Steuersätze. Kommt denn aber wirklich eine Steu- weist. 9342 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Dr. Hermann Otto Solms (A) Und an anderer Stelle: (Beifall bei der FDP) (C) In § 2 Abs. 2 EStG hat das objektive Nettoprinzip Oder wie es Manfred Schäfers von der „Frankfurter insofern seine Verwirklichung gefunden, als dass Allgemeine Zeitung“ schon im Sommer letzten Jahres Einkünfte nur Reineinkünfte sind, das heißt der Ge- geschrieben hat: winn bzw. der Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten. Durchbrechungen dieses Prinzips Wenn Unternehmen mit ihren Gewinnen nicht zu- bedürfen der verfassungsrechtlichen Rechtspre- rückkommen, sperrt man wenigstens die ein, die chung. noch da sind. Das sind sozialistische Rezepte. Das kann nicht funktionieren. Wenn Sie die Gewinne in Jetzt möchte ich gerne von Herrn Koch hören, wie er Deutschland einsperren wollen, dann werden die Unter- verfassungsrechtlich begründet – er ist ja ein anerkannter nehmen ihren Sitz nach und nach ins Ausland verlegen. Jurist –, Genau das Gegenteil ist aber die Politik, die wir für ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deutschland brauchen. Na ja!) Herr Steinbrück, die Österreicher haben es uns doch dass das objektive Nettoprinzip nun offenkundig keine vorgemacht: Sie haben eine exzellente Unternehmen- Rolle mehr spielt, weil Verluste und Kostenbestandteile steuerreform gemacht, die, im Gegensatz zu dem, was in die steuerliche Bemessungsgrundlage aufgenommen Sie hier bieten, auch europarechtsfähig ist. worden sind. Das ist in unseren Augen überhaupt nicht (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- akzeptabel. NEN]: Das war aber auch eine Lohnsummen- (Beifall bei der FDP) steuer!) Das ist im Übrigen wirtschaftlich auch gar nicht not- Und was haben die Österreicher erreicht? Sie haben ei- wendig. Verfassungsgrundsätze können sich nicht an der nen riesigen wirtschaftlichen Erfolg, dort liegt die Ar- politischen Tagesnotwendigkeit orientieren, sondern sie beitslosenquote nur halb so hoch wie in Deutschland, es müssen gelten. Es ist aber auch deshalb nicht notwendig, gibt Wachstum und Auslandsinvestitionen – verhältnis- weil es nicht stimmt, was Sie hinsichtlich der Gewinn- mäßig betrachtet, Österreich ist ja ein relativ kleines verschiebungen ins Ausland behaupten. Es wurde ja ge- Land – in einem Ausmaß, wie wir es uns nur erträumen rade nachgewiesen, dass die international tätige Wirt- können. schaft etwa 75 Prozent ihrer Gewinne im Ausland Schließlich ein Wort zur Gewerbesteuer. Natürlich (B) erzielt, trotzdem aber über 50 Prozent der Steuern in ist die Gewerbesteuer ein Fremdkörper. Reden Sie doch (D) Deutschland abliefert. Das heißt, der deutsche Fiskus hat nicht drum herum! Es geht doch nicht darum, den Ge- einen überproportionalen Anteil an der Gewinnbesteue- meinden die Finanzierungsgrundlage zu entziehen. Es rung der deutschen international tätigen Unternehmen. geht darum, ein modernes, wettbewerbsfähiges, flexibles Es gibt also überhaupt keinen Anlass, diese Gewinnver- Unternehmensteuerrecht zu schaffen. Dabei hat die Ge- schiebungen zu unterstellen. Deswegen bin ich der Mei- werbesteuer nichts verloren. nung, dass in diesem Bereich eine Korrektur notwendig ist. (Beifall bei der FDP) Ich sage Ihnen schon jetzt: Wenn Sie diese verfas- Über die Abschaffung der degressiven AfA will ich sungsrechtlich bedenklichen Vorschriften im Gesetzge- gar nicht erst reden. Sie haben die degressive AfA für bungsverfahren nicht korrigieren, dann werden Sie zwei Jahre angehoben und glauben, das wäre es gewe- zwangsläufig – auf wessen Initiative hin auch immer – sen, sie könnten die AfA jetzt abschaffen, die Wirtschaft vor den Schranken des Bundesverfassungsgerichtes lan- boomt und das geht so weiter. Ich sage: Nein, beim den. nächsten Konjunktureinbruch wird sich das rächen. Sie werden sehen, dass die degressive AfA auch in Zukunft (Beifall bei Abgeordneten der FDP) notwendig sein wird. Die Länder um uns herum machen es doch genauso. Wir sind doch nicht auf einer einsamen Aber was erreichen Sie damit eigentlich politisch? Sie Insel. versuchen, um Deutschland herum eine Steuermauer hochzuziehen, und zwar aus Angst, die Steuerpflichtigen Zusammenfassend möchte ich sagen, Herr Steinbrück: würden Deutschland verlassen. Was erreichen Sie denn Wir brauchen eine Steuerreform. Die FDP hat ihre Vor- damit, wenn Sie eine Mauer bauen? Die DDR hat es Ih- schläge in Gesetzestextform vorgelegt. Wir sind bereit, nen doch vorgemacht! darüber zu reden. Eine Senkung der Unternehmensteuer- belastung ist zwingend notwendig. Aber sie muss sich an (Widerspruch bei der CDU/CSU und der SPD – den internationalen Maßstäben orientieren. Sie muss zu- Hartmut Koschyk [CDU/CSU]: Nicht alles, dem auf der Basis der Prinzipien unserer Verfassung ge- was hinkt, ist ein guter Vergleich!) staltet werden. Eine Alternative dazu kann es nicht ge- Kein Ausländer wird mehr hierher kommen, um hier zu ben. investieren, und alle Inländer, die schnell und clever Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. sind, werden das Land verlassen. Das ist die Konse- quenz, wenn Sie eine solche Steuermauer aufbauen. (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9343

(A) Präsident Dr. Norbert Lammert: Dadurch haben wir zunehmend an internationaler und (C) Ich erteile das Wort dem hessischen Ministerpräsiden- europäischer Wettbewerbsfähigkeit verloren. ten Roland Koch. Das Unternehmensteuerrecht, das nun geschaffen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wird, ermöglicht uns zwei Dinge getrennt zu sehen: die neten der SPD) individuelle Besteuerung persönlichen Einkommens und die Belastung der Unternehmenserträge im internationa- len Vergleich. Dies ist die einzige Chance, mittelfristig Roland Koch, Ministerpräsident (Hessen): mit Nachbarländern wie den Niederlanden und Öster- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und reich sowie den großen Wettbewerbern in der Welt zu Herren! Die Unternehmensteuerreform ist ein wichtiger konkurrieren. Deshalb ist diese Unternehmensteuerre- Baustein zur Verbesserung der wirtschaftlichen Chancen form ein entscheidender Schritt zur Verbesserung der in der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist aber nicht der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. einzige Baustein. Sicherlich muss sie im Zusammenhang mit den Fragen betreffend den Forschungs- und Ent- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- wicklungsstandort Deutschland, wie es in den letzten neten der SPD) Monaten mehr und mehr – auch als eine Konsequenz aus Die Entscheidung der beiden Koalitionsfraktionen dem 25-Milliarden-Euro-Programm, das die Große und derjenigen, die den Gesetzentwurf begleitet haben, Koalition national aufgelegt hat und das die Länder er- Zinserträge zu unternehmerischen Erträgen und nicht gänzen müssen – deutlich wurde, und manch anderer mehr zu privaten Erträgen zu rechnen, das heißt, sie in Maßnahme gesehen werden. Wenn ich lobend über die die Pauschalierung durch eine Abgeltungsteuer einzube- Unternehmensteuerreform als eine Chance spreche, ziehen, ist für ein Land wie die Bundesrepublik Deutsch- dann will ich nicht verhehlen, dass aus meiner Sicht die land, das nicht nur viel Kapital braucht, sondern das offene Flanke bleibt, dass man ohne die notwendige auch eine außerordentlich große Kompetenz darin hat, Flexibilisierung des Arbeitsrechts die Attraktivität des Kapital zu verwalten, ein wichtiger Schritt, die Wettbe- Wirtschaftsstandorts Deutschland nicht alleine durch werbsfähigkeit Deutschlands im internationalen Konzert eine Unternehmensteuerreform sichern kann. Es bleibt zu erhalten. also auch in Zukunft noch etwas zu tun. (Beifall bei der CDU/CSU) (Beifall bei der CDU/CSU) Ich, der ich das Bundesland Hessen vertrete und aus Das darf und soll aber nicht mindern, was wir hier ge- Frankfurt komme, das mit London im Wettbewerb steht, meinsam erreichen können. kann nur sagen: Wir haben aufgrund bestimmter Fehler (B) (D) Der Gesetzentwurf, den Herr Kollege Steinbrück für im Investmentbanking nicht mehr ganz die Nase vorne, die Bundesregierung eingebracht hat, ist das Ergebnis ei- wohl aber im Asset Management. Um das Asset Ma- ner engen Zusammenarbeit zwischen der Bundesregie- nagement auf Dauer in Deutschland zu halten, ist es au- rung, den Koalitionsfraktionen und einem großen Teil ßerordentlich wichtig, ein einfaches und überschaubares der Bundesländer. Wir sind für diese Zusammenarbeit, Steuerrecht – auch bei der Besteuerung von Zinserträgen die zu einem frühen Zeitpunkt begann und in die der und Unternehmenserträgen – zu haben. Ich erlaube mir, Sachverstand der Landesfinanzverwaltungen einbezogen an dieser Stelle zu sagen: Auch wegen des Verhetzungs- wurde, außerordentlich dankbar. Es war in der Tat wich- potenzials, das bei solchen Reformen bestehen kann, ist tig, dass ein solches Thema nicht von Anfang an in die das eine Aufgabe, die eine große Koalition erledigen Mühlsteine ideologischer Auseinandersetzungen geraten muss. Ich bin froh darüber, dass sich die beiden Koali- ist. Wir sehen jeden Tag, dass diese Gefahr besteht. Ich tionsfraktionen im Deutschen Bundestag entschlossen bin Herrn Kollegen Steinbrück dankbar, dass wir auf haben, diese Aufgabe zu leisten. Sie wird weit über die beiden Verhandlungsseiten ein Klima geschaffen haben, Jahre einer solchen Regierung hinaus Bedeutung für die das es uns ermöglicht, weitergehende Schritte zu ma- deutsche Wirtschaft haben. chen, als es viele in den Reihen der Großen Koalition für (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) möglich gehalten haben. Wir befinden uns doch in einer Situation, in der wirk- Herr Kollege Solms, es stimmt, dass diese Unterneh- lich niemand auf den Gedanken kommen kann, man mensteuerreform zu einer veränderten Unternehmensbe- könnte in dieser Frage eine Mauer ziehen. Das hat Kon- steuerung führt. Aber wir müssen zum Beispiel von Ös- sequenzen: Man muss sicherstellen, dass Menschen, die terreich lernen. Eines der wesentlichen Hindernisse im überall auf der Welt unternehmerische Entscheidungen deutschen Steuerrecht, die wir in der Vergangenheit als treffen, die Frage, ob sie denn hier in der Bundesrepublik Problem mit uns herumgeschleppt haben, war, dass alle Deutschland unternehmerisch aktiv sein wollen, positiv steuerlichen Systeme so eng miteinander vernetzt waren, beantworten können. Wenn ich einem Unternehmer dass die mit der Funktion des sozialen Ausgleichs be- sage, dass der Spitzensteuersatz zwar grob 25 Prozent legte individuelle Einkommensteuer unmittelbare Kon- mehr – 40 statt 30 Prozent – als in jedem anderen Land sequenzen für die Unternehmensbesteuerung im Ganzen in Europa und in der Welt beträgt, in dem sie ihre unter- hatte. Das bedeutet nüchtern gesehen, dass man, wenn nehmerischen Entscheidungen treffen könnten, und dann man die Funktion des sozialen Ausgleichs der individu- hinzufügen muss: „Nimm das aber nicht so tragisch; ellen Einkommensbesteuerung nicht aufgeben will, die denn wenn man alle Verrechnungs-, Ausgleichs- und Unternehmensbesteuerung in ein enges Korsett zwängt. Abschreibungsmöglichkeiten berücksichtigt, dann sieht 9344 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Ministerpräsident Roland Koch (Hessen) (A) man, dass die Realbesteuerung viel niedriger ist“, dann durchschnittliche Steuersatz dem Weltsteuersatz ent- (C) muss dieser Unternehmer über die Frage entscheiden: spricht, dann kann ich erwarten, dass die Allokationen Nehme ich ein Land mit einem einfachen Steuergesetz wieder da stattfinden, wo die wirtschaftlichen Erträge und einem niedrigen Steuersatz, oder nehme ich ein sind. Ein Unternehmen, das 60 Prozent des Umsatzes in Land mit einem hohen Steuersatz und beschäftige einen Deutschland macht und 40 Prozent der Produktion in guten Steuerberater? Warum soll er die zweite Alterna- Deutschland hat, kann nicht 98 Prozent der Zinskosten tive wählen? Wir geben ihm in Zukunft die Möglichkeit, in Deutschland haben. Das geht nicht. die erste zu wählen, meine Damen und Herren. Das ist (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) ein wichtiger Teil internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Das ist kein ganz theoretischer Fall. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Es ist eine notwendige Balance, auf der einen Seite Es sei auch klar gesagt: Natürlich verursacht eine sol- internationale Steuersätze zu haben und auf der anderen che Steuerreform am ersten Tag einen Ausfall, schon Seite diesen Schritt in einer solchen Weise zu ermögli- deshalb, weil die niedrigeren Sätze am ersten Tag gelten, chen. Wir werden eine solche Steuerreform immer zwi- die Gegenfinanzierungsmechanismen aber erst lang- schen den unterschiedlichen Triebkräften der Wirtschaft sam wirken, und auch deshalb, weil ein Unternehmen balancieren müssen. Hier geht es auch um einen Wettbe- sich überhaupt erst entscheiden muss, hierherzukommen werb von internationalen Konzernen. Ich glaube, das – das dauert – und sich anzusiedeln – das dauert –, und sollte man auch nicht bestreiten; denn wenn wir die in- für das erste Jahr Steuern zahlen muss – das dauert noch ternationalen Konzerne nicht mehr in Deutschland ha- einmal –, bis wir tatsächlich Wirkungen feststellen. Es ben, dann werden Millionen von Arbeitsplätzen in mit- ist aber ein entscheidender Schritt, dass man in einem in- telständischen Unternehmen, die eng mit diesen ternationalen Standortwettbewerb sagen kann: Wir kom- Konzernen vernetzt sind, nicht mehr da sein. Ich kann men jetzt auf einen Steuersatz, der dem durchschnitt- ein großes internationales Unternehmen, etwa einen Au- lichen Steuersatz internationaler Konzerne – wo immer tomobilkonzern, nicht unter dem Motto betrachten: Da auf der Welt sie angesiedelt sind – entspricht; es gibt kei- sind die Superreichen, die entlaste ich steuerlich. Wenn nen Grund mehr, einen Bogen um Deutschland zu ma- sich dieses Unternehmen aus steuerlichen Gründen dazu chen. Das ist eine wichtige Botschaft, die wir mit dieser entscheidet, nicht mehr hier tätig zu sein, dann hat dies Unternehmenssteuerreform senden. Auswirkungen auf eine riesige Zahl von mittelständi- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) schen Unternehmen. Gehen Sie durch das Land: Das ist in der Automobilindustrie so, das ist in der Dienstleis- Es gibt aber auch die andere Seite. Herr Kollege tungsindustrie so. Es ist nicht richtig, zwischen den Solms, hier bin ich wirklich anderer Meinung als Sie. (B) Großunternehmen und dem Mittelstand zu unterschei- (D) Wir haben bei dieser Steuerreform mit den Länder- den. Wir brauchen in der Steuerpolitik eine Kombina- finanzverwaltungen etwas gemacht, was nicht selbstver- tion, die beide berücksichtigt. Wir müssen schauen, mit ständlich ist: Wir haben sehr viele Steuerakten gezogen, welchen Maßnahmen wir den Mittelstand in den letzten sehr viele Realvergleiche gemacht, über den letzten Jahren entlastet haben, und wir dürfen ihn nicht erneut Sommer sehr viele Basistests gemacht und uns Unter- belasten. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass die nehmen angeschaut, sodass wir jetzt einen ziemlich prä- Qualität des Standortes Bundesrepublik Deutschland in- zisen Überblick darüber haben, was in den Unternehmen ternationales Niveau erreicht. Genau das geschieht in in der Bundesrepublik Deutschland wirklich steuerlich diesen Tagen. geschieht. Zu sagen, dass es keine Verlagerung ins Aus- land gebe, widerspricht jedem Gespräch, das doch auch (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Sie mit Beteiligten in den Wirtschaftskreisen geführt ha- Ich glaube, dass in den Beratungen im Bundestag und ben, in dem mit stolz geschwellter Brust über die Opti- im Bundesrat noch über manches Detail gesprochen mierungsmöglichkeiten der steuerberatenden Gesell- werden wird. Eines sollte dabei deutlich werden: Wir ha- schaften in den letzten Jahren geredet wurde. ben eine neue Philosophie von Freigrenzen und Freibe- Wir haben es hier mit konkreten Fällen zu tun. Ich trägen eingeführt, die logischerweise Mittelstandsgren- sehe ja, wer jetzt zu mir kommt, wer Probleme hat und zen sind. Mit Freigrenzen und Freibeträgen kann ich wo er die Schwierigkeiten sieht. Das ist alles geltendes einen Weltkonzern nicht besonders glücklich machen. Recht. Wenn ich eine Investition in einem anderen euro- Wenn der Freigrenzen braucht, ist er kein Weltkonzern päischen Land oder in Amerika tätige und meine Er- mehr. Aber ein mittelständisches Unternehmen, das bis- träge, die ich dort erziele – die aber sehr hoch sind, weil her bei der Gewerbesteuerhinzurechnung vom ersten ich die Kosten nicht in diesem Land geltend gemacht Cent an gezahlt hat, in Zukunft aber eine Freigrenze von habe –, vollständig in diesem Land versteuere und nach 100 000 Euro hat, erhält dann einen massiven Spielraum dem Doppelbesteuerungsabkommen am Ende steuerfrei und erfährt eine massive Entbürokratisierung. Wenn man nach Deutschland transferiere, gleichzeitig aber hier in bedenkt, dass ein Unternehmen einen Kredit in Höhe Deutschland die vollen Kreditkosten geltend gemacht von 20 Millionen Euro aufnehmen muss, bevor die Zins- habe, weil ich sie in Deutschland verrechnet habe, dann schranke und andere Maßnahmen greifen, dann ist er- ist das geltendes Recht in der Bundesrepublik Deutsch- sichtlich, dass der überwiegende Teil der mittelständi- land. Das ist niemandem übel zu nehmen. Es ist wahr- schen Industrie davon gar nicht betroffen ist. Das ist die scheinlich in einer Kapitalgesellschaft sogar Untreue, Absicht. Wir wollen international wettbewerbsfähige wenn man es nicht so machen würde. Aber wenn der Großkonzerne im Land haben, die im Zusammenwirken Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9345

Ministerpräsident Roland Koch (Hessen) (A) mit mittelständischen Unternehmen neue Arbeitsplätze Kilometerentfernung, nicht in kontinentaler Entfernung, (C) in Deutschland schaffen und neue Unternehmensgrün- alle Aktivitäten entfalten, die man auch in der Bundesre- dungen ermöglichen. publik Deutschland entfalten kann. Man kann Waren zollfrei und ohne nennenswerte Kosten in die Bundesre- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) publik Deutschland bringen. Wer nicht will, dass wir am Ich bin mir sehr wohl im Klaren darüber, dass über Wettbewerb um den besten Standort teilnehmen, der manches Detail der Unternehmensteuer auch in Zukunft kann sich auf den Standpunkt stellen, einem Unterneh- im Deutschen Bundestag gestritten werden wird. Ich men keinen einzigen Cent als Anreiz zu geben. Der wird nenne die Stichworte Funktionsverlagerung, Mantel- aber am Ende weniger Steuereinnahmen haben. Wenn kauf, PPP-Geschäfte und Venture Kapital. Ich weiß, dass man aber jetzt wettbewerbsorientierte Steuerpolitik in den Beratungen der Ausschüsse in den nächsten Wo- betreibt, dann gibt man kein Geschenk an die Unterneh- chen viel Papier gewendet werden wird. Ich finde, dass men, sondern ein Geschenk an die Bürgerinnen und Bür- es denen, die an dem Gesetzentwurf mitgewirkt haben, ger der Bundesrepublik Deutschland, die auf Dauer nicht schlecht ansteht zu sagen, dass sie wissen, dass sie mehr Geld zur Verfügung haben Kompromisse gemacht und manchmal technisches (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das ist ja Neuland beschritten haben und sie auch nicht die Aller- dreist!) klügsten in der Welt sind. Das heißt, man kann über die Frage, was im Einzelfall gemacht werden kann, sicher- und in diesem Land mit hohem Standard und vernünfti- lich auch an der einen oder anderen Stelle reden. ger sozialer und politischer Infrastruktur leben. Wir sehen, dass zum Beispiel in der Leasingbranche (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) manche Diskussion geführt wird. Leasing hat sich etwas Darüber werden wir auch in den nächsten Monaten eine anders entwickelt, als es eigentlich unternehmerisch ge- Debatte führen. dacht war. Leasingunternehmen sind manchmal in ihrem realen Verhalten zu Banken geworden. Das macht ihnen Ich glaube sehr wohl, dass man – das schreibt auch jetzt Schwierigkeiten. Darüber muss man miteinander Herr Professor Lang in der heutigen Ausgabe der sprechen. Ich glaube, dass es Lösungen für die Probleme „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ – alle Probleme, von gibt. Wir müssen weiter über die Frage reden, was uns den verfassungsrechtlichen bis hin zu den finanziellen, die Forschung wert ist. Das betrifft auch die Frage der lösen kann. Ich bin nach wie vor davon überzeugt: Zahl- Bewertung gerade von jungen Unternehmen. Die Dis- reiche Punkte dieser Unternehmensteuerreform sind vie- kussion, ob man bei kleinen und mittleren Unternehmen len in den Wirtschaftsverbänden, in den beiden politi- im Bereich der Forschung, die neu an den Markt kom- schen Lagern und in der Wissenschaft, die uns lange (B) men, die Zinsschranke mit dem EBIT in irgendeiner beraten hat, schwergefallen. Dennoch sind nahezu alle (D) Weise verbinden kann, ist vollkommen unideologisch. von ihnen der Auffassung – das finde ich spannend –, Es interessiert beide Seiten der politischen Lager, wie dass das Gesamtwerk ein großer Schritt in die richtige forschungsintensive Unternehmen angelockt werden Richtung ist und dass daher nicht jeder Punkt, der per- können. Es wird jedoch am Ende ein ausgewogenes Ver- sönliche Beschwernis bereitet, zum Anlass genommen hältnis von Einnahmen und Ausgaben geben müssen. werden sollte, wieder mit großem Geschrei gegen diese politische Entscheidung vorzugehen. Die 5 Milliarden Euro Entlastung mögen manchem als eine fixe Grenze erscheinen. Sie ist in der Tat eine Ich wünsche den Beratungen von Bundestag und politische Grenze und ein Ergebnis des politischen Kom- Bundesrat, dass das in den nächsten Wochen nicht an- promisses. Manchmal wäre es uns leichter gefallen, un- ders wird. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir etwas seren sozialdemokratischen Kollegen zu sagen, dass es tun, was Menschen, die in diesem Land Arbeit suchen, vielleicht nicht ganz so entscheidend ist, ob es hilft, was dem Standort Deutschland im internationalen 5,2 Milliarden Euro oder 4,9 Milliarden Euro sind, vor Wettbewerb hilft und was, wenn es gelingt, nicht zuletzt allem wenn man weiß, wie solche Zahlen errechnet wer- auch dem Ansehen der Politik in der Bundesrepublik den. Aber eines will ich auch sagen: Wenn jetzt über Deutschland keineswegs schadet. diese Frage eine Diskussion stattfindet, dann muss jeder- Vielen herzlichen Dank. mann klar sein, dass es die feste Überzeugung derer ist, die diese Unternehmensteuerreform vorgelegt haben, (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) dass es sich dabei um eine unternehmerische Aktivität der Bundesrepublik Deutschland handelt. Es geht um die Präsident Dr. Norbert Lammert: Frage: Wie schafft man es, auf einem internationalen Nächste Rednerin ist die Kollegin Dr. Barbara Höll Markt, auf dem es keine Grenzen gibt, Unternehmen für die Fraktion Die Linke. dazu zu bringen, in die Bundesrepublik Deutschland zu investieren? Wie gebe ich ihnen eine Chance, ihre wirt- (Beifall bei der LINKEN) schaftliche Zukunft hier zu sehen? Denn die einzige Möglichkeit für uns als Steuereinnehmer, „Geld zu ver- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): dienen“, besteht darin, dass sich Unternehmen entschei- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der den, sich hier anzusiedeln und auch hier zu bleiben. In Tagesordnungspunkt 7 der Finanzausschusssitzung am einem Europa ohne Grenzen kann man in Frankreich, in Mittwoch war eine Diskussion über die Empfehlung für Polen, in Österreich und an vielen anderen Plätzen in eine Stellungnahme des Rates der Europäischen Union 9346 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Dr. Barbara Höll (A) zum aktualisierten Stabilitätsprogramm Deutschlands. teilungen der Banken an die Finanzämter effektiver (C) Ich zitiere daraus: erfasst und bei allen Einkommensteuerpflichtigen nach dem Einkommensteuertarif besteuert. Ein signifikantes Risiko erwächst überdies aus der 2008 geplanten Unternehmenssteuerreform. … So Mit diesen Vorschlägen und ihrer Umsetzung ist auch könnte es erforderlich werden, etwaige Einnah- die zweite Frage von uns gut zu beantworten: Wir kön- meausfälle bei der Körperschaftssteuer durch zu- nen es uns nicht leisten, auf Geld für die öffentliche sätzliche Ausgabenzurückhaltung aufzufangen. Hand zu verzichten. Das wäre mit der Umsetzung der von uns vorgeschlagenen Reform gesichert. Das heißt, Herr Steinbrück, nicht nur wir als Linke, nicht nur viele Wissenschaftler, sondern auch Politiker auf eu- Mit dem, was Sie bei Ihrer Unternehmensteuerreform ropäischer Ebene sehen Ihre Reform äußerst kritisch und vorschlagen – ja, auch Sie möchten eine –, mit dem Wie zweifeln an der Richtigkeit der geplanten Steuerausfälle zeigen Sie, dass Ihnen jegliches, aber auch wirklich jeg- in Höhe von 6 Milliarden Euro. liches Gefühl für Gerechtigkeit abhandengekommen ist. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Es stellen sich zwei politische Fragen: Erstens. Brau- Sie behaupten doch allen Ernstes, dass die Kapitalge- chen wir eine Unternehmensteuerreform? Zweitens. sellschaften und ertragsstarken Unternehmen – das sind Können wir uns eine Reform leisten, die zu massiven die, die Sie mit Ihrem Gesetz entlasten wollen – bei der Steuerausfällen für die öffentliche Hand führt? Steuerentlastung im Vergleich zu den kleinen und mittle- ren Personenunternehmen, die in der Steuerreform 2000 Die erste Frage beantworte ich Ihnen ganz klar mit Ja; entlastet wurden, einen Nachholbedarf haben. Ich frage denn es ist eine Frage der Gerechtigkeit. Aristoteles for- mich wirklich: Denken Sie, hier sind alle dumm und mit mulierte: Des Staates höchstes Gut ist die Gerechtigkeit, dem Klammerbeutel gepudert? Meinen Sie, dass die und gerecht ist, was dem Gemeinwesen frommt. Das Ge- Steuerbeschlüsse von Rot-Grün vergessen sind? Wann rechte muss aber für alle etwas Gleiches sein. haben wir denn den Körperschaftsteuersatz gesenkt? In den Jahren 1991 bis 2004 – in diesem Zeitraum 2001 wurde er auf nur noch 25 Prozent gesenkt. war jeweils eine der beiden Fraktionen, die heute die (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die Große Koalition bilden, Regierungsfraktion – stiegen die anderen haben auch gesenkt! – Leo Einkommen aus Vermögen in Deutschland um Dautzenberg [CDU/CSU]: Denken Sie an 43 Prozent und die aus Gewinnen um 27 Prozent. Dem- China!) gegenüber stiegen Löhne und Gehälter gerade einmal um 10 Prozent. Bei den Lohnabhängigen und bei den Wie ist es denn mit der Steuerfreiheit von Veräußerungs- (B) (D) Beamten waren allerdings nicht 10 Prozent mehr im gewinnen? Allein das kostet die öffentliche Hand jähr- Portemonnaie; denn ihre Steuerbelastung stieg unter an- lich 13 Milliarden Euro, Geld, das dringend gebraucht derem auch durch die Mehrwertsteuererhöhung um wird. 1 Prozent. (Beifall bei der LINKEN) Bei den Gewinnen und Vermögen sah es natürlich an- Natürlich muss von Ihnen jetzt wieder der Zwischen- ders aus. Sie wurden sogar noch entlastet: Die effektive ruf kommen: internationaler Wettbewerb, Globalisie- Steuerlast sank in diesen Jahren. Der Anteil der Gewinn- rung; wir müssen senken. Ich kann mich aus Zeitgrün- steuern, also der Erträge der Kapitalgesellschaften am den nicht weiter damit auseinandersetzen. Ich zitiere Bruttoinlandsprodukt, lag 2003 in Deutschland bei ge- einfach den ersten Satz aus dem Papier der parlamentari- rade einmal 1,3 Prozent. Im OECD-Durchschnitt waren schen Linken der SPD-Bundestagsfraktion: Von einer zu es 3,3 Prozent. Wir in der Bundesrepublik haben also ein hohen steuerlichen faktischen Gesamtbelastung der Un- massives Gerechtigkeitsproblem. Das Bundesverfas- ternehmen in Deutschland kann auch im internationalen sungsgericht hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, dass Vergleich überhaupt keine Rede sein. es im Sinne der verhältnismäßigen Gleichheit notwendig ist, dass die wirtschaftlich Leistungsfähigeren einen (Beifall bei der LINKEN) höheren Prozentsatz ihres Einkommens an Steuern zah- Abgesehen davon, dass für eine Standortentschei- len müssen. Daran sollten Sie sich messen lassen. dung die Steuersätze nicht der entscheidende Faktor (Beifall bei der LINKEN) sind, abgesehen davon, dass ein guter Standort es recht- fertigt, dass auch etwas mehr Steuern bezahlt werden Wir haben Ihnen unsere Vorschläge für eine Unter- müssen, und abgesehen davon, dass die effektive Steuer- nehmensteuerreform in einem Antrag vorgelegt. Diese last der deutschen Unternehmen im europäischen Mittel- Unternehmensteuerreform soll eine sozial gerechte Be- feld liegt: Herr Steinbrück, haben Sie sich einmal teiligung der Unternehmen an der Finanzierung der öf- gefragt, wo Sie enden, wenn Sie diese Steuersenkungs- fentlichen Aufgaben sicherstellen. Ich nenne Ihnen nur politik – von 1982 bis 2004 eine Senkung der Tarife von einige Stichpunkte: Beibehaltung des Körperschaftsteu- 30 auf 17 Prozent – fortsetzen? Ich sage Ihnen: 2045 ersatzes bei 25 Prozent; Verbreiterung der steuerlichen sind wir bei null Steuern. Bemessungsgrundlage von Unternehmen; Aufdeckung und Unterbindung von konzerninternen Gestaltungsmo- Da ist Ihre Entscheidung gefragt. Statt als mächtigstes dellen. Die Einkünfte aus Kapitalvermögen, die im In- Industrieland in Europa heute zu sagen: „Halt! Stopp mit land anfallen, werden durch obligatorische Kontrollmit- diesem Steuerwettbewerb! Das können wir uns nicht Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9347

Dr. Barbara Höll (A) leisten“, stellen Sie sich an die Spitze des Steuerwettbe- war damals eine Zwangsvereinigung! Das war (C) werbs und wollen weiter in diese Richtung marschieren. nicht freiwillig!) Das ist keine intelligente Reaktion, wie Sie sie in der Be- gründung Ihres Gesetzentwurfs noch versprechen. Das, was Sie gesagt haben, hört sich vielleicht für den einen oder anderen in der Bevölkerung so an, als würden Sie haben nur eines sichergestellt: dass Ihre Reform Sie sich für die Gerechtigkeit einsetzen. In Wirklichkeit wieder durch Kinder, Studierende, Rentnerinnen und wäre die Umsetzung Ihrer finanzpolitischen Vorstellun- Rentner, Arbeitslose sowie Arbeitnehmerinnen und Ar- gen für Deutschland ein Rückschritt, kein Fortschritt: beitnehmer bezahlt wird. Die Erhöhung der Mehrwert- Sie würde keine neuen Arbeitsplätze bringen; sie würde steuer um 3 Prozentpunkte haben Sie durchgedrückt; da bei unseren Unternehmen zu riesigen Problemen führen. bleibt ja locker Geld zur Entlastung der Unternehmen. Letztendlich wären die, von denen Sie glauben, Sie müssten sich für sie hier hinstellen, die Geschädigten, Die Abgeltungsteuer ist schon ein besonderes wenn Ihre Politik umgesetzt würde; Gott sei Dank wird Schmeckerchen. Man sagt, die Erotik des Alters sei das sie nicht umgesetzt. Essen. Ich habe im Prozess der Auseinandersetzung mit Ihrem Gesetzentwurf gelernt, dass es noch eine typisch (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ deutsche Kompensation für Erotik gibt. Die Sucht nach DIE GRÜNEN) Gestaltungsmodellen und Vergünstigungen in Deutsch- land ist größer als der Sexualtrieb. – So der Vorsitzende Man muss sehen, dass Ihre Neidrhetorik nichts bringt. der Deutschen Steuer-Gewerkschaft, Herr Ondracek, aus Man muss mit einer solchen Thematik bei der Betrach- langjähriger Erfahrung der Finanzbeamten. tung der Vorlage, die Herr Steinbrück heute vorgestellt hat, wirklich mit Augenmaß und Vernunft umgehen. Wir Wie reagieren Sie? Sie schaffen mit der Abgeltung- leben nicht auf der Insel; wir müssen uns auch daran steuer eine finanzamtsfreie Zone. orientieren, was über unseren nationalen Tellerrand hi- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Hat naus passiert. die jemand gefordert?) Wenn wir das tun, dann stellen wir fest: In West- und Ich frage Sie mit der parlamentarischen Linken der SPD- Nordeuropa gibt es Länder, in denen die Belastung durch Fraktion: Steuerausfälle von mindestens 25 Milliarden den Steuersatz im Unternehmenssektor, bei den Körper- Euro über die nächsten fünf Jahre, ein Körperschaftsteu- schaften, 30 Prozent beträgt. In Osteuropa beträgt die ersatz von 15 Prozent und eine Abgeltungsteuer von Belastung im Durchschnitt etwa 20 Prozent. Es gibt 25 Prozent, das soll mit einem Mal sozialdemokratische extreme Beispiele: In Estland beträgt die Belastung Zukunftspolitik sein? 0 Prozent; in Irland beträgt sie 12,5 Prozent. Wir in (B) Deutschland – das ist richtig – liegen mit einer Steuerbe- (D) Sie haben uns auf Ihrer Seite, wenn Sie es durchset- lastung von fast 40 Prozent an der Spitze. zen, im Zuge der Unternehmensteuerreform eine Unter- nehmensteuerreform in unserem Sinne zu machen und Minister Steinbrück hat zu Recht gesagt, dass das gleichzeitig, wie versprochen, die sozial gerechte Be- nicht so bleiben kann. Auch Herr Koch hat darauf hinge- steuerung von Vermögen und Erbschaften, die Einfüh- wiesen, dass wir im internationalen Wettbewerb ste- rung eines Mindestlohns von 8 Euro und die beitrags- hen und wir uns daran orientieren müssen. freie Kinderbetreuung zu diskutieren. Ich halte es für falsch, zu unterstellen, dass eine Sen- (Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: kung der Steuersätze auf einigermaßen internationales Wiedervereinigung mit der SPD?) Niveau – auf das Niveau des Mittelfelds – Steuerdumping bedeutet. Steuerdumping sollten, können und wollen wir Sie haben noch die Chance, auf Ihrem falschen Weg um- nicht betreiben; denn der Staat braucht selbstverständlich zukehren. Einnahmen, um in die Bildung, in die Infrastruktur inves- Ich danke Ihnen. tieren zu können. Selbstverständlich müssen auch die Un- ternehmen in der Bundesrepublik Deutschland, wenn sie (Beifall bei der LINKEN) viel Umsatz machen und Gewinne einfahren, ihren Bei- trag dazu leisten. Präsident Dr. Norbert Lammert: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Das Wort erhält nun die Kollegin Christine Scheel für und bei der SPD) die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Natürlich müssen wir uns nicht nur am internationa- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): len Standortwettbewerb orientieren; denn die Steuer- sätze allein – das wissen auch Sie, Herr Koch – sind Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! nicht das Kriterium dafür, ob sich ein Unternehmen in Frau Höll, mein Fraktionschef hat gerade so schön ge- Deutschland ansiedelt. Unternehmen kommen, weil sie sagt: „Die Wiedervereinigung mit der SPD wird so eine gute Bildungssituation vorfinden, weil sie sehen, schnell nicht stattfinden.“ Ich glaube, die Sozialdemo- dass es sich um einen guten Wissensstandort handelt, um kraten, die sich das heute angehört haben, haben große einen Standort, an dem gute Forschung betrieben wird, Probleme mit solch einer Vorstellung. an dem eine gute Infrastruktur vorhanden ist, an dem die (Dr. [DIE LINKE]: Wir Absatzmärkte vernünftig aufgestellt sind und an dem aber auch! – Zuruf von der CDU/CSU: Das auch eine vernünftige Binnennachfrage vorhanden ist. 9348 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Christine Scheel (A) Deswegen kommen Unternehmen nach Deutschland; (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (C) Steuersätze haben allein eine Signalwirkung bei der Ent- SES 90/DIE GRÜNEN – Oskar Lafontaine scheidung, wo Kapital investiert wird, und tragen damit [DIE LINKE]: Sehr kryptisch!) einen Teil zu der Entscheidung bei, wo am Ende neue Wir haben – Sie wissen es – eine Finanzierungslü- Arbeitsplätze entstehen. cke von etwa 9 Milliarden Euro im nächsten Jahr. Knapp Die Höhe der Steuersätze entscheidet ein Stück weit ein Drittel der Reformen ist nicht solide finanziert. Sie darüber – das stimmt –, wo ein Unternehmen seine Ge- von der Großen Koalition winne versteuert, aber auch darüber, wo die Kosten an- (Dr. [FDP]: Der sogenann- fallen. Wegen der hohen Steuersätze und der vorhande- ten Großen Koalition, Frau Scheel!) nen Gestaltungsmöglichkeiten, die wir in Deutschland haben, ist es für viele Unternehmen, was die Kosten- und finden das vielleicht gar nicht so schlimm; denn man Verlustrechnung anbelangt, sehr attraktiv, so vorzuge- liest zurzeit und sieht es auch in den Statistiken, dass die hen, dass Gewinne im Ausland besteuert werden. Letzt- Steuereinnahmen sprudeln. Das ist sehr schön; darüber endlich fehlt dann hier in den Kassen das Geld. Dagegen freuen wir uns alle. Aber man muss bei der Entwicklung müssen wir etwas tun; so kann es nicht bleiben. einer solchen Reform natürlich auch sehen, dass man den Leuten nicht vermitteln kann, dass Steuerausfälle in Deshalb brauchen wir eine grundlegende Strukturre- den nächsten Jahren nicht so schlimm seien, nachdem form, Steuersätze auf international wettbewerbsfähigem man ihnen vor nicht allzu langer Zeit noch die Mehr- Niveau, aber auch eine vernünftige Verbreiterung der so- wertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht, den Sparerfreibe- genannten Besteuerungsbasis; beides gehört zusammen. trag halbiert und die Pendlerpauschale verfassungswid- Man kann die Verantwortung für die Stärkung des Wirt- rig ausgestaltet hat. Man darf nicht glauben, dass die schaftsstandorts, der Beschäftigung und der Entwick- Menschen einem dann folgen und verstehen, warum lung in der Bundesrepublik Deutschland nur unter fol- jetzt plötzlich Geld da sein soll, um die Unternehmen im gendem Aspekt betrachten: Wie ist die Finanzierung für nächsten Jahr um 9 Milliarden Euro zu entlasten. Das unsere Unternehmen im Einzelnen aufgestellt? Wir re- verstehen die Menschen nicht. den heute über die Senkung der Unternehmensteuersätze (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) bei Körperschaften. Das sind etwa 15 Prozent der Unter- nehmen in der Bundesrepublik Deutschland; die anderen Man muss den Menschen sagen, wie das funktionieren 85 Prozent der Unternehmen profitieren von diesen soll; man muss sie mitnehmen, wenn man eine Reform Steuersatzsenkungen nicht. Auch das muss man den macht. Das müssten auch Sie mittlerweile gelernt haben. Bürgern und Bürgerinnen in diesem Zusammenhang sa- Wir können uns – das ist ein zweites Problem – auch (B) gen. (D) nicht immer auf das Handeln der großen Unternehmen Deswegen ist es wichtig, dass wir uns die Seite der verlassen. Schauen Sie sich doch an, was in den letzten Finanzierung genau anschauen, um sie vernünftig zu Tagen geschehen ist. Einige Vorstandsmitglieder der gestalten. Da hilft kein Populismus, Frau Höll. Auch Firma Siemens sitzen mittlerweile im Gefängnis. Sie- Herr Lafontaine wird das gleich hier darlegen; er kann mens ist ein international aufgestelltes Unternehmen. Es das ja noch viel besser. Aber mit Rhetorik und Populis- schmerzt einen, wenn man sieht, wie desolat das Manage- mus allein generieren wir keine Wirtschaftskraft und ment von manchen großen Unternehmen – sehr viele Un- keine Beschäftigung. ternehmen machen es gut; die kleinen und mittleren ma- chen es alle sehr gut – ist. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (Dr. [CDU/CSU]: Ist die sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Schuld erwiesen? Sie verurteilen ja, bevor die der SPD) überhaupt richtig angeklagt sind!) Verehrte Kolleginnen und Kollegen in der Großen Man sieht, dass es eben nicht so ist, dass die Bevölke- Koalition, nicht alles, was Geld kostet, ist deswegen rung das Vertrauen haben kann, dass die Unternehmen schon eine Reform. Das hat Altbundeskanzler Helmut alles richtig machen, und dass es gerechtfertigt wäre, ih- Schmidt einmal so gesagt. Wenn jemandem etwas ge- nen etwas mitzugeben. Das müssen Sie den Menschen schenkt wird, wird oft so getan, als sei das eine Reform. erklären; ich glaube, da sind Sie in der Bringschuld. Reform bedeutet aber, dass man sich strukturell vernünf- tig aufstellt, dass Probleme gelöst werden, wo Probleme Ein weiterer Punkt ist, dass Sie auf das Prinzip Hoff- sind, und zwar wohlgemerkt, ohne größere Probleme an nung setzen. Sie gehen davon aus, dass die Steuerquel- anderer Stelle zu schaffen. len weiter sprudeln und dass Sie durch die weitere Ent- wicklung, an die Sie glauben – es wäre ja gut, wenn es Das ist die Kritik, die wir als Bündnis 90/Die Grünen für den Standort insgesamt so positiv weiterginge –, die an diesem Werk haben; denn wir sehen, dass neue Pro- Steuerausfälle verdecken können. Das ist nicht in Ord- bleme für unseren Standort Deutschland geschaffen wer- nung. Wenn man sagt, dass man eine Reform durchführt, den, wo keine sein dürfen. Das ist das, was der Großen die sich selbst finanziert, dann darf man nicht die allge- Koalition nicht gelungen ist: die Steuersatzsenkung mit meine Entwicklung mit hineinrechnen und so tun, als ob einer Finanzierung zusammenzubringen, die wirklich die konjunkturelle Entwicklung ein Stück weit als Ge- vernünftig ist und den Unternehmen, und zwar allen Un- genfinanzierung dienen könne. Die Steuermehreinnah- ternehmen, in der Bundesrepublik Deutschland hilft. men aufgrund der positiven konjunkturellen Entwick- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9349

Christine Scheel (A) lung müssen wir in Forschung und Bildung, in unsere men können und müssen die Möglichkeit haben, sich zu (C) Kinder investieren. Diese Mehreinnahmen dürfen nicht, entwickeln. wie Sie es vorhaben, für eine Entlastung der Großkon- (Joachim Poß [SPD]: Das haben wir doch ge- zerne verwendet werden. macht!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber bei ihnen besteht die Gefahr, dass die Substanz be- Die Unternehmensteuerreform braucht – der Finanz- steuert wird. minister und auch Ministerpräsident Koch haben darauf Mit Ihrer sogenannten Gegenfinanzierung schlagen hingewiesen – eine wirksame und unbürokratische Mit- Sie voll über die Stränge. Sie treffen genau die Unterneh- telstandskomponente, die sich an der Schaffung von men in Deutschland, die innovativ sind, die Arbeitsplätze Arbeitsplätzen orientiert. Die Finanzierung dieser Re- schaffen wollen und die hier nicht nur forschen, sondern form ist aber ein buntes Sammelsurium ohne inhaltli- auch entwickeln wollen. Das müssen Sie ändern. chen Zusammenhang. Sie haben bei der Gegenfinanzie- rung anscheinend überall ein wenig herumgestöbert, um Die Frau Bundeskanzlerin hat einen Tag vor dem Be- zu schauen, was man da machen kann. Aber Ihre wirt- schluss des Kabinetts darauf hingewiesen, dass es an schaftspolitischen Überlegungen haben Sie hintange- dieser Stelle ein Riesenproblem gibt. Ich hoffe, dass Sie stellt. Minister Glos hat ein neunseitiges Schreiben ver- dieses Problem angehen, negative Wirkungen für unse- fasst, warum es für die mittelständische Wirtschaft ren Standort bezüglich Wachstum und Beschäftigung schlecht wäre, wenn diese Reform so ausgestaltet bleibt, verhindern und für eine vernünftige Ausgestaltung der wie Sie das bislang vorgesehen haben. Reform sorgen. Dieser Unsinn muss gestoppt werden. Herr Koch, es ist sehr widersprüchlich, wenn Sie auf Ich appelliere an Sie: Machen Sie die Reform unbüro- der einen Seite sagen, Sie würden für den Mittelstand kratischer! Wir erwarten von Ihnen wirtschaftlichen eintreten und Sie wollten den Mittelstand nicht mehr be- Sachverstand. Führen Sie keine Regelungen ein, die lasten, und auf der anderen Seite Bedingungen geschaf- Wachstumsbremsen sind! Reißen Sie sich zusammen! fen werden, die für die kleinen und mittelständischen Stellen Sie wirtschaftspolitische Überlegungen an und Unternehmen unter dem Strich doch zu einer Belastung legen Sie Ihren Tunnelblick hinsichtlich der Steuersyste- führen. Sie müssen sich schon entscheiden. Sie können matik ab! Denken Sie daran, dass wir diese Reform für nicht sagen, diese Reform sei für alle eine tolle Sache, die Bürgerinnen und Bürger und auch für die Wirtschaft und auf der anderen Seite anders handeln. Das ist nicht machen und nicht für irgendwelche Statistiken! in Ordnung. Wir werden Ihnen das im Rahmen des Ge- Danke schön. setzgebungsverfahrens nicht durchgehen lassen. (B) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Fakt ist, dass die Bundeskanzlerin den Nationalen Präsident Dr. Norbert Lammert: Normenkontrollrat eingesetzt hat. Er wurde mit einem Der Kollege Jörg-Otto Spiller ist der nächste Redner riesigen Brimborium auf den Weg gebracht. Ich kann für die SPD-Fraktion. mich noch gut an die Aussagen der Frau Bundeskanzlerin (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten und anderer hier im Saal erinnern. Sie haben gesagt, die- der CDU/CSU) ses Gremium solle dafür sorgen, dass bei jedem Gesetz- gebungsvorhaben in der Bundesrepublik Deutschland darauf geachtet wird, dass vom Parlament verabschiedete Jörg-Otto Spiller (SPD): Gesetze nicht zu neuen bürokratischen Hemmnissen, Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und nicht zu Verirrungen und Verwirrungen führen. Herren! Frau Kollegin Scheel, erst einmal gratuliere ich Ihnen dazu, dass Sie heute die ganze Redezeit, die Ihrer Dieser Rat hat, wie ich meine, völlig zu Recht bean- Fraktion zur Verfügung steht, ausnutzen durften. Sie hat- standet, dass es ein deutliches Missverhältnis zwischen ten damit allerdings auch Ihre Probleme. dauerhaften bürokratischen Lasten und zeitlich begrenz- ten Mehreinnahmen im Zuge dieser Reform gibt. Das (Beifall des Abg. Joachim Poß [SPD]) heißt, Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinan- Vielleicht lesen Sie im Protokoll einfach noch einmal die der. Mit Ihren Maßnahmen bürden Sie 5 Millionen Un- erste Hälfte Ihrer Rede nach. Sie passte zur zweiten ternehmen im Bereich der kleinen und mittelständischen überhaupt nicht. Unternehmen neue bürokratische Lasten auf. Es kann nicht sein, dass der Normenkontrollrat diesen Missstand (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der zwar benennt, Sie aber so tun, als gäbe es keine Pro- SPD – Dr. [CDU/CSU]: Das bleme mit der Bürokratie für diese Unternehmen. ist öfter so!) Auch die Verlustvorträge sind ein Riesenproblem. Es ist ein bisschen schwierig, wenn man erst einmal Man möchte völlig zu Recht, dass Missbrauch bekämpft korrekt darstellt, wie gut die Ansätze der Reform der Unternehmensbesteuerung sind, und dann aus der Ver- wird. Missbrauch und entsprechende Steuergestaltungs- pflichtung als Oppositionsrednerin heraus, dazu etwas möglichkeiten müssen bekämpft werden. Aber es ist ein Kritisches zu sagen, noch ein bisschen im Gemüseladen Problem, wenn bei einem Eigentümerwechsel die Ver- herumkramt. Ihre Reden waren schon einmal besser. rechnung mit Gewinnen nicht möglich ist. Gerade die jungen und innovativen Unternehmen müssen doch at- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) 9350 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Jörg-Otto Spiller (A) Hohe Steuersätze sind keine Garantie für hohe Steu- Dass in den Medien und in einem Teil der öffentlich ge- (C) ereinnahmen. Das gilt in besonderem Maße für die Be- führten Debatte häufig zwei andere Punkte, nämlich die steuerung der zunehmend international verflochtenen beabsichtigte Senkung des Körperschaftsteuersatzes und Unternehmen. Nahezu alle großen und viele mittlere in die anfänglichen Steuermindereinnahmen, im Vorder- Deutschland ansässige Unternehmen sind heute Haupt grund stehen, ist zwar verständlich, aber eben doch ein oder Glieder internationaler Konzerne. Wo innerhalb der sehr verengter Blickwinkel. Unternehmensgruppe in welcher Höhe Kosten oder Er- träge anfallen, ist damit in einem erheblichen Umfang (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) gestaltbar. Der SPD-Parteirat hat – wenn ich das einmal sagen Ein Beispiel. Warum die nächste Investition aus dem darf; auch wir führen innerhalb der Partei Debatten; das in Deutschland zu versteuernden Gewinn finanzieren, stimmt – in seiner Entschließung zur Unternehmensteu- wenn es einen steuerlich viel hübscheren Weg gibt: Die erreform auf den Punkt gebracht, worum es geht: in einem Land mit niedrigeren Steuersätzen angesiedelte Deutschland braucht ein Unternehmenssteuerrecht, Tochter gewährt der deutschen Mutter einen Kredit. Für das international wettbewerbsfähig ist, die Unter- die Mutter sind die Zinsen Betriebsausgaben, mindern nehmen animiert, Gewinne nicht länger ins Aus- also ihren steuerpflichtigen Gewinn. Da der aber im land zu transferieren, sondern in Deutschland zu in- Land der Tochter geringer zu versteuern ist als in vestieren, und dadurch insgesamt den Standort Deutschland, lohnt sich die Operation. Der Verlierer ist Deutschland und seine Arbeitsplätze stärkt. der deutsche Fiskus. (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ Ein anderes Beispiel. Die deutschen Filialen einer be- CSU und der FDP) liebten Möbelhauskette weisen trotz guter Umsätze zu ihrem größten Bedauern keine nennenswerten steuer- Wir wollen die deutsche Steuerbasis nachhaltig si- pflichtigen Gewinne aus, weil für die Nutzung des Fir- chern. Die Kluft zwischen den nominalen Steuer- mennamens und des gelb-blauen Markenzeichens leider sätzen einerseits und den tatsächlichen Steuerzah- hohe Lizenzgebühren an eine Konzernschwester in ei- lungen muss sich schließen. Diesem Ziel dient die nem Niedrigsteuerland zu zahlen sind; denn diese ver- Unternehmenssteuerreform. fügt über die Namens- und die Markenrechte. Die Reform der Unternehmensbesteuerung beruht auf Herr Kollege Dr. Solms, trifft denn das objektive Net- zwei gleich wichtigen Pfeilern: der Sicherung der Steu- toprinzip zu, erbasis und der Stärkung der Attraktivität des Standortes (Beifall bei der SPD) durch Senkung der Sätze. Insgesamt werden wir zu einer (B) nominalen steuerlichen Belastung von knapp 30 Prozent (D) wenn jemand seine Gewinne hin und her schieben und kommen. Das bedeutet, dass der deutsche Körper- seine Gewinn- und Verlustrechnung manipulieren kann? schaftsteuersatz etwas über den Sätzen Dänemarks, Ich bin ganz sicher: Wenn ein Gericht prüft, was gleich- Schwedens und Finnlands und etwas unter den Sätzen mäßige Besteuerung und was das objektive Nettoprinzip Großbritanniens, Luxemburgs und der Niederlande und ist, wird es zu dem Ergebnis kommen, dass solche Trick- damit im europäischen Mittelfeld liegen wird. sereien in keiner Weise mit dem Prinzip der gleichmäßi- gen Besteuerung vereinbar sind. Ich bin sicher: Wir sind Ich glaube, dass das der richtige Weg ist. Wir müssen auf dem richtigen Weg, auch was die Verfassungsmäßig- uns im Übrigen vor Augen halten, dass neben den Unter- keit dieser Reform angeht. nehmen auch die Anteilseigner der Unternehmen Steu- ern zahlen müssen. (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Das werden wir sehen!) (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Ein wichti- ger Hinweis!) Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin, hat kürzlich in einer interessanten Studie zur Unterneh- Die Gesamtbelastung eines ausgeschütteten Gewinns, mensbesteuerung dargelegt, dass die deutschen Steuer- die sich aus der Belastung, die das Unternehmen trägt, sätze mit einer tariflichen Gesamtbelastung von nominal und der des Anteilseigners ergibt, wird rund 48 Prozent rund 39 Prozent im internationalen Vergleich an der betragen. Das gilt sowohl für die Kapitalgesellschaften Spitze liegen. Diese hohen Sätze machen Deutschland als auch für die ertragsstarken Personengesellschaften. aber anfällig gegenüber Gestaltungen. Das tatsächliche Das ist eine beachtliche Größenordnung, die man bei der Steueraufkommen wird empfindlich geschmälert. Das Debatte im Blick behalten muss. Ergebnis ist – so sagt das DIW – ein trotz hoher Sätze bestenfalls durchschnittliches und im Verhältnis zu den Wir wollen, dass die Leistungsfähigkeit der Unter- tatsächlichen Gewinnen unangemessen niedriges Steuer- nehmen erhalten bleibt. Wir wollen aber insbesondere, aufkommen. dass die Unternehmen künftig mehr Steuern in Deutsch- land zahlen. Es mag zwar sein, dass das eine oder andere Wer sicherstellen will, dass die in Deutschland ansäs- Unternehmen weniger Steuern zahlen wird als heute, es sigen Unternehmen einen angemessenen Beitrag zur Fi- mag auch sein, dass das eine oder andere Unternehmen nanzierung der öffentlichen Aufgaben leisten, muss ge- mehr Steuern zahlen wird als heute, aber ich bin mir si- gen die Erosion der Steuerbasis angehen. Ebendies ist cher, dass auf Dauer alle mehr Steuern in Deutschland das zentrale Anliegen der Unternehmensteuerreform. zahlen werden und dazu beitragen werden, dass sich das Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9351

Jörg-Otto Spiller (A) Land bzw. der Wirtschaftsstandort und die Erfüllung der anwesend – hat gesagt, dass er zustimme, dass man noch (C) öffentlichen Aufgaben gut entwickeln. einmal darüber reden müsse. Sie sollten uns deshalb nicht vormachen, Ihre Unternehmensteuerreform sei der Vielen Dank. Weisheit letzter Schluss. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP – [CDU/ der CDU/CSU) CSU]: Ist ja heute die erste Lesung! Es kann ja sein, dass wir bei anderen Beratungen noch Präsident Dr. Norbert Lammert: klüger werden!) Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Volker Wissing für die FDP-Fraktion. Die Widersprüchlichkeit dieses Entwurfs wird auch an anderer Stelle deutlich. Im Prinzip wollen wir doch (Beifall bei der FDP) alle mehr Investitionen am Standort Deutschland. Des- wegen sollten Sie investierende Unternehmen nicht be- Dr. Volker Wissing (FDP): strafen. Die Zinsschranke und die Abschaffung der de- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gressiven Abschreibung sind nichts anderes als eine Wer die Heuschrecke im Kopf hat, dem kann die Wirt- Strafsteuer für Unternehmen mit hohen Investitionskos- schaft nicht am Herzen liegen. Diese Einstellung zieht ten. Nach Ansicht einiger Konjunkturforscher könnte die sich wie ein roter Faden durch Ihre Unternehmensteuer- Abschaffung der degressiven Abschreibung die Investi- reform. Sie ziehen Mauern für die Wirtschaft hoch und tionsquote in Deutschland halbieren. verbauen damit Zukunftschancen für unser Land. Wie sensibel die Unternehmen auf Änderungen im (Beifall bei der FDP) Bereich der Abschreibungsregeln reagieren, haben wir bei der Steuerreform 2000 gesehen. Die damalige Ge- Die Unternehmensteuerreform bedeutet nichts ande- genfinanzierung der Steuersenkung durch eine Verlänge- res als ein in Gesetzestext gegossenes Misstrauensvotum rung der Abschreibungsdauer und eine Reduktion des gegenüber der deutschen Wirtschaft. Die Besteuerung Höchstsatzes hat zu einer Senkung der Investitionsquote von Funktionsverlagerungen zum Beispiel ist doch steu- um 4,6 Prozent geführt. So negativ werden auch die erpolitischer Unsinn, Herr Minister Steinbrück. Hierbei Auswirkungen dieser Reform sein, wenn sie so Gesetz zeigt sich einmal mehr, dass gut gemeint längst nicht wird. dasselbe ist wie gut gemacht. (Beifall des Abg. Patrick Döring [FDP] – Es ist richtig, dass Sie die Unternehmen nicht dabei Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Das (B) unterstützen wollen, in Deutschland Arbeitsplätze abzu- Problem ist: Das wünschen Sie sich!) (D) bauen. Es ist aber falsch, wenn Sie versuchen, zukünftig im Zusammenhang mit Patenten und Lizenzen anfal- Wer in Deutschland Arbeitsplätze schaffen will, darf lende Gewinne zu besteuern. Wer kann denn schon heute diejenigen, die investieren, nicht bestrafen. Das klingt wissen, was er morgen mit einer Idee verdienen kann? zwar einfach, aber die SPD tut sich schwer damit. Herr Spiller, ich hatte vorhin den Eindruck, dass Sie Ihre (Beifall bei der FDP) Rede ausschließlich für die Reihen der Sozialdemokra- Das ist nichts anderes als der Versuch, den Kaffeesatz als ten gehalten haben. feste Größe im Unternehmensteuerrecht zu etablieren. (Jörg-Otto Spiller [SPD]: Und für die FDP!) Bei so einem Unfug macht die FDP nicht mit. (Beifall bei der FDP) Eine Unternehmensteuerreform, die den Namen ver- dient, muss nicht von den Unternehmen gegenfinanziert Herr Minister Steinbrück, es ist zwar richtig, dass wir werden, sondern finanziert sich selbst. Sie finanziert sich eine Unternehmensteuerreform brauchen, es ist aber durch mehr Wachstum, durch die Schaffung von mehr nicht richtig, dass Deutschland Ihre Unternehmensteuer- Arbeitsplätzen und durch mehr Investitionen. Eine ver- reform braucht. Sie tun so, als sei das ganze Vorhaben nünftige Unternehmensteuerreform führt unterm Strich gesetzt und als stünden Sie aus innerer Überzeugung nicht zu weniger, sondern zu mehr Steuereinnahmen. hinter diesem Reformvorhaben. Dabei hat die Bundes- Von Ihrem Gesetzentwurf geht kein Signal des Auf- kanzlerin einen Tag nach dem Kabinettsbeschluss in bruchs aus. Was Sie vorne weniger abkassieren, kassie- München Vertretern der deutschen Wirtschaft erklärt, ren Sie hinterher doppelt. dass Änderungen notwendig seien. Mit Ihrem Gegenfinanzierungsmodell konterkarieren (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Sie Ihre eigenen Absichten. Vor allem führt Ihr Gesetz- NEN]: Das war sogar am Tag davor!) entwurf aber zu mehr Bürokratie. Ihr Normenkontroll- rat hat eine Mehrbelastung in Höhe von 180 Millionen Herr Kauder, ich war doch dabei, als Sie diese Woche Euro errechnet und gesagt, dass 40 neue Informations- gegenüber dem VCI erklärt haben, dass es zu Änderun- pflichten entstehen würden. Ich weiß überhaupt nicht, gen kommen müsse. wie Sie noch von Bürokratieabbau sprechen können. Mit (Zuruf von der FDP: Hört! Hört!) jedem Steuergesetz tun Sie genau das Gegenteil von dem, was die Kanzlerin verspricht. Nur, Herr Minister Steinbrück, davon habe ich vorhin nichts gehört. Herr Struck – er ist jetzt leider nicht mehr (Beifall bei der FDP) 9352 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Dr. Volker Wissing (A) Aufwand und Ertrag stehen in keinem Verhältnis. tumssteigernd, investitionsfreundlich und letztlich ar- (C) Schauen Sie sich Ihre Gegenfinanzierung doch einmal beitsplatzschaffend. Die Versteuerung in Deutschland an: Ein Bürostuhl muss künftig über fünf Jahre abge- wird angereizt, und die Steuereinnahmen werden weiter schrieben werden. Angesichts dessen müsste in der Re- ansteigen. Eine solche Reform ist kein Wunschkonzert. publik eigentlich ein Aufschrei der Bürokratiebeauftrag- Aber wir haben eine pragmatische, zielführende und sys- ten der Bundesregierung ertönen. tematische Lösung gefunden. Daran sollte es keinen Zweifel geben. (Jörg-Otto Spiller [SPD]: Warum wackelt denn Ihr Stuhl so, Herr Wissing?) Natürlich gibt es immer wieder Kritik. Herr Solms, Ihr Vergleich mit der DDR war aber voll daneben. Man hört aber nichts, weil Sie sich von diesem Ziel in Wahrheit schon längst verabschiedet haben. Die Neidre- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und flexe der Linken von der SPD machen es der Union der SPD) nicht möglich, eine vernünftige Unternehmensteuerre- Ich kann Ihnen nur sagen: Eine Steuermauer der FDP form auf den Weg zu bringen. Regelungen, die sich über gibt es bei dieser Reform nicht. Ich möchte der FDP ein 15 Jahre bewährt haben, werden einfach abgeschafft. Zitat aus der Bibel entgegenhalten. Schon Jesaja sagte Die Abgeltungsteuer – Herr Minister Steinbrück, dazu uns: haben Sie heute Morgen nichts gesagt; das ist anschei- nend ein Problem für die Sozialdemokratie – ist im Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt Grunde richtig. So wie Sie es machen, taugt es aber wie- wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht? der nichts; denn es nicht richtig, die Veräußerungsge- Ich kann Ihnen nur sagen – es sind Tatsachen –: Die winne mitzubesteuern. Ferner sind die Steuersätze in Wirtschaft boomt. Die gesamtwirtschaftliche Entwick- diesem Bereich international nicht wettbewerbsfähig, lung ist besser geworden. Die Konjunktur ist stark und sodass wir auch auf diesem wichtigen Feld in Deutsch- robust. Der Aufschwung hat den Arbeitsmarkt erreicht. land keinen entscheidenden Schritt weiterkommen. Im Vergleich zum März 2006 sank die Zahl der Arbeits- Durch die ganze Unternehmensteuerreform zieht losen um immerhin 869 000. Im heutigen „Handelsblatt“ sich Folgendes: An manchen Stellen wird verschämt ent- steht: „Unternehmen schaffen Jobrekord“. Herr lastet, an anderen unverschämt belastet. Die CDU und Dr. Wissing, Sie sprechen von Stillstand. Das kann doch die Steinbrück-SPD rufen hü und die Linke der SPD ruft wohl nicht sein. Die Bundesagentur für Arbeit meldet hott, Ergebnis: Stillstand in Deutschland. gut 800 000 offene Stellen. (Beifall bei der FDP) Frau Scheel, einen Gegensatz zwischen Arbeitneh- mern und Arbeitgebern aufzubauen, schadet letzten En- (B) Wenn Sie wirklich eine Unternehmensteuerreform (D) des dem Gemeinwohl. Denn man braucht erst Investitio- machen wollen, die diesen Namen verdient, hören Sie nen und neue Arbeitsplätze; daraus erwachsen auf die Bundeskanzlerin: Wagen Sie mehr Freiheit! Ge- Wachstum und Beschäftigung sowie mehr Steuereinnah- hen Sie ins Offene! men. So wird es ein Erfolg. In dieser Weise müssen wir (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Ge- in Deutschland vorangehen; wir dürfen nicht in den Ge- hen Sie ins offene Messer!) gensätzen von gestern verharren. Riskieren Sie etwas! Senken Sie die Steuersätze! Verein- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) fachen Sie das Steuerrecht! Beharren Sie nicht auf Ihrer Wir halbieren das Staatsdefizit. Wir haben laut der kleinkrämerischen Gegenfinanzierung! Die SPD muss Prognose des Kieler Instituts für Weltwirtschaft statt bis- einmal verstehen, welche Entscheidungen in Deutsch- her 2,1 Prozent 2,8 Prozent Wachstum zu erwarten. Die land dringend notwendig sind. Bundesbank hält in diesem Jahr ein Defizit von 1 Pro- Herr Steinbrück, Sie haben von Augenmaß gespro- zent für möglich und 2010 sogar einen ausgeglichenen chen. Genau dieses Augenmaß ist bei der Großen Koali- Haushalt für erreichbar. Das wäre der erste ausgegli- tion aber längst zum Mittelmaß geworden. Mittelmaß chene Haushalt seit 40 Jahren. Ich bin der Auffassung, können wir uns aber nicht leisten; denn mit mittelmäßi- dass das mit dieser Steuerreform weiter angegangen ger Politik kann man im internationalen Wettbewerb werden kann, weil es zu einer Selbstfinanzierung dieser nicht bestehen. Reform kommen wird. (Beifall bei der FDP) Wir erleben es ja: Bund, Länder und Gemeinden wer- den nach Auffassung des iwd bei den Steuern mit einem Einnahmeplus von rund 24 Milliarden Euro im Jahr Präsident Dr. Norbert Lammert: 2007 rechnen können. Die Steuerschätzung im Mai wer- Ich erteile das Wort dem Kollegen Dr. Hans den wir natürlich erst dann richtig zur Kenntnis nehmen. Michelbach für die CDU/CSU-Fraktion. Aber man muss sehen, dass hier etwas wächst. Wann (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) hatten wir das zuletzt? Dieser Erfolg sollte uns die not- wendige Kraft und Disziplin geben, auf unserem Kurs Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU): der finanzpolitischen Verantwortung und der neuen steu- erpolitischen Impulse voranzuschreiten. Sehr geehrter Herr Präsident! Kolleginnen und Kolle- gen! Die Unternehmensteuerreform wird unseren Es zeigt sich mehr und mehr, dass Reformen Früchte Standort Deutschland attraktiver machen. Sie ist wachs- tragen. Es wird deutlich, was in Deutschland steckt, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9353

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) wenn Kräfte freigesetzt werden. Eins ist gewiss: Die Er- ansehen müssen. Aber es besteht überhaupt kein Anlass (C) folge unserer Reformpolitik können nur dauerhaft gesi- zu einer pauschalen Ablehnung. chert werden, wenn wir nicht auf halbem Weg stehen bleiben. Wir dürfen uns nicht ausruhen. Die Anstrengun- Die steuerliche Gesamtbelastung auf einbehaltene gen müssen fortgesetzt werden. Seit der Unternehmen- Gewinne von Personengesellschaften beträgt in Zukunft steuerreform 2000 ist der Steuerwettbewerb in der Eu- 28,25 Prozent zuzüglich Solidaritätszuschlag. Sie hat so- ropäischen Union weiter vorangekommen. Deswegen mit erstmals das gleiche Niveau wie die Belastung von müssen wir im internationalen Vergleich der Steuersätze Kapitalgesellschaften. Der größte Erfolg dieser Reform mit der Gesamtbelastung der deutschen Unternehmen ist, dass es keine Wettbewerbsverzerrungen zwischen diesen Wettbewerb annehmen. Kapitalgesellschaften und Personengesellschaften mehr gibt. Man kann natürlich sagen: Ich will mit der globali- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sierten Wettbewerbsentwicklung nichts zu tun haben. Aber die Globalisierung findet nun einmal statt. Ich rate Das ist ein großer Wurf für die vielen Familiengesell- uns allen: Marschieren wir aufs Spielfeld, und spielen schaften und für die größeren Mittelstandsbetriebe. Ich wir mit. Es ist ein Erfolg für die Menschen in unserem weiß, wovon ich spreche; denn ich führe ein Unterneh- Land, wenn wir mitspielen und uns nicht verweigern. men, das seit 1879 am Markt ist. Ich habe mich immer Das ist das Gebot der Stunde. über die Wettbewerbsverzerrungen zwischen Personen- und Kapitalgesellschaften geärgert. Ich kann Ihnen sa- Das Konzept der Unternehmensteuerreform ist die gen: Die systematische Lösung, die wir gefunden haben, richtige Antwort auf die Herausforderungen der Globali- ist ein großer Vorteil, den man nicht kleinreden darf. Im sierung. Die Senkung der Nominalsteuersätze auf unter Vergleich zu den Kapitalgesellschaften werden die Per- 30 Prozent ist der entscheidende Faktor, um einen An- sonenunternehmen steuerlich entlastet. reiz zu schaffen, in Deutschland Gewinne zu versteuern. Natürlich gibt es Länder mit günstigeren Steuersätzen. Wir tun allerdings auch etwas für kleinere Personen- In Irland beispielsweise beträgt die Unternehmensteuer unternehmen. Die bisherige Ansparrücklage nach § 7 g 12,5 Prozent; das werden wir nicht erreichen können. Einkommensteuergesetz wird zu einem Investitionsab- Aber wir müssen den Wettbewerb angehen und all un- zugsbetrag ausgebaut. Begünstigt ist die künftige Anschaf- sere Wettbewerbsvorteile nutzen. fung oder Herstellung eines abnutzbaren beweglichen Wirtschaftsgutes des Anlagevermögens, das überwiegend Ich wende mich gegen die Aussage – die immer wie- betrieblich genutzt wird. Den Rücklagenhöchstbetrag ha- der getroffen wird –, das seien Milliardengeschenke an ben wir von 154 000 Euro auf 200 000 Euro erhöht. Es ist die Unternehmen. Ich bin der Auffassung, dass diese Re- natürlich das Ziel, dass möglichst alle Unternehmen nach (B) form durch den Konjunkturaufschwung, also von den § 7 g Einkommensteuer-gesetz einen Investitionsabzugs- (D) Unternehmen selbst finanziert wird. In der neuesten iwd- betrag geltend machen können. Wir müssen uns – ich Studie wird darauf hingewiesen, dass die Einnahmen aus glaube, das ist sinnvoll – die Stellschrauben für das Be- der Körperschaftsteuer und der Gewerbesteuer, die vor triebsvermögen daraufhin anschauen, ob wir hier alle Be- der Reform 58,5 Milliarden Euro betragen haben, durch triebe erfassen. Das ist in den Beratungen sicher möglich. die Reform auf 51,6 Milliarden Euro sinken werden. Aber allein aufgrund der gegenwärtigen konjunkturellen Wir müssen den Vorwurf der Mittelstandsdelle ernst Entwicklung erhöhen sich diese Einnahmen schon im nehmen. Aber es gibt keinen Zweifel, dass in vielen Be- Jahre 2007 auf 56,2 Milliarden Euro. Das heißt, dass die reichen Erfolge erzielt wurden. Zum Beispiel leistet die Entlastung, die mit der Reform einhergeht, voll gegen- Zinsschranke einen Beitrag zur Finanzierung dieser Re- finanziert wird. Hinzu kommt die veranlagte Einkom- form. Man muss auch feststellen: Sie ist in jedem Fall mensteuer. Es kann also überhaupt nicht von Milliarden- übersichtlicher als die bisherige Regelung. Was haben geschenken die Rede sein. Das ist nur Verhetzung und wir mit § 8 a Körperschaftsteuergesetz – Gesellschafter- Volksverdummung. Wir müssen uns ganz massiv dage- fremdfinanzierung – in der Vergangenheit für Probleme gen aussprechen, dass immer wieder dieser Gegensatz gehabt! Man muss auch einmal sehen, dass hier eine kla- konstruiert wird. rere Regelung entstehen wird. (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Das ist doch Wir müssen die einzelnen Beratungen und Prüfungen keine klare Regelung! Das glauben Sie doch im Rahmen dieser Reform sehr detailliert durchführen. selbst nicht!) Wir wollen, dass alle 2,5 Millionen Mittelstands- betriebe in Deutschland Akzeptanz für die Unterneh- Natürlich muss dafür Sorge getragen werden, dass wei- mensteuerreform entwickeln. Denn sie alle müssen sich tere Beteiligungen von Einzelunternehmen – PPP-Pro- mehr oder weniger an der Gegenfinanzierung beteiligen. jektgesellschaften; die nicht in den Konzern eingebunde- nen Betriebe – damit nicht erfasst werden. Darauf müssen Wir haben einige Freigrenzen geschaffen, die mittel- wir speziell achten. Denn wir wollen nicht, dass durch die standsfreundlich sind und eine wichtige Mittelstands- Zinsschranke mittelständische Betriebe beschädigt wer- komponente darstellen. Von Bedeutung ist, dass alle den. Wir müssen deshalb ganz genau auf die Steuer- Mittelstandsbetriebe entlastet werden; darauf werden wir schraube schauen und nach Lösungsansätzen suchen. achten. Es ist sinnvoll, eine Mittelstandsprüfung durch- zuführen, weil über 70 Prozent der Arbeitnehmer in (Dr. Hermann Otto Solms [FDP]: Lassen Sie Deutschland im Mittelstand beschäftigt werden. Den ei- das mit der Zinsschranke! Dann brauchen Sie nen oder anderen Punkt werden wir uns noch genauer das nicht!) 9354 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Dr. h. c. Hans Michelbach (A) Ich glaube, dass wir auch bei den Mittelstandskolle- (Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: (C) ginnen und -kollegen mit dieser Reform letzten Endes Ein solcher Quatsch!) bestehen können. Denn auch für den Mittelstand ist Aber bei den Löhnen waren wir bereits sehr tüchtig diese Reform im Gesetzblatt immer noch mehr, als es – ich nenne die Zahlen noch einmal –: Saldiert über die Wunschdenken auf dem Papier ist. Deswegen sollten wir letzten zehn Jahre haben wir bei den Löhnen ein Minus uns jetzt an die Arbeit machen. von 5 Prozent. Wir liegen weit hinter den anderen Indus- Herzlichen Dank. triestaaten zurück und sehen hier, wenn wir über Steuer- politik reden, offensichtlich keinen Korrekturbedarf. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten der SPD) Bei den Unternehmensteuern dagegen gibt es nun wirklich keinen Korrekturbedarf. Ich weiß nicht, wie oft wir schon Unternehmensteuern gesenkt haben. Allein in Präsident Dr. Norbert Lammert: meinem politischen Leben habe ich mindestens an zehn Nächster Redner ist der Vorsitzende der Fraktion Die Runden mitgewirkt, in denen die dringende Not der Un- Linke, Oskar Lafontaine. ternehmen aufgegriffen worden ist und die Unterneh- (Beifall bei der LINKEN) mensteuern wegen des internationalen Wettbewerbs im- mer wieder gesenkt werden mussten. Ich prophezeie den Damen und Herren, die uns hier zuschauen, dass dieses Oskar Lafontaine (DIE LINKE): Hohe Haus in dieser Legislaturperiode mindestens eine Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her- weitere Unternehmensteuerreform konzipieren wird, ren! Zwei Wörter haben in den letzten Jahren die Politik weil der internationale Wettbewerb dies ja dringend ge- bestimmt, stärker als viele, die glauben, sie hätten auf bietet. politische Entscheidungen Einfluss. Das eine Wort ist das von den Lohnnebenkosten. Das ist ein wunderbares Nur, meine sehr geehrten Damen und Herren, das Wort, wenn man bestimmte Interessen durchsetzen will. Ganze stimmt nicht. Die Zahlen, die hier gehandelt wer- Man kann dann sagen: Ich möchte die Lohnnebenkosten den, sind schlicht und einfach falsch, die Logik schlägt senken – das ist ja mittlerweile weitgehend Allgemein- Purzelbäume. gut aller Parteien –; man muss dann nicht sagen: Ich Ich beginne einmal beim Finanzminister, der uns ja möchte das Geld für Rentner, für Arbeitslose, für Kranke immer mit solchen logischen Überraschungen beglückt. oder für Pflegebedürftige kürzen. Die Formulierung „Ich Er sagt zum Beispiel: Wenn wir die Mehrwertsteuer möchte die Lohnnebenkosten senken“ ist viel prakti- nicht erhöhen, müssen wir die Rente kürzen. scher. Daher ist sie so gängig und wird überall ge- (B) braucht. (Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir hat- (D) ten schon einmal einen unlogischen Finanz- Dieses Wort hat noch einen weiteren Vorteil. Wenn minister!) man sagt, man will die Lohnnebenkosten senken, dann muss man nicht sagen, man möchte den Unternehmen Diese Logik ist bestechend. Was will man dagegen sa- Milliarden zurückgeben; das würde ja unpopulär klin- gen? Vor lauter Sprachlosigkeit oder Atemlosigkeit kann gen. Es ist viel populärer, zu sagen, wir müssen die Ar- man eine solche Logik schlicht und einfach nicht mehr beitnehmerinnen und Arbeitnehmer entlasten. Die Lohn- durchbrechen. Heute hat er gesagt: Wenn wir die Steuer- nebenkosten haben wir in den letzten Monaten bereits einnahmen erhöhen wollen, dann müssen wir die Steu- gesenkt, wir haben den Unternehmen bereits Milliarden ern senken. erlassen. Ich möchte nur darauf hinweisen, damit das in (Joachim Poß [SPD]: Die Steuersätze!) der heutigen Debatte nicht vergessen wird. Diese verblüffende Logik ist international natürlich ein- Ein zweites Wort, das Politik gemacht hat, ist das vom malig. Standortwettbewerb. Ein wunderbares Wort, wenn man bestimmte Lobbyisteninteressen vertritt. Dann kann (Beifall bei der LINKEN) man sagen: Ist doch klar, wir sind alle im Wettbewerb. Sie wird auf jeden Fall beachtliche Wirkungen im inter- Es müssen die Löhne sinken; denn anderswo sind sie nationalen Dialog entfalten. niedriger. Es müssen die sozialen Leistungen sinken; denn anderswo sind sie niedriger als bei uns. Und natür- Es wird auch immer wieder davon gesprochen, dass lich müssen die Steuern sinken; denn anderswo sind sie mit falschen Zahlen hantiert wird. Ich habe hier die bereits niedriger. Übersicht 2005 über die Körperschaftsteuersätze. Sie können sehen, dass wir bei weitem nicht oben liegen, Diese wunderbare Logik hat sich in der Politik ausge- sondern dass die Länder im unteren Teil – ich habe ihn breitet, und sie hat Folgen. Irgendwann denkt vielleicht rot angekreuzt – weitaus höhere Steuersätze haben. Es der eine oder andere nach und sagt: Na ja, ob man mit ist richtig, Estland hat einen Steuersatz von 0 Prozent, den Löhnen ganz runtergehen kann? Das könnte auch das viel zitierte Irland hat einen Steuersatz von 12,5 Pro- Probleme geben. Denn bei Steuersätzen von null und zent, Lettland hat einen Steuersatz von 15 Prozent usw. Löhnen von null will wahrscheinlich niemand hier in- Eine ganze Reihe von Staaten liegt aber über uns: Frank- vestieren. Selbst Steuersätze von null werden dann nicht reich mit 33 Prozent, Belgien mit 34 Prozent, Malta so- ausreichend sein, um Gewinne zu machen. Spätestens da gar mit 35 Prozent und die USA mit 35 Prozent. Ich will wird diese Logik also infrage gestellt. sie nicht alle vorlesen. Es ist einfach ein Märchen, wenn Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9355

Oskar Lafontaine (A) hier gesagt wird, unser Körperschaftsteuersatz sei zu der barmherzigen Brüder für die DAX-Konzerne. Sie (C) hoch. leiden aber keine Not. Wenn Sie etwas tun wollen, dann korrigieren Sie endlich eine Ungerechtigkeit des Steuer- (Beifall bei der LINKEN) systems, nämlich den Mittelstandsbauch im Einkom- Belügen Sie das Volk doch nicht, wenn Sie hier reden, mensteuertarif. Hierfür hätten Sie wirklich Gründe. sondern geben Sie zunächst einmal die Tatsachen wie- Wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages er- der, wie sie sich international darstellen! rechnet hat, würde das 22 Milliarden Euro kosten. Ihr Ministerium wird das auch errechnet haben. Wenn Sie Im Übrigen ist die Höhe der nominalen Steuersätze gegenfinanzieren wollen, brauchen Sie ja nur den Spit- schlicht und einfach nicht aussagefähig, wie wir wissen. zensteuersatz etwas anzuheben. Dadurch kommen Sie Deswegen war es gut, dass der Finanzminister gesagt sogar noch unter die Ausfälle, die Sie bei Ihrer Unter- hat, der Steuersatz für die mittleren Unternehmen liege nehmensteuerreform zu gewärtigen haben. bei etwa 20 Prozent. Dem möchte ich für meine Fraktion nicht widersprechen. Es wäre aber gut gewesen, wenn er Wie kann man denn in einer Situation, in der die Un- noch ergänzt hätte, dass die effektive Steuerbelastung ternehmen wirklich einmalige Gewinne erwirtschaften, der Kapitalgesellschaften im Jahre 2005 in Deutsch- die Unternehmensteuer weiter senken, während bei sta- land bei 16 Prozent lag. gnierenden oder sogar zurückgehenden Realeinkommen über zehn Jahre niemand auf die Idee gekommen ist, die (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. fleißigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu ent- Joachim Poß [SPD]) lasten? Im Gegensatz zu dem, was Sie vorhaben, wäre – Ja, Sie werden sicherlich ein Institut finden, das eine das hier jetzt doch tatsächlich angebracht. andere Zahl dargelegt hat. (Beifall bei der LINKEN) (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist kein Institut Lafontaine!) Wunder, dass die Steuerreform eine Vorgeschichte hat. Bei vielen ist sie noch deutlich niedriger, verehrter Herr Ein Wirtschaftsminister, der jetzt bei einer Leiharbeits- Finanzminister. Das ist die Realität in Deutschland. Es firma angeheuert hat, ist zu Frau Christiansen geflogen. ist so, wie Sie sagen: Sie sind sehr kundig, wenn es Im selben Flugzeug saß der Präsident des BDI. In der darum geht, Steuern zu mindern und zu verschieben. In- Sendung sagte man sich gegenseitig, Deutschland habe sofern möchte ich diese Zahl einmal festgestellt haben. ein großes Standortproblem. Anschließend gab es den Steuergipfel, an dem Frau Merkel auch beteiligt war. Der Ein Redner der FDP – Herr Solms, glaube ich – hat damalige Kanzler hat gesagt: Aus Gründen des Standort- (B) heute gesagt, dass China jetzt einen Steuersatz von wettbewerbs müssen wir unbedingt irgendetwas tun. (D) 25 Prozent hat. Nach der Logik des Standortwettbewerbs werden wir jetzt ja eine Invasion chinesischer Unterneh- Die Runde hat nur etwas übersehen, was in Deutsch- men nach Deutschland erleben; denn ein kleines Unter- land seit vielen Jahren bekannt ist. Ich zitiere den Christ- nehmen zahlt nur 20 Prozent und ein großes Unterneh- demokraten und Chefredakteur des „Handelsblatts“, men nur 16 Prozent. Hans Mundorf. Er hat immer gesagt, die angebliche Steuerüberbelastung in Deutschland ist ein Phantom- (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN) schmerz. Das ist schlimm. Stellen Sie sich einmal vor, dass jetzt Frau Kollegin Scheel, ich möchte Ihnen noch etwas nach der Logik des Standortwettbewerbs 1 Milliarde zum Thema Populismus sagen. Wenn man hier sagt, ent- Chinesen aufbrechen und hier in Deutschland investie- lastet doch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ren! Das ist wirklich eine ganz schlimme Geschichte. dann ist das vielleicht Populismus. Das ist uns aber lie- (Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sie ber als die Liebedienerei gegenüber den Unternehmer- sollten einmal ernst werden!) verbänden, die seit Jahren die Politik bestimmen. Nun noch ein paar Worte zu einem weiteren Punkt. (Anhaltender Beifall bei der LINKEN) Wenn Sie schon einen solchen Unsinn fabrizieren, dann sollten Sie nicht auch noch die degressive Abschrei- Präsident Dr. Norbert Lammert: bung abschaffen. Karl Schiller – er ist dem einen oder Das Wort erhält nun der Staatsminister der Finanzen anderen noch bekannt – hat jahrelang dafür geworben, des Landes Rheinland-Pfalz, Dr. Ingolf Deubel. dass die degressive Abschreibung nicht abgeschafft wird, damit den Unternehmern auch der Anreiz gegeben (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wird, zu investieren. Warum machen Sie diesen Unfug? der CDU/CSU) Diejenigen, die die Steuerreform an dieser Stelle kritisie- ren, haben völlig Recht. Dr. Ingolf Deubel, Staatsminister (Rheinland-Pfalz): (Beifall bei der LINKEN) Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Unternehmensteuer- Wenn Sie wirklich zu viel Geld haben, dann geben reform, die heute zur Debatte steht, hat einen langen und Sie es doch nicht den DAX-Konzernen, denen es im intensiven Vorlauf. Daran haben sich auch die Länder Moment nun wirklich aus den Ohren läuft. Heute wird beteiligt. Viele Details, wie zum Beispiel Zinsschranke, hier ja fast ein neuer Orden gestiftet, nämlich der Orden Thesaurierungsrücklage, Weiterentwicklung der Gewer- 9356 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Staatsminister Dr. Ingolf Deubel (Rheinland-Pfalz) (A) besteuer, aber auch das neue Verrechnungssystem der duziert, die daraus entstehende Gewerbesteuerlast hat (C) Gewerbesteuer mit der Einkommensteuer, gehen auf dann wiederum die Bemessungsgrundlage der Einkom- Vorschläge der Länder zurück. mensteuer reduziert, und am Schluss ist noch einmal ein Teil der Gewerbesteuer mit der Einkommensteuerschuld Für die offene, konstruktive und vertrauensvolle Zu- verrechnet worden – ein Fall für Steuerberater. Die meis- sammenarbeit möchte ich mich beim Kollegen ten Unternehmer haben das nie verstanden. Deswegen Steinbrück, aber auch bei allen anderen Mitgliedern der haben diejenigen, die kaum noch durch die Gewerbe- politischen Arbeitsgruppe ausdrücklich bedanken. steuer belastet wurden, weiterhin über die Gewerbe- Das Reformvorhaben konzentriert sich zu Recht auf steuer geklagt. Dieses komplizierte System wird nun die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit unseres Un- deutlich vereinfacht. Gewerbesteuer und Einkommen- ternehmensteuersystems. Wettbewerbsfähigkeit heißt steuer werden getrennt berechnet. Anschließend kommt hier zum einen die Verbesserung der Standortbedingun- es zu einer Verrechnung bei Personenunternehmen, und gen in Deutschland und damit weitere positive Impulse zwar zu einer Vollverrechnung bis zu einem Hebesatz für den Arbeitsmarkt, zum anderen aber auch – und von 400 Prozent. genau das ist das Problem unseres Steuersystems –, dass Im Vergleich zum bisherigen System bedeutet das zukünftig Gewinne, die in Deutschland erwirtschaftet nicht nur einen erheblichen Zugewinn an Einfachheit werden, auch zur Zahlung von Steuern in Deutschland und Transparenz, sondern vor allem an Gerechtigkeit führen. und Mittelstandsfreundlichkeit. An Gerechtigkeit des- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten halb, weil bisher eine Verrechnung der Gewerbesteuer der CDU/CSU) zwar im Fall des Spitzensteuersatzes der Einkommen- steuer und bei einem Hebesatz von 400 Prozent zu gut Es nützt nichts, dass in Unternehmensbilanzen großer 90 Prozent, aber bei einem niedrigeren persönlichen Ein- Unternehmen große Gewinne ausgewiesen werden, kommensteuersatz von zum Beispiel 15 Prozent – das ist wenn man dann als Finanzminister, der in die steuerliche Realität bei den meisten kleinen Unternehmen – nur zu Situation ja etwas mehr Einblick hat, feststellen muss, 60 Prozent erfolgt. Im Durchschnitt aller Personenunter- dass davon nur ein sehr geringer Teil in Deutschland als nehmen wurden deshalb im vergangenen Jahr lediglich Steuern ankommt. rund 75 Prozent der Gewerbesteuer mit der Einkommen- Ich möchte dieses Thema aber nicht vertiefen, son- steuer verrechnet. Das heißt im Umkehrschluss, rund dern mich zwei anderen Aspekten widmen, nämlich den 25 Prozent bzw. mehr als 3,5 Milliarden Euro verblieben Auswirkungen der Änderung bei der Gewerbesteuer als Nettobelastung durch die Gewerbesteuer bei Perso- auf die Kommunen einerseits und auf kleine und mitt- nenunternehmen. (B) (D) lere Personenunternehmen, also klassische Mittelständ- Wenn der Gesetzentwurf in der jetzigen Fassung be- ler, andererseits. Dass die kommunalen Spitzenverbände schlossen wird, entfällt diese Belastung zumindest für die geplante Reform ungewöhnlich positiv beurteilen, sämtliche Personenunternehmen, die in Kommunen mit hat nicht nur damit zu tun, dass die Gemeinden finanziell einem Hebesatz von 400 Prozent oder weniger ansässig glattgestellt werden, sondern vor allem auch damit, dass sind. Sie entfällt auch unabhängig davon, ob der persön- sich die Qualität der Gewerbesteuer aus kommunaler liche Einkommensteuersatz bei 42 Prozent oder bei Sicht deutlich verbessert. Sie wird durch die Verbreite- 15 Prozent liegt. Diese Verbesserung für sämtliche Per- rung der Bemessungsgrundlagen an Stetigkeit gewinnen, sonenunternehmen ist der eigentliche Beleg für die Mit- und vor allem in Gemeinden mit vielen kleinen Unter- telstandsfreundlichkeit. 3,5 Milliarden Euro sind kein nehmen dürfte das Aufkommen kräftig steigen. Pappenstiel. Hierfür wird vor allem die Abschaffung des Staffelta- Unabhängig davon, ob eine Ansparabschreibung oder rifs für Personenunternehmen sorgen, aber auch die Ein- eine Thesaurierungsrücklage in Anspruch genommen beziehung der Zinsanteile von Mieten, Pachten, Leasing- wird, es ist unter dem Strich eine Verbesserung. Deswe- raten und Lizenzzahlungen. Durch die Einbeziehung gen kann man von einer Mittelstandslücke nun wahr- dieser Zinsanteile wird eine Gleichbehandlung unter- lich nicht reden. schiedlicher Fremdfinanzierungskonstruktionen erreicht, während bisher nur Dauerschuldzinsen bei der Gewerbe- (Beifall bei der SPD) steuer zugerechnet wurden. Wer von einer Mittelstandslücke fabuliert, sollte sich zur Nun könnte man vermuten, dass sich die deutlichen besseren Orientierung zuerst einmal mit den Auswirkun- Verbesserungen für die Kommunen bei den Unterneh- gen der Neuordnung der Gewerbesteuer und der Gewer- men als entsprechende Verschlechterungen widerspie- besteuerverrechnung befassen. Dann kommt man sehr geln. Dies ist jedoch keineswegs so. Zwar müssen viele schnell zu anderen Ergebnissen. kleine und mittlere Personenunternehmen in Zukunft an ihre Gemeinde eine höhere Gewerbesteuer abführen als Die weiteren Beratungen werden in den nächsten Wo- bisher, unter dem Strich wird diese Zusatzbelastung je- chen hier im Hohen Hause und dann im Bundesrat statt- doch mehr als kompensiert. finden. Über Details wird gesprochen werden müssen. Wer Änderungen wünscht, sollte gleichzeitig Gegen- Dies liegt an der völlig veränderten Verrechnungs- finanzierungsvorschläge machen. Zumindest die 5 Mil- methode bei der Gewerbesteuer. Bisher hat die Gewer- liarden Euro sind eine feste Größe. Ich freue mich auf besteuer zunächst ihre eigene Bemessungsgrundlage re- spannende und ertragreiche Beratungswochen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9357

Staatsminister Dr. Ingolf Deubel (Rheinland-Pfalz) (A) Vielen Dank. gesellschaften, die in der Firma bleiben, werden niedri- (C) ger besteuert als Gewinne, die aus der Firma genommen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) werden. Dies ist ein toller Beitrag zur Stärkung des Mit- telstandes und insbesondere der Eigenkapitalsituation im Präsident Dr. Norbert Lammert: Mittelstand. Nächster Redner ist der Kollege Otto Bernhardt für die CDU/CSU-Fraktion. Dennoch besteht natürlich Diskussionsbedarf. Es gibt ja den bekannten Spruch, dass noch kein Gesetzentwurf (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- so aus dem Bundestag herausgekommen ist, wie er hi- neten der SPD) neingekommen ist. (Reinhard Schultz [Everswinkel] [SPD]: Der Otto Bernhardt (CDU/CSU): kommt vom Altmeister Peter Struck!) Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ausgangspunkt für die Unternehmensteuer- Das wird auch diesmal der Fall sein. Diskussionsbedarf reform, mit der wir uns heute in erster Lesung befassen, – ich sage noch nicht Veränderungsbedarf; der kann aus ist der Tatbestand, dass Deutschland mittlerweile eine der Diskussion entstehen – besteht insbesondere bei Spitzenposition innerhalb der EU bei der nominellen sechs Punkten. Besteuerung von Unternehmergewinnen hat. Herr Der erste Punkt. Ich sage es in aller Deutlichkeit: Wir Lafontaine, Ihre Berechnungen sind falsch. Sie dürfen nehmen natürlich sehr ernst, was der Nationale Normen- nicht nur die Körperschaftsteuer sehen, sondern müssen kontrollrat sagt. Wir werden uns die 40 zusätzlichen auch die Gewerbesteuer einbeziehen. Wenn das, was Sie Meldepflichten ganz genau ansehen, wohl wissend, dass vertreten, in Deutschland Gesetz würde, wäre der Auf- sich viele aus Wahlrechten bei der Besteuerung ergeben. schwung zu Ende. Die Notleidenden wären nicht die Wir werden uns auch die 180 Millionen Euro bei den ge- DAX-Werte, sondern die Arbeitnehmer in Deutschland. ringfügigen Wirtschaftsgütern sehr genau anschauen. Es Ich kann nur sagen: Eine solche Steuerpolitik wäre das wäre gut, wenn wir in der zweiten Lesung sagen könn- Ende des Wirtschaftsstandortes Deutschland. ten: Die neue Unternehmensteuerreform bedeutet unter (Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. dem Strich nicht 72 Millionen Euro mehr Bürokratie, Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sondern vielleicht 20 oder 30 Millionen Euro weniger NEN] – Lachen bei der LINKEN) Bürokratie. An dem Ziel werden wir arbeiten. Der Tatbestand, dass wir zurzeit mit knapp 39 Prozent (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nominell die höchsten Steuersätze haben, hängt nicht neten der SPD) (B) damit zusammen, dass wir in Deutschland die Sätze er- (D) Der zweite Punkt. Ich weiß natürlich, dass leistungs- höht hätten. Vielmehr haben wir sie gesenkt. Das Pro- starke Personengesellschaften durch die Thesaurierungs- blem ist: Andere Länder haben sie stärker gesenkt. Wir möglichkeit viele Vorteile haben. Ich weiß auch, dass der haben eine ganze Reihe von neuen Ländern in die EU größte Teil des Mittelstandes eine Besteuerung von unter aufgenommen, die von vornherein deutlich niedrigere 30 Prozent hat. Der erhebliche Teil davon profitiert aber Sätze hatten. Mit einem Spitzensteuersatz von knapp von der verbesserten Investitionsrücklage. Nun gibt es 30 Prozent lägen wir in einer mittleren Position inner- im Handwerk und bei anderen eine Diskussion über die halb der EU, nicht im unteren Drittel. Das brauchen wir 210 000-Euro-Grenze. Lassen Sie uns auch hierüber bei der Qualität unseres Standortes aber auch nicht. noch einmal diskutieren; vielleicht finden wir noch eine Meine These ist, dass die großen Firmen die vielen le- Möglichkeit, in Richtung 250 000 Euro zu marschieren. galen Gestaltungsmöglichkeiten, die sie bei einem Steu- Der dritte Punkt. Die Zinsschranke ist etwas Neues. ersatz von 39 Prozent natürlich genutzt haben, bei Man weiß nicht so ganz genau, wie sie in allen Berei- 30 Prozent nicht mehr nutzen werden. Deshalb bin ich chen wirkt. In den Vereinigten Staaten gibt es etwas Ver- davon überzeugt, dass ein erheblicher Teil der Gewinne, gleichbares seit vielen Jahren. Frankreich hat eine Zins- die heute in Deutschland entstehen, hier aber nicht schranke am 1. Januar dieses Jahres eingeführt. Wir besteuert werden, in Zukunft wieder in Deutschland be- diskutieren hier nicht über Dinge und über Probleme, die steuert wird. Ich glaube, dass wir mit den niedrigeren es nicht auch in anderen Ländern gibt. Nur, wir wollen Steuersätzen – ich vermute, schon 2009, Herr Minister – uns die Auswirkungen der Zinsschranke auf vier mo- höhere Steuereinnahmen haben werden als heute und derne Finanzierungsformen, die wir brauchen, noch ein- dass diese Unternehmensteuerreform damit auch ein mal ganz genau anschauen: Leasing, Factoring, PPP und Beitrag zur Sanierung der öffentlichen Finanzen ist. Private Equity. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Der vierte Punkt. Wir wollen, dass in Zukunft Schluss Der zweite große Punkt – Kollege Michelbach hat be- mit den Mantelkäufen ist. Firmenkäufe, die nur den reits darauf hingewiesen –: Wir werden die niedrigeren Zweck haben, sich den Verlustvortrag zu sichern, wollen Steuersätze in vollem Umfang auf die Personengesell- wir nicht. Das ist schon jetzt ganz erheblich einge- schaften übertragen. Wir gehen in diesem Bereich zu schränkt. Wir wollen aber noch einmal über die Frage einem Steuersystem über, das wir schon einmal einige diskutieren, wie es mit den Verlustvorträgen bei Sanie- Jahre nach dem Krieg hatten: dem System des gespalte- rungen und Umstrukturierungen in internationalen Kon- nen Steuersatzes. Das bedeutet, Gewinne von Personen- zernen aussieht. Hier muss noch diskutiert werden; ob 9358 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Otto Bernhardt (A) wir zu Veränderungen kommen müssen, mögen wir dann Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) überlegen. Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Solms zulassen? Der fünfte Punkt. Es ist in allen Ländern üblich, dass Funktionsverlagerungen besteuert werden. Aber uns interessiert noch die Auswirkung der Funktionsverlage- Otto Bernhardt (CDU/CSU): rung auf den Bereich Forschung und Entwicklung. Wir Gerne. wollen nicht, dass es zu Nebenwirkungen kommt, die keiner will, um das klar zu sagen. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Bitte schön. (Beifall bei der CDU/CSU) Deutschland ist bei Forschung und Entwicklung an der Dr. Hermann Otto Solms (FDP): Spitze der Welt; wir sind da bei den großen Nationen mit Herr Kollege Bernhardt, was die Abgeltungsteuer an- dabei: betrifft, so können wir als FDP – Sie haben uns ange- sprochen – mit 25 Prozent durchaus leben. Das ist nicht (Vorsitz: Vizepräsidentin Katrin Göring- das Problem. Das Problem bei der Einführung der Ab- Eckardt) geltungsteuer, wie Sie sie vorgesehen haben, ist die Dies muss auch so bleiben. Es soll nicht durch die steu- Besteuerung der Veräußerungsgewinne. erliche Behandlung der Funktionsverlagerung gefährdet (Joachim Poß [SPD]: Gott sei Dank!) werden. Das sind Punkte, über die wir diskutieren. Ich sage aber genauso deutlich, insbesondere an die Kolle- Da darf ich Sie auf ein Zusatzproblem hinweisen, wel- gen von den Sozialdemokraten gerichtet: Wir werden ches dringend zu beachten ist. Das wird die private uns nur in einem Rahmen bewegen, der die 5-Milliar- Altersvorsorge beispielsweise beim Fondssparen ganz den-Euro-Grenze nicht überschreitet. Darauf haben wir stark belasten und zu einer erheblichen Besteuerung füh- uns politisch geeinigt, und dabei bleibt es. Deshalb sage ren, die die Sparer nicht einkalkuliert haben, weil sie das ich jedem, der tolle Vorschläge hat, dass wir diese durch- nicht wissen konnten, als sie ihre Sparverträge abge- aus umsetzen können, dass aber die Gegenfinanzierung schlossen haben. Wenn es dort keine Änderung gibt, aus dem eigenen Projekt, also im Rahmen der Unterneh- dann wird das eine echte Schwächung der privaten Al- mensteuerreform, erfolgen muss. Ich glaube, dass dann, tersvorsorge bedeuten. wenn dies zur Bedingung gemacht wird, die Wünsche weniger werden. Otto Bernhardt (CDU/CSU): (B) Dieser Gesetzentwurf umfasst noch ein ganz wichti- Zunächst einmal freue ich mich, dass wir darin über- (D) ges Thema für den Standort Deutschland – der hessische einstimmen, dass der Übergang zur Abgeltungsteuer ein Ministerpräsident hat darauf hingewiesen –, nämlich den richtiger Weg ist, den auch die FDP unterstützt. Sie se- Übergang zur Abgeltungsteuer. Das ist ein Instrument, hen Probleme bei der zukünftigen Besteuerung der Ver- das mit Sicherheit den Kapitalmarkt in Deutschland stär- äußerungserlöse. Den Punkt, den Sie angesprochen ha- ken wird, es ist ein Instrument, das sicherstellt, dass wir ben, sehen wir auch. Es stellt sich die Frage, ob wir in Zukunft auf viele Informations- und Mitteilungsmel- darüber noch diskutieren müssen. Ich habe das nicht als dungen verzichten können. Wer die 180 Millionen Euro siebten Punkt bei mir aufgenommen. Es gibt bei uns eine bei den geringfügigen Wirtschaftsgütern kritisiert – das Diskussion über Instrumente, die vielleicht zwölf Jahre tue ich auch –, der sollte auch darauf hinweisen, dass der laufen und erst nach dem 60. Lebensjahr in Form von Übergang zur Abgeltungsteuer Bürokratiekosten von Renten ausgezahlt werden. Auch das werden wir im 150 Millionen Euro erspart. Rahmen der Anhörung sehen. Aber ein erheblicher Teil der Kritik an der Abgeltungsteuer hat in der Regel nichts Sicher kann man darüber diskutieren, liebe Kollegen mit der Abgeltungsteuer zu tun, wie auch Sie eben dar- von der FDP, ob 25 Prozent der richtige Satz sind. Ich gestellt haben, sondern mit der Besteuerung der Veräu- sage: Zum Einstieg und bei den Möglichkeiten, die wir ßerungserlöse. Nur, das ist unsere politische Entschei- angesichts der Haushaltssituation haben, ist das ein Pro- dung, die wir schon im Koalitionsvertrag getroffen zentsatz – das sagen uns auch die Bankenvertreter –, mit haben. Ich weiß, dass andere Länder dieses Problem zum dem man einsteigen kann. Ich glaube, dass wir auch bei Teil anders lösen. Aber dies ist der gemeinsame Wille diesem Instrument, ähnlich wie bei der Körperschaft- der Großen Koalition. Dabei werden wir bleiben. Ob wir steuer, beim Übergang relativ schnell keine Ausfälle zugunsten der privaten Altersvorsorge steuerlich noch mehr haben werden, wie es in den Berechnungen des Mi- etwas machen können, ist auch bei uns noch in der Dis- nisteriums heißt, sondern dass wir durch die Erweiterung kussion. der Bemessungsgrundlage und durch den Tatbestand, dass weniger Geld Deutschland verlassen wird, wenn wir Ich möchte auch bei dieser Gelegenheit nicht verges- das neue System haben – ich gehöre sogar zu den Op- sen, ein zweifaches Dankeschön zu sagen. Das erste timisten, die erwarten, dass Geld zurückkommt –, mit der Dankeschön gilt unserem sozialdemokratischen Koali- Abgeltungsteuer ab 1. Januar 2009 einen wichtigen Bei- tionspartner. Ich weiß, dass sich die vielzitierte Basis der trag zur Stärkung des Kapitalmarktes in Deutschland und SPD mit diesem Thema schwerer tut als unsere. Auf der letztlich auch zur Sanierung der Finanzen leisten. anderen Seite gibt es bei uns eine Reihe von Mittelständ- lern, die es gerne gesehen hätten, dass für den Mittel- (Beifall bei der CDU/CSU) stand deutlich mehr gemacht wird. Ihnen mussten wir Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9359

Otto Bernhardt (A) immer wieder sagen: 5 Milliarden Euro ist die Grenze, ternehmensbesteuerung anschaut und einen Vergleich zu (C) zu der wir stehen. dem zieht, was heute hier ins Parlament eingebracht wurde, dann wird erst richtig deutlich, was in der Zwi- Ein besonderes Dankeschön gilt aber auch den Minis- schenzeit politisch geleistet worden ist und welche Inte- terien: zum einen dem Bundesfinanzministerium, aber grationsleistung innerhalb der Koalition erbracht worden auch den Landesfinanzministerien – der Minister hat sie ist. schon genannt –, die hierbei als technische Arbeits- gruppe mitgearbeitet haben. Es war für mich faszinie- (Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des rend zu sehen, wie diese Zwölfergruppe kurzfristig mit Abg. Eduard Oswald [CDU/CSU]) umfassendem Zahlenmaterial bedacht wurde. Zu Beginn der Diskussion hat unser Koalitionspartner Ich finde gut, dass uns der Fehler mit der Körper- zum Beispiel noch überlegt, auf die Gewerbesteuer voll- schaftsteuer und den entsprechenden Ausfällen – Sie ständig zu verzichten. wissen, wovon ich spreche – diesmal nicht passieren wird, weil man viele Hunderte Akten studiert hat und ( [CDU/CSU]: Nein, sie zu das, was wir jetzt vorschlagen, schon einmal durchge- ersetzen, Herr Kollege!) rechnet hat. Das heißt, wir haben uns an der Wirklichkeit Wir haben eine Diskussion über Vorschläge der Stiftung orientiert. Das war natürlich nur unter Einschaltung ver- Marktwirtschaft geführt. Die Umsetzung dieser Vor- schiedener Bundesländer möglich. Ich kann nur sagen: schläge hätte dauerhafte Steuerausfälle in Höhe von Hier ist hervorragende Arbeit geleistet worden. 20 bis 40 Milliarden Euro mit sich gebracht. Man wollte (Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sie ha- an vielen völlig unbekannten Stellschrauben im Steuer- ben sich an der Vergangenheit orientiert!) system drehen. Die Kollateralwirkungen wären für nie- manden absehbar gewesen. Zurück zur Unternehmensteuerreform. Dies ist mit Sicherheit eines der ganz großen Reformvorhaben der Die jetzt vorgesehene Steuerreform zielt darauf ab, Großen Koalition. Um es klar zu sagen: Dieses Vorha- dass die Steuerbelastung und die Steuersätze möglichst ben lassen wir uns von niemandem zerreden. Alle Fach- nahe beieinanderliegen. Der Steuersatz soll Unterneh- verbände stimmen in ihren Stellungnahmen von der men im Inland und im Ausland signalisieren, was sie tat- Grundtendenz her zu, auch wenn in Halbsätzen immer sächlich zu zahlen haben. wieder der Wunsch „Es könnte ein bisschen mehr sein“ geäußert wird. Kollege Lafontaine, Sie haben von dem Mundorf’schen Phantomschmerz geredet. Auch ich habe Ich erinnere daran, dass die Große Koalition sich in den Mundorf’schen Artikel gelesen, in dem zu Recht (D) (B) der Finanzpolitik zwei Ziele gesetzt hat, die sie gleich- dieses Bild gezeichnet wird. Tatsächlich haben viele in- zeitig verwirklichen will: erstens Stärkung der Wachs- ternational tätige Unternehmen über den hohen Steuer- tumskräfte der Wirtschaft. Dem werden wir mit dieser satz geklagt, wohl wissend, dass sie diese Steuern Unternehmensteuerreform gerecht. Zweitens: Konsoli- niemals zu zahlen brauchen, weil es genügend Stell- dierung der öffentlichen Finanzen; deshalb haben wir schrauben und Verschiebebahnhöfe gibt, um dafür zu eine Grenze bei 5 Milliarden Euro gezogen. sorgen, dass für sie ein ganz niedriger Steuersatz gilt. Wir haben doch eine Tabelle, aus der hervorgeht, wie die Dieses Reformvorhaben ist ein hervorragender Bei- Steuerbelastung der DAX-Unternehmen trotz höchster trag, um den Standort Deutschland zu stärken. Das Gewinne ist. Das einzige Unternehmen, das da wirklich heißt ganz konkret, Herr Lafontaine: Es ist ein Beitrag einigermaßen nahe an der Wirklichkeit und an der Steu- zur Sicherung vorhandener Arbeitsplätze. In diesem erehrlichkeit war, ist – das muss man neidlos anerken- Sinne werden wir dieses Projekt abschließen. Der Regie- nen – BASF. Der Rest fiel deutlich ab. Zum Teil wurde rungsentwurf ist schon deutlich besser als der Referen- nur unter 10 Prozent dessen, was an Gewinnen ausge- tenentwurf. Ich bin davon überzeugt: Das, was wir hier wiesen wurde, hier auch tatsächlich versteuert. am 25. Mai in zweiter und dritter Lesung verabschieden, wird noch besser sein. Wir werden unseren Beitrag dazu Das ist nicht hinnehmbar. Das muss zurückgeholt leisten. werden. Insofern wird mit dieser Unternehmensteuerre- form insgesamt ein Volumen von 30 Milliarden Euro be- Herzlichen Dank. wegt, wovon mindestens 25 Milliarden Euro gegenfi- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nanziert sind, was sozusagen der Stabilisierung der neten der SPD) Steuerbasis dient. Dabei geht es bei den großen Konzer- nen um die Zinsschranke. Das heißt, die Konzernbin- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nenfinanzierung wird sozusagen da behindert, wo es ein Gefälle in Richtung Billigsteuerländer gibt. Auch bei Dem Kollegen Reinhard Schultz erteile ich jetzt das Funktionsverlagerungen wird darauf geachtet, dass Wort für die SPD-Fraktion. hochwertige Ideen, Erfindungen, Patente nicht unter Preis über die Grenze geschoben werden mit der Folge, Reinhard Schultz (Everswinkel) (SPD): dass im Nachhinein hohe Lizenzgebühren entstehen, die Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gewinne sozusagen ins Ausland verschieben helfen. So Wenn man zwei Jahre zurückblickt, sich die Ausgangs- wären noch viele andere Maßnahmen zur Stabilisierung positionen in der Diskussion über eine Reform der Un- zu nennen. 9360 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Reinhard Schultz (Everswinkel) (A) Unter dem Strich werden diejenigen, die in der Ver- Natürlich weiß auch ich: Der Teufel steckt im Detail. (C) gangenheit ausgewichen sind, in Deutschland deutlich Wir werden den Gesetzentwurf im Rahmen der weiteren mehr bezahlen als bisher – sie werden im Ausland weni- Beratungen auch unter dem Gesichtspunkt der Praxis- ger, aber in Deutschland mehr als bisher bezahlen –, tauglichkeit auf den Prüfstand stellen. Möglichkeiten für während diejenigen mittelständischen Unternehmen, weitere Entlastungen unter dem Strich sehen wir aller- die in der Vergangenheit kaum Möglichkeiten hatten, dings eindeutig nicht; im Gegenteil: Wir sehen eher die Eigenkapital anzusparen, für Investitionen Vorsorge zu Notwendigkeit zu stabilisieren, wenn denn Möglichkei- treffen – in der Wirtschaftskrise der letzten Jahre ist das ten zur Stabilisierung gegeben sind. sehr deutlich gewesen –, deutlich entlastet werden; das hat Ingolf Deubel klar gesagt. 2,5 Milliarden Euro ist tat- Ich bin fest davon überzeugt: Die kommenden acht sächlich eine Menge Geld. Das geht im Wesentlichen zu- Wochen werden wir gemeinsam nutzen und am 25. Mai gunsten der Stärkung von Eigenkapital und Investitio- mit einem guten Ergebnis aufwarten können. nen. Vielen Dank. Von einer Mittelstandslücke kann überhaupt keine (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Rede sein – das kann ich nur unterstreichen –; im Ge- genteil. Selbst wenn man nur auf den Investitionsab- zugsbetrag schaute und feststellte: „Es gibt einige we- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: nige Unternehmen, die davon nicht betroffen sind, weil Ich schließe die Aussprache. sie zu groß sind, weil sie eine zu hohe Eigenkapitalaus- stattung haben“, so gilt doch: Sie würden unter normalen Von den Fraktionen ist Überweisung der Vorlagen auf Bedingungen in jedem Fall etwas von den Thesaurie- den Drucksachen 16/4841, 16/4857 und 16/4855 an die rungsvorteilen haben; in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge- schlagen. – Damit sind Sie einverstanden. Dann ist die (Joachim Poß [SPD]: So ist es!) Überweisung so beschlossen. es sei denn, sie haben eine so hohe Eigenkapitalausstat- Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 27 a und b tung und eine so kümmerliche Eigenkapitalrendite – das auf: mag es auch geben –, dass man ihnen dringend raten sollte zu überlegen, ob sie den Betrieb unter diesen Be- a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jerzy dingungen überhaupt fortführen. Aber unter normalen Montag, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Bedingungen würden sie eher von der Möglichkeit der Wieland, weiteren Abgeordneten und der Frak- Thesaurierung Gebrauch machen. Das heißt: Alle sind tion des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN einge- (B) (D) mit im Boot. Eine Lücke ist überhaupt nicht zu erken- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform nen. der Telekommunikationsüberwachung (… Ge- setz zur Änderung der Strafprozessordnung) Natürlich gibt es auch die Klage von sehr gering ver- – Drucksache 16/3827 – dienenden Unternehmen, sie hätten von dieser Steuerre- form nichts. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) (Joachim Poß [SPD]: Aber die zahlen auch Innenausschuss keine Steuern!) Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe Ausschuss für Kultur und Medien Die haben wir eigentlich bereits mit der Steuerreform b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jörg van von 2000 erreicht. Wir wissen, dass die Personenunter- Essen, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, nehmen im Schnitt nur 19 Prozent Steuern bezahlen. Mechthild Dyckmans, weiterer Abgeordneter und Denen können wir mit solchen Maßnahmen nicht helfen, der Fraktion der FDP weil wir sie bereits vor einigen Jahren erheblich entlastet haben. Es gibt zwischen 200 000 und 300 000 Unterneh- Reform der Telefonüberwachung zügig umset- men, die so geringe Erträge haben, dass sie wegen der zen hohen Freibeträge überhaupt keine Steuern zahlen. Für die kann der Steuergesetzgeber natürlich nichts mehr – Drucksache 16/1421 – tun. Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss (f) Uns geht es wirklich um Unternehmen, die Leistung Innenausschuss bringen, die investieren sollen, die Beschäftigung schaf- Ausschuss für Kultur und Medien fen sollen. Dann gibt es die Großunternehmen, die auf- Hierfür ist verabredet, eineinhalb Stunden zu debat- grund ihrer starken internationalen Verflechtungen dazu tieren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so beitragen, dass Deutschland immer wieder Exportwelt- beschlossen. meister wird. Wir wollen uns die Weltmeisterschaftsprä- mie mit diesen Unternehmen gern teilen. Davon muss Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem auch diese Gesellschaft etwas haben. Insofern, glaube Kollegen Jerzy Montag, Bündnis 90/Die Grünen. ich, ist die Sache rund. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- (Beifall bei der SPD) SES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9361

(A) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ (C) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DIE GRÜNEN) Politik sollte mit dem Erfassen und Bewerten der Wirk- Auch die Benachrichtigungspflichten, die zu einem ef- lichkeit beginnen; damit möchte auch ich anfangen. Die fektiven Rechtsschutz und damit auch zur Wahrung des Zahl der Telefonüberwachungen in Deutschland steigt Grundrechts gehören, bedürfen einer Erweiterung, eines von Jahr zu Jahr rasant: 1990 waren es 2 500 Fälle, 1995 Ausbaus. 3 500, 2000 15 000, 2004 34 000, 2005 42 000. Hinter diesen 42 000 Fällen stecken Hunderttausende, vielleicht Deshalb machen wir unsere Vorschläge. Wir gehen ei- sogar Millionen von abgehörten Einzeltelefongesprä- nen grundsätzlich neuen Weg. Bisher gibt es einen chen. Das bedeutet: Hunderttausendfach oder millionen- Straftatenkatalog. Ein Straftatenkatalog ist schlimmer fach wurde in das geschützte Grundrecht auf freie Tele- als eine Hydra, bei der erst dann zwei Köpfe anwachsen, kommunikation, auf freien Telefonverkehr eingegriffen. wenn man einen abschlägt; hingegen steigt beim Strafta- tenkatalog die Zahl der Tatbestände, bei denen eine Tele- Wir werden in der Diskussion das Argument hören, kommunikationsüberwachung erlaubt ist, Jahr um Jahr Zahlen sagten für sich genommen nichts aus. an. Der neueste Entwurf der Regierung der Großen (Zuruf von der SPD: Genau!) Koalition sieht weitere neue Tatbestände vor. Natürlich ist es richtig, sich zu überlegen, wie sich die Wir gehen einen neuen Weg, indem wir nicht mehr Telekommunikation insgesamt entwickelt hat. Selbst nach Straftatbeständen suchen, sondern einen Kriterien- wenn man aber die Entwicklung der mobilen Tele- katalog erstellen. Wir wollen eine Telekommunikations- kommunikation, die Tatsache, dass Menschen anders überwachung nur dann, wenn es sich um Verbrechen und viel mehr kommunizieren – natürlich auch Verdäch- handelt oder um Vergehen, die so schwerwiegend wie tige oder Straftäter –, in Rechnung stellt, ist der Anstieg Verbrechen sind, und auch nur dann, wenn in jedem Ein- nicht hinnehmbar. Dazu nur ein Hinweis: 2005 war der zelfall eine Prognose des Gerichts zu dem Ergebnis Mobilfunkmarkt in Deutschland praktisch gesättigt, es kommt, dass es sich um einen schwerwiegenden Fall gab praktisch keinen Zuwachs mehr; trotzdem gab es bei handelt, bei dem wahrscheinlich eine Haftstrafe von der Kontrolle einen Zuwachs um 25 Prozent. über einem Jahr herauskommen wird. Wir werden auch hören, man müsse sich damit abfin- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den, weil die Telekommunikationsüberwachung einem Im Rahmen dieser Debatte will ich schon jetzt sagen, guten Zweck, nämlich der Verfolgung von Straftätern, meine Damen und Herren, insbesondere in Richtung der diene. SPD-Kolleginnen und -Kollegen, dass dieser Wechsel (B) (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Der Wahrheits- ursprünglich nicht einmal eine Idee von uns Grünen war. (D) findung!) Denken Sie in der Debatte einmal darüber nach, von wem diese Idee gekommen ist – eine glänzende Idee, die Ich sage Ihnen dazu: Laut Zahlen der Ermittlungsbehör- wir übernommen haben, von der Sie aber heute offen- den führen 60 bis 70 Prozent aller Telekommunikations- sichtlich nichts mehr wissen wollen, weil Sie mit dem überwachungen zu einem Ergebnis; das bedeutet, dass falschen Koalitionspartner zusammenarbeiten. 30 bis 40 Prozent aller Telekommunikationsüberwa- chungen bei Personen durchgeführt wurden, die un- (Zurufe von der CDU/CSU: Oh! – Hellmut schuldig geblieben sind. Aber auch das Abhören derjeni- Königshaus [FDP]: Das ist wahr!) gen, die verdächtig sind, jede einzelne Telefonabhörung Wir schützen alle Berufsgeheimnisträger gleicher- ist ein schwerwiegender Eingriff in ein Grundrecht. Des- maßen, und zwar deswegen, weil man keine Unter- wegen ist es nicht hinnehmbar, dass die Zahl der Tele- kommunikationsüberwachungen fortwährend wächst. schiede hinsichtlich des Vertrauensverhältnisses des Arztes, des Verteidigers oder des Abgeordneten machen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kann. Jeder, der eine Abstufung vornehmen will, ist da- für begründungspflichtig; aber eine solche Begründung Wir haben viele Jahre auf wissenschaftliche Gutach- gibt es nicht. ten gewartet, die der Bundestag und die Bundesregie- rung in Auftrag gegeben haben. Die Ergebnisse, die jetzt Wir schützen den Kernbereich der persönlichen Le- vorliegen, sind erschreckend: Die Justiz nimmt bisher bensgestaltung auf eine vernünftige, der Praxis entge- nicht in ausreichendem Maße die Kontrollfunktion genkommende Weise. Da, wo live abgehört wird, muss wahr, die sie wahrnehmen sollte. abgeschaltet werden, und wo automatisiert abgehört wird, sind die Ergebnisse nicht verwertbar. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Was?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Mehr als ein Viertel aller Beschlüsse sind entweder über- haupt nicht oder nur formelhaft begründet worden. Meine Damen und Herren, ich habe zu wenig Zeit, Somit wird nicht ersichtlich, ob die Justiz in jedem Ein- um, obwohl wir den Gesetzentwurf vorschlagen, Ihnen zelfall tatsächlich das Grundrecht auf freie Telekommu- all seine Elemente in meinem Redebeitrag nahezubrin- nikation in den Blick genommen hat, ob eine Abwägung gen. Ich will nur noch auf einen Punkt kommen. Wir wa- gegen das Strafverfolgungsinteresse stattgefunden hat. ren, Herr Kollege Benneter, so ehrlich, in unseren Ge- Die Arbeit der Justiz muss also erheblich verbessert wer- setzentwurf am Schluss hineinzuschreiben, dass es auch den. Alternativen gibt; sie sind aber die schlechteren. 9362 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Jerzy Montag (A) Schauen Sie sich Ihren Entwurf an. Obwohl unser Ge- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (C) setzentwurf heute zur Debatte im Bundestag vorliegt, Das ist ein Qualitätsmerkmal!) schreiben Sie in Ihrem Gesetzentwurf, es gebe keine Al- Die Grünen verkennen einmal mehr, dass wir uns in ternativen. Davon müssen Sie Abstand nehmen. Wir einem Spannungsfeld bewegen. Dieses Spannungsfeld werden Ihnen in der Debatte zeigen, dass es Alternativen kennt doch jeder. In ihm stehen sich verschiedene Inte- gibt und dass unsere die bessere ist. ressen nahezu unversöhnlich gegenüber. Auf der einen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Seite steht der Grundrechtschutz aus Art. 10 und Art. 13 des Grundgesetzes. Auf der anderen Seite gibt es natürlich die Pflicht des Staates zu einer effektiven Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Strafverfolgung, die nicht zu einem zahnlosen Tiger Jetzt hat der Kollege Dr. Jürgen Gehb für die CDU/ verkommen darf. CSU-Fraktion das Wort. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das will doch niemand!) Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir be- Das ist ständige Rechtsprechung des Bundesverfas- fassen uns heute mit zwei Anträgen: einem Gesetzent- sungsgerichts und wesentlicher Auftrag des staatlichen wurf von Bündnis 90/Die Grünen und einem Antrag der Gemeinwesens. FDP zur Telekommunikationsüberwachung. Hintergrund In dieser Konstellation befinden wir uns übrigens sind diverse Entscheidungen des Bundesverfassungs- häufig. Gestern konnten wir es bei der Debatte über die gerichts zur akustischen Wohnraumüberwachung, Patientenverfügung erleben: aber auch zur Telekommunikationsüberwachung. In diesen werden die Anforderungen an die verdeckte Er- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- mittlungsmaßnahme der Überwachung festgelegt. Weil NEN]: Da gab es aber kein Strafverfolgungsin- diese Entscheidungen, auf die ich noch näher eingehen teresse!) werde, zu einem guten Teil schon etwas älteren Datums Selbstbestimmung auf der einen Seite und Schutz des sind, hat die Bundesregierung bereits seit längerem ange- Lebens auf der anderen Seite. Die Frage ist immer, wel- kündigt, ein harmonisches System der verdeckten straf- chen Ausgleich man zwischen den verschiedenen Inte- prozessualen Ermittlungsmethoden zu schaffen. ressen findet. Man spricht in diesem Zusammenhang Gestern haben wir uns darüber unterhalten, dass es vom Prinzip der praktischen Konkordanz. Man muss auch die Möglichkeit einer Überwachung aus präventi- diese sich widerstreitenden Prinzipien, die alle im Grundgesetz stehen, irgendwie sinnvoll zum Ausgleich (B) ven Gründen gibt. Heute beschäftigen wir uns aus- (D) schließlich mit den repressiven Gründen, die in den bringen. Darüber streiten wir uns. Aber das ist nun ein- §§ 100 a ff. StPO geregelt sind. mal das Wesen einer Demokratie. Dass Sie immer dabei den Kürzeren ziehen, ist das Gute an der Demokratie. Schon in der 14. und in der 15. Legislaturperiode gab es Ansätze. Sie konnten aber offenbar aufgrund damali- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und ger Regierungskoalitionen und -konstellationen nicht der SPD – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ zum Erfolg geführt werden. Ich darf Ihnen vorab versi- DIE GRÜNEN]: Denken Sie an die Zeit Ihrer chern, dass die jetzige Regierungskoalition – keine Opposition, Herr Gehb!) Angst, Herr Montag; die jetzige Regierungskoalition ist Es ist klar, dass es keinen hundertprozentigen Schutz schon die richtige, jedenfalls gemessen an der Bench- vor Straftaten geben kann. Bei dem Gesetzentwurf der mark Grüne die bessere – auf einem besseren Weg ist. Grünen ist aber nach unserer Auffassung die genannte Wir werden in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen, mit Abwägung misslungen. Das Strafverfolgungsinteresse dem die verdeckten Ermittlungsmethoden insgesamt des Staates wird gegenüber dem Grundrechtschutz wei- einer Neuregelung zugeführt werden. ter zurückgesetzt, als dies nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts notwendig wäre. Ihr Gesetz- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- entwurf weist zudem – ich komme gleich darauf zu spre- NEN]: Da sind wir gespannt!) chen; das wundert mich sehr, Herr Montag – auch hand- Wenn man sich den von den Grünen vorgelegten Ent- werkliche Mängel auf; er ist inkonsequent bei der wurf ansieht, dann versteht man, warum die rot-grüne Verfolgung seines Anliegens und greift auch zu kurz. Ich Koalition nicht zu Potte gekommen ist. Die Grünen ha- will diese einzelnen Punkte nacheinander abarbeiten. ben offenbar wieder alles in den Gesetzentwurf hinein- Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entschei- gepackt, was sie in der Zeit ihrer Mitregierung auf Bun- dung vom 27. Juli 2005 klargestellt – ähnlich wie kurz desebene gegenüber der SPD nicht haben durchsetzen zuvor bei der Entscheidung zur Wohnraumüberwachung –, können. Ich betone ausdrücklich: Das war auch gut so. dass auch im Bereich der Telekommunikationsüberwa- (Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele chung Regelungen zum Schutz des Kernbereichs pri- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) vater Lebensgestaltung erforderlich sind. Es hat dabei aber betont, dass insoweit nicht die im Hinblick auf die Der Gesetzentwurf atmet unverkennbar den Geist – wo akustische Wohnraumüberwachung erhöhten Ein- fällt der Blick hin? Er ruft schon dazwischen – von griffsanforderungen des Art. 13 des Grundgesetzes wie Herrn Ströbele. in der Wohnraumüberwachungsentscheidung, sondern Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9363

Dr. Jürgen Gehb (A) – das ist verständlich – niederschwelligere Eingriffshür- (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (C) den einzubauen sind. Deshalb ist die Eingriffsschwelle NEN]: Sie haben wieder ein christliches Fami- bei der akustischen Wohnraumüberwachung höher anzu- lienbild!) setzen – denn in dem Fall muss man erst in die Wohnung eines Menschen gelangen – als bei der telefonischen Jetzt kommen wir zur handwerklichen Insuffizienz. Überwachung mit ihren technischen Möglichkeiten. Die Telekommunikationsüberwachung wird mit Einzel- Man spricht einmal von den qualifizierten Gesetzesvor- fallregelungen zum Verfahren geradezu überfrachtet. behalten und einmal von den einfachen Gesetzesvorbe- (Ute Kumpf [SPD]: Insuffizienz? Ich kenne halten. Das ist unter Juristen unstreitig. nur Inkontinenz!) Im Gesetzentwurf der Grünen wird der Berufsge- – Nicht Inkontinenz. Das ist etwas anderes. Darüber heimnisträgerschutz absolut und nicht differenziert können wir uns noch unterhalten. Auch dies ist eine be- nach den einzelnen Berufsgruppen geregelt. sondere Form der Insuffizienz; denn die Blaseninsuffizi- enz nennt man auch Inkontinenz. Dann gibt es noch et- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- was Ähnliches mit „Im…tenz“. NEN]: Eben! Das ist gut so!) (Ute Kumpf [SPD]: Das lassen wir lieber Dies gilt aber wiederum nur für die Telekommunika- weg!) tionsüberwachung und für die Verkehrsdatenerhebung. Jetzt wollen Sie Folgendes machen: Sie wollen sich Das Bundesverfassungsgericht hat indessen nur für Ver- von dem enumerativen Straftatenkatalog lösen – das ha- teidiger und Seelsorger eine absolute Schutzwürdigkeit ben Sie eben in Ihrer Rede gesagt –, obwohl dies in der anerkannt und hat dies aufgrund Art. 46 und Art. 47 des Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, bei der es Grundgesetzes auch für Abgeordnete getan. Für die übri- um die Aufhebung einer landesrechtlichen Regelung in gen Berufsgeheimnisträger ist ein solcher absoluter Niedersachsen geht – ich habe sie eben angesprochen –, Schutz nicht geboten. Er ist vielmehr mit dem öffentli- ausdrücklich verlangt wird. chen Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung un- vereinbar. Dann schreiben Sie in Ihrem Gesetzestext sinngemäß – ich bitte die Feinschmecker unter den Juristen, einmal (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- zuzuhören –: Die Anordnung von Telekomüberwa- NEN]: Er ist von uns gewollt!) chungsmaßnahmen soll bei Verbrechen oder – vielleicht Zudem knüpft der in Ihrem Gesetzentwurf enthaltene ist irgendein Rechtskundiger im dritten Semester auf der Berufsgeheimnisträgerschutz nicht an die Reichweite Tribüne – bei Vergehen möglich sein, die mit einer Frei- (B) des Zeugnisverweigerungsrechts an – obwohl Sie das in heitsstrafe von mindestens einem Jahr bedroht sind. (D) Ihrem Gesetzentwurf schreiben –, sondern an die Person ( [CDU/CSU]: Das sind des Trägers. Damit wären auch Gespräche einer Heb- Verbrechen!) amme einer Abhörmaßnahme nicht zugänglich, auch wenn es vielleicht um etwas ganz anderes geht als um Der Deliktscharakter des Verbrechens ist gerade, ein Gespräch über eine schwierige Zangengeburt. Es dass es mit einer Mindeststrafe von einem Jahr bedroht wird also nicht an die Zeugnisverweigerungseigenschaft, ist. Nun schütteln Sie den Kopf; Gott sei Dank sehen Sie sondern nur an die Berufsgeheimnisträgerschaft ange- von einer Zwischenfrage ab, Herr Montag. Sie versu- knüpft. chen, dies in der Begründung zu erklären, indem Sie sa- gen: Das hat zur widersprüchlichen Folge, dass die betrof- (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE fene Person darüber zwar als Zeuge aussagen müsste, GRÜNEN]: Sie haben nichts verstanden, Herr aber ein entsprechendes Telefongespräch nicht abgehört Kollege!) werden dürfte. Es gibt Delikte bzw. Vergehen, deren Strafmaß unterhalb Das gilt auch für den Nachrichtenmittler. Zum Bei- der Mindeststrafe von einem Jahr liegt – deshalb sind es spiel könnte der Sohn eines Rechtsanwaltes, der die An- Vergehen –, die aber durch Qualifizierungen eine Min- weisungen eines Beschuldigten für einen Betäubungs- deststrafe von einem Jahr erforderlich machen. mitteltransport entgegennimmt, nicht mehr abgehört werden, weil der Anschluss dem Vater gehört, der eben (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: als Rechtsanwalt Berufsgeheimnisträger ist. Das ist doch Wenigstens lesen Sie die Begründung!) eine kuriose Konsequenz. Dasselbe gilt auch für Ange- Schreiben Sie das doch auch in den Gesetzestext hinein, hörige von Verdächtigen. Wenn jemand seine Ehefrau Herr Montag! Sie wissen es doch. Das ist handwerklich quasi als Schutzschild auf eine Drogenkurierfahrt mit- dilettantisch. nimmt, kann der Fall mit verdeckten Ermittlungsmaß- nahmen nicht mehr bearbeitet werden. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es nicht verstanden!) (Lachen des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]) Nun scheint Ihr Gesetzentwurf auch verfassungs- rechtlich sehr fragwürdig zu sein. Das Bundesverfas- – Ja, Herr Montag, das ist zum Lachen. Aber es ist Ihr sungsgericht hat in seiner bereits erwähnten Entschei- Entwurf. Sie lachen also über Ihren eigenen Entwurf. dung vom 27. Juli 2005 gefordert, dass gesetzliche 9364 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Dr. Jürgen Gehb (A) Regelungen zur Telekommunikationsüberwachung ein Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) „auf die Besonderheiten der Telekommunikationsüber- Herr Kollege Gehb, es kann sein, dass Sie noch wei- wachung zugeschnittenes gesetzgeberisches Konzept“ terarbeiten müssen; denn ich erteile jetzt dem Kollegen enthalten müssen. Es hat moniert, dass das seinerzeit Montag das Wort zu einer Kurzintervention. aufgehobene Landesgesetz keine abschließende Um- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sonst versucht schreibung der Straftaten enthalten hatte, wegen deren er es immer mit Zwischenfragen! Jetzt macht nämlich Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen er es endlich mal richtig!) angeordnet werden können. Das ist auch logisch; denn der Gesetzgeber hat zu be- Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): gründen, dass die Anlasstaten den besonderen Anforde- Danke, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Dr. Gehb, rungen an die Zulassung solcher Maßnahmen gerecht nachdem Sie es, wie wir es von Ihnen gewohnt sind, werden, mithin, dass diese ein erforderliches und ange- nicht geschafft haben, sachliche Argumente und eine messenes Mittel zur Aufklärung dieser Straftaten sind. sachliche Auseinandersetzung von persönlich gefärbten Das heißt, wir brauchen einen Katalog und keine ro- Angriffen zu trennen, und mich in dieser Art und Weise mantische Umschreibung, so wie Sie das wollen. Gerade mehrfach in Ihrem Redebeitrag angesprochen haben, das hat keinen Bestand vor dem Bundesverfassungsge- habe ich mich doch entschlossen, Ihnen kurz zu erwi- richt gehabt. dern. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE Die Entscheidung, die sich auf den niedersächsischen GRÜNEN]: Keine Ahnung von Romantik!) Fall bezogen hat, hat mitnichten einen Straftatenkatalog als verfassungsrechtliche Grundvoraussetzung für eine Ihre weitere Forderung, dass nicht von vornherein mit verfassungsmäßige Telekommunikationsüberwachung einer geringeren Freiheitsstrafe zu rechnen sein darf, ist gefordert, lieber Herr Kollege Gehb, sondern lediglich ebenfalls völlig praxisfern. eine ausreichende Konkretisierung der Umstände, bei denen ein solcher Eingriff zulässig ist. Wir sind der fes- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: ten Überzeugung, dass das in unserem Kriterienkatalog Das steht in der Strafprozessordnung, Herr richtig und ausreichend gelungen ist. Kollege! Das ist jetzt schon Praxis!) Noch schlimmer ist aber, dass in Ihrer Rede fortwäh- So etwas kann insbesondere zu Beginn der Ermittlungen rend durchscheint – das scheint Ihre Überzeugung zu zumeist gar nicht zuverlässig beurteilt werden. sein –, dass Sie den Bürgerinnen und Bürgern dieses (B) Staates die Grundrechte nur in dem Maße zu gewähren (D) Nun will ich mich nicht nur mit den Grünen beschäf- bereit sind, das das Bundesverfassungsgericht als ab- tigen. Auch die FDP hat einen Antrag eingebracht. Sie solut unterste Marke definiert hat. Das ist Grundrechts- fordert, dass die Bundesregierung einen Gesetzentwurf gewährung nach Gutsherrenart. Sie wollen nur das vorlegen möge. Insofern, Herr van Essen, sind wir, wie beachten, was das Bundesverfassungsgericht in Abgren- man so schön sagt, ein omnimodo facturus, ein ohnehin zung zur Verfassungswidrigkeit als absolut notwendig zur Tat Geneigter. Wir legen demnächst einen Gesetzent- erachtet. Sie sind gegenüber den Grundrechten der Bür- wurf vor, mit dem wir die Umsetzung der Richtlinie des gerinnen und Bürger nicht generös. Das ist der Unter- Europäischen Parlaments und des Rates zur Vorrats- schied zwischen Ihrer und unserer Rechtspolitik. Jawohl, datenspeicherung vom 15. März in das nationale Parla- wir gehen bewusst mit unseren Vorschlägen über das ment einbringen. Sie versuchen natürlich, uns ein biss- vom Bundesverfassungsgericht als absolut notwendig chen Beine zu machen. Das ist die Art einer beschriebene Minimum hinaus. Oppositionspartei; dafür habe ich Verständnis. Wie ge- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – sagt, wir tun dies. Wir werden eine adäquate Abstim- Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ mung zwischen den von mir eben schon näher dargeleg- DIE GRÜNEN]: Da bleibt Ihnen die Spucke ten Interessenkollisionen vornehmen. weg, was, Herr Gehb?) Deswegen, Herr Montag und liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen: Wenn wir in das Gesetz Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: schreiben: „Dazu gibt es keine Alternative“, sind natür- Herr Kollege Gehb. lich immer taugliche Alternativen gemeint. Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): (Lachen des Abg. Jerzy Montag [BÜND- Herr Kollege Montag, uns verbindet – jedenfalls NIS 90/DIE GRÜNEN]) fernab der Kameras – eine nahezu freundschaftliche Be- ziehung. Ich wünsche Ihnen allen ein schönes Osterfest und einen schönen Freitag. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das kann ich bestätigen!) Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Ich wüsste nicht, inwiefern ich Sie eben menschlich zu (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und hart angepackt haben könnte. Letztens – als ich in einer der SPD) Debatte das Beispiel der Montagsautos und des Mon- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9365

Dr. Jürgen Gehb (A) tagsgesprächs genannt habe – hätte ich das noch verstan- Wolfgang Bosbach [CDU/CSU]: Da würde es (C) den. hier ganz ruhig!) (Heiterkeit bei der SPD) – Ja, genau. – Aber mein beruflicher Hintergrund ist in Heute kann ich nichts dergleichen erkennen. Wenn Sie einer solchen Debatte von Bedeutung. Wenn man sich sich dennoch etwas zu hart angegangen gefühlt haben als jemand, der 14 Jahre als Staatsanwalt bzw. Ober- – es kommt schließlich immer auf den Empfängerhori- staatsanwalt in der Justiz tätig war, zu Wort meldet, dann zont an –, dann bitte ich das zu entschuldigen. Das ist nie fließt auch der berufliche Hintergrund in die Bewertun- meine Absicht. Wie Sie wissen, fröne ich dem Grundsatz gen ein. Das ist selbstverständlich. „Suaviter in modo, fortiter in re“. Zu meinen beruflichen Erfahrungen gehört, dass ich (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und in vielen Fällen solche Telefonüberwachungen vorge- der SPD sowie des Abg. Hellmut Königshaus nommen und zum Teil auch an den Auswertungen teil- [FDP]) genommen habe. Nun zur Sache, Herr Montag. Ihr „Prä“ ist: Möglichst (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- viel Grundrecht und damit möglichst wenig Tauglichkeit NEN]: Doch nicht als Staatsanwalt! Die haben für die strafprozessualen Ermittlungen. Sie beantragt!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Dadurch weiß ich, wie privat solche aufgezeichneten NEN]: Nein!) Gespräche sind. Man denkt dann darüber nach, wie ei- nem zumute wäre, wenn das eine oder andere Gespräch Jetzt muss man als politische Partei schon den Vorwurf aufgezeichnet worden wäre, das man selbst geführt hat. ertragen, dass man sich gerade so im Rahmen der Recht- Richtig wohl wäre einem nicht dabei. sprechung des Bundesverfassungsgerichts bewegt. Ich könnte den Vorwurf gerade noch verstehen, wenn man Ich muss gestehen: Das passiert einem manchmal sich außerhalb dieses Rahmens bewegt hätte. Die Gren- sogar bei dienstlichen Gesprächen. Ich habe einmal ein zen, die uns das Bundesverfassungsgericht gezogen hat, Gespräch mit einem Kollegen geführt, den wir überwa- sind eng genug und berühren ihrerseits fast die Grenzen chen mussten. Hinterher stellte sich nämlich heraus, dass der Tauglichkeit strafprozessualer Methoden. er, ein Dezernent zur Verfolgung der organisierten Kri- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: minalität, von ebenjener gekauft war. Ich musste ein sehr Aha! Ich höre eine Kritik am Bundesverfas- kritisches Gespräch mit ihm führen, weil er eine Revi- sungsgericht!) sionsbegründung ausgesprochen schlecht gemacht hat. (B) Ich muss gestehen, dass ich in diesem Gespräch sehr (D) Wenn wir uns deshalb in diesem Rahmen bewegen, dann deutliche Worte gefunden habe. In diesem Zusammen- ist es ähnlich wie bei der Ausnutzung einer Rechtsmittel- hang habe ich gemerkt, wie sehr man darüber nachdenkt, frist: Man kann am ersten Tag, aber auch am letzten Tag wenn man hinterher erfährt, dass das Ganze aufgezeich- Rechtsmittel einlegen. net worden ist. Die Sensibilität, die man da entwickelt, Wir möchten den berechtigen Interessen Rechnung hat jeder Bürger. Ich finde, dass wir gut daran tun, mit tragen. Die Ermittlung dient übrigens auch dem Bürger Eingriffen in die private Sphäre, die von der Verfas- und ist eine Garantiepflicht, die dem Gesetzgeber ob- sung hochgehalten wird, vorsichtig umzugehen. Wir liegt. Wir würden den Menschen einen Tort antun, wenn sollten beobachten, ob der Staat in einer Weise vorgeht, wir sie gegenüber dem organisierten Verbrechen ohne die den rechtlichen Anforderungen genügt. Schutz ließen. Macht man eine Lagebewertung, muss man feststel- (Beifall bei der CDU/CSU) len: Wir haben Nachbesserungsbedarf, (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: DIE GRÜNEN) In der Hoffnung, dass jetzt alle Ihre Geständnisse über Ihre persönlichen Leidenschaften nachvollziehen aber nicht, lieber Herr Kollege Gehb, weil die Strafver- konnten, folgung behindert werden soll. Ich persönlich bin gerne Oberstaatsanwalt gewesen, weil ich Oberstaatsanwalt in (Ute Kumpf [SPD]: Leidenschaft? Frau Präsi- einem Rechtsstaat war. Es dient auch der Staatsanwalt- dentin, hören Sie auf!) schaft, wenn wir uns streng an das Gesetz halten. gebe ich jetzt das Wort dem Kollegen Jörg van Essen. (Joachim Stünker [SPD]: Das ist gut!) (Beifall bei der FDP) Da die Justiz anderen vorwirft, gegen Gesetze verstoßen zu haben, ist es umso wichtiger, dass sie sich ganz streng Jörg van Essen (FDP): an die Gesetze hält. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich werde es mir verkneifen, meine persönlichen Lei- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ denschaften vorzutragen. DIE GRÜNEN) (Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ In den Untersuchungen verschiedener wissenschaftlicher DIE GRÜNEN]: Das wäre die Eisenbahn! – Institute, zum Beispiel der Universität Bielefeld oder des 9366 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Jörg van Essen (A) Max-Planck-Instituts, ist eine Menge an Kritik deutlich Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): (C) zum Ausdruck gebracht worden. Herr Kollege van Essen, Sie haben in Ihrer Rede eben nicht ganz ohne Selbstbeweihräucherung gesagt, dass Wenn wir einen Antrag auf Genehmigung einer Tele- Ihre Anträge so gut waren und so ordentlich formuliert fonüberwachung beim Ermittlungsrichter gestellt haben waren, dass der Richter sie eigentlich nur noch hat unter- – auch hier fließen meine Erfahrungen in meine Rede schreiben können. Drei Sätze später haben Sie gerügt, ein –, dann haben wir diesen Antrag so formuliert, dass dass genau dieses Vorgehen zu einer unkontrollierten er nur noch unterschreiben musste. Es entspricht nun Durchlaufpostenschieberei führt. einmal der menschlichen Natur, dass man eher bereit ist, eine Unterschrift zu leisten, als wenn man noch eine ei- (Zurufe von der FDP: Nein!) gene Arbeitsleistung erbringen müsste. Deswegen haben Können Sie mir das erklären? Soll der Antrag so gut wir diese Genehmigungen in aller Regel bekommen. sein, dass man ihn nur noch zu unterschreiben braucht, (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Herr van Essen, oder sollte man, weil man meint, man müsse es um des das ist einfach Lebenserfahrung!) Änderns willen noch ändern, mehr als die Unterschrift unter den Antrag setzen? Ich wollte nur fragen, ob ich Herr Kollege Montag, ich muss ganz ehrlich sagen: Sie richtig verstanden habe. Wenn nicht, lasse ich mich Nicht jeder Fehler, der in der Untersuchung der Univer- jetzt gerne aufklären. sität Bielefeld aufgezeigt worden ist, bedeutet, dass die Telefonüberwachung auch tatsächlich materiell rechts- Jörg van Essen (FDP): fehlerhaft war. Ich zum Beispiel habe in mehreren Fällen Lieber Herr Kollege, ich weiß, dass Sie Verwaltungs- eine von der Polizei beantragte Telefonüberwachung ab- richter sind. gelehnt, weil ich sie nicht für notwendig erachtet habe. Es ist Aufgabe der Staatsanwaltschaft, das zu prüfen. (Heiterkeit – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Und deshalb von der Sache (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Geht nicht viel versteht?) doch! – Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ihr Rich- ter wusste: Wenn der Antrag von van Essen Deshalb habe ich Verständnis dafür, dass das eine oder kommt, ist er in Ordnung!) andere Strafrechtliche für Sie unbekannt ist. – Vielen Dank für die freundlichen Worte. (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Aber er hat doch ordentlich studiert!) Lieber Herr Kollege Gehb, wir haben den Richter in Es ist tatsächlich so, dass der Richter alle Anträge, die (B) unserem Antrag bewusst als Kontrollinstanz vorgesehen. ich gestellt habe, unterschrieben hat. Ich bin mir aber gar (D) Wenn das Ganze nur ein Durchlaufposten wäre, könnten nicht sicher, ob ich in all den Fällen, in denen ich den wir auf den Richter verzichten. Wenn wir das nicht wol- Antrag gestellt habe, tatsächlich die richterliche Zustim- len, müssen wir – das ist unsere Auffassung – die rich- mung verdient hatte. Ich persönlich war davon über- terliche Kontrolle stärken. zeugt, aber es gab einige Fälle, bei denen ich ehrlich sa- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ gen muss, dass wir überlegt haben, ob wir die DIE GRÜNEN) richterliche Zustimmung bekommen oder nicht. Wir ha- ben sie bekommen, weil wir es dem Richter leicht ge- Das beabsichtigen auch Sie mit Ihrem Entwurf ganz of- macht haben. Darauf habe ich hingewiesen. fensichtlich. Weil es sich um den Eingriff in ein Grund- Ich habe zweitens darauf hingewiesen – ich unter- recht handelt, müssen wir nach meiner Auffassung zu ei- streiche das noch einmal –, dass es hier um einen ganz ner besseren richterlichen Kontrolle kommen. Das stört wesentlichen Eingriff in ein Grundrecht geht. Deswegen die Strafverfolgung im Übrigen überhaupt nicht. hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass ein Richter als zu- (Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU] meldet sätzliche Kontrollinstanz überprüfen soll, ob das ge- sich zu einer Zwischenfrage) rechtfertigt ist. Deshalb komme ich erneut zu der Fest- stellung, dass wir die Routineunterschriften, die es – Bitte sehr. offensichtlich gibt, ändern müssen, sodass es eine wirkli- che Kontrolle durch den Richter gibt. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Ich gehe davon aus, dass Sie, Herr Kollege van Essen, DIE GRÜNEN) eine Zwischenfrage des Kollegen Gehb zulassen möch- Ich habe, wie Sie sehen, Vertrauen in Ihre richterlichen ten. Kollegen. Ich glaube, dass an dieser Stelle ganz erheblicher Jörg van Essen (FDP): Nachbesserungsbedarf besteht. Ja. Herr Kollege Gehb, ich fahre mit Ihnen fort. Sie ha- ben Kritik am Gesetzentwurf der Grünen geübt. Ich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: freue mich übrigens, dass wir jetzt endlich einen Gesetz- Bitte schön, Herr Gehb. entwurf haben. Wenn man als kleine Fraktion das Hand- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9367

Jörg van Essen (A) werk, einen Gesetzentwurf auszuarbeiten, ausübt, kann und ich nicht benachrichtigt habe. Das ist ohne Konse- (C) der eine oder andere Fehler passieren. Das sollten wir quenzen geblieben. Derjenige, der nicht davon erfährt, – das muss ich ganz ehrlich sagen – nicht kritisieren. Da- kann sich nicht darüber aufregen. Aber wir wollen es an- hinter steht kein großes Ministerium mit 4 000 Mitarbei- ders. Er muss sich aufregen können. Ich finde, dass er tern. Das ist handwerkliche Arbeit. Ich finde, wir sollten das Recht hat, gegebenenfalls nachprüfen zu lassen, ob es anerkennen, wenn eine kleine Fraktion einen Gesetz- das Ganze rechtmäßig war. entwurf vorlegt. (Beifall der Abg. (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr. Jürgen Gehb In einem Punkt bin ich anderer Meinung als Sie, Herr [CDU/CSU]: Aber man muss es kritisieren Kollege Montag. Die Tatsache, dass die wissenschaftli- dürfen!) chen Untersuchungen gezeigt haben, dass nur bei 60 Prozent der Maßnahmen hinterher Verurteilungen er- Der Gesetzentwurf war auch notwendig. Sie haben folgt sind, wundert mich nicht. Denn dies findet im Rah- gesagt: Jetzt wird er kommen. – Diesen Satz habe ich men eines Ermittlungsverfahrens statt. schon drei Legislaturperioden lang gehört. Und der Ge- setzentwurf kommt nicht. (Zustimmung des Abg. Klaus Uwe Benneter [SPD] und des Abg. Fritz Rudolf Körper (Beifall des Abg. Hellmut Königshaus [FDP] – [SPD]) Joachim Stünker [SPD]: Da haben Sie sich ge- täuscht!) Das Ermittlungsverfahren dient ja gerade dazu festzu- stellen, ob ein Tatverdacht berechtigt ist oder nicht. Das Deshalb muss ich sagen, dass mich das außerordentlich bedeutet, dass die eine oder andere Ermittlungsmaß- ärgert. Ich kann mich noch an die Anrufe vor einiger nahme ins Leere geht. Ich finde eine Quote von 60 Pro- Zeit erinnern, als ein Referentenentwurf aus dem Bun- zent eher hoch, desjustizministerium auftauchte und ich danach gefragt wurde, was ich dazu sage. Ich antwortete: Ich sage lieber (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Ja, das ist schon erst gar nichts, weil ich das Gefühl habe, dass er gar eine gute Quote!) nicht eingebracht wird. Erst wenn etwas eingebracht ist, wenn ich bedenke, dass etwa 70 Prozent der Ermitt- werden Sie von mir eine Meinung dazu hören. – Bis lungsverfahren eingestellt werden, unter anderem, weil heute wurde nichts eingebracht. Das ärgert mich des- sich herausstellt, dass der Beschuldigte oder die Be- halb, weil wir – insofern ist die Kritik des Kollegen schuldigte unschuldig ist. Aber derjenige, der davon be- (B) Montag berechtigt – wie Weihnachtskugeln an einen troffen ist, hat einen Anspruch darauf, darüber informiert (D) Weihnachtsbaum ständig neue Straftatbestände zu dem zu werden, insbesondere deshalb, weil wir gesehen ha- Straftatenkatalog, der eine Telefonüberwachung recht- ben, wie hoch die Zahl derer ist, die betroffen sind. Die fertigt, hinzufügen. Zahl der Betroffenen von Telefonüberwachungsmaßnah- Ich glaube trotz Ihrer Kritik, Herr Kollege Gehb, dass men hat sich allein in den letzten zehn Jahren vervier- der Ansatz der Grünen gut ist. Er sieht vor, dass wir von facht. einem Straftatenkatalog weg sollen und uns überlegen Das hat Gründe und Ursachen, zum Beispiel dass sich sollen, den Bereich zu definieren, in dem eine Telefon- die Struktur der Kriminalität verändert hat. Das ist insbe- überwachung zulässig ist. Aus meiner Sicht ist der An- sondere auf einen Umstand zurückzuführen, der nach satz bei Verbrechen und besonders schweren Vergehen meiner Auffassung in der heutigen Debatte angespro- grundsätzlich richtig. chen werden muss: Die Telefonüberwachung dient häu- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fig dem Zweck, Strukturen aufzuklären, insbesondere im des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Hinblick auf die organisierte Kriminalität und vor allem in dem Bereich, in dem es kein Anzeigeverhalten gibt, in Darüber, ob man das besser formulieren kann, wird man der Dunkelfeldkriminalität. Die größten Erfolge, die wir sich sicherlich unterhalten können. Ich bin mir ganz si- nach meiner beruflichen Erfahrung bei der Telefonüber- cher, dass der Kollege Montag dafür offen ist. wachung gehabt haben, betreffen die Betäubungsmittel- Ich finde außerordentlich wichtig – auch das haben kriminalität. Diejenigen, die Betäubungsmittel kaufen, die Untersuchungen gezeigt –, darauf hinzuweisen, dass zeigen ihren Dealer allerdings nicht an. Deswegen braucht die Unterrichtung derjenigen, die von der Telefonüber- die Strafverfolgung ein Mittel, um auch in diese krimi- wachung betroffen sind, ganz schlecht ist. Die Verpflich- nellen Kreise eindringen zu können. tung besteht, aber ich muss gestehen – das ist jetzt keine Für uns ist, wie gesagt, besonders wichtig, dass die Selbstbeweihräucherung, falls Sie wieder eine Zwi- Betroffenen benachrichtigt werden. Wir werden uns schenfrage stellen wollen, sondern ganz im Gegenteil auch darüber unterhalten müssen, wie das Verfahren im eine kritische Bemerkung –, Einzelnen ausgestaltet wird. Es haben nämlich einige (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Nein!) technische Entwicklungen stattgefunden, angesichts de- rer wir feststellen müssen, dass die bloße Überwachung dass auch ich die Pflicht zur Benachrichtigung nicht des Telefonverkehrs allein nicht mehr ausreicht, sondern ernst genommen habe. Ich kann mich an Fälle erinnern, dass viele zusätzliche technische Neuerungen zu berück- wo man die Betroffenen hätte benachrichtigen müssen sichtigen sind. Ich habe die Hoffnung, dass Sie in dem 9368 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Jörg van Essen (A) Gesetzentwurf, dessen Einbringung von Ihnen, Herr Ihre Nachsicht, dass Sie akzeptieren, dass wir einen ei- (C) Gehb, heute erneut angekündigt worden ist, auch auf genen Vorschlag machen. dieses Thema eingehen. Das, was Sie vorgelegt haben, ist nicht genau das, was Die Vorratsdatenspeicherung ist von Ihnen aus- wir wollen. Sie nehmen nur punktuelle Veränderungen drücklich erwähnt worden. Auch ich will sie ansprechen, bei den Vorschriften zur Überwachung der Telekommu- weil ich das Gefühl habe, dass es uns außerordentlich nikation vor. Nur dafür und für die Abfrage von Verbin- schwerfallen wird, dieses Vorhaben verfassungsfest um- dungsdaten wollen Sie das Zeugnisverweigerungsrecht zusetzen. Es darf uns nicht erneut passieren, dass wir der Berufsgeheimnisträger neu regeln. Das ist eine Fort- Vorgaben von der europäischen Ebene so umsetzen, dass setzung genau des Dilemmas, das uns bereits sehr viele uns das Bundesverfassungsgericht später bescheinigt, Probleme eingebrockt hat. Wir meinen, wir sollten jetzt dass wir das nicht in einer Weise getan haben, die verfas- nicht wieder an einzelnen Punkten Veränderungen vor- sungsfest ist. nehmen, sondern das Ganze in den Blick nehmen und Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Oppositions- eine neue, harmonische Gesamtregelung treffen, die alle fraktionen der FDP und des Bündnisses 90/Die Grünen heimlichen Ermittlungsmethoden umfasst. machen Ihnen Beine. Wir haben keine Geduld mehr. Wir (Beifall bei Abgeordneten der SPD) sind der Auffassung, dass dieses Thema dringend auf eine gute, richtige und vor allen Dingen den heutigen Daneben brauchen wir ein Konzept zum Schutz der Gegebenheiten genügende gesetzliche Grundlage ge- Berufsgeheimnisträger gegenüber allen Ermittlungs- stellt werden muss und dabei auch die Verfassungsrechte maßnahmen, ganz gleich, ob verdeckt oder offen. der Bürger geachtet werden müssen. Ein Beispiel dafür, dass Ihr Gesetzentwurf auf der an- (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ deren Seite weit über das Ziel hinausschießt, sind die DIE GRÜNEN) Regelungen zu den Berufsgeheimnisträgern. Das Bun- Wir sollten dieses Thema gemeinsam mit Ihnen ange- desverfassungsgericht hat unter Anknüpfung an den hen, und wir sollten es schnell angehen. Kernbereichsgedanken eine absolute Schutzbedürftig- keit von Strafverteidigern und Seelsorgern anerkannt. Herzlichen Dank. Das ist völlig richtig, und das wird selbstverständlich (Beifall bei der FDP) auch beachtet werden. Für die Abgeordneten dieses Hauses und für die Abgeordneten der Landtage lässt sich ein solcher absoluter Schutz aus dem Gedanken des Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (B) Art. 47 Grundgesetz bzw. aus den entsprechenden Re- (D) Das Wort hat jetzt die Bundesministerin Brigitte geln der Landesverfassungen ableiten. Zypries. Für die übrigen Berufsgeheimnisträger hat Karlsruhe Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: dagegen mehrfach ausdrücklich festgestellt, dass ein ab- soluter Schutz verfassungsrechtlich nicht geboten ist. Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Kolleginnen und Kollegen! Wenn man sich den (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Gesetzentwurf der Grünen ansieht und wenn man die NEN]: Aber möglich!) heutige Debatte verfolgt, dann muss man sagen: Im Grundsatz sind wir uns einig. – Möglich wohl; ich komme gleich dazu. – Hier dürfte, das meinen wir wenigstens, das allgemeine Interesse an (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Ja!) einer wirksamen Strafverfolgung nicht zurückstehen. Es geht nur noch darum, wie wir die Bürgerinnen und Genau das wäre aber die Konsequenz Ihres Gesetzent- Bürger besser vor übermäßigen staatlichen Eingriffen wurfs, die, wie gesagt, verfassungsrechtlich nicht ge- schützen. boten ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dieser Verzicht auf einen vernünftigen Interessenaus- gleich geht noch weiter: Nicht nur in der Frage, wer ab- Wir wollen heimliche Ermittlungsmaßnahmen wie soluten Schutz genießt, schießen Sie über das Ziel hin- die Telekommunikationsüberwachung rechtsstaatlicher aus, sondern auch in der Frage, wie weit dieser Schutz regeln. Wir wollen das Zeugnisverweigerungsrecht bes- reicht, fehlen Differenzierungen. Sie knüpfen nicht an ser sichern, und wir werden den Schutz des Kernbe- die Reichweite des Zeugnisverweigerungsrechts an, son- reichs privater Lebensführung auch in der Strafprozess- dern stellen allein auf die Person des Berufsgeheimnis- ordnung verankern. trägers ab. Was das für Folgen hätte, will ich Ihnen ver- Die Bundesregierung – das ist bereits erwähnt deutlichen: Angenommen, ein Rechtsanwalt führt ein worden – wird in Kürze einen eigenen Gesetzentwurf Telefongespräch, das mit seiner Rolle als Verteidiger vorlegen; genauer gesagt, legen wir ihn am 18. April nichts zu tun hat. Dann wird es von seinem Zeugnisver- dieses Jahres dem Kabinett vor. Das ist notwendig. Denn weigerungsrecht nicht erfasst. Abhören dürfte man die- der Gesetzentwurf der Grünen enthält zwar sehr viele ses Gespräch nach Ihren Vorstellungen nicht; denn Sie richtige Ansätze, aber nicht die Regelungen, die wir uns sagen: Einen Rechtsanwalt darf man nicht abhören. – Sie vorstellen. Deswegen, Herr Montag, vielen Dank für knüpfen ja nur an der Person des Anwalts an. Falsch? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9369

(A) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Die Telefonüberwachung nicht mehr an konkrete (C) Frau Zypries, möchten Sie eine Zwischenfrage zulas- Straftaten, sondern an allgemeine Kriterien zu koppeln, sen? ist schwierig; darüber haben wir schon in der vergange- nen Legislaturperiode öfter diskutiert. Wir wissen seit Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Nein. Wenn es falsch ist, dann werden wir das im Ver- niedersächsischen Polizeigesetz, dass die Überlegung, fahren diskutieren; das ist kein Problem. solche allgemeinen Kriterien zu finden, um von der „Hydra“ der Listung – wie Sie es genannt haben, Herr Montag – wegzukommen, nicht mehr möglich ist. Wir Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: meinen, dass diese Karlsruher Entscheidung so auszule- Also nicht. gen ist, dass wir darlegen müssen, inwieweit die Tele- fonüberwachung ein erforderliches und ein angemesse- Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: nes Mittel ist, um eine bestimmte Straftat zu verfolgen. Als Zeuge aussagen über dieses Telefonat müsste der Wie wollen Sie denn begründen, dass beim Tatbe- Anwalt hingegen – er hat ja in dieser Hinsicht kein stand der Verleumdung oder der Zerstörung wichtiger Zeugnisverweigerungsrecht. Das, glauben wir, wäre un- Arbeitsmittel eine Telefonüberwachung nötig ist? We- systematisch. Wenn ich Sie da falsch verstanden habe, gen der Höhe der Strafandrohung wäre sie nach Ihrem Herr Montag, nehmen wir das gerne auf und werden das Entwurf in beiden Fällen zulässig. Ich glaube aber, dass im Verfahren erörtern. das nicht die richtige Idee ist. Ein zweites Beispiel: Stellen Sie sich vor, jemand Der von Ihnen vorgeschlagene Kriterienkatalog be- wickelt seine kriminellen Drogengeschäfte über das Te- sitzt noch ein weiteres Manko – das hat Herr van Essen lefon ab, macht das aber nicht von seinem eigenen An- angesprochen –, nämlich die Verurteilungsprognose. schluss aus, sondern von dem Anschluss der unter ihm Herr van Essen, ich teile Ihre Ansicht. Als ehemaliger wohnenden Hebamme, die natürlich mit diesen Drogen- Staatsanwalt wissen Sie noch besser als ich, dass die geschäften gar nichts zu tun hat. Für die Hebamme be- Frage, wie man am Beginn eines Ermittlungsverfahrens stünde kein Zeugnisverweigerungsrecht. Aber weil es sagen will, was hinterher bei der Verurteilung heraus- ihr Telefon ist, wäre dieses Telefon pauschal von Über- kommt, im Grunde nicht zu beantworten ist. wachungsmaßnahmen ausgenommen. Das kann nicht das sein, was wir wollen. (Jörg van Essen [FDP]: So ist es!) (Jörg van Essen [FDP]: Das wollen wir auch Wir alle wissen, dass in der Strafprozessordnung zwi- schen dem Ermittlungs- und dem Hauptverfahren unter- (B) nicht! – Hellmut Königshaus [FDP]: Noch (D) schlimmer wäre es, wenn die Hebamme dealt!) schieden wird. Erst am Ende der Hauptverhandlung kennt man alle Gesichtspunkte, die für die Strafzumes- Aber noch einmal, Herr Montag: Wenn es nicht so ge- sung entscheidend sind und die man gegeneinander ab- meint war, dann wird es umso eher möglich sein, dass wägen muss. Das Motiv der Tat, die Art der Ausführung, wir uns im Verfahren in der Sache einigen. der Schaden, ein mögliches Geständnis und nicht zuletzt Wir brauchen im Gesetz eine klare Regelung dafür, die Person des Täters – alles muss berücksichtigt wer- bei der Verfolgung welcher Straftaten eine Telefonüber- den. Das können Sie natürlich nicht am Anfang eines Er- wachung überhaupt zulässig ist; Herr Gehb hat darauf mittlungsverfahrens, sondern erst am Ende. schon angespielt. Das leistet der vorliegende Entwurf Was passiert eigentlich, wenn am Ende statt der er- nach unseren Vorstellungen nur eingeschränkt. Er will warteten zwölf Monate nur elf Monate herauskommen? nämlich die Zahl der Abhörmaßnahmen reduzieren. Tat- War die Abhöraktion dann von vornherein rechtswidrig, sächlich führt er aber doch zu einer erheblichen Erweite- oder wie wollen wir mit solchen Fällen verfahren? rung der Überwachungsmaßnahmen. Das mag von Ihnen nicht gewollt sein, es ist aber Fakt. Die vorgeschlagene (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Richtig!) Regelung würde zur Folge haben, dass in Zukunft über Kann man dann gegen diese Maßnahme bzw. das Urteil den bisherigen Straftatenkatalog hinaus bei weiteren mit Rechtsbehelfen vorgehen? 320 Delikten Abhörmaßnahmen zulässig wären. Das alles zeigt, dass wir diese Erwägungen entweder (Irmingard Schewe-Gerigk [BÜNDNIS 90/ noch sehr viel gründlicher diskutieren müssen oder DIE GRÜNEN]: Jerzy, das hast du uns aber – noch besser – doch den Entwurf der Bundesregierung nicht gesagt! – Heiterkeit) zugrunde legen sollten, der, wie gesagt, nächsten Monat Sogar bei einfachen Delikten, bei denen die Folgen vorgelegt werden wird. nur fahrlässig herbeigeführt werden, wollen Sie diese Ich meine, wir müssen mit dem Gesetz einen gerech- Maßnahmen zulassen. Wir meinen, das ginge zu weit. ten Ausgleich zwischen zwei widerstreitenden Interes- Ich vermute, dass das auch nicht die Intention der Grü- sen schaffen, nämlich zwischen dem Interesse des Ein- nen gewesen sein kann. zelnen am Schutz vor übermäßigen Eingriffen des (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Staates in seine Freiheit und dem allgemeinen Interesse NEN]: Das ist auch nicht die Folge!) an einer effektiven Strafverfolgung. Ich glaube nicht, dass man das dadurch erreicht, dass man einfach postu- Es kann sich da nur um einen Irrtum handeln. liert, die Zahl der Überwachungsmaßnahmen solle redu- 9370 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Bundesministerin Brigitte Zypries (A) ziert werden. Das ist schon deshalb verfehlt, weil es gar Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) kein Übermaß an Telefonüberwachung gibt. Es folgt eine Kurzintervention des Kollegen Montag. (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ (Widerspruch bei Abgeordneten der SPD) DIE GRÜNEN]: Gewagte Äußerung!) Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Über dieses Thema haben wir uns hier ja schon häufiger auseinandergesetzt. Frau Bundesministerin, da Sie mir nicht gestattet ha- ben, eine Zwischenfrage zu stellen, will ich jetzt noch Sie alle kennen die Studie des Max-Planck-Instituts, einmal kurz zu den Punkten Stellung nehmen, die Sie an in der es zu dem Schluss gekommen ist, dass die Tele- unserem Entwurf kritisiert haben. kommunikationsüberwachung – ich zitiere wörtlich – Das Problem des Schutzes der Berufsgeheimnisträger ein wichtiges und unabdingbares Ermittlungsinstrument können wir sicherlich im weiteren Verfahren diskutieren. ist, das in der Praxis zielgerichtet und umsichtig Verwen- Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Sie haben unsere For- dung findet. In dieser Studie wird auch aufgezeigt, dass mulierung offensichtlich missverstanden. es einen Rückgang der Überwachungsdichte gibt; denn dass die Zahlen ansteigen, liegt nicht daran – das ist die Sie haben aber gesagt, eine Prognose darüber, ob eine übliche Erklärung –, dass mehr Personen überwacht Haftstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist, sei werden, sondern schlicht daran, dass die einzelnen Per- zu Beginn oder im Laufe eines Ermittlungsverfahrens sonen mehrere Anschlüsse haben, die überwacht wer- nicht oder nur sehr schwer möglich. Dazu kann ich nur den. sagen: Eine solche Möglichkeit sieht die geltende Straf- prozessordnung für einen genauso schweren oder einen (Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ fast noch schwereren Grundrechtseingriff bereits vor, DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht!) nämlich für Freiheitsentziehung. Nach § 112 a StPO be- steht schon jetzt die Möglichkeit, einen Haftbefehl ge- – Herr Ströbele, in der Studie wird das so dargelegt, und gen einen Beschuldigten zu erlassen, wenn ein Richter durch die Zahlen, die wir bei verschiedenen Kleinen und die Verurteilungsprognose stellt, dass eine Haftstrafe Großen Anfragen dazu vorgelegt haben, wird das auch von mehr als einem Jahr zu erwarten ist. belegt. Sie können jetzt sagen, dass das nicht stimmt. Wir müssten dann diesbezüglich vielleicht einmal eine (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das ist doch genauere Exegese durchführen. Zumindest ist das der etwas ganz anderes!) Kenntnisstand, den das Justizministerium diesem Hause Diese Prognose, Frau Ministerin, ist in der StPO schon (B) seit mehreren Jahren unterbreitet. verankert. Wir meinen, dass eine solche Prognose auch (D) in den in Rede stehenden Fällen möglich sein wird. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ein weiterer Punkt: Es ist etwas polemisch, den von Richtig ist allerdings – das ist schon mehrfach gesagt uns vorgeschlagenen neuen Ansatz sozusagen zur Hand worden –, dass es bei der Benachrichtigungspraxis und zu nehmen und im Sinne einer Strichliste zu überlegen, bei der Kontrolle noch Defizite gibt. Wir wollen deshalb welche Straftatbestände des Strafgesetzbuches abstrakt die Benachrichtigungspflichten in dem Gesetzentwurf darunter fallen würden. Wahrscheinlich stimmt die von ausdrücklich regeln, um das Defizit, das in dem Gutach- Ihnen genannte Zahl: Ihr großes und weises Haus hat die ten des Max-Planck-Instituts dargelegt wurde, zu behe- Strichliste sicherlich sorgfältig erstellt. Aber berücksich- ben, und wir wollen den Richtervorbehalt stärken. Das tigen Sie bitte, dass wir einen anderen Ansatz wählen, brauchen wir aber bei allen verdeckten Ermittlungsmaß- dass wir durch die Kriterien, die wir bestimmen, eine nahmen. Einengung vornehmen, die weiter geht als die Vor- schläge Ihres Hauses und die auch klarer ist, als es diese Deshalb noch einmal der Gedanke vom Anfang: Wir Vorschläge sind. Sie gehen ja sozusagen zu einer Mi- sollten zusehen, dass wir ein harmonisches Gesamtkon- schung über; denn nach dem Referentenentwurf gibt es zept schaffen. Dazu werden wir, wie angekündigt, einen sowohl einen Straftatenkatalog als auch ein Kriterium, Gesetzentwurf vorlegen, in dem ein fairer Kompromiss das sozusagen darüber hinausgeht. Im Entwurf steht, zwischen den berechtigten Interessen der Bürgerinnen dass über das Kriterium des Straftatenkatalogs hinaus und Bürger an einem Nichteingriff in ihr Grundrecht und nur diejenigen Fälle infrage kommen, die „im Einzelfall den berechtigten Interessen der Bürgerinnen und Bürger schwer wiegen“. Wir wollen uns auf diese schwammige an der Garantie ihrer Sicherheit vorgesehen sein wird. Formulierung „im Einzelfall schwer wiegen“ nicht ver- Dass die Telefonüberwachung eine der wirksamsten Er- lassen. Wir wollen vielmehr, dass im Gesetz festge- mittlungsmaßnahmen schlechthin ist, wissen wir. Des- schrieben wird, dass eine Straferwartungsprognose von wegen können wir gar nicht auf sie verzichten. Wir mindestens einem Jahr getroffen werden muss. Diese müssen einfach nur zusehen, dass wir ihren Einsatz Fälle wiegen nämlich wirklich schwer. sachgerecht und verhältnismäßig regeln. In diesem (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sinne – das verspreche ich Ihnen – bekommen Sie von uns einen Gesetzentwurf. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Frau Zypries, möchten Sie reagieren? Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9371

(A) Brigitte Zypries, Bundesministerin der Justiz: Die Telefonüberwachung widerspricht klaren Ent- (C) Herr Montag, zum Thema Haftstrafe von mindestens scheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Es hat im einem Jahr: Mir liegt der Gesetzestext nicht vor, aber März 2004 den großen Lauschangriff, also das Abhören meiner Erinnerung nach geht es auch noch um weitere von Wohnungen, kassiert. Die im Urteil dargelegten Kriterien. Es geht nicht nur um die Frage, ob eine Haft- Grundsätze gelten auch für die Telefonüberwachung. strafe von mindestens einem Jahr zu erwarten ist. Aber sie werden leider nicht umgesetzt. Nun wird sogar der Ruf laut, Telefonüberwachungen auf bloßen Ver- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Da ist die Tat dacht zu erlauben. Herr Schäuble plant sogar sogenannte doch schon ermittelt!) Onlinedurchsuchungen. Was technisch geht, will die Re- Aber es ist wenig sinnvoll, weiter in dieser Form zu dis- gierung umsetzen, und zwar ohne Rücksicht auf die kutieren, wenn der Gesetzestext nicht vorliegt. Rechte der Bürgerinnen und Bürger. (Joachim Stünker [SPD]: Na, na, na!) (Jörg van Essen [FDP]: Er vergleicht Äpfel mit Birnen!) Die Flut der Telefonüberwachungen schwemmt die rechtsstaatlichen Vorschriften regelrecht hinweg. Ers- – Genau. – Herr van Essen sagt, Sie hätten Äpfel mit tens. Die Überwachungsanträge müssen eigentlich Birnen verglichen. richterlich überprüft werden. Das ist der entscheidende Ich bin gerne gewillt, mit Ihnen über das andere von Punkt, Herr Gehb. Aber meistens wiederholen die Rich- Ihnen angesprochene Thema zu diskutieren. Wir haben ter nur das, was ihnen der Staatsanwalt auf den Tisch ge- das in der letzten Legislaturperiode schon getan; das legt hat. muss man ja nicht verheimlichen. Es geht in der Tat da- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Sie lesen auch rum, eine vernünftige Regelung zu finden, da bin ich nur das vor, was Ihnen Ihre Mitarbeiter aufge- ganz bei Ihnen. schrieben haben!) Aber die Frage, ob das nach der Karlsruher Entschei- – Hören Sie genau zu! – In einer Studie der Wissen- dung zum niedersächsischen Polizeigesetz überhaupt schaftler Otto Backes und Christoph Gusy heißt es: noch zulässig ist, beantworte ich offenbar anders als Sie, nämlich sehr viel strenger. Es geht nämlich nicht nur um Das Material der Staatsanwaltschaft belässt der die Frage, was man gerne hätte, sondern darum, was ver- Richter in 25 % der Fälle fehlerhaft, wie es ist, etwa fassungsrechtlich zulässig ist. Darüber sollten wir noch jeden zehnten Antrag bringt er auf gesetzeskonfor- einmal eine gesonderte Auseinandersetzung anhand des men Stand, oder aber er produziert selbst fehler- Gesetzestextes führen. hafte Beschlüsse (30 %). (B) (D) (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Richter sind (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der doch keine Automaten!) CDU/CSU – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Gerne!) Herr Gehb, das heißt, die Anträge werden heutzutage nicht einmal ordentlich geprüft. Das wäre aber das Min- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: deste. Jetzt erteile ich der Kollegin Ulla Jelpke für die Frak- Zweitens. Der Rechtsschutz wird übergangen. Wer tion Die Linke das Wort. abgehört wird, muss anschließend informiert werden, damit er oder sie sich vor Gericht wehren kann. Aber in (Beifall bei der LINKEN) zwei Drittel der Fälle werden diese Informationen nicht weitergegeben, wie Herr van Essen bereits dargelegt hat. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Drittens. Die Überwachungen sind häufig unverhält- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir re- nismäßig. Im Bereich der Kapitalverbrechen sind laut den hier über ein Thema, das jede Bürgerin und jeden Max-Planck-Institut nur rund 30 Prozent der Maßnah- Bürger betreffen kann. Es sind nicht nur Schwerkrimi- men erfolgreich. Wir, die Linke, meinen dazu: Es wird nelle, deren Telefone abgehört werden. 35 000 neue An- viel zu viel abgehört und fehlerhaft geprüft. Diese Ent- ordnungen ergingen allein im Jahre 2005, und jährlich wicklung muss rückgängig gemacht werden. werden es leider mehr. Steigerungsraten von 600 Prozent in den letzten zehn Jahren sind wahrlich Spitzenleistun- (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert gen. Aber es sind extrem zweifelhafte, Frau Ministerin. Winkelmeier [fraktionslos]) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Das Neue und das Entscheidende des Urteils zum Winkelmeier [fraktionslos]) großen Lauschangriff ist: Jede Bürgerin und jeder Bür- ger hat einen Anspruch darauf, dass er oder sie im Kern- Denn betroffen sind auch Menschen, die, ohne es zu wis- bereich der privaten Lebensgestaltung von staatlichen sen, mit Verdächtigen telefonieren oder von abgehörten Maßnahmen verschont bleibt. Jeder hat ein Recht auf Apparaten aus angerufen werden. Auf 1,5 Millionen Privatsphäre. Das gilt für die eigene Wohnung und Menschen hat das Max-Planck-Institut für ausländisches natürlich auch für Telefongespräche mit den engsten Fa- und internationales Strafrecht die Gesamtzahl der Be- milienangehörigen. Das wollen Sie offensichtlich nicht troffenen geschätzt. Das sind 1,5 Millionen Grundrechts- wahrhaben. Wenn aber das Bundesverfassungsgericht eingriffe. erklärt: „Die Privatsphäre hat privat zu bleiben“, dann 9372 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Ulla Jelpke (A) muss das von diesem Haus respektiert und gesetzlich Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (C) umgesetzt werden. Jetzt hat das Wort der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl für Nun hat das Bundesverfassungsgericht nicht jede Ab- die CDU/CSU-Fraktion. hörmaßnahme für unzulässig erklärt. Aber es hat Hürden (Beifall bei der CDU/CSU) aufgestellt. Diese werden dauernd unterlaufen. Eines ist klar: Wenn man schon den Grundrechtsschutz für Tat- Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU): verdächtige aufhebt, dann muss sich das auf Einzelfälle Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und beschränken, zum Beispiel auf Kapitalverbrechen, auf Kollegen! Lassen Sie mich beginnen mit zwei Zitaten, die Höchststrafen von fünf Jahren und mehr stehen. Die die vielleicht deutlich machen, in welchem Spannungs- Praxis sieht mit über 42 000 Abhörgenehmigungen al- feld wir uns heute bewegen: lein im Jahr 2005 leider ganz anders aus. So viele Kapi- talverbrechen gibt es in Deutschland nun wirklich nicht. Wenn wir angegriffen und getötet werden, dann Wer Hanfpflanzen anbaut oder verkauft, wird heutzutage werdet ihr definitiv – mit Allahs Erlaubnis – ange- genauso abgehört wie der Waffenschieber, der am Mas- griffen und getötet. senmord verdient oder ihn vorbereitet. Hier muss das Gesetz gründlich entrümpelt werden. Das war das erste Zitat. – Das zweite: Meine Damen und Herren, nötig wäre endlich eine Art. 10 GG … gewährleistet die freie Entfaltung Gesamtreform; die Ministerin hat sie heute angekündigt. der Persönlichkeit durch einen privaten, vor der Öf- Ob Telefone oder Wanzen in Wohnungen: Der Schutz fentlichkeit verborgenen Austausch von Kommuni- der Privatsphäre – das kann man nicht oft genug wieder- kation und schützt damit zugleich die Würde des holen – muss gewahrt bleiben. Menschen. (Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Das erste Zitat ist entnommen aus der Ihnen vielleicht NEN]: Auch auf Kuba!) bekannten jüngsten Terrordrohung, die per Videobot- schaft an uns alle in Deutschland gerichtet wurde. Das – Das ist unsachlich. zweite Zitat ist ein Auszug aus dem Urteil des Bundes- (Zuruf von der CDU/CSU: Ihre Rede doch verfassungsgerichts – hier schon zitiert – vom Mai 2005 auch!) zur Telekommunikationsüberwachung. Diese beiden Zi- tate zeigen das Spannungsfeld auf, in dem wir uns bewe- Doch was die Grünen hier vorlegen, ist unserer Mei- gen: Der staatliche Schutz des Bürgers vor terroristischer nung nach eine bürgerrechtliche Kapitulationserklärung, Bedrohung ist das eine, der Schutz des Bürgers vor einer Herr Montag. (B) totalen staatlichen Telefonüberwachung des privaten Be- (D) (Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) reichs ist das andere. Viele Punkte, die Sie in Ihrem Beitrag hier vorgetragen Nun haben wir bereits gehört – Herr Montag hat da- haben, teile ich voll, aber Ihre Lösung geht unseres Er- mit begonnen, Frau Jelpke hat das fortgesetzt –, wie die achtens am Kern der Probleme vorbei. Statistiken zu bewerten sind. Frau Zypries hat die Zahlen anhand des Gutachtens bereits sehr stark relativiert. Wir (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sollten kein Zerrbild der derzeitigen Telefonüberwa- NEN]: Jetzt bin ich gespannt!) chungsstatistik malen, Die Unverhältnismäßigkeiten bei den Überwachungsan- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Das waren die ordnungen bleiben bei Ihnen bestehen. Sie wollen auch Zahlen des Max-Planck-Instituts!) künftig Straftaten abhören lassen, die definitiv keine Ka- pitalverbrechen sind. Das wird mit uns nicht gehen. sondern wir sollten die Wirklichkeit wiedergeben und sagen, was sich hinter den Zahlen verbirgt. Dagegen enthält der FDP-Antrag einige wichtige Punkte. Sie sagen zum Beispiel, man könne nicht immer (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neue Überwachungsmethoden austüfteln, ohne die al- neten der SPD) ten wenigstens auf ihre Wirksamkeit überprüft zu haben. Weil wir heute am Beginn einer ganz grundsätzlichen Dem stimmen wir voll zu. Debatte stehen, bei der es nicht nur um dieses Gesetz, also (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert um das Thema Telefonüberwachung, geht, sondern um Winkelmeier [fraktionslos]) eine Reform der gesamten Sicherheitsgesetze – im repres- siven wie auch im präventiven Bereich –, und weil es da- Auch die Forderung nach einer gründlichen Auswer- rum geht, nicht nur verdeckte Ermittlungen am Telefon, tung der Überwachungen und nach einer Berichts- sondern auch Online- und Wohnraumuntersuchungen neu pflicht der Bundesregierung teilen wir voll. Wenn es zu überdenken, möchte ich etwas weiter ausholen. darum geht, Bürgerrechte wiederherzustellen, dann ar- beiten wir daran gerne mit. Wie Herr van Essen sagte: Natürlich muss die Rechtsprechung des Bundesver- Auch wir sind bereit, der Regierung Beine zu machen. fassungsgerichts zur Wohnraumüberwachung von uns beachtet werden. Wir müssen aber auch zur Kenntnis Danke schön. nehmen, dass sie faktisch derzeit so gut wie keine Rolle (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert mehr in Deutschland spielt. Wir müssen uns also fragen: Winkelmeier [fraktionslos]) Welchen Spielraum lässt uns das Bundesverfassungsge- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9373

Dr. Hans-Peter Uhl (A) richt? Ist er durch die derzeit geltende Gesetzeslage voll des Staates, seien es präventive Maßnahmen, sei es re- (C) ausgeschöpft oder kann man weiter gehen? – Wir wer- pressive Strafermittlung, verwendet werden soll. Das den als Verfassungsgeber Bundestag Verantwortung zei- heißt, wir wollen das Richterband zur Überprüfung der gen müssen, wenn es darum geht, Gesetze zum Schutz Verwertbarkeit haben. der Bürger vor Mord und Todschlag, vor terroristischer Die Kritik, die wir aus der Praxis hören – wir alle ha- Bedrohung zu formulieren. Das ist verantwortungsvolles ben Gespräche mit Praktikern der Telefonüberwachung Handeln. geführt –, ist überzeugend. Eine ausufernde Benach- Es wird natürlich auch der Schutz der Menschen- richtigungspflicht sollte vermieden werden. Herr van rechte zu beachten sein, wie er vom Verfassungsgericht Essen hat bereits gesagt, dass er zu wenig Benachrich- formuliert wurde. Aber verantwortungsvoll handelt nicht tigung festgestellt hat. Ich meine, es kann auch zu viel der, der aus alter Ängstlichkeit um seine Juristenehre vor sein. Wir müssen den Mittelweg finden. Völlig praxis- Karlsruhe zurückschreckt und gar nichts ändern will, son- fern wäre es, jeden einzelnen von Ermittlungsmaßnah- dern verantwortungsvoll handelt der, der die Möglichkei- men Betroffenen zu benachrichtigen. Ich denke an den ten auslotet und die Gesetze fortschreibt, um der aktuel- Geschäftsmann, der möglicherweise zu Unrecht ver- len Bedrohung in Deutschland begegnen zu können. dächtigt wurde. Wollte man alle seine Gesprächspartner benachrichtigen, hätte dies eine massive geschäftsschä- (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag digende Wirkung. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen wir doch!) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Das wollen auch wir nicht!) Wir werden also ganz generell unsere Sicherheitsge- setze überprüfen müssen. Dabei dürfen wir weder Wohn- – Es ist gut zu hören, dass auch Sie das nicht wollen. – raumüberwachung noch Telefonüberwachung noch Benachrichtigt werden muss also derjenige, gegen den Onlinedurchsuchungen zum Tabu erklären. Diese Maß- sich die Maßnahme richtet, und diejenigen, deren Daten nahmen können lebensrettende Funktion haben. Am erhoben und deren Gesprächsinhalte verwertet wurden. 9. November 2003 fand in München die Grundsteinle- Das ist unsere Position. gung der neuen Hauptsynagoge statt. Zu diesem Anlass (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) trafen sich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, der damalige Bundespräsident Rau, der damals noch le- – Herr Montag, ich bitte Sie, bei Ihren zukünftigen Äu- bende Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Herr ßerungen zu dem Thema, insbesondere wenn Sie sich Spiegel, und viele andere mehr. Neonazis und Rechtsex- auf Statistiken beziehen, die Worte der Justizministerin tremisten wollten an diesem Tag der Grundsteinlegung zur Kenntnis zu nehmen, den Vorwurf eines überpropor- (B) der neuen Hauptsynagoge die Gäste mit allen anwesen- tionalen Anstiegs von Überwachungsmaßnahmen fallen (D) den Personen in die Luft sprengen. Es war der Wohn- zu lassen und zur Kenntnis zu nehmen, wie die Dinge raum-überwachung und anderen Ermittlungstätigkeiten wirklich liegen. zu verdanken, dass bei den Neonazis im Vorfeld Wir müssen Telekommunikationsüberwachung dort 1,7 Kilogramm TNT-Sprengstoff gefunden wurde und anwenden, wo sie erforderlich ist: bei schweren Strafta- dieser Anschlag verhindert werden konnte. Ich sage da- ten wie organisierter Kriminalität, Mord, Totschlag, mit: Die Maßnahmen, über die wir heute reden, können Rauschgiftdelikten, islamistischem Terrorismus. Wenn lebensrettende Funktion haben. Sie die Statistik genau anschauen, erkennen Sie, dass (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 90 Prozent der Telefonüberwachung in genau diesen Be- NEN]: Aber daran wollen wir doch nichts än- reichen stattfindet. dern! Kein Mensch will das ändern! – Silke (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- 60 Prozent Drogendelikte! Bis zum kleinsten NEN]: Das ist unstrittig!) User!) Bei dem Thema, um das es hier geht – Telekommuni- – Ja, natürlich. Es geht hauptsächlich auch um Drogen- kationsüberwachung in der richtigen Dosis und im Span- delikte. nungsfeld mit den Grundwerten, die wir natürlich beach- ten wollen –, werden wir einige technische Regelungen (Jörg van Essen [FDP]: Gerade bei Drogende- finden müssen. Eine ununterbrochene automatisierte likten!) Aufzeichnung der Gesprächsinhalte ist zur Sicherstel- Die veränderte Bedrohung unserer Welt durch globali- lung des Schutzes des Kernbereichs privater Lebensfüh- sierte terroristische Gewalt kann nicht mit den her- rung und für die Erhaltung zulässiger Daten dringend kömmlichen Mitteln bekämpft werden. Wir brauchen notwendig. Nur in seltenen Fällen findet Telefonüberwa- eine umfassende Sicherheitsstrategie. Wir brauchen wirk- chung live statt. Aber auch dann, wenn sie live stattfin- same verdeckte Ermittlungsmaßnahmen, natürlich unter det, sollten wir dafür sorgen, dass eine automatisierte Beachtung des Schutzes unserer Individualgrundrechte. Aufzeichnung erfolgt, und zwar schon deswegen, weil Das heißt, wir brauchen keinen Überwachungsstaat – die die Gespräche häufig in ausländischen Sprachen geführt Linke könnte uns übrigens mehr darüber berichten, wie er werden und die Dolmetscher im Nachhinein bei der funktioniert –, Übersetzung gemeinsam mit dem Richter differenzieren müssen, was Ausdruck des Kernbereichs privater Le- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – bensführung ist und was für die jeweiligen Tätigkeiten Widerspruch bei der LINKEN) 9374 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Dr. Hans-Peter Uhl (A) sondern einen starken Staat, der seine Bürger vor Mord sel verankert, wie wir es in unserem Gesetzentwurf ge- (C) und Totschlag schützen kann. tan haben, war unter Rot-Grün zuletzt gar nicht mehr strittig. Ich erinnere mich daran, dass sowohl die Minis- Danke schön. terin als auch der verehrte Kollege Stünker in den letzten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Verhandlungen, die wir kurz vor Ende der rot-grünen neten der SPD) Koalition geführt haben, heftig versucht haben, uns ein- zureden, dass es bei dieser Generalklausel bleiben soll. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Jetzt hat der Kollege Hans-Christian Ströbele das NEN]: Die Idee kommt von der SPD!) Wort für das Bündnis 90/Die Grünen. Auch weil wir eingesehen haben, dass das die bessere Lösung ist, haben wir das in unseren Gesetzentwurf auf- Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- genommen. NEN): Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- (Jörg van Essen [FDP]: Ich finde den Ansatz gen! Herr Kollege Uhl, Sie hätten über Terrorismusbe- auch sehr gut!) kämpfung und den Einsatz von Telefonüberwachung in Jetzt sage ich Ihnen, warum dieser Ansatz so gut ist. diesem Bereich nicht zu reden brauchen, weil unsere Po- Wenn im Gesetz Straftaten aufgezählt sind, gehen sitionen da überhaupt nicht auseinanderliegen. Das fällt Staatsanwalt und Richter der Frage, ob sie Telefonüber- sowohl nach geltendem Recht als auch nach dem Vor- wachung im Einzelfall zulassen, in der Form nach, dass schlag der Bundesregierung und nach unserem Vor- sie schauen, ob die mögliche Straftat in einem der Para- schlag selbstverständlich in den Bereich der Telefon- grafen des Gesetzentwurfs aufgezählt ist. Ist das der Fall, überwachung; darüber streitet sich niemand. Das ist das dann ist das Rennen schon fast gelaufen: Staatsanwalt Erste. und Richter stellen fest, dass die mögliche Straftat unter Zweitens. Frau Kollegin, Sie haben unseren Entwurf diese Regelung fällt, weswegen Telefonüberwachung offenbar nicht gelesen. Sie fordern, dass die Telefon- zuzulassen ist. – Das wollen wir in Zukunft verhindern. überwachung auf die Verfolgung von Kapitaldelikten Wir wollen, dass sich der Staatsanwalt – zum Beispiel beschränkt wird. Genau das steht in unserem Gesetzent- Herr van Essen, wenn er wieder Staatsanwalt ist – oder wurf: Telefonüberwachung darf immer nur dann stattfin- der Richter, bei dem er den Antrag stellt, ganz ernsthaft den, wenn der Verdacht vorliegt, dass es sich um ein Ver- Gedanken darüber macht, wie schwer diese Straftat brechen oder „um eine schwere, im Unrechtsgehalt wiegt. Ist das eine Straftat, die schon nach den ihm be- kannten äußeren Umständen eine Straftat ist, die mit ei- (B) einem Verbrechen gleichstehende Straftat handelt“ – so (D) steht es in unserem Gesetzentwurf –, in allen anderen ner Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr bestraft Fällen nicht. Wenn Sie unseren Gesetzentwurf gelesen wird? Nur dann, nur in ganz schwerwiegenden Fällen hätten, dann wüssten Sie, dass wir Telefonüberwachung soll eine Telefonüberwachung angeordnet werden kön- auf ganz schwere Fälle, die, was die Wertigkeit angeht, nen. Dann darf sie beantragt und angeordnet werden. Kapitaldelikten gleichkommen, beschränken wollen. Das ist der bessere Weg. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das steht nicht Das führt dazu – davon gehen wir aus –, dass Telefon- drin! Ich habe Ihnen doch eben vorgelesen, überwachung in Zukunft nicht in etwa 50 000 Anord- was drinsteht!) nungsfällen pro Jahr stattfindet, wie es derzeit der Fall ist, sondern dass die Zahl wesentlich gesenkt wird. Ich – Doch, natürlich. Soll ich es Ihnen vorlesen? Ich zitiere: habe einmal gesagt: Ich wünsche mir, dass das mindes- … im Unrechtsgehalt einem Verbrechen gleichste- tens um ein Drittel heruntergeht. hende Straftat handelt. Der zweite wesentliche Punkt ist für uns – den will Das steht in § 100 a Abs. 3 letzter Halbsatz unseres Ge- ich hier noch hinzufügen –: Wir haben eine Reihe von setzentwurfs. Verfahrenssicherungen eingebaut, die sicherstellen, dass das in Zukunft auch eingehalten wird. Wir verlan- (Zuruf des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]) gen von den Richtern, dass sie ihre Entscheidungen, das –Nein: so zu subsumieren, in jedem einzelnen Fall ganz konkret begründen. Wir erwarten von den Staatsanwälten, die … im Unrechtsgehalt einem Verbrechen gleichste- das dann durch ihre Ermittlungsbeamten anwenden las- hende Straftat handelt. sen, dass sie die Richter auch darüber unterrichten, was (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- aus der Telefonüberwachung geworden ist, damit die an- NEN]: Herr Gehb, Sie haben es nicht verstan- ordnenden Richter später gegebenenfalls sagen können: den!) Oh, da sind wir zu weit gegangen. Da haben wir uns zu viel einreden lassen. Das werden wir in Zukunft anders Jetzt darf ich aber weiterreden. machen. Die Frage, ob man die Anzahl der im Gesetz aufge- Wir verlangen ganz konsequent, anders als der Kol- führten Straftatbestände erhöht – bisher sind es 100; Sie lege Uhl, dass alle, die als Anschlussinhaber davon be- haben offenbar vor, diese Anzahl auf 105, 110 oder 120 troffen gewesen sind, benachrichtigt werden. Die zu erhöhen – oder ob man im Gesetz eine Generalklau- 1,5 Millionen, die möglicherweise unschuldig in diese Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9375

Hans-Christian Ströbele (A) Maßnahme hineingekommen sind, die überwacht wor- Richtig ist: Es gibt einen Trend zur Ausweitung, ei- (C) den sind, deren Lebensbeichte festgehalten worden ist, nen Trend zur Zunahme der Zahl solcher Ermittlungs- bei denen am Telefon überwacht worden ist, wenn sie ihr maßnahmen. Aber, Herr Kollege Ströbele, das hat Herz ausgeschüttet haben, können nicht benachrichtigt nichts mit irgendwelchen Weltmeisterschaften zu tun. werden, weil das technisch kaum durchführbar ist. Aber Wir sind hier nicht Weltmeister. Die Anzahl der An- alle, gegen die sich die Maßnahmen konkret gerichtet schlüsse – nicht die Anzahl der Anschlussinhaber – hat haben, also die Anschlussinhaber, sollen benachrichtigt sich merklich erhöht. Die Zunahme bei den Telekommu- werden – ohne Ausnahme. Wenn das Gericht das aus ob- nikationsüberwachungen betrifft insbesondere den Mo- jektiven Gründen nicht gleich für tunlich oder für nicht bilfunk-, den Internet- und den E-Mail-Bereich. Das gab zu rechtfertigen hält, dann soll das höchste jeweilige es früher nicht. Wenn Sie jetzt nur auf das Jahr 2005 Landesgericht, also das Oberlandesgericht, darüber ent- schauen, dann ist das, denke ich, zu kurz gegriffen. scheiden, ob ein so seltener Fall vorliegt, dass eine Über- wachungsmaßnahme über 18 Monate hinaus nicht mit- Die Möglichkeiten im Zuge neuer Kommunikations- geteilt wird. mittel sind immens gestiegen, logischerweise auch bei den Kriminellen. Da wollen staatsanwaltschaftliche und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) polizeiliche Ermittler nicht hinterherhinken und richten ihre Bekämpfungsstrategien entsprechend aus. Zu ver- Davon erhoffen wir uns eine wesentliche Senkung der zeichnen ist auch eine Zunahme der Zahl von Betäu- Anzahl der Telefonüberwachungen. Man kann stolz da- bungsmitteldelikten. Auch das korrespondiert mit einer rauf sein, dass man in einzelnen Bereichen Weltmeister entsprechenden Zunahme von verdeckten Abhörmaß- ist – das ist jetzt mein letzter Satz –, aber es gibt Welt- nahmen. meistertitel, die ich der deutschen Bevölkerung nicht weiter zumuten möchte. Dass wir Weltmeister im Abhö- Zu Recht weisen die Grünen in ihrem Entwurf darauf ren sind, muss nicht sein; von diesem Titel sollten wir hin, dass jede solche Maßnahme einen schwerwiegenden uns verabschieden. Wir sollten die Zahl hier deutlich Eingriff in Grundrechtsbereiche darstellen kann, nicht senken. nur in das Post- und Fernmeldegeheimnis, sondern auch (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung; sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktions- auch die allgemeinen Persönlichkeitsrechte sind regel- los] – Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Mittel- mäßig betroffen. maß in Europa! Sie sind von Faktenabstinenz Sie wissen: Wir haben schon längst vor, ein stimmi- gezeichnet!) ges Gesamtsystem der strafprozessualen heimlichen Er- mittlungsmethoden zu schaffen. Es hätte also Ihres Ent- (B) (D) Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: wurfs gar nicht bedurft. Jetzt erhält Klaus Uwe Benneter das Wort für die (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: SPD-Fraktion. Doch! Es gibt noch keinen von Ihnen!)

Klaus Uwe Benneter (SPD): – Sie haben doch gehört: Er soll am 18. April kommen. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle- So lange werden Sie auch noch abwarten können. ginnen und Kollegen! Die Grünen haben hier zu Recht (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- einen Missstand aufgegriffen. Der ist aber schon lange in NEN]: 1. April!) der Diskussion. Die FDP rennt mit ihrem Antrag offene Scheunentore ein; das wissen auch Sie, Herr van Essen. Keiner soll gehindert werden, vernünftige Vorschläge zu machen. Was Sie allerdings hier abgeliefert haben, Zu erkennen ist in Ihrem Entwurf – ich erkenne das berücksichtigt weder den Diskussionsstand in der Wis- jedenfalls – die gemeinsame rot-grüne Handschrift senschaft noch die Bedürfnisse in der Praxis noch die (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts. NEN]: Ja! Voller Sehnsucht! – Gegenruf des (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Abg. [CDU/CSU]: Wer NEN]: Das tut weh! – Gegenruf des Abg. hat denn Sehnsüchte? – Gegenruf des Abg. Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Das sind Fak- Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist ten!) aber nicht wechselseitig, glaube ich!) – am Freitag, eine Woche vor Ostern, lassen wir die Das, was Sie vorschlagen, ist zu einfach und zu oppor- Sehnsüchte mal zurückstehen –, wenn es darum geht, tun, wenn nicht gar zu opportunistisch: Sie wollen sich den Rechtsschutz bei verdeckten Ermittlungsmaßnah- zum Sprachrohr der Journalisten machen. men zu harmonisieren und zu stärken, die Regelungen Gerade in der „Cicero“-Entscheidung hat das Bun- zur Verwendung von aus solchen Maßnahmen erlangten desverfassungsgericht deutlich hervorgehoben, dass personenbezogenen Daten zu harmonisieren und zu er- Journalisten keinen absoluten Schutz vor strafrechtlicher gänzen und die besondere Schutzwürdigkeit von Berufs- Verfolgung für sich beanspruchen können. geheimnisträgern hervorzuheben. Das sind gemeinsame rot-grüne Anliegen gewesen. Ich denke, dass wir uns (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- auch hier und heute noch dazu bekennen können. NEN]: Aber erhalten dürfen!) 9376 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Klaus Uwe Benneter (A) Das Bundesverfassungsgericht sagt ausdrücklich: – Ich habe es als opportunistisch dargestellt, wie Sie sich (C) den Journalisten an den Bauch werfen. Die Bestimmungen der Strafprozessordnung mit ihrer prinzipiellen Verpflichtung für jeden Staats- (Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Lachen bürger, zur Wahrheitsfindung im Strafverfahren beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) beizutragen und die im Gesetz vorgesehenen Er- mittlungsmaßnahmen zu dulden, sind … als allge- Sie wissen: Das Bundesverfassungsgericht hat in sei- meine Gesetze anerkannt … ner Entscheidung zum niedersächsischen Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung an mehreren Sie gelten auch für Journalisten. Deshalb bleibt es dabei: Stellen darauf hingewiesen, dass nur eine besondere Die Verfassung gebietet es nicht, Journalisten gene- Auswahl von Straftaten es zulässt, eine Telekommunika- rell von strafprozessualen Maßnahmen auszuneh- tionsüberwachung zu veranlassen, und deshalb entspre- men … chende gesetzgeberische Konsequenzen gefordert. Das heißt, das Anliegen, das Sie hatten und das wir ursprüng- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich geteilt haben, NEN]: Das ist doch klar!) Insofern hat die Bundesministerin recht: Wir haben (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hier nicht das unterste Level gewählt, sondern das, was NEN]: Eben! Sie sind von der Fahne gegan- in diesem Bereich zulässig ist. Das hat auch das Bundes- gen!) verfassungsgericht in seiner „Cicero“-Entscheidung kann aufgrund der neuesten Verfassungsrechtsprechung klargestellt. so nicht mehr verfolgt werden. Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: (Jörg van Essen [FDP]: Ich lege das Urteil Herr Kollege, wünschen Sie sich eine Zwischenfrage nicht so aus!) des Kollegen Ströbele? Sie müssen die neuesten Erkenntnisse mit berücksichti- gen. Klaus Uwe Benneter (SPD): Immer. Bei der Auswahl der Straftaten darf nicht auf eine ab- strakte Strafandrohung abgestellt werden, sondern muss Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: das Gewicht der zu schützenden Rechtsgüter im Vor- Bitte schön. dergrund stehen. Auch im Hinblick auf das nicht vorher- sehbare Risiko, dass bei einer Überwachung Kommuni- (B) (D) Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- kation aus dem Kernbereich privater Lebensgestaltung NEN): erfasst wird, hat das Gericht darauf hingewiesen, dass Herr Kollege Benneter, stimmen Sie mir zu, dass dieses Risiko nur bei einem besonders hohen Rang des Journalisten schon nach geltendem Recht durchaus an- gefährdeten Rechtsgutes hinzunehmen ist. Insofern müs- ders behandelt werden als die Normalbürgerinnen und sen die Rechtsgüter entsprechend normiert werden. -bürger? Das geschieht aus gutem Grund – nicht weil das (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag so nette Leute sind –: Es hängt mit ihrer Arbeit zusam- [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau das men; die Bevölkerung muss darauf vertrauen können, haben wir!) dass die Vertraulichkeit der an die Journalisten gegebe- nen Informationen gewahrt bleibt. Die Journalisten ha- – Nein, eben nicht. ben zum Beispiel ein Zeugnisverweigerungsrecht, das weit über das hinausgeht, was für die Bürgerinnen und Unter Berücksichtigung dieser Maßgabe ist eine vor- Bürger normalerweise gilt. Wir wollen es lediglich in der rangig an der Höhe der Strafandrohung orientierte ab- Konsequenz auf die Telefonüberwachung ausdehnen. strakte Bestimmung von materiellen Kriterien, wie von Das Bundesverfassungsgericht sagt keineswegs, das Ihnen vorgesehen, im Hinblick auf den Verhältnismäßig- dürfe oder solle nicht sein; es hat lediglich festgestellt, keitsgrundsatz verfassungsrechtlich bedenklich. Nichts das müsse von Verfassungs wegen nicht unbedingt sein. anderes hat Ihnen die Justizministerin hier vorgehalten. Sie hat beim Nachzählen sogar festgestellt, dass Sie Klaus Uwe Benneter (SPD): – das war uns damals nicht bekannt – die Telekommuni- Was Sie sagen, ist richtig. Ich habe nichts anderes be- kationsüberwachung auf 320 zusätzliche Straftatbe- hauptet. Das Zeugnisverweigerungsrecht, das die Jour- stände des Strafgesetzbuches und des Nebenstrafrechts nalisten haben, soll auch in Zukunft geschützt bleiben, ausweiten wollen. Diese Überwachungswürdigkeit er- natürlich auch in diesem Bereich, bei der Telekommuni- scheint doch wirklich mehr als fragwürdig. kationsüberwachung; das ist klar. Hier ging es um die Ein Eingrenzungskriterium ist für Sie die Verurtei- Frage, ob es einen absoluten Schutz für Journalisten ge- lungsprognose. Herr Kollege van Essen hat schon darauf ben soll. Einen solchen sehen Sie in Ihrem Gesetzent- hingewiesen, dass das kein geeignetes Eingrenzungskri- wurf vor. terium sein kann, gerade weil zu Beginn eines Ermitt- (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lungsverfahrens, wenn noch alles offen ist, die Abhör- NEN]: Richtig! Das wollen wir! Das ist nicht maßnahmen unter Umständen mit dazu dienen sollen, verboten!) die Unschuld eines Betroffenen nachzuweisen, Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9377

Klaus Uwe Benneter (A) (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wichtig ist auch: Die Umwidmung der durch ver- (C) NEN]: Was? So was habe ich noch nie gehört! deckte Ermittlungsmaßnahmen erlangten Daten zur Ver- Das ist ja ganz was Neues!) wendung als Beweismittel in anderen Strafverfahren wird durch restriktive Normen erschwert. um das Verfahren dann sehr schnell einstellen zu kön- nen. Das hindert uns, die Verurteilungsprognose als Ein- Wie gesagt, der Katalog der Anlassstraftaten wird grenzungskriterium zu übernehmen. systematisch neu geordnet, inhaltlich überarbeitet und dann im Einzelfall auf schwere Straftaten beschränkt. Wie gesagt, die Bundesregierung und die sie tragen- Der Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung den Koalitionsfraktionen haben einen Entwurf in der wird entsprechend den Vorgaben des Bundesverfas- Pipeline, wie man so schön sagt. sungsgerichts auch bei der Telekommunikationsüber- wachung gewährleistet. Erst recht gilt dies, wenn sich (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- diese Überwachung faktisch als eine Onlineüber- NEN]: Die ist verstopft!) wachung herausstellen sollte. Auch da gilt es, den Kern- – Für den 18. April ist die Aufhebung der „Verstopfung“ bereich privater Lebensgestaltung zu schützen. angekündigt. Spätestens dann wird sich das Kabinett da- Genereller Vorrang der schutzwürdigen Interessen mit befassen. In diesem Referentenentwurf wird dem zeugnisverweigerungsberechtiger Personen, etwa im ganz konkreten Änderungsbedarf Rechnung getragen, Falle von Pressemitarbeitern, gegenüber dem Strafver- der sich aus den technologischen Entwicklungen, den folgungsinteresse lässt sich, wie ich schon dargestellt letzten Verfassungsgerichtsentscheidungen, den Schwie- habe, verfassungsrechtlich nicht begründen. Diese rigkeiten der Strafverfolgungsbehörden, den Vorgaben Zeugnisverweigerungsrechte von Presseangehörigen des Übereinkommens des Europarates über die Compu- haben keinen unmittelbaren Bezug zum Kernbereich pri- terkriminalität und der EU-Richtlinie über die Speiche- vater Lebensgestaltung. Deshalb geht es hier nur um die rung von Kommunikationsdienstedaten ergibt. Herr Funktionsfähigkeit dieser Institutionen. Die Presse ist Montag, wenn Sie diesen Entwurf sehen, werden Sie ein wichtiges Organ, wenn es darum geht, zu informieren, sich bei Herrn Gehb entschuldigen müssen. zu kommunizieren und damit zur Stärkung der Demo- kratie beizutragen. (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Darauf freue ich mich!) Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung ist bei der Schaffung von Regelungen, die die Ermittlung des Das ist keine untere Messlatte, sondern exakt das, was wahren Sachverhalts gefährden und damit zu ungerech- uns gerade die letzten Verfassungsgerichtsentscheidun- ten, weil materiell unrichtigen Verfahrensergebnissen (B) gen vorgegeben haben. führen können – das wäre der Fall, wenn den Pressemit- (D) arbeitern ein umfassender Schutz gewährleistet würde –, Wir werden das Recht der verdeckten strafprozessua- besondere Zurückhaltung geboten. len Ermittlungsmaßnahmen einer umfassenden Über- arbeitung unterziehen. Unter Wahrung der bisherigen Eine wirksame Strafverfolgung im Interesse einer verfahrensrechtlichen Voraussetzungen und der grund- umfassenden Wahrheitsermittlung und die Aufklärung rechtssichernden Ausgestaltung werden wir die strafpro- von schweren Straftaten sind auch ein ganz wesentlicher zessualen Ermittlungsmaßnahmen harmonisieren und Auftrag des Rechtsstaates. Nicht nur die Rechte von den ganzen Regelungskomplex übersichtlicher und Pressemitarbeitern zu wahren, sondern schwere Straftaten rechtsstaatlichen Geboten entsprechend gestalten, zu- aufzuklären, ist dem Gesetzgeber aufgegeben. Er hat daher gleich aber auch den praktischen Erfordernissen Rech- bei der Prüfung der Gewährung eines absoluten Vorrangs nung tragen. bestimmter Interessen gegenüber anderen wichtigen Gemeinschaftsgütern den Erfordernissen einer an rechts- Auch den neuesten technischen Entwicklungen wer- staatlichen Garantien ausgerichteten Rechtspflege Rech- den wir gerecht werden. Gerade bei der Bekämpfung nung zu tragen. von schwer ermittelbarer Kriminalität sowie Transak- tions- und Wirtschaftskriminalität und insbesondere bei (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ralf Straftaten, die unter Nutzung moderner Kommunika- Göbel [CDU/CSU]) tionstechnologien begangen werden, sind die verdeckten Herr Kollege Montag, Sie müssen auch noch folgenden Ermittlungsmaßnahmen ein wirksames Instrument, das Punkt berücksichtigen. Mit Regelungen, die die Wahrheits- wir übersichtlicher und normenklarer gestalten werden. ermittlung beschränken, werden nicht nur die Möglich- keiten für die Strafermittlungsbehörden, sondern natürlich Lassen Sie mich noch auf einen weiteren Punkt hin- auch die Möglichkeiten für die Betroffenen selbst einge- weisen. Durch die Kennzeichnung der durch verdeckte schränkt, ihre Unschuld zu beweisen und einen gegen sie Ermittlungsmaßnahmen erlangten Erkenntnisse wird si- erhobenen Verdacht auszuräumen. Das können solche chergestellt, dass die für die eingriffsintensiven verdeck- Maßnahmen ebenfalls bewirken. Insofern müssten auch ten Ermittlungsmaßnahmen geltenden Beschränkungen Sie ein Interesse daran haben, solche unrichtigen Ent- beachtet werden. Auch das erscheint uns ganz wichtig. scheidungen zu verhindern. Was die nachträgliche Benachrichtigung angeht: Auch da werden Sie in diesem Entwurf all das wieder finden, (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: was wir schon unter Rot-Grün haben wollten und was Dann müssten wir ja alles abhören zugunsten wir jetzt in die Praxis umsetzen. des Angeklagten!) 9378 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Klaus Uwe Benneter (A) Eine Neuregelung wird sich nicht auf den Bereich der Chef Ziercke ab, der große Hackerangriff von Staats we- (C) verdeckten Ermittlungsmaßnahmen beschränken. Sie gilt gen betreffe nur wenige. Aber das ist ein Irrtum. Er be- grundsätzlich bei allen – auch bei den offenen – Ermitt- trifft alle, und er stellt den Rechtsstaat auf den Kopf; lungsmaßnahmen. Eine Differenzierung ist hier nicht denn jede und jeder gilt als potenziell verdächtig. sinnvoll, denn tragfähige Gründe sind dafür nicht er- Derselbe Geist beseelt übrigens die sogenannte Anti- kennbar. terrordatei, die heute von Bundesinnenminister Schäuble Herr Montag, ich habe Ihre Fleißarbeit bewundert. offiziell in Betrieb genommen wurde. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Silke Stokar von Neuforn [BÜNDNIS 90/DIE Das ist schön!) GRÜNEN]: Gestern!) Nehmen Sie es nicht persönlich: Mit unserem Gesetzent- Sie bewirkt, dass die Geheimdienste ermächtigt und die wurf wird Ihre Arbeit zur Makulatur und damit bedauer- Persönlichkeitsrechte erniedrigt werden. Das ist ihr Wesen. licherweise überflüssig. Genauso ist sie auch konstruiert. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hinzu kommt: Wer einmal in Verdacht gerät und in Da täuschen Sie sich!) die Antiterrordatei eingespeist wird – sei es noch so un- berechtigt –, läuft Gefahr, zeitlebens und grenzenlos als Wir könnten in unseren Gesetzentwurf höchstens aufneh- potenzieller Terrorist am Pranger zu stehen. Auch das men, dass es zwar eine Alternative gibt, die aber nicht hat weder etwas mit dem Rechtsstaat noch mit dem ver- brauchbar ist. brieften Datenschutz zu tun – im Gegenteil. Frohe Ostern. Damit komme ich zu dem eigentlichen Problem. Die (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Bundesrepublik driftet zu einer Gesellschaft ab, in der Bürgerrechte immer weniger gelten, der Staat möglichst alles wissen will und Bürgerinnen und Bürger als poten- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: zielles Risiko gelten. Deshalb sage ich den Mitgliedern So weit sind wir noch nicht. der Koalition: Sie unterhalten zwar ein Bundesamt für Jetzt spricht erst die Kollegin Petra Pau für die Frak- Verfassungsschutz. Aber Sie greifen gleichzeitig die tion Die Linke. Verfassung an und verkehren damit das Grundgesetz in sein Gegenteil. Dagegen bin ich, und dagegen ist auch (Beifall bei der LINKEN) die Fraktion Die Linke.

Petra Pau (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert (B) (D) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Winkelmeier [fraktionslos]) Die Überwachung von Telefongesprächen ist immer ein Sie werden sehen: Wir werden Sie in diesem Gesetzge- tiefer Eingriff in verbriefte Rechte der Bürgerinnen und bungsverfahren sehr aufmerksam begleiten; denn wir Bürger. Das hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach schützen die Verfassung vor Ihren Angriffen. Wir haben betont. Es hat mehrfach gerügt, dass diese Praxis grund- nämlich etwas dazugelernt. gesetzwidrig ist – so weit, so übersichtlich, so klar. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Heute liegen zwei Oppositionsanträge zur Lösung Winkelmeier [fraktionslos] – Jerzy Montag dieses Problems auf dem Tisch. Über Mängel wurde hier [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das würden schon gesprochen. Aber immerhin haben sie zumindest wir gerne glauben!) eines bewirkt: Sie haben die Regierungskoalition beflügelt, nun die Hausaufgaben zu machen und einen eigenen Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: Gesetzentwurf vorzulegen. Jetzt erteile ich zum Abschluss der Debatte das Wort Allerdings muss ich auch sagen: Ich bin gespannt, wie dem Kollegen Ralf Göbel für die CDU/CSU-Fraktion. die Bundesministerin der Justiz – die heute eine „harmoni- sche Regelung“ angekündigt hat – ihre sehr vernünftigen Ralf Göbel (CDU/CSU): Vorstellungen, die sie heute hier vorgetragen hat, mit den Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vorstellungen der Innenminister und den Dingen, die In dieser Debatte habe ich mich immer wieder gefragt, Herr Uhl heute in die Debatte geworfen hat, harmonisieren warum mir, wenn ich zu den Kollegen der Linksfraktion will. schaue, der oscarprämierte Film „Das Leben der Anderen“ Stichwort: Computer-/Onlineüberwachung. Sie wol- einfällt. Wenn ich jetzt höre, in welcher Art und Weise die Kollegin Pau, die Kollegin Jelpke und gestern die len heimlich ausspähen, was auf privaten Computern ge- Kollegin Dağdelen den bundesdeutschen Rechtsstaat schieht, was dort gespeichert und dort zu finden ist. diffamieren, Wenn das Reizwort „Big Brother“ an irgendeiner Stelle zutrifft, dann genau da. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na ja!) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier [fraktionslos]) dann frage ich mich, ob das in diesem parlamentarischen Raum, in dem wir uns befinden, angemessen ist. Natürlich geht es wie immer um den Kampf gegen Kri- minelle und Terroristen. Natürlich wiegelt der BKA- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9379

Ralf Göbel (A) Die Kollegin Dağdelen hat gestern in der Debatte zur Ermittlungen führen nicht immer zur Aufklärung einer (C) Abschiebehaft davon gesprochen, dass es einen staatlichen konkreten Straftat; vielmehr werden dabei häufig Struk- Rassismus deutscher Behörden gebe. Ich halte das für turen aufgedeckt. Dafür sind gelegentlich auch heimliche eine unerträgliche Bemerkung. Ich finde es unerträglich, Überwachungsmaßnahmen notwendig, um feststellen zu dass auch jetzt der Eindruck suggeriert wird, als ob die können, wie Tätergruppen organisiert sind, wie sie arbeiten bundesdeutschen Sicherheitsbehörden nichts Besseres und sich bewegen und welche Straftaten geplant sind. zu tun hätten, als täglich die Telefongespräche unbe- scholtener Bürger abzuhören und in ihren Wohnungen Bei der heimlichen Überwachung nach der Strafprozess- zu lauschen. ordnung muss ein konkreter Tatverdacht bestehen. Ob dies der Fall ist, entscheiden auf Antrag der Staatsan- (Ulla Jelpke [DIE LINKE]: Warum werden waltschaft die zuständigen Gerichte. Ich glaube nicht, denn Abgeordnete überwacht?) dass mit diesem Instrument rechtsstaatswidrig umgegangen Es ist unerträglich, dass Sie hier einen solchen Zustand wird. Auch wenn Herr van Essen darauf hinweist, dass beschreiben. Diesen Zustand gibt es in der Bundesrepublik der eine oder andere Antrag vielleicht einfach so von einem Deutschland nicht. Wir sind im Gegensatz zu dem, was Richter unterzeichnet wird, unterstelle ich, dass die Sie 40 Jahre lang in der DDR jeden Tag gemacht haben, Richter ihr Amt ordnungsgemäß wahrnehmen und einen ein demokratischer Rechtsstaat und achten die Grund- Antrag nur dann unterschreiben, wenn sie der Auffassung rechte. sind, dass die Maßnahme gerechtfertigt ist. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU – Jerzy Montag neten der SPD) [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lesen Sie doch die Gutachten!) Staatsanwaltschaften und Ermittlungsbehörden sind nun einmal immer öfter darauf angewiesen, heimliche Wenn es tatsächlich das Problem gibt, dass bei der be- Aufnahmen anzufertigen. Das hängt mit den Täter- und stehenden Gesetzeslage nicht alle Richter ordnungsgemäß Tatstrukturen und der voranschreitenden technischen vorgehen, dann stellt sich die Frage, ob nicht weniger Entwicklung zusammen. eine Gesetzesänderung als eine Verhaltensänderung der- jenigen notwendig ist, die diese Entscheidung zu treffen (Fritz Rudolf Körper [SPD]: Und mit den Te- haben. Nicht alle notwendigen Änderungen müssen lefonanschlusszahlen!) gesetzlich geregelt werden. – Ich komme noch darauf zurück. – Deswegen ist es wichtig, dass wir unter der Berücksichtigung der Recht- (Dr. Jürgen Gehb [CDU/CSU]: Außerdem hat unser Rechtsstaat diese Fälle geregelt, was (B) sprechung des Bundesverfassungsgerichts jetzt Gesetze auf (D) den Weg bringen, die auf der einen Seite die polizeilichen hinterher zu tun ist! Dafür haben wir das Ver- Ermittlungen im Bereich der schweren Kriminalität und fassungsgericht!) der Gefahrenabwehr erleichtern, die aber auf der anderen Neben den zwingenden rechtlichen Voraussetzungen Seite nicht überziehen, sondern das Recht des Einzelnen will ich an einem Beispiel aus der Praxis verdeutlichen, auf seine Privatsphäre hinreichend achten. Dabei bewegen wie sich eine Telekommunikationsüberwachung in einer wir uns auf einem schmalen Grat. Dementsprechend Behörde darstellt, weil dadurch vielleicht transparent streitig führen wir die Debatte und diskutieren verschie- wird, dass die Polizeibehörden nicht willkürlich mit diesem dene Lösungsansätze, zu denen die Linke allerdings Instrument umgehen. Aus meiner Zeit im Polizeipräsidium noch keinen Beitrag geleistet hat. kann ich berichten, dass wir eine Telefonüberwachung (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: geschaltet haben, bei der mehrere Telefonanschlüsse zu So ist es!) überwachen waren. Damit war ein erheblicher Personal- aufwand verbunden. Die Polizei ist bei ihren Ermittlungen auf Hinweise aus verschiedensten Informationsquellen angewiesen. (Zuruf von der SPD: Sehr richtig!) Die modernen Kommunikationsmittel werden selbst- verständlich von den Tätern genutzt. Durch Handys und Wir mussten rund um die Uhr über 20 Beamte einsetzen. das Internet hat sich die Kommunikation verändert: Sie ist Hinzu kamen Dolmetscher, weil die Telekommunikation schneller und unübersichtlicher geworden. In der virtuel- in einer Fremdsprache erfolgte. Insofern ist ein erheblicher len Welt sind neue Kriminalitätsstandorte entstanden, personeller, materieller und finanzieller Aufwand zu leis- deren Auswirkungen aber sehr intensiv in die reale Welt ten. Manche Telefonüberwachungsmaßnahme unterbleibt hineinreichen. Durch offene Ermittlungsmaßnahmen allein deswegen, weil den Behörden die personellen und allein kann das Ziel der Aufklärung von Straftaten und der finanziellen Kapazitäten fehlen. Auch das muss man zur Gefahrenabwehr nicht mehr erreicht werden. Deswegen Kenntnis nehmen. Es handelt sich nicht um ein Instrument, sind die Möglichkeiten heimlicher Ermittlungen zu nutzen. das jeder x-beliebige Polizeibeamte im Streifendienst nutzen kann; es ist vielmehr eine hochkomplexe Über- Bei den Ermittlungsinstrumenten können wir nach wachungsmaßnahme, die einen erheblichen Personalein- meiner festen Auffassung nicht mit dem Hinweis auf die satz erfordert. Kosten-Nutzen-Rechnung argumentieren. Wir können nicht auf ein Ermittlungsinstrument verzichten, weil der Nutzen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nicht von vornherein ersichtlich oder quantifizierbar neten der SPD – Jörg van Essen [FDP]: Und ist. Herr van Essen hat schon darauf hingewiesen: Die teuer ist!) 9380 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Ralf Göbel (A) – Sie ist auch teuer, wie Herr van Essen zutreffend fest- gründlich gelesen, auch was die Benachrichtigungs- (C) stellt. pflichten betrifft. Wann der Kernbereich verletzt ist, was nach dem (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Abschalten passiert und wie man erfährt, dass wieder NEN]: Sehr gut!) einzuschalten ist, hat mein Kollege Hans-Peter Uhl bereits erläutert. Ich finde, der Vorschlag des Richterbundes ist Was der Bundesbeauftragte für den Datenschutz in die- geeignet, um zum einen der Rechtssprechung des Bun- sem Verfahren zu suchen haben soll, weiß ich nicht. Ich desverfassungsgerichts zum Kernbereichsschutz und halte es gelinde gesagt für überflüssig, dass er vor einer zum anderen den Bedürfnissen der Praxis, die einen ef- Entscheidung des Oberlandesgerichts gehört werden fektiven Einsatz des Ermittlungsinstrumentes wünscht, soll. Rechnung zu tragen. (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Im Zusammenhang mit den stark angestiegenen Zah- NEN]: Ganz im Gegenteil!) len bitte ich, Folgendes zu bedenken: Die Täter benutzen In struktureller Hinsicht ist es im Übrigen falsch; denn zunehmend nicht nur ein Handy mit nur einer Karte, wenn eine Landesbehörde ermittelt, wäre konsequenter- sondern viele Täter benutzen zehn, 15 oder 20 verschie- weise der Landesbeauftragte für den Datenschutz einzu- dene Karten in einem Handy, und sie benutzen ferner das beziehen. Handy des Nachbarn, des Untermieters oder von wem auch immer. Auch das ist ein Grund für die steigenden (Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Zahlen. NEN]: Das ist ein guter Vorschlag!) (Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Das weiß Abschließend möchte ich feststellen, dass die Große der Herr Montag! Er verschweigt es nur!) Koalition die Entscheidungen des Bundesverfassungsge- richts zügig umsetzen wird. Die Frau Bundesministerin Die Überwachung wird schließlich nicht auf einen Täter hat angekündigt, dass der Kabinettsentwurf zur StPO- abgestellt; vielmehr steckt hinter jeder benutzten Karte Reform am 18. April vorgelegt wird. Wir sind dabei, für ein separater Anschluss, für den jeweils eine Überwa- die Sicherheitsbehörden im präventiven Bereich eine chungsmaßnahme angeordnet werden muss. Auch das Regelung zu finden, die den Ansprüchen des Bundesver- erklärt, warum die Anzahl der Kommunikationsüberwa- fassungsgerichts und dem Schutzauftrag des Staates ge- chungen steigt. genüber seinen Bürgern gerecht wird. (Fritz Rudolf Körper [SPD]: 82 Millionen Handys!) Herzlichen Dank. (B) (D) Im Übrigen müssen wir davon ausgehen, dass das Ge- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) genüber der Polizei sehr genau weiß, welche rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten die staatlichen Sicher- Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt: heitsbehörden haben, und sich immer darauf einstellen Ich schließe die Aussprache. wird. Wir werden immer das Hase-und-Igel-Spiel haben. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf In diesem Zusammenhang ist darüber nachzudenken, den Drucksachen 16/3827 und 16/1421 an die in der Ta- ob wir das Modell der Schweiz übernehmen. Die Schweiz gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – stellt die Überwachung nicht auf die Anschlüsse, sondern Damit sind Sie einverstanden. Dann ist so beschlossen. auf die Geräte ab. Dadurch ist ein Wechsel für die Täter weniger leicht. Es ist zu fragen, ob es nicht sinnvoller Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf: wäre, die Überwachung auf die Gerätenummer abzustel- Beratung des Antrags der Abgeordneten Gudrun len. Die Ermittler hätten dann bessere Möglichkeiten, und Kopp, , Dr. Karl Addicks, weite- das würde insgesamt zu einer Erleichterung der Aufklä- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP rungsmaßnahmen führen. Engpässe beim grenzüberschreitenden Strom- Ich will zum Schluss noch einige Worte zu den handel abbauen – Wettbewerb auf dem Elek- Benachrichtigungspflichten sagen. Ich bin sehr dafür, trizitätsmarkt intensivieren dass wir die Regelung zu den Benachrichtigungspflich- ten überarbeiten. – Drucksache 16/3346 – (Klaus Uwe Benneter [SPD]: Darauf können Überweisungsvorschlag: Sie sich verlassen!) Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f) Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Das ist überhaupt keine Frage. Das muss aber mit Ver- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union nunft und Augenmaß geschehen. Es darf nicht so sein, Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie- dass Menschen, die abgehört worden sind, am Ende ren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist so durch die Benachrichtigungspflicht wirtschaftliche Schä- beschlossen. den erleiden. Das würde das Ganze ins Absurde verkeh- ren. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der Kollegin Gudrun Kopp für die FDP-Fraktion. An die Adresse der Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen muss ich sagen: Ich habe Ihren Entwurf sehr (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9381

(A) Gudrun Kopp (FDP): uns, den Finger in die Wunde zu legen und zu sagen: Wir (C) Frau Präsidentin! Sehr geehrte Herren und Damen! müssen hier agieren. Wir haben heute einen weiteren Antrag der FDP-Bun- (Beifall bei der FDP) destagsfraktion vor uns liegen, der die Stärkung des Wettbewerbs auf dem deutschen Energiemarkt zum Gleichzeitig müssen Bundesregierung, Übertragungs- Thema hat. netzbetreiber und die Regulierungsbehörden sich für In den vergangenen Wochen stand die Entflechtung eine Änderung des Engpassmanagements an den deut- von Netz und Produktion im Zentrum der Debatte. Ich schen Grenzen starkmachen. Sachgerecht wäre es, eine möchte heute ausdrücklich darauf verweisen, dass es Abkehr vom expliziten hin zum impliziten Auktionieren weitere Wege gibt, um auf diesem Gebiet zu mehr Wett- bzw. zu Hybridverfahren an der Börse herbeiführen. Das bewerb zu gelangen; denn immerhin sind 90 Prozent der heißt, ein Kauf von Strommengen an einer Strombörse Grundlastkraftwerke in den Händen der großen vier ist mit den entsprechenden grenzüberschreitenden Über- Konzerne. tragungskapazitäten zu koppeln, damit der Fluss entspre- chend geregelt werden kann. Es ist wichtig, für einen diskriminierungsfreien Netzzugang zu sorgen. Die Bundesnetzagentur ist auf Es gilt also, Hürden abzubauen, mehr Wettbewerb dem richtigen Weg. Wir warten jetzt auf die Kraftwerks- herzustellen und den Fokus nicht ausschließlich, wie in anschlussverordnung und eine dann hoffentlich pünktli- der Vergangenheit geschehen, auf die eigentumsrechtli- che Anreizregulierung. Wir haben festgestellt, dass ein che Entflechtung zu lenken. Wir sagen ganz ausdrück- wichtiges Hemmnis auf dem Weg zu mehr Wettbewerb lich, dass das, was bisher durch die Regulierung der auf dem deutschen und europäischen Strommarkt immer Netze erreicht worden ist, erheblich ist: Die Netzentgelte wieder das Problem war und ist, dass sich nationale wurden im Umfang von 2,8 Milliarden Euro gesenkt, im Märkte abgeschottet haben, und zwar durch unzurei- Strombereich waren es 2 Milliarden Euro, im Gasbe- chende Übertragungskapazitäten. Es fehlt an Kapazität, reich 800 Millionen Euro. Das ist ein richtiger Schritt. damit neue Unternehmen überhaupt auf den Markt kom- Weitere müssen folgen. Umzusetzen ist auch das soge- men können. nannte rechtliche Unbundling; viele Unternehmen ha- ben das schon getan. Die rechtliche Entflechtung ist ge- Von daher ist es wichtig, uns auf die Grenzkuppelstel- schehen bzw. sie muss bis zum Sommer stattfinden. len zu konzentrieren. Wir wollen mit dem heute vorlie- genden Antrag den Handel mit Strom auf diesen liberali- Wir haben, was die Schaffung von mehr Wettbewerb sierten Märkten ankurbeln. Wir können es nur durch auf dem Strom- und Gasmarkt betrifft, noch einen lan- einen massiven Ausbau der Grenzkuppelstellen gestal- gen Weg vor uns. Mit dem heutigen Antrag, der zu die- (B) ten. Das wurde bislang vernachlässigt. sem Thema der einzige ist, der von einer Bundestags- (D) fraktion ins Parlament eingebracht wurde, gehen wir Wir fordern die Bundesregierung gerade während der einen wichtigen Schritt, nämlich den des Ausbaus der EU-Ratspräsidentschaft auf, die diesbezügliche Verord- Interkonnektoren zur Schaffung von mehr Wettbewerb nung zu ändern. Denn gegenwärtig ist es so, dass die auf dem europäischen Energiemarkt. Ich bitte Sie, meine entsprechende Verordnung es den großen Netzbetreibern sehr geehrten Herren und Damen Kollegen und Kolle- erlaubt, die Einnahmen aus dem Engpassmanagement ginnen, diesem Antrag zu gegebener Zeit zuzustimmen. für Preissenkungen der Netzentgelte weiterzugeben. Vielen Dank. (Vorsitz: Vizepräsidentin Petra Pau) (Beifall bei der FDP) Das hört sich für die Verbraucher zunächst einmal posi- tiv an. Es ist aber gar nicht positiv, weil die Kapazität Vizepräsidentin Petra Pau: nicht weiter erhöht wird, Marktabschottung weiter er- folgt und der Ausbau der Netze vernachlässigt wird. Das Wort hat der Kollege Franz Obermeier für die Unionsfraktion. Ich nenne Ihnen eine Zahl: In den Jahren 2004 und 2005 hat es Einnahmen aus dem Engpassmanagement (Beifall bei der CDU/CSU) im Umfang von 334 Millionen Euro gegeben; vorher la- gen sie bei 200 Millionen Euro. In einem Zeitraum von Franz Obermeier (CDU/CSU): nur drei Jahren, von 2002 bis 2005, wurden lediglich Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Es ist 25 Millionen Euro in den Flaschenhals Grenzkuppelstel- keine Frage: Die Strompreise in der Bundesrepublik len reinvestiert. Das ist einfach zu wenig. Deutschland sind eindeutig zu hoch. Die deutschen Be- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) triebe haben höhere Produktionskosten als ihre europäi- schen bzw. internationalen Konkurrenten, also erhebli- Deshalb schlägt die FDP vor, dass Einnahmen aus che Wettbewerbsnachteile. Nach einer Statistik des dem Engpassmanagement verpflichtend in den Ausbau BDI sind die Strompreise für die deutsche Industrie von dieser Grenzkuppelstellen investiert werden sollen. Sie 4,38 Eurocent je Kilowattstunde im Jahre 2000 auf können sich vorstellen, dass die Unternehmen auf dem 7,1 Eurocent je Kilowattstunde im Jahre 2004 gestiegen. europäischen Markt, aber insbesondere die auf dem Danach mussten die deutschen Unternehmen im Jahre deutschen Markt wenig Interesse daran haben, sich wei- 2004 im europäischen Vergleich die zweithöchsten tere Konkurrenz ins Land zu holen. Deshalb ist es an Strompreise zahlen. 9382 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Franz Obermeier (A) Für die privaten Verbraucher gilt, dass wir leider eine Erstens. Es ist richtig, dass es sich beim grenzüber- (C) Erblast aus vergangenen Regierungszeiten mit uns he- schreitenden Stromaustausch um ein äußerst wichtiges rumtragen. 40 Prozent des Strompreises sind gesetzlich Thema handelt. Die in den FDP-Forderungen enthalte- gemacht. Ich möchte das alles eigentlich gar nicht auf- nen Ansätze sind bereits Teil des von der Bundesregie- zählen, aber es handelt sich dabei unter anderem um die rung entwickelten Konzepts zur Verwirklichung eines Umsatzsteuer oder die Stromsteuerzuschläge aus dem wettbewerbsorientierten Binnenmarktes für Energie. Die Kraft-Wärme-Kopplungsgesetz und dem EEG. Bundesregierung treibt dieses Konzept im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft mit großem Nach- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Und 3 Prozent druck voran. Gerade bei dem hier in Berlin stattfinden- Mehrwertsteuer drauf!) den Workshop wird dieser Diskussionsprozess forciert. – Ja, die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozent- Die Ergebnisse sollen als Grundlage für den für Anfang punkte kommt hinzu. Juni vorgesehenen Energierat dienen. Insofern stimme ich dem Antrag zu, dass Gespräche mit anderen europäi- (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Genau!) schen Regierungen geführt werden sollten, ebenso mit den zuständigen Regulierungsbehörden und Übertra- Das macht insgesamt rund 40 Prozent des Strompreises gungsnetzbetreibern. aus. Wir können diese Entwicklungen in dieser Legisla- turperiode vermutlich nicht in nennenswertem Umfang Zweitens, zum Vorschlag Nr. 1 der FDP. Bevor eine zurückdrehen. Deswegen müssen wir uns andere Schritte Änderung der Verordnung EG 1228/2003 ins Auge ge- überlegen. fasst wird, sollte der Erfahrungsbericht der Kommis- sion abgewartet werden, der gegenwärtig erarbeitet Aber es gibt natürlich auch eine ganze Reihe von wird. Der Vorschlag der FDP, Einnahmen aus der Zuwei- Hemmschuhen. In Europa findet noch kein wirklich sung von Verbindungen prioritär für den Erhalt und den freier grenzüberschreitender Wettbewerb im Stromhan- Ausbau der grenzüberschreitenden Verbindungsleitun- del statt; auch in dem Gespräch, das wir eben mit der gen zu nutzen, ist etwas vorschnell, weil die ganze Ge- EU-Wettbewerbskommissarin geführt haben, ging es um schichte nicht so einfach ist. dieses Thema. ( [CDU/CSU]: So ist es!) Ich möchte dieses Thema nicht auf die Grenzkuppel- stellen fokussieren. Da Strom ein hochsensibles Produkt Wenn man nicht gleichzeitig sicherstellt, dass die Rah- ist, muss dieses Thema ganzheitlich betrachtet werden. menbedingungen für eine ausgewogene Verteilung der Frau Kopp, ich gebe zu bedenken, dass es zu wenige Kraftwerksstandorte stimmen, besteht das Risiko, dass Grenzkuppelstellen gibt und dass sie zu leistungs- der Engpass von heute – an den Grenzkuppelstellen – (B) schwach sind. Damit allein kann man dieses Problem sich morgen an anderen Stellen zeigt, die wir heute noch (D) nicht lösen. nicht kennen. (Gudrun Kopp [FDP]: „Allein“ habe ich auch (Gudrun Kopp [FDP]: Das hat aber auch der nicht gesagt!) CDU-Wirtschaftsrat gefordert!) Wir müssen, was die Stromdurchleitung betrifft, un- Ganz wichtig ist, dass zunächst die bestehenden sere Kapazitäten im Auge haben. Das heißt, dass in je- Netze optimal genutzt werden. Hier gibt es noch Opti- dem Land zunächst überprüft werden muss: Welche Lei- mierungspotenzial. Vor einem Ausbau der grenzüber- tungskapazitäten sind vorhanden, und wo macht es schreitenden Verbindungsleitungen muss im Übrigen Sinn, die Grenzkuppelstellen so zu verstärken, dass tat- klar sein, wer die Kosten trägt und wer den Nutzen hat. sächlich ein Markt entsteht? Die Stromnetze sind der Es liegt auf der Hand, dass ein Investor nur dann Geld in Schlüssel. Wir müssen die notwendigen Rahmenbedin- die Hand nehmen wird, wenn sich die Investition ren- gungen schaffen. Das natürliche Monopol der Netze tiert. Dafür sind klare Rahmenbedingungen zu schaffen. muss aufgebrochen werden, damit in Zukunft nicht mehr (Beifall bei der CDU/CSU) nur wenige Unternehmer die Preise für die Durchleitung und damit die Strompreise bestimmen. Es ist deshalb richtig, zunächst den Erfahrungsbericht der Kommission abzuwarten und erst dann über weitere Noch stimmt die Wettbewerbsstruktur nicht. Das Schritte zu entscheiden. gilt vor allem für die Zahl der Wettbewerber. Je nach Be- rechnung liegen 80 bis 90 Prozent der Stromerzeugung Drittens, zum Vorschlag Nr. 2 der FDP. Ich freue in den Händen der vier großen Unternehmen. Wir müs- mich, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen von sen dafür sorgen, dass Investitionen in das Netz, in Mo- der FDP-Opposition, dass Sie das von der Bundesregie- dernisierungen und in den Ausbau getätigt werden. Neue rung mit initiierte Pentalaterale Forum positiv werten Investitionen dürfen nicht gehemmt werden, sondern sie und eine analoge Ausweitung empfehlen. Ziel dieses Fo- sollten durch Anreize gefördert werden. Denn es gibt er- rums ist eine bessere Koppelung der Märkte. Dies lässt hebliche Engpässe bei der Durchleitung durch die ver- sich nur erreichen, indem man Stromhandel – Händler schiedenen Mitgliedsländer der EU. und Strombörsen – auf der einen Seite und Netzsteue- rung – Netzbetrieb und Regulatoren – auf der anderen Was können wir tun, um dem Anstieg der Elektrizi- Seite an einen Tisch bringt. Auf diese Weise soll eine in- tätspreise Einhalt zu gebieten und den Wettbewerb in tegrierte Handelsplattform entstehen, die durch bessere Europa in Schwung zu bringen? Abstimmung des Handels mit der Netzsteuerung die Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9383

Franz Obermeier (A) Nutzung der Leitungen verbessert und so zur Beseiti- Hans-Kurt Hill (DIE LINKE): (C) gung oder zumindest Verminderung von grenzüber- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- schreitenden Engpässen beiträgt. gen! Liebe Gäste hier im Haus! Die Infrastruktur muss gesellschaftlichen Interessen und nicht den Profiten we- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) niger Konzerne dienen. Bevor wir an eine Ausweitung denken, sollten wir (Dr. [SPD]: Sehr gut! – Franz erst einmal die Erfahrungen der Gründungsmitglieder Obermeier [CDU/CSU]: Bis jetzt stimmt es der EWG sammeln. Die von Ihnen angesprochenen noch!) Punkte zeigen bereits, wie vielfältig die Inhalte sind. Zu begrüßen ist der Vorschlag der EU-Kommission, die Zu- Genau das ist das Problem im deutschen Stromsektor; sammenarbeit zwischen Regulatoren und Netzbetreibern das haben Sie erkannt. zu verstärken, um so durch Harmonisierung mehr Wett- Gesetzt den Fall, dass hier überhaupt von einem bewerb in den regionalen Energiemärkten zu schaffen. Markt geredet werden kann, stelle ich fest: Er ist natio- Falsch oder zumindest völlig verfrüht sind hingegen die nal abgeschottet, kartellartig strukturiert und damit teuer Vorschläge der EU-Kommission, nationale Regulie- und unfair. Da nützt es wenig, an den Symptomen he- rungsbehörden durch einen europäischen Energieregula- rumzudoktern, wie es die FDP mit ihrem Antrag will. tor zu ersetzen oder „eigentumsrechtliche Entflechtun- Wir müssen endlich die richtigen Konsequenzen ziehen: gen“ vorzunehmen, um funktionierenden Wettbewerb im europäischen Strom- und Gasmarkt zu ermöglichen. In Erstens: Stromerzeugung und Netzbetrieb gehören ei- Deutschland gibt es dagegen erhebliche verfassungs- gentumsrechtlich getrennt. rechtliche und energiewirtschaftliche Bedenken. Zweitens. Die Marktmacht des Oligopols gehört ein- Ich möchte hinzufügen: Wir haben die Regulierungs- geschränkt. behörde kaum installiert – soweit ich weiß, ist sie perso- nell noch gar nicht voll ausgestattet –, schon wird disku- Drittens. Die Übertragungsnetze müssen in die öffent- tiert, alles neu zu organisieren. Das halte ich für falsch. liche Hand überführt werden, wie wir das schon mehr- Ich meine, wir sollten die nächsten ein, zwei Jahre ab- fach betont haben. warten So wäre es dann auch möglich, den grenzüberschrei- tenden Stromhandel vernünftig zu organisieren. Wir (Dr. Thea Dückert [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: brauchen mehr Übergänge in Europa, um einen EU-wei- Das können Sie am besten: abwarten!) ten Verbund der erneuerbaren Energien zu schaffen; und sehen, wie sich das Instrument Regulierungsbehörde denn es geht um mehr als um bezahlbare Energie: Es (B) bestätigt. Dann können wir weitersehen. geht um Klimaschutz und um Energiesicherheit. (D) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Natürlich brauchen wir einen Ausbau der Grenzkup- pelstellen, um Druck auf den abgeschotteten deutschen Meine Damen und Herren, wir brauchen auch eine Strommarkt auszuüben. Unter den jetzigen Bedingungen gemeinsame europäische Energiepolitik nach innen führt das aber nur dazu, dass Eon und Vattenfall ihre ei- und nach außen. Warum nach außen? Für jeden, der sich genen Interessen bedienen, Frau Kopp. Sie werden nur mit der Energiepolitik beschäftigt, ist klar, wie schwierig da ausbauen, wohin sie den Strom ihrer eigenen Kraft- es ist, wenn wir als Europäer und insbesondere als Bun- werke am besten exportieren können. Mit Wettbewerb desrepublik Deutschland auf den Rohstoffmärkten, auf hat das wenig zu tun. Ihre Forderungen sind einfach zu denen die Produkte international gehandelt werden, lasch, Frau Kopp. Es kann nicht darum gehen, ein wenig praktisch nicht existieren. Hier muss sich etwas ent- an einer EU-Richtlinie und den Auktionsverfahren he- wickeln. rumzuschrauben. Ziel muss es vielmehr sein, Strommen- Daneben brauchen wir eine Waffengleichheit bei der genauktionen an den Grenzen überflüssig zu machen. Stromproduktion. Meine Damen und Herren der FDP, mit Ihrem Antrag Eine Schlussbemerkung. Ich denke, die deutsche werden Sie deshalb sehr wahrscheinlich nicht viel errei- Ratspräsidentschaft unter Führung von Bundeskanzlerin chen. Neoliberalismus funktioniert eben nicht, wenn es Dr. Merkel wird zur Verwirklichung eines wettbewerbs- um gesellschaftliche Aufgaben geht. orientierten Binnenmarktes erfolgreiche Initiativen auf (Gudrun Kopp [FDP]: Wissen Sie, was Neoli- den Energiemärkten in Gang setzen. beralismus ist?) Herzlichen Dank. Hier geht es letztendlich um bezahlbare Energie. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Es ist typisch, dass die Liberalen die Kraft-Wärme- neten der SPD) Kopplung und die erneuerbaren Energien auch in diesem Antrag wieder als Zusatzlasten aufzählen. Dabei wissen Vizepräsidentin Petra Pau: Sie ganz genau, dass gerade effiziente Energietechnik Das Wort hat der Kollege Hans-Kurt Hill für die Frak- und erneuerbare Energien wirksam zur Dämpfung der tion Die Linke. Strompreise beitragen. Es ist dem Stromkunden doch nicht mehr zu erklären, dass Eon Rekordgewinne in Mil- (Beifall bei der LINKEN) liardenhöhe macht und gleichzeitig den Beschäftigten 9384 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Hans-Kurt Hill (A) den Lohn kürzen will und auch noch steigende Strom- sagt hat –, dass die Netzagentur auf einem guten Weg ist, (C) preise ankündigt. Ich sage nur eines: Sie kümmern sich dass sie das Instrumentarium, das wir ihr zur Verfügung einen Dreck um den Klimaschutz. gestellt haben, nutzt und weiterentwickelt. Sie hat eine faire Chance verdient, zu beweisen, dass sie mit diesen Immerhin hat die FDP erkannt, dass es sich bei den Instrumenten einen diskriminierungsfreien Netzzugang Netzen um ein natürliches Monopol handelt. Ziehen Sie erreichen kann. wie wir, die Linken, auch die richtige Konsequenz: Die Netze gehören in die öffentliche Hand. – Dann klappt es Ich will gar nicht verhehlen, dass wir die weiterge- auch mit dem Strompreis und den Kupplungsstellen. henden Diskussionen und Forderungen hin zu einer ei- gentumsrechtlichen Entflechtung auch kritisch betrach- Vielen Dank. ten, und zwar nicht nur, weil eine solche Entwicklung (Beifall bei der LINKEN – Dr. Rainer Wend [SPD]: verfrüht käme und wir erst einmal abwarten wollen, dass Das haben wir ja in der DDR gesehen!) das jetzige Instrumentarium funktioniert, sondern wir haben in diesem Zusammenhang durchaus sachliche und Vizepräsidentin Petra Pau: rechtliche Bedenken. Das Wort hat der Kollege Rolf Hempelmann für die Allerdings verfolgen wir mit großem Interesse die SPD-Fraktion. Vorschläge, die jetzt auf den Tisch kommen, zum Bei- (Beifall bei der SPD) spiel wie man regionale Kooperationen zwischen Netz- betreibern organisieren kann, möglicherweise auch unter dem Dach eines unabhängigen Netzbetreibers. Ich Rolf Hempelmann (SPD): meine, alle diese Vorschläge verdienen es, ernsthaft ge- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle- prüft zu werden. gen! Herr Hill, das, was Sie gerade gesagt haben, war ein bisschen die alte Leier. Aber wir kennen das ja schon: Das führt uns zu dem Thema des Antrags der FDP- Sie versuchen zunächst, deutlich zu machen, wie viel Sie Fraktion, zum grenzüberschreitenden Stromhandel und seit dem Fall der Mauer gelernt haben, und benutzen ins- Wettbewerb. Dabei sind Netze und Kuppelstellen ent- besondere den Marktbegriff. Gleichzeitig äußern Sie scheidende Punkte. Der Fairness halber sollten wir aber, aber wieder die feste Überzeugung, dass eigentlich der glaube ich, schon sagen, dass wir in Deutschland auf die- Staat die Dinge in die Hand nehmen und die Netze be- sem Gebiet nicht so schlecht sind. Wir verfügen über den treiben soll. größten Anteil an Kuppelstellenkapazität in der Euro- päischen Union. Mit 16 Prozent Kuppelkapazität zum (Hans-Kurt Hill [DIE LINKE]: Darüber denkt Ausland liegen wir deutlich über dem Barcelonazielwert (B) auch die Deutsche Bahn nach!) von 10 Prozent. Ich will damit nicht sagen, dass der (D) Wozu das führen kann, haben wir ja vor knapp 20 Jahren Wettbewerb schon funktioniert und wir damit zufrieden gesehen: Die Infrastruktur in der ehemaligen DDR sein sollten. Aber zu einer sachlichen Darstellung gehört musste praktisch völlig neu errichtet werden, weil der es, auch einmal den Stand der Dinge zu referieren. Staat nicht in der Lage war, sie wirtschaftlich, effizient Und die Entwicklungen gehen weiter. Das Engpass- und erfolgreich zu betreiben. management, das hier zu Recht kritisiert worden ist (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der – vor allem vor dem Hintergrund, dass es nicht in einem FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wünschenswerten Maße zu Netzinvestitionen geführt hat –, SES 90/DIE GRÜNEN) wird weiterentwickelt, und zwar durch die europäischen Regulatoren im Dialog, also auch durch die Bundes- Der Antrag der FDP-Fraktion „Engpässe beim grenz- netzagentur – ich denke, das ist auch richtig – und in der überschreitenden Stromhandel abbauen – Wettbewerb ERI, der Electricity Regional Initiative. Ich meine, das auf dem Elektrizitätsmarkt intensivieren“ springt aller- ist eine große Chance, dass wir im Verbund mit den eu- dings – insoweit gebe ich Ihnen wieder Recht, Herr Hill – ropäischen Nachbarn weiterkommen. Es gibt ganz er- tatsächlich etwas zu kurz. Frau Kopp hat gesagt, dass er hebliche Entwicklungen, etwa zwischen Dänemark und sich sozusagen in eine Kette anderer Anträge einreiht, in Deutschland, die wir nicht verschweigen sollten. Es gibt denen andere Themen und Aspekte behandelt worden auch ganz interessante Vorschläge, etwa für den Bereich sind. Das ist sicherlich richtig, aber ich will in diesem zwischen Deutschland, den Beneluxstaaten und Frank- Zusammenhang deutlich sagen, dass sich diese Bundes- reich. Auch diese Entwicklungen zeigen, dass wir mit regierung – auch die Vorgängerregierung hat das getan – dem, was wir begonnen haben, nämlich der Einrichtung seit einigen Jahren sehr intensiv dem Thema Wettbewerb der Bundesnetzagentur mit dem klaren Auftrag zur auf den Energiemärkten widmet. Deshalb wurde bei- Schaffung von mehr Wettbewerb nicht nur durch Netzre- spielsweise im Jahr 2005 das Energiewirtschaftsgesetz gulierung im engeren Sinne, sondern auch durch Anreize im Bundestag – mit der Zustimmung aller Fraktionen für Qualität und Investitionen, auf dem richtigen Weg des damaligen Deutschen Bundestages – und danach im sind. Dieser trägt bereits erste Früchte. Bundesrat verabschiedet. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Weiter haben wir die Bundesnetzagentur gegründet, die den Auftrag hat, für Wettbewerb im natürlichen Mo- Wir brauchen allerdings mehr. Wir brauchen zum nopol, in den Netzen zu sorgen. Ich bin der festen Über- Beispiel eine funktionierende Anreizregulierung. In zeugung – ähnlich, wie es Kollege Obermeier gerade ge- Kürze werden wir sicherlich über einen entsprechenden Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9385

Rolf Hempelmann (A) Verordnungsentwurf des federführenden Wirtschafts- Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (C) ministeriums diskutieren können. Neben den Anreizen Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- für einen kosteneffizienten Netzbetrieb brauchen wir gen! Meine Damen und Herren! Über die Intensivierung Anreize für den Netzausbau, und zwar nicht nur an den des Wettbewerbs auf dem Energiemarkt haben wir an Landesgrenzen, sondern auch im Inland; denn es zeich- dieser Stelle schon häufig debattiert. Allein dies ist doch net sich ab, dass dann, wenn die von uns gewünschten ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Wettbewerb auf Kraftwerksinvestitionen getätigt werden, die Kraftwerke dem Strommarkt noch immer nicht reibungslos funktio- möglicherweise ihren Strom nicht bis zum Endkunden niert. In den letzten Jahren stiegen die Strompreise in liefern können, jedenfalls nicht in 100-prozentigem Um- der Tat kontinuierlich an und mit ihnen die Gewinne der fang, weil die Netzkapazitäten in Deutschland mangel- Stromkonzerne. Natürlich gibt es neben den überhöhten haft sind. Deswegen ist es wichtig, dass sich die Bundes- Gewinnmitnahmen andere Ursachen für die Strompreis- netzagentur im Rahmen der Anreizregulierung der steigerungen. Die FDP nennt einige davon in ihrem An- Aufgabe des Netzausbaus mit marktgerechten Instru- trag. Allerdings bedarf diese Aufzählung einer Klarstel- menten widmet, wie es im Energiewirtschaftsgesetz und lung. Wenn die FDP – zu Recht – die Preissteigerungen in den entsprechenden Verordnungen vorgesehen ist. infolge der gestiegenen Rohstoffpreise von Erdgas, (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Kohle, Erdöl und Uran benennt, aber gleichzeitig über der CDU/CSU) die Umlagekosten für erneuerbare Energien klagt, so wie es auch Herr Kollege Obermeier getan hat, passt das Ähnlich wichtig ist eine Kraftwerksanschlussver- nicht zusammen. ordnung; dazu gibt es schon einen Entwurf aus dem Bundeswirtschaftsministerium. Schließlich gilt: Noch so (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gut funktionierende Netze und ein perfekter, diskrimi- Die Mehrkosten für erneuerbare Energien sind margi- nierungsfreier Netzzugang nutzen gar nichts, wenn nicht nal. So muss die Industrie zum Beispiel bei einem durch- durch entsprechend gesicherte Anschlüsse und An- schnittlichen Strompreis von 8 Cent pro Kilowattstunde schlussrechte gewährleistet ist, dass die neuen Kraft- für die Umlage für erneuerbare Energien gerade einmal werke ihren Strom absetzen können. Dazu gibt es in der 0,15 Cent zahlen. Dies ist ein wahrlich winziger Betrag, geplanten Kraftwerksanschlussverordnung einen Lö- der aber eine große Wirkung hat; denn diese winzige sungsansatz, über den wir sicherlich in Bälde inhaltlich Strompreiserhöhung führt geradewegs aus der Abhän- differenziert diskutieren können. gigkeit von fossilen und atomaren Rohstoffen, deren Ein Instrument, über das wir mit Sicherheit schon im Preise stetig steigen. Da, meine Damen und Herren von April diskutieren werden, ist der Nationale Allokations- der FDP und der Union, müssen Sie sich schon entschei- (B) plan zum Emissionshandel. Wir versuchen, auch in die- den, wo Sie stehen wollen. An dieser Debatte entschei- (D) sem Bereich Rahmenbedingungen zu schaffen, sodass det sich, ob Ihr Bekenntnis zu den erneuerbaren Ener- Anreize für Investitionen in Kraftwerke im Bereich des gien glaubhaft ist. fossilen Mixes, also in Gas-, Steinkohle- und Braunkoh- Konzentrieren wir uns auf das zentrale Thema Ihres lekraftwerke, bestehen. Die erneuerbaren Energien wer- Antrages. Noch immer haben die Oligopole Möglichkei- den bekanntermaßen an anderer Stelle geregelt. Ich ten, den Wettbewerb auszubremsen. Zu Recht legen Sie glaube, dass es uns dadurch gelingen wird, die benötig- von der FDP einen Antrag vor, der Missstände im inter- ten Investitionen zu bekommen, und zwar auch für hoch- nationalen Stromhandel benennt. Statt für ein breiteres moderne Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen. Dafür wird Angebot bei der Strombeschaffung zu sorgen, dienen die auch der Emissionshandel einen Anreiz setzen. Ich sage Kuppelstellen heute bestenfalls der Netzstabilität, mög- aber ausdrücklich: Dieser Anreiz wird nicht reichen. licherweise aber auch dem Marktmissbrauch. Mit Ihrer Deswegen werden wir uns mit einem Kraft-Wärme- Forderung, die Gewinne aus dem Betrieb heutiger Kup- Kopplungs-Gesetz zu befassen haben. pelstellen in den Bau neuer Kuppelstellen zu investieren, Wie Sie sehen, ist das Thema Wettbewerb bei der stoßen Sie bei uns auf offene Ohren. Es ist wichtig, beim Bundesregierung und den sie tragenden Fraktionen in gu- Kapazitätsmanagement ein transparentes und harmoni- ten Händen. Es ist ein sehr komplexes Problem, das sich siertes Auktionsverfahren einzuführen. Transparenz ist nicht ausschließlich mit dem Ausbau der Grenzkuppel- ein Leitthema, an das man sich gerade in so vermachte- stellen lösen lässt. Wir brauchen vielmehr eine Mixtur ten Strukturen halten sollte. Außerdem geht es darum, aus zahlreichen Instrumenten; das ist wichtig. Diese sind Engpässe zu begrenzen. auf dem Weg oder teilweise schon in der Erprobung. Ich Die Verbesserung des internationalen Stromhandels bin ganz sicher, dass wir in den nächsten Jahren den ist wichtig für einen funktionierenden Binnenmarkt. Sie Wettbewerb in Deutschland auf den leitungsgebundenen ist für alle neuen Akteure im Strombereich unverzicht- Energiemärkten deutlich intensivieren werden. bar. Sie ist aber auch eine Voraussetzung für grenzüber- Vielen Dank. schreitenden Transport von CO2-freiem Strom. So gibt es seit Jahren die noch nicht umgesetzten Vorschläge zur (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Produktion von Windstrom in Marokko oder in der Nordsee oder auch von Solarstrom in Spanien oder in Vizepräsidentin Petra Pau: der Sahara. Diese Projekte werden in Zukunft immer Für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen hat wichtiger für eine nachhaltige Versorgung Europas mit der Kollege Hans-Josef Fell das Wort. CO2-freiem Strom. Für den Ausbau dieser wichtigen Ini- 9386 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Hans-Josef Fell (A) tiativen, die auch für die Armutsbekämpfung und die höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- (C) Entwicklung in Nordafrika sinnvoll sind, muss in der Tat sen. der grenzüberschreitende Stromhandel verbessert wer- den. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- gin Höll für die Fraktion Die Linke. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Voraussetzung dafür ist der Abbau aller technischen und rechtlichen Barrieren. Dieser Teil Ihres Antrages kann zur Verbesserung des Wettbewerbs, aber auch zum Kli- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): maschutz und zur Sicherung einer bezahlbaren Strom- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! versorgung beitragen. In dieser Woche konnten wir in den Zeitungen nachlesen – zum Glück; denn zum ersten Mal wurde für das ver- Zum Schluss noch ein Aspekt zu – in Anführungszei- gangene Jahr eine individuelle Erhebung durchgeführt –, chen – „Kuppelstellen“, der in Ihrem Antrag nicht auf- wie viel die Vorstandsmitglieder der 30 DAX-Unterneh- taucht, aber immer wichtiger ist: Ich rede von der Beein- men verdienen. Verdienen? Vielleicht besser: bekom- flussung von Entscheidungsträgern durch Konzerne men. Ihre Bezüge sind gestiegen, allein im Vorjahr wie Eon und Siemens. Hier sind inzwischen Staatsan- um 15 bis 20 Prozent. Herr Ackermann verdient – er be- wälte tätig. Bei Eon ermitteln sie in 800 Einzelfällen ge- kommt täglich 35 000 Euro. Wer länger als ein Jahr ar- gen Politiker und Manager, wie die „Welt“ kürzlich be- beitslos ist und in Hartz IV fällt, erhält im Monat richtete. Bei Siemens werden Vorstandsmitglieder 345 Euro. Das sind im ganzen Jahr 4 140 Euro an Bar- verhaftet. Ungeachtet dessen bestätigt die Kanzlerin den leistungen. höchsten Repräsentanten des durch Korruptionsprakti- ken weltweit in Verruf geratenen Chefs des Siemens- 2004 gab es in der Bundesrepublik 15 600 Einkunfts- Aufsichtsrates als Chefberater. Unglaublich, wie man millionäre. Sie haben Steuern gezahlt. Die Frage ist aber, daran noch festhalten kann. ob sie die Steuern so gezahlt haben, wie es Recht und Gesetz vorschreiben. Hierzu hat der Bundesrechnungs- (Franz Obermeier [CDU/CSU]: Das ist un- hof eine Untersuchung durchgeführt. Der Bundesrech- fair!) nungshof ist eine Institution, welche unabhängig den Wir sollten uns öffentlich und auch hier im Parlament Gesetzesvollzug kontrolliert. Er hat festgestellt, dass der verstärkt mit dem Thema Korruption beschäftigen, ge- Steuervollzug nicht mehr gewährleistet ist. Das ist eine rade in der konventionellen Energiewirtschaft; denn Situation, die wir als Linke nicht hinnehmen können. auch die Korruption ist ein großes Hemmnis für mehr Deshalb haben wir uns, nachdem wir die Bundesregie- (B) Wettbewerb, für mehr Klimaschutz und für mehr Versor- rung gefragt haben, wie sie das einschätzt – sie hat der (D) gungssicherheit. Wenn wir wirklich Wettbewerb wollen, Einschätzung des Bundesrechnungshofs nicht wider- gehen wir auch an dieses Thema heran. sprochen, aber sie hat nichts vorgelegt –, entschlossen, Ihnen heute einen Antrag zur Diskussion vorzulegen, in (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dem gefordert wird, dass Steuerpflichtige mit mehr als 500 000 Euro Einkommen gleichmäßig und regelmäßig Vizepräsidentin Petra Pau: zu prüfen sind. Das ist ein Gebot der Steuergerechtig- Ich schließe die Aussprache. keit, wonach Leistungsfähigere mehr Steuern zu zahlen haben. Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Drucksache 16/3346 an die in der Tagesordnung aufge- Der Bundesrechnungshof hat die Schuld für den man- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- gelnden Steuervollzug nicht in erster Linie bei den verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Finanzämtern gesucht. Er weist zwar darauf hin, dass so beschlossen. wir in den Finanzämtern Defizite, dass aber nicht die einzelnen Beamten diese zu verantworten haben, son- Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf: dern dass die Defizite aus dem pauschalen Stellenabbau Beratung des Antrags der Abgeordneten Oskar resultieren, der wiederum mit dem mangelnden Geld der Lafontaine, Dr. Barbara Höll, Dr. Axel Troost, öffentlichen Hand begründet wird. Das führt dazu, dass weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- zu wenige Finanzbeamte vorhanden sind. KEN Der Bundesrechnungshof hat angemahnt, dass es eine Steuerpflichtige mit mehr als 500 000 Euro ineffiziente Verwendung und eine unzureichende Weiter- Einkommen gleichmäßig und regelmäßig prü- qualifizierung des vorhandenen Personals, eine mangel- fen hafte Zusammenarbeit zwischen Landes- und Bundesfi- nanzbehörden und – das finde ich besonders interessant – – Drucksache 16/3699 – ein sehr unterschiedliches Interesse von Landesregierun- Überweisungsvorschlag: gen, die Steuerprüfung bei Menschen mit einem Einkom- Finanzausschuss (f) men von über 500 000 Euro tatsächlich vorzunehmen, Ausschuss für Wirtschaft und Technologie gibt. Die Prüfquote liegt zwischen 10 und 60 Prozent. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Das ist eine große Spanne. Besonders niedrig liegt die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Quote in den Ländern, in denen mehr Menschen wohnen, Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich die ein solch hohes Einkommen erzielen, also nicht in Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9387

Dr. Barbara Höll (A) Mecklenburg-Vorpommern, sondern in Bayern und Ba- Vizepräsidentin Petra Pau: (C) den-Württemberg. Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die Unionsfraktion. Wir haben diese Anregung des Bundesrechnungs- hofes aufgenommen. Ich denke, man kann das ganz sachlich diskutieren und sofort problemlos umsetzen. Es Antje Tillmann (CDU/CSU): sind Maßnahmen zu treffen, die sicherstellen, dass eine Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- regelmäßige Außenprüfung durchgeführt wird. Das legen! Liebe Frau Dr. Höll, lassen Sie mich im Hinblick heißt, dass in einem ordentlichen Prüfrhythmus die Un- auf die nun anstehenden Kar- und Ostertage versöhnlich terlagen geprüft werden müssen. Voraussetzung dafür und positiv beginnen. ist, dass eine Aufbewahrungspflicht eingeführt wird. Ja, es gibt unbestritten Mängel bei der Besteuerung Diese Maßnahmen sind für die öffentliche Hand äußerst in Deutschland. Sowohl in der Prüfungsdichte als auch wichtig. Der Bundesrechnungshof hat uns die Zahl ins in der Qualität beim Veranlagungsverfahren gibt es er- Gedächtnis gerufen: Bei den erfolgten Außenprüfungen heblichen Verbesserungsbedarf. Das Steuerrecht ist kam es im Durchschnitt zu Nachzahlungen von kompliziert, und das Veranlagungsverfahren ist ein Mas- 135 000 Euro pro Veranlagung. Wenn man das nur vor- severfahren. Da passieren Fehler. Der Bundesrechnungs- sichtig hochrechnet, kommt man immerhin auf 1 Mil- hof hat mehrfach darauf hingewiesen. Die Länder haben liarde Euro, die aufgrund des bisherigen Steuervollzuges aber auch schon mehrfach Veränderungen im Verwal- der öffentlichen Hand verloren geht. tungsverfahren vorgenommen und die Qualität verbes- sert. Das ist aber leider schon alles, was ich Gutes zu Ih- Wir müssen erreichen, dass der besagte Personenkreis rem Antrag sagen kann. tatsächlich einer höheren Prüfdichte unterworfen und dass Steuerumgehung unmöglich gemacht wird. Wir hal- Wir haben uns des Themas „gerechte Besteuerung“ ten es für erforderlich, dass die Finanzbehörden Außen- schon vor drei Jahren im Rahmen der Arbeit der Födera- prüfungen nicht mehr besonders begründen müssen, lismuskommission I angenommen. Diejenigen, die dabei sondern dass diese zur Regel werden. Die Pflicht zur waren, wissen, dass wir über die Bundessteuerverwal- Aufbewahrung von steuererheblichen privaten Belegen tung sehr intensiv diskutiert haben. habe ich schon genannt. (Dr. Volker Wissing [FDP]: Aber ohne Ergeb- Das heißt natürlich auch, dass wir die Finanzämter nis!) anders ausstatten müssen. Wir müssen Sorge dafür tra- – Wir haben doch ein Ergebnis erzielt, Herr Kollege: gen – das liegt in der Verantwortung des Bundes –, dass Wir haben das Finanzverwaltungsgesetz geändert. Im Fi- (B) Landes- und Finanzbehörden wesentlich besser zusam- nanzverwaltungsgesetz sind einige Vorschläge, die die (D) menarbeiten. Diese Aufgabe muss im Rahmen der Ar- Linke in ihrem heute vorliegenden Antrag macht, längst beit der Föderalismuskommission II gelöst werden. umgesetzt. Ich unterstreiche das auch vor dem Hintergrund der (Christine Scheel [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von Ihnen im Rahmen der Unternehmensteuerreform ge- NEN]: Das ist richtig!) planten Abgeltungsteuer. Diese Steuer wird zu noch mehr Steuerumgehungen geradezu einladen. Während Wir haben zum Beispiel dem Bundeszentralamt für die Finanzbehörden die Einkommen von Lohnabhängi- Steuern Mitwirkungsrechte bei der Steuerprüfung gege- gen und Rentnern automatisch prüfen, unterliegt die Ab- ben. Das Bundeszentralamt für Steuern kann sogar ver- geltungsteuer nicht dieser Kontrolle. Die Finanzbehör- langen, dass Prüfungen bestimmter Betriebe durchgeführt den werden auf die Meldungen der Banken angewiesen werden. Noch weiter gehend: Das Bundeszentralamt für sein. Es entsteht quasi ein „finanzamtfreier Raum“, so Steuern kann sogar im Auftrag Außenprüfungen durch- bewertet es auch der Chef der Deutschen Steuer-Ge- führen. Damit erledigt sich Punkt II.5. Ihres Antrags. Die- werkschaft, Herr Ondracek. Hier besteht dringender ses Gesetz ist im April 2006 in Kraft getreten. Wenn Sie Handlungsbedarf. sich für dieses Thema wirklich interessieren und wenn Ihr Antrag nicht nur Schau sein soll, dann sollten Sie sich die- Nehmen Sie deshalb die Anregungen des Bundes- ses Gesetz vielleicht einmal anschauen. rechnungshofes auf! Wir haben, diese Anregungen in (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- unserem Antrag festgehalten. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Petra Pau: Sie haben gefordert, dass dieses Thema auf die Tages- Frau Dr. Höll, jetzt müssen Sie bitte zum Schluss ordnung der Föderalismuskommission II gesetzt wird kommen. – Frau Hendricks ist hier; sie kann bestätigen, dass wir darüber sehr häufig streiten –: Das ist ebenfalls längst Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): passiert. Die Arbeitsgruppe der CDU/CSU zur Födera- lismuskommission II hat es in der Kommissionsdrucksa- Lassen Sie uns gemeinsam handeln! che 003 zum Thema gemacht, und die Bundesregierung, Danke. die Sie auffordern, sich endlich dafür einzusetzen, hat es in der Kommissionsdrucksache 005 aufgegriffen. Ges- (Beifall bei der LINKEN) tern haben wir in einer ersten Runde zweieinhalb Stun- 9388 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Antje Tillmann (A) den lang unter anderem über das Thema Bundesfinanz- Die Begriffsverwirrungen in Ihrem Antrag gehen (C) verwaltung gesprochen. aber weiter. Wenn der Verfasser ein bisschen im Stoff gesteckt hätte (Dr. Volker Wissing [FDP]: Sehr richtig!) ( [CDU/CSU]: Das hat Sie sind herzlich eingeladen, an den Sitzungen der Föde- Methode!) ralismuskommission teilzunehmen und sich kundig zu – ich weiß nun zufällig von Ihnen, dass Sie es nicht wa- machen, wie der Stand der Diskussion ist. ren, aber Sie sind diejenige, die es hier rechtfertigen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- muss –, dann hätte er gewusst, dass die Betriebsprü- neten der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: fungsordnung, die hier erwähnt ist, keine Verordnung ist. Die Linkspartei hat dazu bisher nämlich nichts Wenn sie eine Verordnung wäre, wäre Ihre erste Forde- gesagt!) rung schon erledigt. Eine Verordnung ist eine Rechtsvor- schrift, die bundeseinheitlich anzuwenden ist. Von daher – Darauf werde ich später in meiner Rede eingehen. ist die erste Forderung schon in sich völlig unstimmig. Sie haben die Bundesregierung aufgefordert, sich zu Bleiben drei Forderungen, mit denen ich mich inhalt- positionieren. Mir scheint Ihr Demokratieverständnis ein lich auseinandersetzen muss. bisschen eigenartig zu sein. Wir als Bundestagsabgeord- Erstens. Sie fordern eine zwingende Anschlussprü- nete, also auch Ihr Mitglied in der Föderalismuskom- fung bei Einkunftsmillionären. Diese Forderung des mission, sind aufgefordert, uns zu positionieren. Die Bundesrechnungshofs übernehmen Sie ungeprüft. Dazu Bundesregierung – ich bin froh, dass sie mitmacht – hat kann ich vorab nur sagen: Ich schätze viele Anmerkun- da eigentlich nur beratende Funktion. Wir, der Bundes- gen des Bundesrechnungshofs sehr und bin für viele An- tag, und der Bundesrat werden diejenigen sein, die die- regungen und Hinweise der letzten Jahre auch dankbar, ses Gesetz später verabschieden müssen. Sie können Ih- aber in diesem Fall scheint mir die Forderung des Bun- ren Vorschlag aktenkundig machen. Die entsprechende desrechnungshofs nach einer flächendeckenden Außen- Drucksache könnte die Nummer 010 oder 011 haben. prüfung für Einkunftsmillionäre nicht hinreichend ziel- führend zu sein. Ich will Ihnen auch gern erläutern, Aber nicht nur in diesem Zusammenhang habe ich warum. den Eindruck, dass es Ihnen mit dem Antrag gar nicht um steuerliche Gerechtigkeit geht, sondern um Ihr altes Wenn man sich die Beispiele anschaut, die der Bun- Anliegen, eine Neiddebatte aufzumachen. Ihr Konzept desrechnungshof geprüft hat und aufgrund deren er diese „Wir nehmen den Reichen etwas weg und geben es den Forderung aufgestellt hat, wird ganz offensichtlich, dass (B) Armen“ passt in den Rahmen der Themen „Reichen- es in den genannten Beispielen durchaus auch ohne Au- (D) steuer“, „Vermögensteuer“ und „Erhöhung der Erb- ßenprüfung zur richtigen Besteuerung hätte kommen schaftsteuer“. Ich möchte nur wenige Zahlen vortragen, können, wenn man nämlich die vor Ort ohnehin schon die Ihrer Behauptung, die Reichen beteiligten sich zu vorhandenen Erkenntnisse richtig ausgewertet hätte. wenig an der Finanzierung unseres Gemeinwesens, den (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Georg Boden entziehen. Die Steuerstatistiken weisen darauf Fahrenschon [CDU/CSU]) hin, dass 0,1 Prozent der Steuerpflichtigen – das sind die Einkunftsmillionäre – über 11 Prozent des gesamten Da geht es um Fälle, in denen ESt-PB-Mitteilungen Einkommensteueraufkommens zahlen. nicht ausgewertet worden sind. Da geht es um Fälle, in denen der Prüfer etwas weiß, was dem Veranlagungsbe- Die Behauptung, hier würden Steuern von Steuer- zirk nicht mitgeteilt wird. Da geht es darum, dass zufäl- pflichtigen nicht in angemessenem Umfang gezahlt, ent- lig zu viel Nullen in der Erklärung auftauchen. Das alles behrt also jeglicher Grundlage. sind keine Probleme, derentwegen man eine Außenprü- fung braucht. Aber vermutlich kommen diese Zahlen bei Ihnen gar nicht an, weil es Ihnen gar nicht um die inhaltliche Aus- Es gibt allerdings Fälle, in denen geprüft werden einandersetzung mit Steuergerechtigkeit geht. Schon die muss, ob die Organisation der Finanzverwaltung in je- Oberflächlichkeit, mit der Sie Ihren Antrag formuliert dem Einzelfall richtig ist; zu diesem winzig kleinen haben, zeigt, dass es Ihnen nicht um das Thema geht. Punkt werden wir in die Diskussion gehen müssen. Das Dabei hätten Sie den Bundesrechnungshofbericht nur ist von Land zu Land unterschiedlich. Mit dem Thema korrekt abzuschreiben brauchen. Ihnen als Mitglied des werden wir uns im Rahmen der Föderalismusreform II Finanzausschusses, Frau Dr. Höll, hätte ich durchaus zu- sehr wohl befassen. getraut, dass Ihnen der Unterschied zwischen Einkünften Ein weiterer Grund, warum ich meine, dass der Bun- – um die geht es im Bundesrechnungshofbericht – und desrechnungshof mit seiner Forderung hier einfach irrt, Einkommen – das wird in Ihrem Antrag erwähnt – be- ist: Viele der aufgeworfenen Fragen wären schon heute kannt ist. Es ist bedauerlich, dass Sie, obwohl Sie an richtig und zufriedenstellend zu lösen gewesen. Steuergesetzen mitarbeiten, selbst diese Grundbegriffe offensichtlich nicht auseinanderhalten können. Sie weisen darauf hin, dass das Betriebsfinanzamt in der Regel nicht das Veranlagungsfinanzamt der Anteils- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie eigner ist. Daraus schließen Sie, dass die Betriebsprü- des Abg. Georg Fahrenschon [CDU/CSU]) fung unterschiedlich geführt wird. Da liegen Sie völlig Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9389

Antje Tillmann (A) daneben. Die §§ 194 und 195 der Abgabenordnung se- wollen. Ganz im Gegensatz zu Ihnen glaube ich, dass die (C) hen ausdrücklich vor, dass der Betriebsprüfer, der den Erhebung einer Abgeltungsteuer hier der richtige Weg Betrieb prüft, selbstverständlich auch den Anteilseigner ist. Wir haben damit einen besseren Zugriff auf die Ban- prüfen darf. ken, auf Kontoauszüge. Um das zu erreichen, brauchen wir keine Außenprüfung. (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Genau!) Die Finanzämter müssen das nur umsetzen. Auch da (Beifall bei der CDU/CSU) stellt sich nicht die Notwendigkeit einer zusätzlichen Letzter Punkt – um wieder zum österlichen Frieden Außenprüfung. überzuleiten –: Ja, wir werden das Thema aufgreifen, wir Ich frage mich ohnehin, ob Sie den Eindruck haben, haben das auch schon ohne Sie getan und werden es wei- dass bei Fällen mit 400 000 Euro Einkünften weniger terhin tun, zusammen mit dem Bundesfinanzministe- Fehler auftauchen, oder ob es da weniger schlimm ist, rium. Wir brauchen nämlich eine größere Effizienzstei- wenn Steuern hinterzogen werden. Die Grenze von gerung und mehr Steuergerechtigkeit. Ehrlich gesagt: 500 000 Euro scheint mir völlig wirr gegriffen zu sein. Das gilt für große und für kleine Steuerzahler. Wir wer- den uns im Ausschuss mit Ihrem Antrag befassen; er war (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Wie der aber nicht nötig, um uns in die richtige Richtung zu wei- Antrag! Das passt zum Antrag!) sen. Aber das passt zu Ihrem Vorurteil, dass man Reiche ir- Danke schön. gendwie festmachen muss. Ich finde, auch mit 400 000 Euro Einkünften ist man schon recht gutverdienend. Ich (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) würde Wert darauf legen, dass auch da die Steuern rich- tig abgeführt werden. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der CDU/CSU und dem BÜND- Das Wort hat der Kollege Dr. Volker Wissing für die NIS 90/DIE GRÜNEN) FDP-Fraktion. Zweitens. Sie fordern gleichzeitig die Abschaffung (Beifall bei der FDP) der besonderen Begründungspflicht bei Außenprüfun- gen. Liebe Kollegin Dr. Höll, Außenprüfungen bei Ein- Dr. Volker Wissing (FDP): kunftsmillionären finden in der Regel im Wohnzimmer Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Betreffenden statt, weil es keine Betriebsprüfungen, Die Lust am Fabulieren ist in der Linkspartei kein unbe- sondern eben private Prüfungen sind. Ich sage Ihnen ein- kanntes Phänomen mehr. Wir wissen über Herrn (B) mal, wie die Begründungsverpflichtung nach § 193 Abs. 2 Lafontaine: Seine „Wut wächst“, sein „Herz schlägt (D) ist. Danach dürfen solche Steuerpflichtigen nämlich links“, dass er das „Lied vom Teilen“ singt; gemeinsam schon heute geprüft werden, „wenn die für die Besteue- mit Exkanzler Schröder hat er einmal „Innovationen für rung erheblichen Verhältnisse der Aufklärung bedürfen Deutschland“ gefordert. Sein Co-Chef Gysi steht ihm in und eine Prüfung an Amtsstelle nach Art und Umfang puncto Schreiblust in nichts nach. So fragt sich Herr des zu prüfenden Sachverhalts nicht zweckmäßig ist“. Gysi „Was nun?“ und berichtet ausführlich über Ich frage Sie wirklich, was Sie noch brauchen. „Deutschlands Zustand“ und natürlich auch über seinen Der Sachverhalt soll prüfungswürdig sein. Das ist eigenen. Über seine Bücher wissen wir, dass er einen wohl Bedingung für eine Außenprüfung. Er darf nicht „Blick zurück“ wirft, um einen „Schritt nach vorn“ zu von Amts wegen aufgeklärt werden können. Wenn ich machen, dass er sagt: „Das war’s noch lange nicht“. den Brief vom Finanzamt aus schicken kann, brauche Kurzum: Wir wissen, dass die Lust am Fabulieren bei ich nicht ins Wohnzimmer des Steuerpflichtigen zu ge- der Linkspartei groß ist; genau das tun Sie auch in Ihrem hen. Auch da ist die Begründungspflicht, glaube ich, Antrag, den Sie uns vorlegen. durchaus angemessen, zumal ich hier das Betreten priva- Der Antrag sagt wenig – um nicht zu sagen: gar ter Räumlichkeiten nach wie vor für einen Eingriff in die nichts – über Steuergerechtigkeit in Deutschland, aber Grundrechte halte. Da sollte eine Begründungspflicht sehr viel über Ihr Weltbild aus. Da könnte man sofort durchaus bestehen. wieder einen alten Lafontaine-Schmöker ausgraben: Drittens. Nun zu Ihrer Forderung nach einer Aufbe- „Politik für alle. Streitschrift für eine gerechte Gesell- wahrungspflicht für private Belege. Auch das haben schaft“. Ich kann nur sagen: Zum Glück entscheidet Sie – das will ich zu Ihrer Ehrenrettung sagen – aus dem nicht Herr Lafontaine, was in Deutschland gerecht ist. Bericht des Rechnungshofes abgeschrieben. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU der CDU/CSU) und der FDP) Ihr Antrag ist nichts anderes als der populistische Ver- Ich frage mich wirklich, wie sich der Bundesrechnungs- such, die Gesellschaft zu spalten; aber das wird Ihnen hof das vorstellt: Denkt er, dass uns die Kontoauszüge nicht gelingen. Wenn Sie, Frau Höll, sich mit solch ei- der Schweizer Nummernkonten vorgelegt werden, wenn nem Antrag, der den Eindruck erweckt, unsinnig zu sein, eine Aufbewahrungspflicht eingeführt wird? Es ist doch hier hinstellen und dann auch noch von „Sachlichkeit“ naiv, zu glauben, dass wir damit stärker als heute Zugriff sprechen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Das ist wirk- auf Steuerpflichtige erhielten, die wirklich hinterziehen lich völlig fehl am Platz. 9390 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Dr. Volker Wissing (A) Sie versuchen, den Eindruck zu erwecken – das tun Vizepräsidentin Petra Pau: (C) Sie immer wieder –, als hätten in Deutschland diejenigen Kollege Wissing, gestatten Sie eine Zwischenfrage mit einem höheren Einkommen – die Besserverdienen- der Kollegin Dr. Höll? den – eine niedrigere Belastung. Sie können Ihre These wiederholen, aber sie wird nicht wahr. Tatsächlich zah- Dr. Volker Wissing (FDP): len nur 7,7 Prozent der Steuerpflichtigen mehr als 40 Pro- zent Einkommensteuer; diese 7,7 Prozent der Steuer- Ja, bitte. pflichtigen hatten 2006 einen Anteil von 43,7 Prozent (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Jetzt am Einkommensteueraufkommen. Das sind die Zahlen! kommt die Entschuldigung!) Ich würde mich, da Sie von „Sachlichkeit“ sprechen, freuen, wenn Sie das auch einmal erwähnten: 7,7 Pro- zent der Steuerpflichtigen bringen 43,7 Prozent der Ein- Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): kommensteuer auf. Herr Kollege Wissing, würden Sie bitte erstens zur Kenntnis nehmen, dass der Finanzsenator in Berlin, Herr (Beifall bei Abgeordneten der FDP) Sarrazin, nicht Mitglied der Linkspartei, sondern der SPD ist, Das fehlt in Ihrem Freund-Feind-Schema. Deswegen ist der Antrag nichts anderes als Populismus. (Hellmut Königshaus [FDP]: Das ist ja über- zeugend!) Sie sprechen über die Steuererhebungspraxis der Länder. Ich finde, da lohnt es sich, einmal nach Berlin zu zweitens, dass eine Steuerstundung kein Steuererlass ist, schauen; da tragen Sie doch die Verantwortung. Ich und drittens, dass wir nicht gesagt haben, dass diejenigen denke, Sie sprechen mit den Leuten. Es gibt kein Bun- mit einem hohen Einkommen keine Steuern zahlen. Die desland, das im Jahr 2005 so viel Einkommensteuer ge- Forderung, die wir in unserem Antrag erheben, ist, dass stundet hat wie das rot-rote Berlin. Berlin verzichtet in Steuern so zu zahlen sind, wie es Recht und Gesetz vor- Deutschland – verglichen mit den anderen Bundeslän- schreiben; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die dern – auf die meiste Einkommensteuer. Verantwortlich Prüfdichte ist ein geeignetes Instrument, da bereits das ist dafür der rot-rote Senat, mit Beteiligung der Links- Wissen darum, dass man nicht einfach so durchkommt, partei. Sie stellen sich hier hin und erzählen uns, dass weil die Prüfdichte im Land nicht mehr nur bei überall alles falsch läuft. Da würde ich sagen: Die Links- 10 Prozent liegt, eine andere Wirkung entfalten würde. partei sollte sich an die eigene Nase fassen und schauen, (Beifall bei der LINKEN) was sie in Berlin falsch macht.

(B) (Beifall bei der FDP) Dr. Volker Wissing (FDP): (D) Da liegt doch das Problem: All die Dinge, die Sie hier Frau Kollegin Höll, das zeigt wieder einmal, dass Sie fordern, setzen Sie dort, wo Sie in der Verantwortung nicht regierungsfähig sind. stehen, nicht um. Deswegen sind Sie, deshalb ist Ihr An- (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Das wäre ja trag unglaubwürdig. noch schöner!) Welch Geistes Kind dieser Antrag ist, zeigt die For- Da sitzen Sie im rot-roten Senat und sagen, was haben mulierung, es sei zwingend erforderlich, wir denn mit der SPD in Berlin zu tun. … dass besagter Personenkreis einer Prüfungs- (Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU) dichte unterworfen wird, die eine Steuerumgehung unmöglich macht. Das ist ja unglaublich. Das muss man sich einmal verge- genwärtigen: Sie verantworten den Zustand in Berlin Bitte sagen Sie mir: Wie soll denn so etwas aussehen? mit, und es sind nicht nur Stundungen in Berlin, sondern Wollen Sie jetzt auf jeden Einkommensteuerpflichtigen auch Erlasse, bei denen Sie ganz vorne mit dabei sind. einen Prüfer ansetzen? Wollen Sie das machen? Dann sagen Sie das! Das umzusetzen, ist sicherlich unmöglich. (Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ich habe von Aber das kann doch nicht ernsthaft eine vernünftige den Stundungen gesprochen!) Finanzpolitik sein, Frau Kollegin. – Das gilt genauso für die Steuererlasse. Berlin ist in der Wir können uns gerne mit Ihrem populistischen An- Steuerverwaltung wirklich nicht gerade ein Paradebei- trag beschäftigen. Sie wollten ja unbedingt, dass hier spiel für effektiven Vollzug. Das verantworten Sie, die darüber debattiert wird. Aber wir werden mit Sicherheit Sie im rot-roten Senat sitzen, voll mit; das muss ich Ih- nicht in steuerpolitischer Hinsicht einen Überwachungs- nen sagen. Wenn Sie behaupten, Sie hätten in Berlin staat in Deutschland einführen, und wir werden uns mit überhaupt keine Verantwortung, dann ist das unglaub- Sicherheit auch nicht an den Ergebnissen des rot-roten würdig. Wenn Sie meinen, im Bundestag glaubwürdig Senats in Berlin orientieren, die Sie zu verantworten ha- Opposition gegen Ihre eigene Landesregierung machen ben. In anderen Bundesländern läuft es besser; diese zu können, dann ist auch das unglaubwürdig. Deswegen sollten Maßstab sein. Ihre Politik ist wahrhaftig nicht ist Ihr Antrag ebenfalls unglaubwürdig; er führt in kei- vorzeigbar. nem Punkt weiter. Aus diesem Grund nehme ich zwar al- les zur Kenntnis, was Sie sagen; aber peinlich ist es nicht (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) für mich, sondern für die Linkspartei. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9391

Dr. Volker Wissing (A) (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie fragen, ob wirklich alle Einkünfte angegeben wurden (C) bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ oder ob Einkünfte nicht versehentlich vergessen wurden. DIE GRÜNEN) Ich gebe es zu: Unser Steuerrecht ist vielleicht ein Sie machen einen Fehler: Sie überlegen sich immer, bisschen komplizierter als andere. Aber wenn es richtig wie Sie Politik gegen bestimmte Gruppen in Deutsch- angewendet wird – ich sage ausdrücklich: wenn –, ist es land machen können. Das ist die Schwäche Ihres Ansat- gerechter. Aus meiner eigenen beruflichen Erfahrung zes. Sie sollten sich einmal überlegen, wie Sie Politik für kann ich sagen, dass Geldverkehrsrechnungen mitunter die Menschen in unserem Land machen können. Anstatt schon in weniger bedeutenden Fällen durchgeführt wer- sich zu überlegen, wie Sie gegen bestimmte Gruppen den. Jeder Steuerpflichtige kann erwarten, dass Steuerer- vorgehen, sollten Sie sich lieber mit der Frage beschäfti- klärungen über bedeutende Einkünfte mindestens ge- gen, wie Sie Verbesserungen für die Menschen erreichen nauso sorgfältig und korrekt geprüft werden wie die über können, für die Verbesserungen erreicht werden müssen. weniger bedeutende Einkünfte. Ich bin mir ganz sicher: Am Können kann es nicht liegen. Wenn wir, Frau Kollegin Tillmann, in der Föderalis- muskommission über eine effizientere Steuerverwal- Frau Kollegin Tillmann ist schon darauf eingegangen: tung reden, dann tun wir das gemeinsam sachlich, auch Mit dem Föderalismusreform-Begleitgesetz haben wir mit der Bundesregierung, aber nicht so, wie die Links- die Rechtsposition des Bundes gestärkt. So ist die Ein- partei es im Bundestag machen möchte. Es gibt sicher- führung eines bundeseinheitlichen Verwaltungscontrol- lich Effizienzreserven. Wie diese zu heben sind, werden lings bzw. Risikomanagements rechtlich abgesichert. wir in der Föderalismuskommission auf sachliche Art Außerdem erhält der Bund mehr Einfluss auf Inhalt und und Weise diskutieren – für die Menschen in Deutsch- Verfahren bei den Außenprüfungen. Ziel kann natürlich land und nicht gegen sie, wie es die Linkspartei tut. nur ein vollelektronisches Veranlagungsverfahren mit ei- ner bundeseinheitlichen Software sein. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) Darüber hinaus nützt es aber überhaupt nichts, wenn nur die Bundesseite über eine Bundessteuerverwaltung Vizepräsidentin Petra Pau: und über zentral zuständige Betriebsprüfungen nach- Das Wort hat die Kollegin Gabriele Frechen für die denkt. Das kann nur im Einvernehmen mit den Bundes- SPD-Fraktion. ländern auf den Weg gebracht werden. Deshalb müssen (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) diese Themen auch in der nächsten Stufe der Föderalis- musreform auf den Tisch gelegt werden. (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Antje (B) Gabriele Frechen (SPD): (D) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Tillmann [CDU/CSU]) Kollegen! Ihr Antrag, liebe Frau Höll – Sie haben es sel- Regelungen, die es angeblich erschweren, eine ber gesagt –, bezieht sich auf die Prüfung der Bearbei- Außenprüfung, so sie denn notwendig ist, anzuordnen, tung von Einkommensteuerfällen mit bedeutenden Ein- gibt es in meinen Augen nicht. Ein BFH-Urteil vom künften – so hieß es in dem Bericht – durch den 17. November 1992 besagt: Eine Außenprüfung nach Bundesrechnungshof. Ich gebe Ihnen recht, dass die § 193 Abs. 2 Nr. 2 AO ist bereits dann zulässig, wenn Feststellungen in diesem Bericht durchaus beunruhigend Anhaltspunkte vorliegen, die es nach den Erfahrungen sind. Das Parlament, die Bundesregierung und das Bun- der Finanzverwaltung als möglich erscheinen lassen, desverfassungsgericht sind sich einig, dass nach Art. 3 dass ein Besteuerungstatbestand erfüllt ist. In den ge- unseres Grundgesetzes eine gleichmäßige Besteuerung schilderten Fällen hätte also problemlos eine Außenprü- erfolgen muss. Daran kann man durchaus zweifeln, fung angeordnet werden können. Tatsächlich sieht es wenn man den Bericht ausführlich liest. Im Gegensatz aber ein bisschen anders aus. Auch das konnten wir dem zu Herrn Dr. Wissing habe ich da doch Zweifel bekom- Bericht entnehmen. men. Nach der bundeseinheitlichen Einordnung der Grö- Aber ist Außenprüfung wirklich das Thema? Ich ßenklassen ergibt sich, dass Einkunftsmillionäre als denke, nicht. Die Finanzämter führen ein Risikomanage- Großbetriebe eingestuft werden und somit regelmäßig ment durch, mit dem sie die Plausibilität der Angaben in zu prüfen sind. Was regelmäßig heißt, wird nicht ausge- der Steuererklärung prüfen können. Diese Prüfungen führt. An einer fehlenden Regelung – da bin ich mir ganz sind Voraussetzung für eine effiziente Veranlagung, auch sicher – kann es nicht liegen. Dennoch werden nur eine EDV-unterstützte Veranlagung, damit es schneller 6,5 Prozent aller relevanten Fälle geprüft. Die Band- geht und Fehler ausgemerzt werden können. Diese Prü- breite der Prüfung umfasst – abhängig vom Bundesland – fungen können bei allen Steuerpflichtigen durchgeführt 10 bis 60 Prozent. Als „regelmäßig“ würde ich das nicht werden. bezeichnen. Angesichts der Beispiele, die der Bundesrechnungs- Vielleicht liegt es wirklich an fehlenden Regelungen; hof angeführt hat, drängt sich die Frage auf: Warum hat das will ich gar nicht abstreiten. Vielleicht liegt es auch in dem einen oder anderen Fall nicht eine rote Lampe an der komplexen Struktur unseres Steuerrechts, an man- aufgeleuchet? In den meisten Fällen, die der Bundes- gelnder Qualifikation und an Personalmangel. Es liegt rechnungshof vorgelegt hat, hätte meiner Meinung nach aber auch – dieser Missstand scheint mir viel leichter ab- der gesunde Menschenverstand gereicht, einmal nachzu- zustellen zu sein – an mangelnder Akzeptanz. Laut 9392 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Gabriele Frechen (A) Bericht des Bundesrechnungshofes werden in zwei Bun- mung der Bundesländer erfolgen kann. Manchmal ist ein (C) desländern Einkunftsmillionäre regelmäßig gänzlich föderaler Staat auch ein bisschen lästig. vom Betriebsprüfungsplan abgesetzt. Das kann ich nicht gutheißen. Auf der anderen Seite stimme ich Ihnen na- (Georg Fahrenschon [CDU/CSU]: Aber immer türlich auch nicht zu. Sie wollen, dass jedem Bezieher spannend!) von besonders hohen Einkünften – beispielsweise Ein- Aber wir wollen ihn ja. Deshalb müssen wir mit dieser künfte in Höhe von 500 000 Euro – sozusagen Fußfes- Art von Lästigkeit leben. Ich kann die Intention des An- seln angelegt werden und ihm ein Betriebsprüfer an die trags verstehen. Auch mich treiben die Ergebnisse um; Seite gestellt wird, damit er permanent geprüft werden das ist überhaupt keine Frage. Aber Ihre Begeisterung kann. Zwischen diesen beiden extremen Positionen muss für immer neue gesetzliche Regelungen teile ich nicht. man eine Lösung finden. Da halte ich es mit Helmut Schmidt, der sagt: Es ist bestimmt auch nicht hilfreich, dass in jedem Keine Begeisterung sollte größer sein als die nüch- Bundesland die Zuständigkeiten anders geregelt sind. In terne Leidenschaft zur praktischen Vernunft. einem Bundesland wusste eine Stelle überhaupt nicht, Deshalb lassen Sie uns lieber alle unsere Möglichkei- dass sie verantwortlich ist. Sie dachte, eine andere Stelle ten ausschöpfen, gemeinsam mit den Ländern und ge- sei zuständig. Nach der alten Fußballerweisheit „Nimm meinsam mit dem BMF Wege zu finden, die gewährleis- du den Ball, ich hab ihn sicher“ fühlte sich keiner mehr ten, dass wir zu einer gerechten Lösung kommen. Das zuständig. Das führt, wie wir aus dem Stadion wissen, Gesetz dazu haben wir schon. nicht zum gewünschten Erfolg. Hier ist eine einheitliche Lösung unter Mitwirkung des Bundeszentralamts für (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Steuern, das in den nächsten Jahren um 500 Betriebsprü- fer aufgestockt wird, anzustreben. Vizepräsidentin Petra Pau: Die fehlende Pflicht zur Aufbewahrung von Belegen Das Wort hat die Kollegin Christine Scheel für die ist für mich nur ein formaler, ein vorgeschobener Grund. Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Die Steuerpflichtigen versuchen doch, nachzuweisen, dass sie ein geringeres zu versteuerndes Einkommen ha- Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): ben. Da ist es doch in deren eigenem Interesse, die Be- Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle- lege aufzubewahren, um das im Zweifel auch wirklich gen! Ich finde, es ist sehr schwierig, wenn im Zusam- belegen zu können. Deshalb ist das für mich nur ein ganz menhang mit der gleichmäßigen und regelmäßigen formeller Grund. Prüfung von Besteuerungstatbeständen ein Antrag for- (B) muliert wird, in dem es nur um diejenigen gehen soll, die (D) Wir alle wollen, dass nach Leistungsfähigkeit besteu- 500 000 Euro und mehr verdienen. Ich muss der Frau ert wird, dass starke Schultern mehr tragen und schmale Kollegin Tillmann völlig recht geben, wenn sie fragt: weniger. Um diesen berechtigten Anspruch des Staates Was ist denn mit denjenigen, die ein Einkommen von durchzusetzen, halte ich eine Außenprüfung – und dies 400 000 Euro haben? eher regelmäßig – im gebotenen Fall ohne Zweifel für richtig. Denn man darf dabei die prophylaktische Wir- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Oder 80 000?) kung der Tatsache, dass Außenprüfungen stattfinden könnten, nicht unterschätzen. Zumal das bei den Außen- Ich frage: Was ist denn mit denen, die ein Einkommen prüfungen eingesetzte Personal in der Regel mehr Geld von 100 000 oder 70 000 Euro haben? Da haben doch einspielt, als es kostet. der Bürger und die Bürgerin im Prinzip genauso das Recht, zu sagen: Wir erwarten, dass die Finanzbehörden Ich denke nicht, dass Menschen mit einem höheren auch in diesen Fällen vernünftig prüfen. Einkommen grundsätzlich oberflächlicher oder unehrli- Es ist ein sehr populistischer Ansatz – auch heute cher sind als Menschen mit einem niedrigen Einkom- Morgen haben wir das schon erlebt –, wenn man sich al- men. Aber ob ich bei Zinseinkünften von 1 Million Euro lein mit Einkommensmillionären – vielleicht gibt es oder bei Zinseinkünften von 1 000 Euro eine Null ver- auch ein paar Einkommensmillionärinnen; aber die gesse: In beiden Fällen ist es nur eine Null; die Auswir- Männer Ihrer Fraktion haben es noch nicht gemerkt – be- kungen sind natürlich ganz anders. Deshalb sollte man schäftigt. Man verliert dabei aus dem Auge, dass die auch da immer genau hinschauen. nicht gleichmäßige und regelmäßige Prüfung von Be- Der Bundesrechnungshof fordert, das BMF solle auf steuerungsgrundlagen durch die Finanzverwaltungen der eine grundsätzlich lückenlose Betriebsprüfung hinwir- Länder und Kommunen grundsätzliche Fragen der Steu- ken. Das erinnert mich dann doch schon wieder an die ergerechtigkeit betrifft und nicht nur die Frage: Was ist Fußfessel. Dem schließe ich mich nicht ganz an. Grund- mit denen, die 500 000 Euro und mehr verdienen? sätzlich meine ich aber schon, dass Außenprüfungen ihre (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Berechtigung haben. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Ihrer Forderung, jetzt schnell eine neue gesetzliche Wir haben heute bereits gehört – darauf wurde hinge- Regelung einzuführen, kann ich mich aber nicht an- wiesen –, dass Steuerpflichtige mit einem Einkommen schließen. Sie wissen so gut wie ich, dass eine mögliche von mehr als 500 000 Euro häufiger geprüft werden, als Gesetzesänderung auf diesem Gebiet nur mit Zustim- es in Ihrem Antrag beschrieben worden ist. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9393

Christine Scheel (A) Es war ein Fortschritt, dass dies in der Föderalismus- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (C) kommission I insofern geändert wurde, als Bezieher von sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und Einkommen in dieser Höhe als Großbetrieb eingestuft der SPD) werden. Das führt automatisch zu einer größeren Prü- fungsdichte. Die Regelung wird inzwischen in der Praxis Vizepräsidentin Petra Pau: vollzogen. Ich schließe die Aussprache. Der Bericht des Bundesrechnungshofs 2006 hat gra- Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf vierende Mängel vor allem beim Vollzug der Steuerge- Drucksache16/3699 an die in der Tagesordnung aufge- setze benannt und wichtige Empfehlungen gegeben. Wir führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- sollten uns mit diesem Bericht auseinandersetzen und verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung ihn sehr ernst nehmen, wenn es um die Frage geht, wie so beschlossen. wir den Vollzug der Steuergesetze auf Bundesebene, aber vor allem auch in den Ländern verbessern können. Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf: (Dr. Volker Wissing [FDP]: Dafür brauchen Beratung des Antrags der Abgeordneten Alexander wir aber diesen Antrag nicht!) Bonde, Winfried Nachtwei, Jürgen Trittin, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion des BÜND- Ich halte es nicht für hinnehmbar, dass der Steuerein- NISSES 90/DIE GRÜNEN zug in den einzelnen Bundesländern höchst unterschied- lich durchgeführt wird. In Berlin beispielsweise – darauf US-Raketenabwehr und Europa – Gemein- wurde schon hingewiesen; damit hat der Kollege same Sicherheit und Abrüstung fördern Wissing völlig recht – gibt es eine laxere Praxis als in – Drucksache 16/4854 – anderen Bundesländern. In Bayern versteht man die Nichtprüfung von Unternehmen als Wirtschaftsförde- Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die rung. Hessen sieht das ähnlich. So kann man aber auch Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die nicht vorgehen. Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen fünf Minuten erhalten soll. – Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist so Wir müssen meines Erachtens zu Maßstäben kom- beschlossen. men, die von allen gleichermaßen zugrunde gelegt wer- den, damit Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege nicht durch unterschiedlichen Steuervollzug unter Aus- Alexander Bonde. schluss der Öffentlichkeit betrieben wird. Denn das (B) schadet unserer Wettbewerbsfähigkeit und ist unfair ge- Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): (D) genüber den Unternehmen, denen keine Steuerentlastun- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gen eingeräumt werden – wie es in Berlin zum Teil der Es ist dringend an der Zeit, dass der Deutsche Bundestag Fall ist –, sondern die ihre Steuern zahlen müssen. zu den Raketenabwehrplänen der USA auf europäi- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN schem Territorium eine gemeinsame Position findet. Die sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Stellungnahmen der Bundesregierung zu diesem Thema sind in sich nicht schlüssig. Die Regierungsposition ist Das BMF plädiert für eine Bundessteuerverwaltung. von parteipolitischen Widersprüchen, allgemeinen Aus- Es ist wünschenswert, dass uns die Länderzahlen von sagen und scheinbarer Unkenntnis in der Beantwortung Bayern bis Mecklenburg-Vorpommern vorgelegt wer- parlamentarischer Fragen geprägt und von widersprüch- den, um die Akzeptanz hinsichtlich der Verfahrens- licher Rhetorik getragen. Das Parlament hat die Verant- grundsätze einschätzen zu können. Unsere Kleine An- wortung, dem Herumgeeiere an diesem sicherheits-, ab- frage wurde nicht so beantwortet, wie wir Grünen es uns rüstungs- wie außenpolitisch zentralen Punkt ein Ende gewünscht hätten. Wir werden nachbohren und genauer zu setzen und die deutsche Position deutlich zu machen. nachfragen, wie das Steuersystem aussehen soll. Wir werden uns auch mit dem Prüfungsturnus in den einzel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) nen Ländern stärker auseinandersetzen. In den letzten Tagen und Wochen haben wir einiges Es ist gut, dass die Weisungsrechte des Bundes ge- erlebt. Der geschätzte Staatsminister Erler, der gerade genüber den Ländern gestärkt wurden. Die Länder soll- eingetroffen ist, hat eine Vorlage geliefert. In der Beant- ten sich im Rahmen der Föderalismusreform II mit der wortung unserer Kleinen Anfrage zu diesem Thema er- Frage befassen, wie sie diese Maßstäbe in ihren Verwal- klärte er, die Bundesregierung plane nicht, über das Ra- tungen anwenden können. Das wäre der richtige Weg. ketenabwehrsystem im Rahmen der EU zu diskutieren. Die Erosion von Steuereinnahmen durch unterschiedli- Zeitgleich erklärte er aber in der „Badischen Zeitung“, ches Verwaltungshandeln muss ein Ende haben. Die unserer gemeinsamen Heimatzeitung, dass eine Befas- Föderalismusreform II hat dabei eine Bringschuld. sung innerhalb der EU erfolgen muss. Da fragen wir uns, da fragt sich die Öffentlichkeit: Was ist nun die Position Es darf nicht sein, dass der Ehrliche der Dumme ist. der Bundesregierung? Insofern brauchen wir in der gesamten Bundesrepublik einen ordentlichen Steuervollzug. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke schön. Schwankt wie die Fahne im Wind!) 9394 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Alexander Bonde (A) Wir haben ebenso wie die Verbündeten ein Recht, zu All das muss dazu führen, dass wir eine klare Position (C) erfahren, wie die Position der Bundesregierung aus- beziehen. Ich würde mich freuen, wenn die SPD ihre sieht. Das Thema muss auf die europäische Agenda; neuerliche Friedenserweckung nicht nur in den Zeitun- denn der erweiterte Schutz Europas ist keine Frage, die gen und auf den Ostermärschen zum Ausdruck bringt, man unbeantwortet lassen darf, ist keine bilaterale Ange- sondern diese Gelegenheit nutzt, dieser Position zuzu- legenheit zwischen den USA und unseren europäischen stimmen. Das würde zeigen, dass Sie das, was Sie for- Nachbarn. Es ist vielmehr eine Frage, die wir gemein- muliert haben, ernst meinen. Sie werden erkennen, dass sam beantworten müssen. Javier Solana hat recht: Die sich viele der richtigen Erkenntnisse Ihres Außenminis- Sicherheit Europas ist nicht teilbar, und die EU-Mitglie- ters, Ihres Staatsministers und Ihres Parteivorsitzenden der sind bei aller Souveränität verpflichtet, die allgemei- wörtlich in unserem Antrag wiederfinden. nen Sicherheitsinteressen der Union zu definieren und Wenn Herr Scholz recht hat und die SPD-Fraktion gemeinsam darüber zu diskutieren. hinter ihrem Parteivorsitzenden Beck steht, dann sehe Innerhalb der NATO muss man sich trotz grundsätzli- ich keinen Grund, weshalb Sie seiner Position – zum cher Differenzen und unterschiedlicher Bedrohungswahr- Teil wörtlich im Antrag formuliert – heute nicht zustim- nehmungen damit auseinandersetzen. Es reicht nicht, sich men können. Wir werden das sehr genau beobachten. technisch an ein System, das auf widersprüchlichen Be- Glaubwürdigkeit wird nicht nur durch Reden, sondern drohungsannahmen basiert und im nationalen Alleingang auch durch Handeln und bei Abstimmungen erlangt. von einem Partner durchgesetzt wurde, anzubinden. Es Herzlichen Dank. muss vielmehr darum gehen, zu gemeinsamen Auffassun- gen zu kommen. Dazu bedarf es der gemeinsamen Wil- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) lensbildung in Europa und der gemeinsamen Risikoana- lyse. Auch Deutschland muss die Situation für sich Vizepräsidentin Petra Pau: wirklich bewerten. Für die Unionsfraktionen hat der Kollege Dr. Lamers das Wort. Meine Fraktion begleitet die Raketenabwehr aus ver- schiedenen Gründen kritisch. Im Gegensatz zu anderen (Beifall bei der CDU/CSU) lassen wir uns keinen russischen Bären aufbinden. Für uns geht es um zentrale außen-, sicherheits- und ab- Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU): rüstungspolitische Implikationen. Man muss sich über- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! legen, was es bedeutet, wenn man versucht, ein poli- Das Thema Raketenabwehr hat sich in wenigen Tagen tisches Risiko mittels eines Raketenabwehrsystems durch das Zutun vieler zu einem roten Tuch entwickelt. (B) technisch zu lösen. Abgesehen von den immensen Zwei- Obwohl die Entwicklung schon seit vielen Jahren im (D) feln an der technischen Machbarkeit dieses Systems ist Gange ist, wird jetzt von verschiedenen Seiten der Ein- dieser Ansatz, wie wir wissen, immer dann zum Schei- druck erweckt, es beginne eine neue Phase des Wettrüs- tern verurteilt, wenn sich das Hauptaugenmerk der Si- tens. Genau das ist in meinen Augen nicht der Fall. Ich cherheitspolitik auf die technische Beherrschbarkeit meine, wir alle sind gut beraten, die Entwicklung zu- richtet und nicht auf die Bildung von Vertrauen, was, wie nächst einmal vorurteilsfrei anzugehen, einzuschätzen Herr Steinmeier richtigerweise gesagt hat, die eigentli- und zu bewerten. Für populistische Angstmacherei ist che Frage ist. hier in meinen Augen überhaupt kein Platz. Zum anderen erodiert das Raketenabwehrsystem die (Beifall bei der CDU/CSU) ohnehin angeschlagenen Abrüstungs- und Nonprolifera- tionsprozesse. Wir alle wissen aus der Geschichte, dass Jede Raketen- und Flugkörperabwehr soll doch letzt- solche technischen Systeme die Aufrüstung in der Ten- endlich nur eines erreichen: dass nukleare und sonstige denz nicht beenden, sondern eher Anreize setzen, um auf Massenvernichtungswaffen ihr Ziel nicht erreichen, der technischen Ebene Überwindungsstrategien zu fin- das heißt vor dem Erreichen ihrer Ziele zerstört werden. den. Der Vorwurf der Aufrüstungsspirale ist insofern Darum geht es. Wer auch immer solche Massenvernich- schwer zu widerlegen. Wir alle wissen, dass wir zurzeit tungswaffen einsetzen oder mit ihrem Einsatz drohen eigentlich mehr Initiativen Deutschlands und Europas will, muss wissen, dass seine Waffe stumpf ist und auf- für Abrüstung brauchen. Deshalb ist diese Diskussion grund unserer Abwehrfähigkeit ihr Ziel nicht erreichen notwendig. kann. Genau darum geht es und um nichts anderes. Wir wollen nicht erpressbar werden, nicht durch den Iran, Ich glaube – das will ich noch sagen –, dass die Re- nicht durch Nordkorea, durch niemanden. gierung fahrlässig handelt, wenn sie in ihren Antworten (Beifall bei der CDU/CSU) auf unsere Fragen so tut, als wisse sie nichts davon, dass die amerikanischen Pläne vorsehen, dieses System im Raketenabwehr bedeutet nicht Wettrüsten, wie einige nächsten Schritt mit der Weltraumrüstung zu verbin- uns weismachen wollen. Für mich bedeutet Raketenab- den; denn die Interviews der zuständigen US-Militärs wehr im Gegenteil die Chance zur Abrüstung der unge- und der politischen Spitze zu diesem Thema sind be- heuren Potenziale von offensiven Massenvernichtungs- kannt. Es ist bekannt, dass im Budget der zuständigen waffen. Was macht es denn noch für einen Sinn, solche Institution, der Missile Defense Agency, für Tests von Waffen zu beschaffen, wenn sie keine Wirkung mehr weltraumbasierten Waffenkomponenten Gelder einge- entfalten? Die Zeiten haben sich geändert. Nukleares stellt werden. Wettrüsten gab es in der Tat in früheren Zeiten, im so- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9395

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (A) genannten Kalten Krieg, der allerdings ganz andere Rah- Russland um den Schlaf bringen. Das müssen wir offen (C) menbedingungen hatte als unsere heutige globale Sicher- kommunizieren, auch und gerade mit Blick auf Russland. heitslage. In den Jahren des Kalten Krieges galt die Philosophie der Mutual-assured-Destruction, der gegen- Eigentlich – das habe ich eingangs gesagt – geht es seitigen gesicherten Zerstörung. Durch Hochrüstung auch überhaupt nicht um Russland. Es geht um etwas hielten sich die Supermächte gegenseitig in Schach, wo- ganz anderes, nämlich um den Schutz der Menschen unter bei jeder wusste, dass er selbst bei einem nuklearen An- dem Raketenschirm gegenüber irrational handelnden griff durch einen entsprechenden Gegenschlag auch ver- Terrorstaaten. Ich bin überzeugt, dass auch Russland nichtet würde. daran ein Interesse hat. Eine Bedrohung ist dieses Ab- wehrsystem keinesfalls. Ich frage Sie: Gilt diese Strategie auch heute noch in einer völlig veränderten Welt? Gilt dies noch in einer Mit seiner Münchener Rede hat Präsident Putin dieses Zeit, in der wir es mit Terrorregimen, Suizidbombern Thema schlagartig auf die Agenda der Weltpolitik kata- und mit potenziell irrational Handelnden zu tun haben? pultiert. Wir reden jetzt im Bundestag darüber, und wir Die Entwicklung von Abwehrfähigkeit könnte sich als reden auch auf der Frühjahrstagung der Parlamentarischen lebensrettend für Staaten und Menschen erweisen. Das Versammlung der NATO darüber. Diesen Vorschlag treibt mich und uns alle zurzeit bei diesem Thema um. habe ich erst am letzten Wochenende beim Standing Committee gemacht. Wir werden das tun, und das ist In der laufenden Diskussion wird behauptet, das ge- auch richtig. Dieses Thema gehört auf die Agenda der plante amerikanische Raketenabwehrsystem bedrohe Parlamentarier aus Europa, Kanada und Amerika. Ich Russland und schaffe neue Instabilität. Wir alle erinnern begrüße es, dass die NATO auf Vorschlag von Jaap de uns an die Rede des russischen Präsidenten Putin auf der Hoop Scheffer im NATO-Rat und im NATO-Russland- Münchener Sicherheitskonferenz. Da haben manche ja Rat offen über dieses Thema diskutieren wird. gedacht, die Entwicklung dieses Systems vollziehe sich ohne die Einbeziehung Russlands. Man hatte den Ein- (Beifall bei der CDU/CSU) druck, dass Putin gerade zum ersten Mal davon erfahre. Das wäre in der Tat fatal gewesen. Im Übrigen will ich betonen, dass das geplante System defensiv, nicht offensiv ist. Weil es sich um ein reines Denn zum Glück ist es in den zurückliegenden Jahren Abwehrsystem handelt, kann sich weder Russland noch gelungen, Russland oft einzubeziehen, mit ins Boot zu irgendein anderer Staat davon bedroht fühlen. Eines ist nehmen und angesichts großer gemeinsamer Bedrohun- sicher: Der Einsatz von Massenvernichtungswaffen mit gen eine Politik des Miteinanders zu vereinbaren. Raketen und Flugkörpern wird somit nicht nur sinnlos – er Aber glücklicherweise war es ja nicht so. Denn wie war schon immer sinnlos –, sondern verfehlt auch seinen (B) (D) wir heute wissen, ist über dieses Projekt im Rahmen des Zweck und sein Ziel. NATO-Russland-Rates mehrfach gesprochen worden. Die USA haben in den letzten Jahren viel in Missile De- Die Verteidigungsminister Russlands und der Vereinig- fense investiert, um Bedrohungen von sich, aber auch von ten Staaten von Amerika haben mehrfach darüber ge- Europa abzuhalten. Auch das Raketenabwehrprogramm sprochen. An die Adresse von Präsident Putin gerichtet der NATO sollte in diesem Zusammenhang berücksichtigt sage ich: Wer Transparenz bei der anstehenden Verwirk- werden, wenn es auch nicht damit identisch ist. Wir sollten lichung eines Raketenabwehrsystems verlangt, sollte darauf achten, dass all diese Systeme, die entwickelt auch selber Offenheit und Transparenz zeigen, wenn es werden, um Menschen zu schützen, miteinander kompa- um die Kommunikation über dieses Thema geht. tibel sind, damit sie wie Zahnräder ineinandergreifen. (Beifall bei der CDU/CSU) Dann haben wir Gemeinsamkeit, nämlich gemeinsam mehr Sicherheit. Darum geht es. Ich bin davon überzeugt, dass dieses Thema auf den Konferenztisch der NATO gehört. Deswegen bin ich Sicherheit ist unteilbar. Das ist einer der Glaubens- sehr froh, dass die Vereinigen Staaten von Amerika in grundsätze der NATO. Wir alle, mit und ohne Abwehr- den zurückliegenden Tagen deutlich gemacht haben, systeme, müssen uns in der zukünftigen strategischen dass sie überhaupt nicht an einen Alleingang denken, Wirklichkeit wiederfinden können. Es kann und darf im sondern dass sie bereit und entschlossen sind, alle euro-atlantischen Raum keine Zonen unterschiedlicher NATO-Partner in ihre Überlegungen und Pläne einzube- Sicherheit geben. Deshalb ist der Schulterschluss zwischen ziehen. Denn wenn unsere NATO-Partner Polen und den Vereinigten Staaten von Amerika und der NATO Tschechien einbezogen sind, geht es nicht nur um diese gerade in der Frage der Raketenabwehr unabdingbar. beiden Staaten, sondern um die NATO insgesamt und um Europa. Keiner darf die Chance bekommen, einen In einer Zeit, in der wir neuen Bedrohungen durch Keil in unsere Bündnisse zu treiben, wie es die Bundes- den internationalen Terrorismus, potenziell auch durch kanzlerin – ich meine: zu Recht – gesagt hat. Uns inte- Terrorstaaten, die im Besitz von Massenvernichtungs- ressiert nämlich schon, wer durch den Raketenschirm waffen sind, ausgesetzt sind, brauchen wir auch Russland. geschützt wird: ganz Europa oder nur ein Teil Europas. Wir müssen das in den zurückliegenden Jahren aufgebaute Vertrauen weiter ausbauen. Auf genau diesem Weg befin- Für mich ist auch wichtig: Russland muss begreifen, den wir uns. dass zehn Abwehrraketen in Polen keine Bedrohung für das eigene Land darstellen. Ich kann überhaupt nicht (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- nachvollziehen, warum zehn Raketenabwehrsysteme neten der SPD) 9396 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (A) Lassen Sie mich zum Schluss sagen, dass wir Parla- (Beifall bei der FDP) (C) mentarier den Kern unseres Handelns darin sehen, alles zu tun, um den Frieden zu wahren und Bedrohungen von Im Auswärtigen Amt weiß man sehr wohl, dass das unseren Völkern abzuwenden. In einer Zeit völlig neuer Thema einer US-Raketenabwehr auf europäischem Ter- Szenarien fundamentaler Bedrohungen müssen wir ritorium im NATO-Russland-Rat bereits früh auf der umso offener sein, neue Wege zu gehen. Die Chancen, Tagesordnung stand. die sich durch die Entwicklung von Defensivwaffen Im vorliegenden Antrag der Fraktion des Bündnisses 90/ auftun, ermöglichen uns, das zerstörerische Potenzial von Die Grünen ist eine Vielzahl von abrüstungspolitischen Offensivwaffen weiter abzubauen. Also: Das Bekenntnis Zielen, die wir begrüßen und auch selbst schon beantragt zu einem Abwehrsystem bietet die Chance größerer Ab- haben, formuliert. Dennoch findet dieser Antrag nicht rüstung. unsere volle Zustimmung. Denn insbesondere die bündnis- Dies heute ist für mich der Einstieg in eine umfassende grüne Forderung nach einer vollständigen Aufgabe der Erörterung dieses Themas. Ich bitte alle um Sachlichkeit, nuklearen Teilhabe teilen wir Liberale in der vorliegenden ich bitte darum, der Versuchung des Populismus zu Form nicht. widerstehen und vor allem keine voreiligen politischen Entscheidungen zu treffen, bevor wir das Für und Wider (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: sorgfältig gegeneinander abgewogen haben. Das ist aber neu, Frau Hoff! – Zuruf von der LINKEN: Ja, das ist neu!) (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wen haben Sie damit gemeint? – Jürgen Trittin Deshalb wird sich meine Fraktion bei der Abstimmung [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Lamers, enthalten. da haben Sie in die falsche Richtung geguckt!) Denn ein möglicher Abzug der amerikanischen Ich danke. Atomwaffen muss ebenso wie die Stationierung einer (Beifall bei der CDU/CSU) möglichen Raketenabwehr eng mit den Vereinigten Staaten und vor allem innerhalb der NATO auf Basis einer gemeinsamen Risikoabschätzung abgestimmt werden. Vizepräsidentin Petra Pau: Die Sicherheit Europas kann – bei allen Divergenzen – Das Wort hat die Kollegin Elke Hoff für die FDP- nicht losgelöst von diesen Beziehungen betrachtet werden. Fraktion. Welchen Gewinn soll es bringen, die nukleare Teilhabe (Beifall bei der FDP) aufzugeben? Wir erreichten dann einen Status, in dem die beiden einzigen europäischen Atommächte ohne (B) verpflichtende Bindung an die NATO mit ihrem Atom- (D) Elke Hoff (FDP): potenzial verfahren würden. Wir würden damit also ein Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Weniger an gemeinschaftlichem Eintreten für Frieden Liebe Kollegen! Dass wir heute zum zweiten Mal innerhalb und Sicherheit erreichen, kein Mehr. Außerdem muss die von zehn Tagen über die mögliche Stationierung einer Frage erlaubt sein, wieso das Thema „nukleare Teilhabe“ US-Raketenabwehr auf europäischem Boden diskutieren, in sieben Jahren rot-grüner Bundesregierung nie in den ist sicher ein guter Beweis für die grundlegende außen- entsprechenden NATO-Gremien auf die Tagesordnung und sicherheitspolitische Bedeutung dieses Themas. gesetzt wurde. Der NATO-Generalsekretär hat damals Daher verwundert es mich sehr, wenn vonseiten der deutlich zu verstehen gegeben, dass die Bundesregierung Bundesregierung der Eindruck erweckt wird, als sei dieses es nur sagen müsse, wenn sie die nukleare Teilhabe thema- Thema quasi vom Himmel gefallen. Denn ein Raketen- tisieren möchte. abwehrsystem als gemeinsames Projekt der NATO wird seit Jahren in den entsprechenden Gremien diskutiert. Wie der vorliegende Antrag aber auch deutlich macht, Diese Diskussionen sind gekennzeichnet durch diver- kann die US-Raketenabwehr nicht losgelöst von den ande- gierende Risikoeinschätzungen sowie das Fehlen einer ren Entwicklungen in der globalen Abrüstungspolitik kohärenten sicherheitspolitischen Richtung. diskutiert werden. Die russischen Reaktionen auf die tri- lateralen Raketenabwehrpläne und die damit verbundene Ein entsprechender US-Vorschlag liegt der NATO Drohung Moskaus, den INF-Vertrag zu kündigen, sind schon seit 2002 vor. Deutschland hat dazu bis heute nur ein Symptom der grundlegenden Vertrauens- und nicht vernehmbar Stellung bezogen. Glaubwürdigkeitskrise der internationalen Abrüstung und Rüstungskontrolle. Das nukleare Nichtverbreitungs- (Beifall bei der FDP) regime gerät aus den Fugen, die Genfer Abrüstungskon- Wenn die Bundeskanzlerin nun den Eindruck zu erwe- ferenz blockiert sich seit Jahren selbst, und an die Stelle cken versucht, die Diskussion über die amerikanische von multilateralen Vereinbarungen über Rüstungskontrolle Raketenabwehr auf NATO-Ebene führen zu wollen, und Nichtverbreitung sind vielfach bilaterale Abkommen, frage ich mich, was denn bisher im Bundeskanzleramt Ad-hoc-Initiativen oder sogenannte „Coalitions of the angekommen ist. Ein Außenminister, der anmerkt, es Willing“ getreten. Ein rein trilaterales Vorgehen bei der wäre besser gewesen, mit der russischen Seite früher Stationierung des Raketenabwehrsystems würde diese über das Vorhaben zu reden – das ist ein Zitat –, scheint Krise weiter verschärfen und die vertrauensvolle Zusam- vor allem nicht frühzeitig genug mit seinem Fachreferat menarbeit im transatlantischen Bündnis auf die Probe darüber gesprochen zu haben. stellen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9397

Elke Hoff (A) Darüber hinaus ist die Debatte zum jetzigen Zeitpunkt Das ist doch das eigentliche Problem, das sich dahinter (C) ein mehr als unglückliches Signal in Bezug auf die Nu- versteckt. Wenn es uns gelänge – so verstehe ich das, klearambitionen Teherans. Wer einen Raketenabwehr- was der Außenminister gesagt hat –, an den Abrüstungs- schirm als zentralen Teil einer Containment-Strategie prozess neu anzuknüpfen, dann würden wir in dieser gegenüber dem Iran betrachtet, hat sich bereits mit einer gesamten Diskussion einen ganz neuen Impuls und möglichen nuklearen Bewaffnung Teherans abgefunden. Schub bekommen. Daher rate ich dringend dazu, dass wir diesen Einzelpunkt, über den jetzt debattiert wird, (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- nicht alleine herausgreifen. SES 90/DIE GRÜNEN) Daher muss die Bundesregierung ihre Einwirkungsmög- Der Kollege Dr. Lamers hat einen ganz zentralen und lichkeiten, die sie sowohl im Rahmen der EU-Ratspräsi- politisch wichtigen Punkt angesprochen, in dem ich ihm dentschaft als auch durch den G-8-Vorsitz hat, durch ausdrücklich zustimme. Wir, die wir keine Atommächte eine klare Linie in dieser wichtigen Angelegenheit nutzen. sind, auch nie werden wollen, müssen die Atommächte daran erinnern – darum bitte ich –, dass sie es mit ihrem Das wird dringend notwendig sein, weil die kommenden eigenen Handeln in der Hand haben, dafür zu sorgen, fünf Jahre für die Zukunft sowohl der nuklearen als auch dass die Aufrüstungsprozesse gestoppt und neue Abrüs- der konventionellen Rüstungskontrolle sowie der globalen tungsprozesse in Gang gesetzt werden können. Das ist Abrüstungsbemühungen existenziell sind. START I und der zentrale Punkt. SORT stehen zur Verlängerung an. Die Überprüfungs- konferenz des nuklearen Nichtverbreitungsregimes im (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Jahre 2010 wird zum Testfall für die Zukunftsfähigkeit Herr Dr. Lamers, dazu gehört insbesondere das, was Sie der Nichtverbreitung. Der angepasste KSE-Vertrag wartet gesagt haben: Es kommt darauf an, dass wir Russland seit 1999 auf seine Ratifizierung; ohne diese Ratifizie- mit einbeziehen und Vertrauen bilden. rung unterliegen die Zahlen der Streitkräfte in den neuen NATO-Staaten auch weiterhin keiner Begrenzung. Wenn ich das Ergebnis des Telefongesprächs zwi- schen Bush und Putin richtig bewerte, dann stehen wir Es ist daher dringend an der Zeit, dass die Bundes- im Moment möglicherweise kurz davor – hier spielt der regierung ihre Vorstellungen über die zukünftige Abrüs- G-8-Gipfel in Deutschland dann vielleicht doch eine tungspolitik mit Nachdruck in die internationalen Gremien Rolle –, dass sich die beiden einigen. Denn inhaltlich einbringt und mit ebensolchem Nachdruck auf eine Lösung und sachlich ist es ja völlig richtig, was auch Sie, Herr hinarbeitet. Unsere Unterstützung werden Sie dabei haben. Dr. Lamers, sagen. Vielen Dank für die Aufmerksamkeit. Gesetzt den Fall, dass man rational prüfen könnte, (B) (Beifall bei der FDP) was NMD bedeutet – das ist ja in der Tat ein Abwehr- (D) system –, muss man sich aber auch politisch darüber im Vizepräsidentin Petra Pau: Klaren sein, dass selbst Abwehrsysteme zu ganz unge- Das Wort hat der Kollege Gert Weisskirchen für die ahnten politischen Nebenwirkungen führen können. SPD-Fraktion. Aus diesem Grunde – und nicht nur aus technologischen Gründen – hat Bill Clinton damals gesagt: Dieses Pro- (Beifall bei der SPD) jekt verfolge ich nicht weiter.

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (SPD): Vielleicht kann man in der politischen Diskussion et- was Zeit gewinnen, damit sich in der amerikanischen Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Administration und im amerikanischen Kongress solche Herren! Liebe Kollegin Hoff, lassen Sie mich genau an Überlegungen wieder neu einstellen können. Ich halte diesen Punkt, den Sie am Schluss erwähnt haben – erheb- das gar nicht für unmöglich. Es ist zwar richtig, dass liche Teile Ihrer Bedenken, die Sie am Schluss geäußert man klare Positionen beziehen muss, aber wir können haben, teile ich –, anknüpfen. am besten dann klare Positionen beziehen, wenn durch Wir haben mitverfolgt, dass es beispielsweise 2005 die Machbarkeitsstudie die von uns gestellten Fragen ein vollständiges Desaster bei der Überprüfungskonferenz beantwortet werden. Es gibt keine Festlegung der Bun- gab. Schauen Sie sich darüber hinaus – Sie haben das nur desregierung in diesem Punkt! Es gibt keine politische angedeutet – die Aufrüstungsbestrebungen zum Beispiel Festlegung, dass wir das akzeptieren, was NMD betrifft. in Großbritannien und Frankreich sowie die Überlegungen Auch bei der neuen Variante gibt es keine Festlegungen. hinsichtlich der Ersatzsprengköpfe in den USA an, wel- Wir müssen die Antworten auf die Fragen sorgfältig prü- che dort mit einem technologischen Projekt vorangetrieben fen und danach eine politische Bewertung abgeben. werden. Ich glaube in der Tat, dass wir versuchen müssen, diese ganze Debatte, die doch sehr alarmistisch klingt, Am Anfang hat jemand Staatsminister Erler erwähnt. einfach einmal vor dem Hintergrund des wirklichen Pro- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: blems zu führen. Bonde war das!) Ich denke, das wirkliche Problem liegt darin, dass der – Entschuldigung, Kollege Bonde, Sie waren das. Abrüstungsprozess nach den Verhandlungen über START leider ins Stocken geraten ist. Im Moment sehen (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- wir eher die Gefahr, dass es unter dem Stichwort der NEN]: Er hat nur zitiert, dass Herr Erler nicht Modernisierung zu neuen Aufrüstungsprozessen kommt. weiß, was er in der Zeitung gesagt hat!) 9398 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Gert Weisskirchen (Wiesloch) (A) – Herr Erler weiß sehr wohl, wovon er spricht. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (C) der CDU/CSU) (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht, was er unterschreibt!) Vizepräsidentin Petra Pau: Die Position, die er in dem Interview mit der „Berliner Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Paul Zeitung“ – darauf haben Sie offenbar Bezug genom- Schäfer das Wort. men – deutlich gemacht hat, ist eine Position, die ein So- zialdemokrat notwendigerweise beziehen muss. Denn (Beifall bei der LINKEN) wir alle wollen doch gemeinsam, dass Aufrüstungspro- zesse gestoppt und Abrüstungsprozesse in Gang gesetzt Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): werden. Werte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol- (Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- legen! Wir beraten über einen Antrag der Grünen. Dieser NEN]: Aber wir wollen das nicht in der EU Antrag ist nicht schlecht. Da wir auch andere Fraktionen ansprechen!) ermuntern wollen, sich abrüstungspolitisch zu engagieren, werden wir ihn unterstützen. Gleichwohl werden wir ei- Das wollen wir alle gemeinsam. Das, was Staatsminister nen eigenen Antrag einbringen, in dem wir die Sache auf zu diesem Punkt gesagt hat, findet die volle den Punkt bringen. In dem Antrag der Grünen heißt es: Unterstützung der sozialdemokratischen Bundestags- Die Pläne zur Raketenabwehr sollen erst einmal auf Eis fraktion – damit das ganz klar ist. gelegt werden. – Nein, diese Pläne müssen ad acta gelegt werden. (Beifall bei der SPD – Jürgen Trittin [BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Das, was in der Zei- (Beifall bei der LINKEN – Jürgen Trittin tung steht, oder das, was in der Antwort auf [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schließt die Anfrage steht?) sich ja nicht aus!) Für die schnelle Abfolge der Beratungen, die in die- Das ist eine klare Position. Ob das auch für Sie, die So- sem Hause seit zwei Wochen stattfinden, gibt es keinen zialdemokraten, gilt, fragen wir uns sicherlich alle in wirklich plausiblen Grund. Frau Hoff, da haben Sie diesem Haus. Ob es beim Nein Ihres Parteivorsitzenden recht. Die deutsche Politik steht bei diesem Thema nicht zu neuen Raketen bleibt, wird man sehen. Ich glaube unter Zeitdruck. Natürlich muss geklärt werden, was zwar, dass Sie nicht nur auf die Wählerstimmen schauen, möglicherweise auf uns zukommt. Das hat zum Beispiel sondern dass Sie echt besorgt sind. Aber wir werden se- der Parteivorsitzende der SPD sehr klar gesagt. hen, inwieweit Sie diesen Konflikt innerhalb der Koali- tion austragen und was am Ende dabei herauskommt. (B) Im politischen Prozess ist für uns wichtig, dass die (D) Um es klar zu sagen: Es kann nicht nur darum gehen, Bundesregierung – wie die SPD – deutlich macht: Wir dass Russland etwas besser eingebunden wird, dass wir wollen weder eine neue Rüstungsspirale durch Moderni- bei den neuen Waffensystemen etwas mehr Mitsprache sierung vorhandener Waffensysteme noch eine Gefähr- – im Sinne der nuklearen Teilhabe – bekommen und dung bestehender Abrüstungsvereinbarungen. Vielmehr dass einige offene technische Fragen geklärt werden. wollen wir, dass sich der Wettbewerb zwischen den of- Nein, es muss deutlich gemacht werden: Die Bundes- fensiven und den defensiven strategischen Waffen, den republik Deutschland beteiligt sich an diesem neuen es übrigens seit vielen Jahren gibt, nicht in Richtung ei- Rüstungsprojekt in keiner Weise. ner Steigerung entwickeln wird. Wenn es einen solchen Wettbewerb zwischen Abwehrsystemen und strategi- (Beifall bei der LINKEN) schen Offensivsystemen geben wird, dann wird es eben nicht zu Abrüstungsprozessen, sondern zu Aufrüstungs- Zweitens. Die Bundesregierung muss darauf drängen, prozessen kommen. dass sich in der EU die möglichst einheitliche Haltung durchsetzt, dass wir keine neuen Raketen in Europa ha- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des ben wollen. Das wäre ein Rückenwind für die zuneh- BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) mend kritischer werdende Öffentlichkeit in Polen und Tschechien. Ich finde, es ist vollkommen korrekt, wenn Ich glaube nicht, dass irgendjemand bei uns – wer auch Menschen dort sagen: Wir wollen in unseren Ländern immer – ein wirkliches Interesse daran haben kann, dass ein Referendum über das Raketenabwehrsystem haben. – Aufrüstungsprozesse in Gang gesetzt oder gar durch Diese Menschen sollten wir unterstützen. unseren politischen Willen getragen und vorangetrieben werden. (Beifall bei der LINKEN) Ich wünsche mir, dass wir in dieser Debatte vom Drittens. Es muss alles daran gesetzt werden, durch Alarmismus wegkommen. Herr Bonde hat das auch so eine konsequente Abrüstungspolitik bei den Massen- schön zugespitzt formuliert: Es geht hier nicht um den vernichtungswaffen die Bedrohung erst gar nicht entste- Wettbewerb zwischen friedenspolitischen Orientierun- hen zu lassen, gegen die man jetzt vorrüsten will. Die gen, sondern darum, wie es uns gelingen kann, den his- Gefahr der Weiterverbreitung ist sicherlich kein Hirnge- torischen Prozess der Abrüstung wieder neu in Gang zu spinst; das sage ich ganz klar. Aber der Ausgangspunkt setzen. Ich wünsche mir, dass wir unsere politischen ist die Verbreitung der vorhandenen Waffen, also die Kräfte darauf konzentrieren, weitere Aufrüstungspro- Tatsache, dass es eine Gruppe von Staaten, die Atom- zesse zu stoppen. Das lerne ich aus dieser Diskussion. mächte, gibt, die von ihrem Monopol auf diese Terror- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9399

Paul Schäfer (Köln) (A) waffen nicht abrücken wollen. Daher ist nach meiner Überweisungsvorschlag: (C) festen Überzeugung eine Nichtweiterverbreitung nur Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss zu erreichen, wenn alle erdenklichen Schritte eingeleitet Verteidigungsausschuss werden, die vorhandenen Massenvernichtungswaffen zu Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe ächten und loszuwerden. Das reicht vom Abzug der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Atomsprengköpfe auf deutschem Boden über die Eta- Entwicklung blierung einer atomwaffenfreien Zone in Europa bis zur b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Monika verbindlichen Reduzierung der strategischen Waffenar- Knoche, Dr. Norman Paech, Paul Schäfer (Köln), senale. weiterer Abgeordneter und der Fraktion der LIN- Wir müssen den Grundgedanken der gemeinsamen KEN Sicherheit, der aus dem Kalten Krieg herausgeführt hat, Das Mandat für die Operation Enduring Free- wiederbeleben. Das verträgt sich aber nicht mit Präemp- dom beenden – Einsätze des Kommandos Spe- tionsstrategien und militärischen Strategien zur Einkrei- zialkräfte in Afghanistan einstellen sung Russlands. Mit Blick auf die Überprüfungskonfe- renz 2010 muss das vielmehr bedeuten, endlich den – Drucksache 16/121 – Blix-Report Schritt für Schritt in die Tat umzusetzen. Überweisungsvorschlag: Mit diesem Report liegt ein Handbuch vor, aus dem her- Auswärtiger Ausschuss (f) Rechtsausschuss vorgeht, was abrüstungspolitisch zu tun ist. Auf seine Verteidigungsausschuss Umsetzung müsste die Bundesregierung energisch drän- Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe gen. Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Man könnte auch über neue Rüstungskontroll- und Abrüstungsinitiativen sprechen, und zwar gerade mit Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die den Ländern, die gegenwärtig dabei sind, sich neue Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen, wobei die Waffentechnologien zuzulegen. Dabei könnte es zum Fraktion Die Linke fünf Minuten erhalten soll. – Ich Beispiel um einen allgemeinen Teststopp bei Raketen höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos- mit langer Reichweite gehen. Das würde als erste sen. Schritte voraussetzen, mit der nuklearen Abrüstung zu Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege beginnen und mit den betreffenden Ländern über ihre le- Wolfgang Gehrcke für die Fraktion Die Linke. gitimen Sicherheitsprobleme zu reden. Das gilt auch für den Iran und Nordkorea. Statt in eine neue Aufrüstungs- (Beifall bei der LINKEN) spirale einzusteigen, muss nun alles getan werden, um (B) (D) eine neue Abrüstungsdynamik zu entwickeln. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Die Karwoche beginnt mit dem Palmsonntag. Der Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Palmzweig ist das Symbol des Friedens. Daran knüpfen Der § 8 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes gibt den Ab- auch die traditionellen Ostermärsche an. In diesem Sinne geordneten des Deutschen Bundestages das Recht, ihre darf ich uns allen frohe Ostern wünschen. Zustimmung zum Einsatz bewaffneter Streitkräfte zu wi- derrufen. Dieses Recht ist, so denke ich, gleichzeitig Danke. eine Pflicht, diese Einsätze immer wieder zu überprüfen, sich eine Meinung dazu zu bilden und, wenn man zu der (Beifall bei der LINKEN) Auffassung kommt, man muss sie beenden, das hier im Parlament zu beantragen. Wenn wir beantragen, den Ein- Vizepräsidentin Petra Pau: satz der KSK in Afghanistan zu beenden, ist unser Be- Ich schließe die Aussprache. gehren, dass das Parlament von diesem Recht Gebrauch Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der macht. Ich denke, man muss mehr darüber diskutieren, Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen auf Drucksache ob es genügt, wenn ein Parlament immer nur auf die Re- 16/4854 mit dem Titel „US-Raketenabwehr und Europa – gierung schaut und wartet, ob ein Antrag kommt, um Gemeinsame Sicherheit und Abrüstung fördern“. Wer dann zuzustimmen oder abzulehnen, oder ob ein Parla- stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer ment nicht auch zu Selbsttätigkeit aufgefordert ist. enthält sich? – Der Antrag ist gegen die Stimmen der (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Antragsteller und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung Winkelmeier [fraktionslos]) der FDP-Fraktion abgelehnt. Ich denke, das Parlament ist aufgefordert. Wir wollen, Ich rufe die Tagesordnungspunkte 31 a und b auf: dass der Einsatz der KSK in Afghanistan beendet wird. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dazu möchte ich ein paar Gründe nennen. Aus meiner Wolfgang Gehrcke, Paul Schäfer (Köln), Monika Sicht ist der Krieg in Afghanistan – nach all dem, was Knoche, weiterer Abgeordneter und der Fraktion man liest, hört und weiß – militärisch nicht mehr zu ge- der LINKEN winnen. Andere formulieren es etwas zurückhaltender; die Regierungskoalition sagt zum Beispiel, er sei „vor- Einsatz des Kommandos Spezialkräfte in Af- wiegend militärisch“ nicht mehr zu gewinnen. Man ghanistan beenden könnte zumindest sagen, der Krieg steckt in der Sack- – Drucksache 16/4674 – gasse. Wir als Linke waren immer der Auffassung, dass 9400 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Wolfgang Gehrcke (A) ein Kampf gegen den Terror gewonnen werden kann, Das ist die Wahrheit. Mit der muss man sich auseinan- (C) wenn man sich um die Ursachen des Terrors kümmert, dersetzen, und man darf nicht immer darüber hinwegtäu- waren gleichzeitig aber immer der Auffassung, dass die- schen. ser Krieg gegen den Terror nicht zu gewinnen ist. (Beifall bei der LINKEN – Winfried Nachtwei Wenn solche Argumente nicht einmal einen Widerhall [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Quatsch! Er finden, dann bitte ich Sie ganz herzlich, Ihre Erfahrun- weiß gar nicht, was Krieg ist!) gen zu prüfen. Das erste Argument für diese Kriege war Mit der Entscheidung, das KSK aus Afghanistan zu- immer: Es sind Kriege gegen den Terror. Ich frage Sie rückzuziehen, würde ein anderes Zeichen gesetzt. Das heute: Ist die Gefahr des Terrors mit den Kriegen kleiner wollen wir. Es wäre ein kleines Zeichen, aber immerhin. oder größer geworden? Sie ist größer geworden, das wird doch keiner leugnen. Das zweite Argument war im- Ich darf Sie noch darauf aufmerksam machen, dass mer: Es sind Kriege für Abrüstung. Ich frage Sie: Sind der § 6 des Parlamentsbeteiligungsgesetzes die Bundes- die Gefahr der Weiterverbreitung von Massenvernich- regierung verpflichtet, laufend und regelmäßig zu infor- tungswaffen sowie der Waffenexport und Waffenhandel mieren. Einmal ehrlich gesagt, Kolleginnen und Kolle- kleiner oder größer geworden? Sie sind größer gewor- gen: Außer den wenigen, die informiert werden, weiß den. Das dritte Argument war: Es sind Kriege für die doch keiner genau, was das KSK in Afghanistan macht. Demokratie. Ich frage Sie heute, ob man den Zustand der Das können Sie doch nicht leugnen. Sie wissen es ein- Demokratie in den Ländern, die mit Krieg überzogen fach nicht. Ich darf es Ihnen nicht sagen, weil ich zur worden sind, so viel besser finden soll und ob es nicht so Geheimhaltung verpflichtet bin. ist, dass auch die Demokratie in unseren Staaten durch (Ruprecht Polenz [CDU/CSU]: Ach, er weiß die Art und Weise der Kriegsführung Schaden genom- es!) men hat. Das ist doch eine absurde Situation. Ich darf Ihnen noch Ich frage mich, warum es Sie nicht bedenklich stimmt nicht einmal sagen, ob das KSK jetzt in Afghanistan ist. – ich sage das überhaupt nicht triumphierend –, wenn Was ich Ihnen aber sagen darf, ist, dass das KSK drin- man jetzt in den Umfragen liest, dass 60 Prozent der gend mit Beschluss des Parlaments zurückgezogen wer- Bürgerinnen und Bürger Afghanistans die Zeiten wäh- den muss. rend der Sowjetbesatzung und der Taliban-Herrschaft für Herzlichen Dank. korrekter und besser gehalten haben als die heutigen Zei- ten. Ich frage Sie, ob es Sie nicht bedenklich stimmt, (Beifall bei der LINKEN – Gert Weisskirchen wenn 48 Prozent der Bürgerinnen und Bürger unseres [Wiesloch] [SPD]: Wider besseres Wissen sagt (B) Landes heute der Auffassung sind, dass die USA gefähr- er das!) (D) licher für den Frieden sind als der Iran. Wenn schon nicht die Sachargumente Sie überzeugen, dann müssten Vizepräsidentin Petra Pau: doch zumindest solche Argumente bei Ihnen den Ein- Für die Unionsfraktion hat der Kollege Ruprecht druck erwecken, dass diese ganze Politik in der Sack- Polenz das Wort. gasse ist. Man muss heraus aus der Sackgasse; anders geht es doch nicht. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Winkelmeier [fraktionslos]) Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol- legen! Die Linken beantragen, das Mandat für die Opera- Jetzt hat der Kollege Klose von der SPD vorgeschla- tion Enduring Freedom zu beenden und das KSK zurück- gen – ich finde, in sich geschlossen ist das sogar logisch; zuziehen. Mit diesen Anträgen – das möchte ich ganz das ist nur nicht meine Politik –, man müsste sich darauf deutlich sagen – verabschieden Sie sich vom Kampf der einstellen, mehr Kampftruppen nach Afghanistan zu Staatengemeinschaft gegen den internationalen Terroris- schicken. Es liegt in der Logik: Wenn wir nicht aufhö- mus. ren, wird sich dieser Bundestag immer wieder damit be- schäftigen müssen, für diesen Krieg neues Militär zur (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Verfügung zu stellen. In sich ist es logisch, politisch ist Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) es falsch. Auch wenn Sie das nicht wollen – Sie werden dadurch (Beifall bei der LINKEN) zum Türöffner für die Taliban und al-Qaida. (Beifall bei der CDU/CSU – Zurufe von der In einem Punkt hat Herr Klose allerdings Recht, nämlich LINKEN: Oh!) als er gesagt hat, man solle aufhören, so zu tun, als ob die deutschen Soldaten in Afghanistan Entwicklungshel- Die Anträge der Linken zielen darauf ab, die Sicher- fer in Uniform seien. Man solle aussprechen – und ich heitslage in Afghanistan für Soldaten, zivile Aufbauhel- will es hier aussprechen –: Deutschland führt Krieg in fer und für die afghanische Bevölkerung selbst deutlich Afghanistan. zu verschlechtern, und sie ignorieren dabei die tatsächli- che Bedrohungslage vor Ort völlig. Der Einsatz in Af- (Winfried Nachtwei [BÜNDNIS 90/ ghanistan, sowohl von Enduring Freedom als auch von DIE GRÜNEN]: Im Norden?) ISAF, dient der Bekämpfung der Terroristen, die vor Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9401

Ruprecht Polenz (A) dem Sturz der Taliban – ich finde es zynisch, wenn auf und eine gezielte Vorgehensweise möglichst gering blei- (C) solche Umfragen hier im Bundestag Bezug genommen ben, dann muss dort, wo Nachrichtendienste und Polizei- wird, Herr Gehrcke – ungehindert ausgebildet wurden kräfte wegen mangelnder Ausrüstung nicht eingesetzt und die auch nach dem Sturz vehement daran arbeiten, werden können, der Einsatz von Spezialkräften möglich in Afghanistan wieder an Einfluss zu gewinnen. sein, um einen optimalen Erfolg zu erzielen. Die Taliban sind im vergangenen Jahr deutlich wie- Experten sehen durch die ständig veränderten sicher- dererstarkt und heitspolitischen Rahmenbedingungen in Afghanistan für (Zurufe von der LINKEN) die Zukunft sogar einen erhöhten Bedarf für den Einsatz von Spezialstreitkräften; denn gerade die Schnelligkeit waren in keinem Jahr seit ihrem Sturz so aktiv wie 2006. und Flexibilität des KSK ermöglichen es, gegen Kräfte zu operieren, die Kriegsführung mit asymmetrischen (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist Mitteln betreiben. Im Übrigen war das KSK bereits auf doch das Problem, Herr Polenz!) dem Balkan beim Zugriff auf Kriegsverbrecher erfolg- Jetzt Kräfte aus Afghanistan abzuziehen, würde ihnen in reich. Warum wollen Sie diese Kompetenz zur Bekämp- die Hände spielen. Die Taliban würden es als Zeichen fung der Taliban und zum Schutz der eigenen Soldaten verstehen, mit ihren Anschlägen die Staaten der interna- von vornherein ausschließen? tionalen Gemeinschaft zum Rückzug bewegen zu kön- nen. Damit hätten sie genau das erreicht, was sie wollen. Es ist mir besonders wichtig, an dieser Stelle noch einmal anzumerken, dass der Einsatz von Spezialkräften Die Anträge der Linken zielen außerdem darauf ab, nur einen Teilbereich des internationalen Engagements die Bündnissolidarität zu verletzen. Ich sage Ihnen: in Afghanistan darstellt. Der Schwerpunkt liegt eindeu- Wir werden uns unserer Verpflichtung nicht entziehen. tig auf dem sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Unsere Partner können sich auf den Einsatz auch unserer des Landes. Soldaten verlassen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall des Abg. Karl-Theodor Freiherr zu der SPD) Guttenberg [CDU/CSU] sowie des Abg. Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]) Um diese wichtige zivile Aufbauarbeit zu ermöglichen, ist die Sicherheitskomponente in unserer Strategie aller- Es sind 26 Nationen, die sich an der Operation Enduring dings unabdingbar. Sollte diese Säule wegfallen, wie Sie Freedom beteiligen, darunter elf, die nicht der NATO an- in Ihrem Antrag fordern, werden auch die Bemühungen gehören, beispielsweise Ägypten, Kenia, Australien und um einen erfolgreichen Wiederaufbau des Landes keine Neuseeland. Auch diesen Ländern gegenüber sind wir (B) Chance mehr haben, sich gegen die zerstörerischen An- (D) verpflichtet, wie wir in Westfalen sagen würden, hier strengungen der Taliban durchzusetzen. „Poal“ zu halten. Allein in den letzten zwei Jahren sind in Afghanistan Die Bedrohung durch die Taliban betrifft auch uns in fast 100 Entwicklungshelfer ums Leben gekommen. In Deutschland. Auch unsere Sicherheit hängt entscheidend nur 18 Monaten wurden über 200 Attentate auf Lehrer, von der Entwicklung in Afghanistan ab; denn die Aktivi- Schulen und Schüler verübt. Aus einigen südlichen Pro- täten der Taliban und insbesondere von al-Qaida be- vinzen des Landes haben sich Entwicklungshilfeorgani- schränken sich nicht auf Afghanistan. Die Anschläge in sationen aufgrund der instabilen Sicherheitslage bereits London, Madrid, Istanbul und nicht zuletzt der beabsich- vollständig zurückgezogen. tigte Kofferbombenanschlag in Deutschland illustrieren das auf deutliche Weise. Wenn Sie, lieber Kollege Gehrcke, in den letzten Tagen aufmerksam Zeitung gele- Vizepräsidentin Petra Pau: sen hätten, dann dürfte Ihnen nicht entgangen sein, dass Kollege Polenz, gestatten Sie eine Zwischenfrage der der Talibanführer Mullah Obaidullah Achund auch un- Kollegin Hänsel? sere Soldaten vor Ort massiv mit dem Tod bedroht hat. Ich zitiere: Keine der westlichen Truppen werde ver- Ruprecht Polenz (CDU/CSU): schont, Ja. nicht die Deutschen, nicht die Briten, nicht die Ka- nadier und schon gar nicht die Amerikaner. Wir Vizepräsidentin Petra Pau: werden sie alle töten, wir dürsten nach ihrem Blut. Bitte. Vor diesem Hintergrund wäre es absolut unverantwort- lich, Kräfte, die dort dem Schutz unserer Soldaten die- Heike Hänsel (DIE LINKE): nen, abzuziehen. Danke schön, Frau Präsidentin. – Herr Polenz, Sie ha- ben gerade gesagt, dass angesichts der Sicherheitslage (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- die Tornado-Entsendung und auch die Präsenz der Bun- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ deswehr für die zivilen Entwicklungshelferinnen und DIE GRÜNEN) Entwicklungshelfer wichtig sind. Der Ausschuss für Eine wesentliche Aufgabe des KSK ist nämlich die Auf- wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hatte klärung. Wenn wir wollen, dass die Begleitschäden bei eine Reise nach Afghanistan geplant. Diese Reise wurde den Kämpfen mit den Taliban durch präzise Aufklärung unter anderem aus Sicherheitsgründen abgesagt. Uns, 9402 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Heike Hänsel (A) den Ausschussmitgliedern, wurde vom BKA mitgeteilt, Es kann auch nicht in unserem eigenen Interesse sein, (C) dass sich die Situation selbst in Kabul stark geändert hat. dass alle unsere Anstrengungen zum Wiederaufbau des Landes zunichte gemacht werden, wie es die Folge der (Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg [CDU/ Strategie wäre, die uns die Linke anempfiehlt. CSU]: Klassisches Eigentor!) (Heike Hänsel [DIE LINKE]: Die machen Sie Unabhängig davon, ob man der US-Fahne oder der deut- selber zunichte!) schen Fahne zugerechnet wird, ist es in Kabul mittler- weile so, dass man als Besatzer wahrgenommen wird. Bis zum Jahr 2010 stellt Deutschland über 1 Milliarde Die Tornado-Entscheidung hat das Klima in Kabul wei- US-Dollar für den Wiederaufbau des Landes zur Verfü- ter verschärft. gung. Wir müssen mit den uns zur Verfügung stehenden Kräften also auch gewährleisten, dass diese Gelder ihrer Ich wiederhole: Unser Ausschuss – er ist eigentlich Bestimmung gemäß eingesetzt werden können. derjenige, der für das Thema „ziviler Wiederaufbau“ zu- ständig ist – konnte aus Sicherheitsgründen nicht nach Mit Ihrem Antrag beanstanden Sie, dass die Bundes- Afghanistan fahren, weil weder die Bundeswehr noch regierung ihrer Unterrichtungspflicht gegenüber dem das BKA unsere Sicherheit gewährleisten konnten. Parlament nur unzureichend nachkomme. Wenn man Unterrichtung verlangt, muss man natürlich immer ein- (Dr. Uwe Küster [SPD]: Wann kommt das Fra- beziehen, um welche Gegenstände es dabei geht. Es ist gezeichen?) uns allen klar, dass die KSK-Einsätze ihrer Natur nach Das BKA selbst hat einen Zusammenhang zur Tornado- einer besonderen Geheimhaltung unterliegen müssen, Entscheidung und dazu, dass ein Journalist im Aus- wenn sie erfolgreich sein sollen. Das muss zwangsläufig tausch freigelassen wurde, hergestellt. Was sagen Sie zu auch Auswirkungen auf die Art und Weise der Unter- dieser Einschätzung? richtung haben. Der Vorwurf, es werde dann der Grund- satz der Parlamentsbeteiligung – Stichwort: Bundeswehr als Parlamentsheer – verletzt, ist billig, wenn er diesen Ruprecht Polenz (CDU/CSU): Sachverhalt ausklammert und außer Acht lässt. Zunächst einmal bedanke ich mich bei Ihnen für den langen Vorspann, der noch einmal deutlich gemacht hat, Wir hatten gerade am vergangenen Montag eine Un- dass das, was ich zur Sicherheitslage ausgeführt habe, terrichtung über diese Frage; Sie haben darauf hingewie- um weitere Beispiele hätte ergänzt werden können. sen, Herr Kollege Gehrcke. Es gibt jetzt ein zwischen der Bundesregierung und den Fraktionen vereinbartes (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU so- Verfahren. Ich glaube, dass das auch funktionieren kann. (B) wie bei Abgeordneten der SPD und des Von daher finde ich auch diesen Teil der Begründung Ih- (D) BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rer Anträge nicht schlüssig. Das war mir wegen meiner beschränkten Redezeit aber Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal festhal- nicht möglich. ten, warum wir in Afghanistan sind. Nach den Anschlä- (Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das zeigt doch gen vom 11. September hat der Sicherheitsrat der Ver- nur, dass der Krieg verloren ist!) einten Nationen diese Anschläge als Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit – Sie machen den Zwischenruf: „Das zeigt doch nur, qualifiziert und das Recht zur individuellen und kollekti- dass der Krieg verloren ist!“ Wenn Sie damit – wie in Ih- ven Selbstverteidigung unterstrichen. Es ist leider so: ren Anträgen – dafür werben wollen, dass wir uns aus Das Terrornetzwerk al-Qaida mit seinen lokalen und Afghanistan zurückziehen, dann sollten Sie sich als Ers- regionalen islamistischen Strukturen ist noch nicht zer- tes bewusst machen, was das für diejenigen Afghanen schlagen. Die umfassende Bekämpfung des internatio- heißt, die bisher mit uns zusammengearbeitet haben, um nalen Terrorismus ist und bleibt eine zentrale Heraus- dieses Land aufzubauen. forderung für die internationale Gemeinschaft. Deshalb darf auch Deutschland in seinen Anstrengungen in die- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem sem Bündnis nicht nachlassen. BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- Wenn die Taliban an die Macht kämen, wären sie die neten der SPD) Ersten, die die Taliban einen Kopf kürzer machten. Wenn Sie das unter verantwortlicher Politik verstehen Ihr Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit ist völlig – im Grunde liegt auch Ihren Anträgen dieser Geist zu- falsch. Die Operation Enduring Freedom fußt auf einem grunde –, dann sind Sie in der Tat völlig ungeeignet, klaren Mandat der Vereinten Nationen. deutsche Außenpolitik mitzugestalten und mitzubestim- men. (Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Ach was!) (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Wir folgen außerdem einer klaren Aufforderung der [DIE LINKE]: Diese Außen- USA, den Terror gemeinsam zu bekämpfen. Um in die- politik wollen wir nicht mitverantworten! – sem Kampf erfolgreich zu sein, ist ein breites internatio- Weiterer Zuruf von der LINKEN: Das ist nales Bündnis erforderlich, an dem wir uns weiterhin be- Kriegspolitik!) teiligen. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9403

Ruprecht Polenz (A) Wenn die Position der Linken international Schule (Bodo Ramelow [DIE LINKE]: Das machen (C) machte, sozusagen als Beispiel auch für andere diente, Sie schon selber!) wenn sich also alle Bündnispartner so verhielten und ei- nen Rückzug der Kräfte verlangten – die Frage muss Insgesamt glauben Sie nicht, dass die militärische man sich immer stellen, wenn man hier Anträge ein- Komponente einen Beitrag – wir alle sagen, dass es nur bringt –, hieße das, vor dem Terrorismus zu kapitulieren. ein Beitrag sein soll – zur Stabilisierung dieses Landes Das wäre in meinen Augen im Hinblick auf unsere ei- leisten kann. gene Sicherheit unverantwortbar. (Beifall bei der FDP – Zuruf von der LIN- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) KEN: Das sind doch Parlamentstruppen!) Sie können doch nicht bezweifeln, dass wir zur Stabi- Vizepräsidentin Petra Pau: lisierung Afghanistans, zu der wir sehr wohl beitragen Das Wort hat der Kollege Dr. Rainer Stinner für die wollen, sollen und müssen – wir alle wissen, dass wir FDP-Fraktion. dabei besser werden müssen –, eine militärische Kompo- nente brauchen. Es will in Ihren Schädel nicht rein – ich (Beifall bei der FDP) verstehe das einfach nicht –, dass das ein Teil des Gesamtprojekts ist. Dr. Rainer Stinner (FDP): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Das Schöne bei den Anträgen der Linken ist: Die ersten Dem sollten wir hier deutlich Rechnung tragen. drei Sätze sind immer gleich. Ich will aber Folgendes sa- gen: Erstens. Sie bleiben in Ihrer Politik konsequent; das Das wollen Sie nicht verstehen. Wenn ein Staudamm muss ich Ihnen zugestehen. aktuell durch die Taliban bedroht ist, hilft es nicht, hier wolkige Reden zu führen. Wenn ein Staudamm in der (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) nächsten Woche gesprengt werden soll, müssen Sie doch – Jawohl, den Beifall ernte ich immer, wenn ich das eine Antwort darauf geben können, wie Sie das verhindern sage. – Zweitens. Sie sprechen Themen an, die durchaus wollen. Das tun Sie niemals. Nie und nimmer sind Sie diskussionswürdig sind. Drittens. Sie beweisen aber je- bereit, an einer wirklichen Problemlösung teilzuhaben. des Mal aufs Neue, dass Sie weder willens noch fähig (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU sind, zur wirklichen Problemlösung auch nur einen sinn- und der SPD) vollen Beitrag zu leisten. Deshalb kommen Sie viertens in Ihren Anträgen immer zu falschen Ergebnissen. Das Wir stellen uns der Verantwortung. Wir müssen unser (B) erleben wir immer wieder. Handeln vor unserem Volk, vor dem Bundestag verant- (D) worten. Jedenfalls sagen wir: Wir müssen einen Beitrag (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten leisten. – Wir alle wissen, dass der Einsatz in Afghanistan der CDU/CSU) nicht perfekt läuft; entsprechend müssen wir daran arbeiten. Der etwas antiquarische Antrag von 2005, der sich Auch zu Ihnen, Herr Kollege Polenz, möchte ich sagen: mit OEF beschäftigt, betrifft etwas, was wir durchaus Es gibt, was das KSK angeht, durchaus Diskussions- diskutieren. Wir haben im letzten Herbst gemeinsam bedarf, und zwar hier in Berlin und weniger im Hinblick über die Verlängerung von OEF beraten. Wir haben auf den Einsatz in Afghanistan. Hierbei geht es – dieses deutlich gemacht, dass wir das, was OEF insgesamt Thema wurde angesprochen; es muss weiterhin ange- macht, als sehr bedenkenswert und nachdenkenswert an- sprochen werden – um die Information über das, was sehen. Wir werden dieses Thema in diesem Herbst wie- das KSK macht. Da gibt es nach meinem Dafürhalten der aufnehmen und uns damit sehr ausführlich auseinan- sehr wohl Diskussions- und Handlungsbedarf. Wir, die dersetzen. Mitglieder des Verteidigungsausschusses, erhalten durch Sie fordern heute, im März 2007, singulär, sozusagen die Erkenntnisse, die wir dort gewinnen – ich will es als Einzelthema, den Abzug des KSK aus Afghanistan. neutral sagen –, durchaus Anregungen dazu, wie wir in Herr Gehrcke, in Ihrer Begründung haben Sie auf das Zukunft mit dem KSK insgesamt umgehen sollten. Wir KSK kaum Bezug genommen. Sie haben generell Ihr al- Parlamentarier haben hier einen erheblichen Diskussions- tes Argument gebracht, dass jede militärische Interven- bedarf. tion, jede militärische Beteiligung an der Aktion in Af- Obwohl das Parlamentsbeteiligungsgesetz in Kraft ist, ghanistan des Teufels ist. Das ist offensichtlich auch der ist es nach unserer Meinung immer noch vom Goodwill Grund für den heute neu vorliegenden Antrag. der Bundesregierung abhängig, was wir, die Parlamentarier Sie wissen wie wir, dass man nicht Teile eines Man- – ich spreche alle Parlamentarier an, die nicht Teil der dats herausnehmen kann; das ist gar nicht möglich. Sie Regierung sind –, erfahren. Das müssen wir ändern. Wir, können das Mandat insgesamt ablehnen oder annehmen, die FDP-Fraktion, haben einen praktikablen Vorschlag nicht aber nur Teile daraus. Deshalb ist der Antrag, den gemacht: die Einsetzung eines Entsendeausschusses. Sie heute eingebracht haben – im Widerspruch zu dem, (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das was Sie behauptet haben –, nicht politisch, sondern po- wäre falsch!) pulistisch motiviert. Es geht Ihnen gar nicht darum, Pro- bleme zu lösen; es geht Ihnen darum, das KSK zu dämo- Lieber Kollege Siebert, ich bin mir – auch aufgrund nisieren. dessen, was wir jeden Mittwochnachmittag erfahren – 9404 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Dr. Rainer Stinner (A) sehr sicher, dass wir am Ende die Situation in dieser Aber machen Sie sich bitte eines klar: dass KSK- (C) Frage deutlich verändern werden, dass wir zu einer prag- Einsätze in erster Linie ausgeführt werden, um einen matischen Lösung kommen werden, Informationsvorteil zu erringen. Voraussetzung hierfür aber ist, dass der Überraschungseffekt, der nun einmal (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das wesentlicher Bestandteil eines erfolgreichen Einsatzes schwächt das Parlament!) ist, nicht dem Informationsinteresse des Parlaments die auf der einen Seite den sehr wohl legitimen Sicherheits- geopfert werden darf. und Geheimhaltungsinteressen Rechnung trägt, auf der anderen Seite aber uns die Möglichkeit gibt, tatsächlich Der Wunsch nach umfassenderen Informationen zu erfahren, was hier passiert. Dafür werden wir uns ein- bleibt dennoch berechtigt und nachvollziehbar. Herr setzen. Kollege Stinner, die Bundesregierung wird sich auch hier an ihre Zusagen halten und zukünftig nicht nur den Die Linke trägt zu solchen Überlegungen nichts bei. Obleuten, sondern auch dem Parlament mehr Einblicke Sie ist nicht bereit, konstruktiv mitzuarbeiten. Deshalb in die Arbeit des KSK gewähren. werden wir ihre Anträge ablehnen. (Beifall des Abg. Gert Weisskirchen [Wies- Schöne Ostern. loch] [SPD] – Paul Schäfer [Köln] [DIE (Beifall bei der FDP – Frank Spieth [DIE LINKE]: Da bin ich aber gespannt!) LINKE]: Aggressiv arbeiten wir nicht; das Der erste Evaluierungsbericht zu OEF liegt vor und stimmt! Das hat nichts mit konstruktiv zu tun!) wurde bereits in den Fachausschüssen beraten. Aber ich sage es noch einmal: Wenn KSK-Einheiten durch Vizepräsidentin Petra Pau: verdeckte Operationen Talibanführer aufspüren und Das Wort hat die Kollegin Petra Heß für die SPD- festnehmen, wenn sie Informationen über mögliche Fraktion. Anschläge und Attentate sammeln, dann gewinnen sie Schlüsselinformationen, die Leben retten können und Petra Heß (SPD): werden. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Einsatz des KSK im Rahmen von ISAF ist durch Die Fraktion Die Linke fordert im ersten ihrer beiden das Mandat selber ebenfalls nicht ausgeschlossen. Er Anträge, den Einsatz des Kommandos Spezialkräfte in kann beispielsweise zum Schutz der Truppe erfolgen, wenn Afghanistan zu beenden. Ihre Meinung lautet: KSK-Soldaten Schlüsselinformationen im Norden zum Erstens. Das Parlament werde nur unzureichend über Beispiel über lokale Warlords sammeln. Diese Aufgabe (B) die Einsätze unterrichtet. ergänzt die Arbeit der PRTs im Norden wirksam und erhöht (D) den Schutz und die Sicherheit der im Rahmen von ISAF Zweitens. Die Einsätze widersprächen dem Charakter eingesetzten regulären Soldatinnen und Soldaten. der Bundeswehr als Parlamentsarmee. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Das sind doch Drittens. Der Einsatz des KSK führe zu einer Vermi- keine Pfadfinder!) schung von ISAF und OEF. Das kann man doch nicht einfach beiseite schieben, Viertens. Deutschland solle sich sowieso aus verdeck- meine Damen und Herren. Der Einsatz in Afghanistan ist ten Kriegshandlungen heraushalten. gefährlich, und das KSK kann durch Aufklärungsarbeit (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Paul das Leben unserer Soldatinnen und Soldaten, aber auch Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Stimmt alles!) der Verbündeten retten. Wenn Afghanistan gelingen soll, dann muss die Wiederaufbauarbeit gelingen und mit ihr Lassen Sie mich hierzu Folgendes sagen: Deutschland die Stabilisierung des Landes. Im Übrigen kommt mir in hat sich im Rahmen der OEF verpflichtet, den Abwehr- der Medienlandschaft viel zu kurz, welche Aufbauarbeit kampf gegen den internationalen Terrorismus mit dem dort bereits geleistet wurde und dass sich die Bedingungen KSK, mit der Marine und mit ABC-Abwehrkräften zu für die afghanische Bevölkerung in den letzten Jahren unterstützen. Das Parlament hat dieser Unterstützung spürbar gebessert haben. seinerzeit mit großer Mehrheit zugestimmt. Das Mandat, dem zugestimmt wurde, umfasst explizit das KSK. Damit (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten hat der Bundestag aber auch den Einsatzbedingungen des der CDU/CSU) KSK zugestimmt. Die Einsatzbedingungen des KSK Auch wir waren schon mehrfach in Afghanistan und sind: verdeckte Ermittlung, das Überraschungsmoment haben uns davon überzeugt. Wir haben mit afghanischen und passgerechte Vorgehensweise. Parlamentarierinnen und Parlamentariern gesprochen. Dennoch hat die Bundesregierung bei der letzten Verlän- Es ist einfach so, dass sich die Lebensbedingungen für gerung der OEF zugesagt, die Informationspraxis zu ver- die Bevölkerung wesentlich verbessert haben. Die PRTs bessern, nachdem Kritik an der strikten Geheimhaltung leisten gerade im Norden einen hervorragenden Beitrag der KSK-Einsätze laut geworden war. Die Unterrichtung dazu. Dieser Beitrag darf aber nicht durch die immer pre- über KSK-Einsätze sieht sich dem Wesen des KSK nach kärer werdende Sicherheitslage in Afghanistan gefährdet aber immer mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, werden. Vergessen Sie bitte nicht: Beim Kommando zwischen Geheimhaltungspflicht auf der einen Seite und Spezialkräfte handelt es sich um Spezialisten, die einen Unterrichtungspflicht auf der anderen Seite zu vermitteln. enorm hohen Einsatzwert besitzen, einen Wert, der, wie Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9405

Petra Heß (A) schon gesagt, Leben schützen kann und der nicht leicht- sind, und bekräftige am 4. Oktober 2001 die Beistands- (C) fertig aufs Spiel gesetzt werden darf, schon gar nicht für pflicht der Bündnispartner. etwaige Profilierungsversuche. (Gert Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das Beide Mandate, ISAF und OEF, hat der Bundestag steht dort drin! – Bodo Ramelow [DIE LINKE]: 2001 beschlossen, und beide Mandate wurden auch immer Was hat das mit Afghanistan zu tun?) wieder verlängert. Der Einsatz des KSK ist sinnvoll und – Das hat etwas mit den Mandaten zu tun, deren Zurück- besonders wirksam, weil er als offensiver Akt unter OEF nahme Sie fordern. und als fester, unverzichtbarer Beitrag zu ISAF nicht wegzudenken ist. Die populistische, im Kern gegen die Der UN-Sicherheitsrat hat in der Resolution 1368 die USA zielende Forderung eines generellen Abzugs des KSK Anschläge vom 11. September verurteilt und dabei aus- entspricht nicht den Leistungen dieser Elite und gefährdet drücklich das Recht zur individuellen und kollektiven zudem die Sicherheit der in Afghanistan stationierten Selbstverteidigung bekräftigt. In späteren Resolutionen Soldatinnen und Soldaten. haben der UN-Sicherheitsrat und mit großer Mehrheit auch die afghanische Bevölkerung die Rolle von OEF (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) bei der Sicherung der Wahlen in Afghanistan ausdrücklich Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum zweiten gutgeheißen. Antrag der Linksfraktion sagen. Selten habe ich zwei (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wie hat sie Anträge gelesen, die so redundant waren wie die hier das gemacht? – Weiterer Zuruf von der LIN- vorliegenden. Zweimal die gleichen – es sind seit 2005 KEN: Jetzt aber nicht mehr!) die gleichen – Argumente gegen das KSK; nur hält doppelt hier nicht besser, sondern wirkt zweifach unglaubwürdig. In anderen Resolutionen werden die internationalen Anstrengungen zur Bekämpfung des Terrorismus im Aber der zweite Antrag geht noch weiter. Die Links- Einklang mit der Charta der Vereinten Nationen aus- fraktion hat mit dem KSK im ersten Antrag nur Anlauf drücklich unterstützt. Ich brauche nicht auf die weiteren genommen, um im zweiten Antrag gleich noch die Beendi- Artikel und UN-Beschlüsse einzugehen. Ich glaube, Sie gung von OEF und der Operation Active Endeavour zu wissen genau, worum es geht. Wie Sie hier vorgehen und fordern. Ihren Antrag begründen, ist es die reine Heuchelei. (Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE]) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Jetzt wird es interessant: Die Linksfraktion fordert nun Wie gesagt: OEF trägt dazu bei, dass ISAF gelingt. sogar, den Abzug der Bundeswehrkontingente im Rahmen Während ISAF dazu beiträgt, die friedliche und demo- der OEF und der Operation Active Endeavour insgesamt (B) kratische Entwicklung in Afghanistan zu fördern und (D) einzuleiten. Darüber hinaus sollen die für den militärischen zu festigen, gewährleistet OEF den Schutz vor einem Einsatz vorgehaltenen Mittel für zivile Projekte vor Ort Wiedererstarken der Taliban und noch bestehender terro- verwendet werden. ristischer Verbände. Lässt man diesen Zusammenhang Als Begründung führt die Linksfraktion die bereits im bewusst beiseite, um durch populistische Forderungen ersten Antrag genannten Argumente an. Allerdings gip- auf sich aufmerksam machen zu können, gefährdet man felt sie diesmal in der Behauptung, der Bündnisfall nach damit nicht nur den Wiederaufbau in Afghanistan, sondern Art. 5 des NATO-Vertrages und die ihm zugrunde lie- vor allen Dingen die Sicherheit und das Leben unserer gende Verteidigungssituation gemäß Art. 51 der UN-Charta im Einsatz befindlichen Soldatinnen und Soldaten. Das seien nicht gegeben. zeigt uns erneut Ihre außenpolitische Verantwortungs- losigkeit. (Frank Spieth [DIE LINKE]: Genau das ist der Fall!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU – Frank Spieth [DIE LINKE]: Wir In der Tat beruht OEF nicht auf einem ausdrücklichen halten sehr viel von der deutschen Verfassung!) Beschluss des UN-Sicherheitsrates, sondern auf dem Recht zur kollektiven Selbstverteidigung der USA sowie Im Übrigen wünsche ich Ihnen allen ein frohes Oster- auf der Beistandspflicht der Bündnispartner der NATO. fest. (Dr. Uwe Küster [SPD]: Richtig!) (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Art. 51 der UN-Charta gibt aber jedem Mitglied das Recht auf Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Vizepräsidentin Petra Pau: Angriff, bis der UN-Sicherheitsrat geeignete Maßnahmen Das Wort hat der Kollege Winfried Nachtwei für die zur Sicherung des internationalen Friedens getroffen hat. Fraktion des Bündnisses 90/Die Grünen. Art. 5 des NATO-Vertrages wiederum sieht eine Beistands- pflicht aller Bündnispartner vor, wenn einer von ihnen Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): im Sinne von Art. 51 der UN-Charta angegriffen wird. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im November 2001 gab der Deutsche Bundestag den (Zuruf des Abg. Frank Spieth [DIE LINKE]) Auftrag an die Bundeswehr, sich an der Operation Am 12. September 2001 hat der NATO-Rat beschlossen, „Enduring Freedom“ zu beteiligen und dabei bis zu dass die Anschläge vom 11. September als Angriff auf 100 Soldaten vom Kommando Spezialkräfte einzusetzen. die USA im Sinne von Art. 51 der UN-Charta anzusehen Das galt für folgende drei Teilaufgaben: Führungs- und 9406 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Winfried Nachtwei (A) Ausbildungseinrichtungen von Terroristen auszuschalten, Vizepräsidentin Petra Pau: (C) Terroristen zu bekämpfen, gefangenzunehmen und vor Das dachte ich mir fast. Gericht zu stellen sowie Dritte von der Unterstützung terroristischer Aktivitäten dauerhaft abzuhalten. Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Damals war uns genauso bewusst wie heute, dass eine Kollege Nachtwei, ich wollte Ihnen vor Ostern noch militärische Bekämpfung des Terrorismus natürlich eine Freude machen. Deswegen frage ich Sie – ich habe nicht die Hauptsache ist, dass es vielmehr auf viele andere extra bis zu diesem Punkt gewartet –: Sie haben den Maßnahmen – auf polizeiliche, geheimdienstliche und Auftrag des KSK verlesen. Ich erinnere mich daran, strukturelle Maßnahmen – ankommt. Aber es wurde auch dass damals, als er erteilt worden ist, selbst der Auftrag deutlich, dass ein Spektrum an militärischer Bekämp- als geheim galt. Sind Sie, ohne dass Sie gegen die Ge- fung unverzichtbar war angesichts des Ausmaßes der heimhaltung verstoßen, in der Lage, dem Parlament zu terroristischen Infrastruktur in Afghanistan, der Unüber- sagen, ob das KSK seinen Auftrag, den es vom Parla- sichtlichkeit des Operationsgebietes und der Operations- ment erhalten hat, in Afghanistan eingelöst hat oder weisen dieser terroristischen Kämpfer. nicht?

Hätte man damals die Kräfte, die vor allem für die di- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): rekte Terrorbekämpfung zuständig sind, nämlich Geheim- Dazu möchte ich ohne Bruch der Geheimhaltungsvor- dienstangehörige und Polizisten, dorthin geschickt, dann schriften antworten: Es ist offenkundig, dass Führungs- wäre das absolut selbstmörderisch und verantwortungslos und Ausbildungseinrichtungen terroristischer Kräfte gewesen. Daher kann man sagen, dass eine militärische ausgeschaltet wurden. Wem das zuzuordnen ist, kann Bekämpfung unverzichtbar und notwendig war. man nicht im Einzelnen sagen. Aber dieses erste Haupt- ziel wurde unstrittigerweise erfüllt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und In „Spiegel“-Ausgaben aus früheren Jahren ist zu le- der SPD) sen, dass KSK-Kräfte zur direkten Bekämpfung und Ge- fangennahme mutmaßlicher Terroristen kaum bis gar Der damals gewählte Kräfteansatz und -einsatz nicht beigetragen hätten. machte aber deutlich, dass es mit dem großen Wort des Bundeskanzlers Schröder von der uneingeschränkten (Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das sagt Solidarität, das viele zu Recht sehr unruhig gemacht hat, der „Spiegel“ und nicht das Parlament!) in Wirklichkeit anders aussah. Das zeigt sich besonders In diesem zweiten Spektrum ist das KSK nach diesen deutlich beim militärischen Beitrag der Bundesrepublik (B) Pressemitteilungen offensichtlich weniger aktiv. Was die (D) zur Terrorismusbekämpfung: Der reale Beitrag ist sehr dritte Frage angeht, komme ich jetzt unmittelbar dazu. – gezielt, sehr maßvoll und sehr bedacht. Es ist immerhin Ich danke Ihnen für diese zeitliche Beihilfe. so – darauf hat schon vorhin ein Kollege hingewiesen –: Es gibt im Grunde keine Waffengattung, mit der so prä- Bei aller grundsätzlichen Notwendigkeit der Opera- zise und im Grunde so verhältnismäßig agiert werden tion „Enduring Freedom“ stellte sich nach unseren Fest- kann wie mit den Soldaten des Kommandos Spezial- stellungen die Art und Weise dieser Operation im Laufe kräfte. der Zeit allerdings als immer kontraproduktiver heraus. Durch die Art des Auftretens und der Operationsführung Die regierungsamtliche Totalgeheimhaltung macht wurden Dritte eben nicht dauerhaft von der Unterstüt- eine Bilanzierung praktisch unmöglich. Dafür leistet sie zung terroristischer Aktivitäten abgehalten. Es wurde of- allerdings auf der einen Seite allen möglichen Mythen fenkundig immer mehr das Gegenteil bewirkt. Deshalb und auf der anderen Seite allen möglichen Generalver- hat unsere Fraktion im letzten Herbst der weiteren deut- dächtigungen Vorschub. Jetzt müsste ich eigentlich im schen Beteiligung an „Enduring Freedom“ nicht zu- Weiteren schweigen. Nur, als Politiker – Sie kennen gestimmt. Dass der Verteidigungsminister – ich sage das – kann man nicht schweigen; man muss unbedingt wieder ausdrücklich: in der Öffentlichkeit – mitgeteilt weiterreden. Ich kann immerhin ohne Geheimnisverrat hat, dass seit Oktober 2005 keine KSK-Kräfte mehr im feststellen – – Rahmen von „Enduring Freedom“ in Afghanistan sind, halten wir für einen Schritt in die richtige Richtung. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Kollege Nachtwei, gestatten Sie eine Zwischenfrage sowie bei Abgeordneten der SPD) des Kollegen Gehrcke? Auf einem anderen Blatt allerdings steht der Einsatz des Kommandos Spezialkräfte zum Schutz von ISAF- (Zurufe von der CDU/CSU und der SPD: Kräften im deutschen Operations- und Verantwortungs- Nein!) bereich im Rahmen von ISAF. Dieser Einsatz war und ist ausgesprochen sinnvoll und, wenn man sich bei deut- Winfried Nachtwei (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): schen ISAF-Soldaten umhört, ausgesprochen ge- Ja. Ich brauche Redezeit. wünscht. Wie man von deutschen Soldaten in Einsatzge- bieten hört, ist dieser Einsatz angesichts der ständigen (Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/ Anschlags- und Angriffsdrohungen, denen sie ausgesetzt DIE GRÜNEN) sind – die Obleute des Verteidigungsausschusses haben Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9407

Winfried Nachtwei (A) das im letzten Oktober in Kabul selbst sehr nachdrück- Situation des deutschen Bildungswesens zitieren. Er (C) lich erlebt –, auch ausgesprochen erfolgreich. stellt fest: In Deutschland lebenden Mädchen und Jun- gen wird das Recht auf Bildung vorenthalten. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU/CSU) (Dorothee Bär [CDU/CSU]: Von wem denn?) In solchen Gefährdungssituationen die Spezialfähigkei- Wenn solch eine grundsätzliche Kritik am deutschen ten des KSK zu verweigern, ist unverantwortlich. Bildungswesen geübt wird, dann kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Aber das ist in den Stel- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lungnahmen der Bundesregierung leider der Fall. Als sowie bei Abgeordneten der SPD) wir im Bildungsausschuss darüber diskutiert haben, hat Deshalb lehnen wir die Anträge der Linksfraktion ab. die Bildungsministerin erstens festgestellt, dass sie die ganze Aufregung nicht verstehe; schließlich sei das Zugleich mahne ich die Bundesregierung dringend, Recht auf Bildung formal verfassungsrechtlich abgesi- die Totalgeheimhaltung in Sachen KSK auf das zum chert. Sie hat uns leider nicht erklärt, was das hilft, wenn Schutz von Operationen und Personen notwendige Maß Muñoz in seinem Bericht feststellt, dass die Realität an- zu beschränken und sich mit dem Bundestag auf eine ders aussieht. echte und direkte Kontrolle von Spezialeinsätzen zu ei- nigen. Das gebietet der Anspruch der Parlamentsarmee, Die Ministerin hat zweitens festgestellt, dass die we- und es liegt nicht zuletzt im Interesse der Soldaten, von sentliche Kompetenz für die Verwirklichung des Rechts denen die politische und militärische Führung den aller- auf Bildung bei den Ländern liege. Sie hat aber auch in höchsten und riskantesten Einsatz verlangt und die nicht diesem Punkt nicht deutlich gemacht, was es hilft, nur im Regen stehen gelassen werden dürfen. mit dem Finger auf die Länder zu zeigen, statt eigene Maßnahmen zu ergreifen, wenn die bildungspolitische (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Situation bundesweit so fatal ist, dass das Recht auf Bil- sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und dung eben nicht eingehalten wird. der SPD) Der Gipfel der Ignoranz und Arroganz war die Fest- Ansonsten wünsche ich nicht nur Ihnen und uns gute stellung, Muñoz habe die Situation in Deutschland nicht Ostern, sondern in den drei vor uns liegenden sitzungs- richtig verstanden, insbesondere das Prinzip des geglie- freien Wochen vor allem auch eine einigermaßen ruhige derten Schulsystems; insofern müsse man den Bericht Entwicklung in Afghanistan; denn die Situation ist dort nicht so ernst nehmen. zurzeit sehr kritisch. Darin sind wir uns, wie ich glaube, einig. ( [CDU/CSU]: Frau (B) Hirsch, zumindest Sie haben es nicht verstan- (D) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN den!) sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP) Für die Linke halte ich fest: Das ist eine falsche, un- zureichende und geradezu dreiste Reaktion, die wir in Vizepräsidentin Petra Pau: dieser Form ablehnen. Ich schließe die Aussprache. (Beifall bei der LINKEN) Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf Wir sind der Auffassung, dass sich auch das Parlament den Drucksachen 16/4674 und 16/121 an die in der Ta- der Verantwortung für eine solche grundsätzliche Kritik gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. stellen muss. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Ich möchte ein weiteres Zitat aus dem Bericht von Vernor Muñoz anführen. Er schreibt, Ich rufe den Zusatzpunkt 6 auf: ... dass hinter den Ungleichheiten im Bildungsbe- Aktuelle Stunde reich eine soziale Ungleichheit steht, die über diese auf Verlangen der Fraktion der LINKEN hinausgeht und sie determiniert. Konsequenzen der Bundesregierung aus den (Beifall bei der LINKEN) UN-Berichten des Sonderberichterstatters, Diese soziale Ungleichheit ist nicht das Ergebnis der Vernor Muñoz, zum deutschen Bildungssys- Schulpolitik in den Ländern, sondern sie ist das Ergebnis tem konkreter politischer Entscheidungen, die Sie treffen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle- (Beifall bei der LINKEN – Dorothee Bär gin Hirsch für die Fraktion Die Linke. [CDU/CSU]: Das glauben Sie doch selber (Beifall bei der LINKEN) nicht!) Es ist unter anderem das Ergebnis Ihrer Steuerpolitik. Cornelia Hirsch (DIE LINKE): Heute Vormittag haben wir über eine weitere Senkung Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! der Unternehmensteuer diskutiert. Man kann auch die Lassen Sie mich aus dem Bericht des UN-Sonderbericht- Hartz-Gesetzgebung anführen, mit der Sie darauf hin- erstatters für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz, zur wirken, dass immer mehr Menschen erpressbar werden 9408 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Cornelia Hirsch (A) und zu Niedrigstlöhnen arbeiten. Sie legen Regelsätze schule“ steht. Wir sind froh, dass wir das jetzt trotzdem (C) fest, die klar zur Folge haben, dass immer mehr Kinder gemeinsam umsetzen können. und Jugendliche in diesem Land in Armut leben. Die (Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Ich kenne Zahlen sprechen für sich. In den Regelsätzen ist kein mich in Berlin besser aus als Sie!) einziger Euro für Schulsachen oder Tagesausflüge vorgesehen. Der Regelsatz für Essen und Trinken eines Wir wünschen uns, dass die Bundesregierung solche 15-jährigen Mädchens beträgt nicht einmal 3 Euro pro Versuche unterstützt und nicht durch verlogene Argu- Tag. – Diese zutiefst unsoziale Politik lehnen wir ent- mente versucht, solche Entwicklungen zu behindern. schieden ab. Ich danke Ihnen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Vor diesem Hintergrund muss man die Debatte über die Schulstruktur noch einmal aufmachen. Wenn Sie sich Vizepräsidentin Petra Pau: hier hinstellen und sagen, die Debatte über das geglie- Wir nehmen die Reden des Parlamentarischen derte Schulsystem sei überzogen und gehöre gar nicht in Staatssekretärs Andreas Storm, des Kollegen Patrick den Fokus der bildungspolitischen Diskussion, man Meinhardt für die FDP-Fraktion, des Kollegen Jörg müsse einfach bei den einzelnen Schulformen ansetzen Tauss für die SPD-Fraktion, der Kollegin Priska Hinz und dafür sorgen, dass die Qualität jeder einzelnen (Herborn) für die Fraktion des Bündnisses 90/Die Schulform hoch ist, dann ist das einfach nur falsch und Grünen und des Kollegen Marcus Weinberg für die verlogen. Unionsfraktion zu Protokoll.1) (Beifall bei der LINKEN) Das Wort hat der Staatsminister für Kultus des Frei- staates Sachsen, Steffen Flath. Bitte. Muñoz hat festgestellt – das wurde auch in allen anderen bildungspolitischen Studien über die Bundesrepublik (Beifall bei der CDU/CSU) Deutschland immer wieder festgehalten –, dass Kinder aus armen Schichten deutlich weniger Chancen haben, Steffen Flath, Staatsminister (Sachsen): auf ein Gymnasium oder eine Realschule zu kommen, Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und als Kinder aus reichen Schichten. Mit Ihrem verzweifel- Herren Abgeordneten! Ich denke, es ist ganz gut, wenn ten Festhalten am gegliederten Schulsystem versuchen ich als Mitglied der Kultusministerkonferenz und aus Sie nichts anderes, als die soziale Ungleichheit zu erhal- Ländersicht, in deren Verantwortung die Bildungsfragen ten und festzuzurren. Das finden wir falsch. in der Bundesrepublik überwiegend liegen, nach dieser (B) Rede von Frau Hirsch zu dem Muñoz-Bericht einige An- (D) (Beifall bei der LINKEN) merkungen mache. Man kann in die Geschichte schauen, um Beispiele zu Sie müssen uns nicht mahnen. Seit Jahren beschäfti- finden, die das belegen. Wenn „Reichtum für wenige gen wir uns in der Kultusministerkonferenz mit den Fra- und Ausgrenzung für viele“ nicht das gesellschaftspoliti- gen, die Herr Muñoz – man sollte übrigens den gesamten sche Ziel Ihrer Politik wäre, sondern Sie Teilhabe für Bericht lesen – angeführt hat. alle erreichen wollten, dann bräuchte es keines geglie- derten Schulsystems, keiner Hauptschule. Die DDR (Jörg Tauss [SPD]: Zwar nicht immer erfolg- hatte nicht ohne Grund ein integratives Schulsystem. So reich, aber immerhin!) wurde sichergestellt, dass alle Kinder zusammen lernen Frau Bundesministerin, ich erinnere mich an die Zeit, können und keine Ausgrenzung erfolgt. in der Sie in Baden-Württemberg Verantwortung getra- (Widerspruch bei der CDU/CSU) gen haben. Ich bin wahrlich nicht unglücklich darüber, dass Sachsen nach 1990 das Schulsystem von Baden- Vernor Muñoz hat das in seinem Bericht sehr deutlich Württemberg und Bayern und nicht das Schulsystem der beschrieben. Er hat gesagt, dass die Diskussion über das DDR als Vorbild gewählt hat. mehrgliedrige Schulsystem „große Angst und Wider- stand“ auslöst, „insbesondere Besorgnis über den Verlust (Beifall bei der CDU/CSU – von Privilegien für diejenigen, die am meisten vom aktu- [CDU/CSU]: Gute Idee!) ellen System profitieren“. Ihre Zwischenrufe bestätigen Natürlich ist über einige Fragen, die Herr Muñoz in dieses Problem. seinem ausführlichen Bericht aufwirft, zu reden. Das tun wir auch. Im Zeitalter der medialen Verkürzung, in dem (Beifall bei der LINKEN) wir leben, sind im Wesentlichen zwei Kritikpunkte öf- Wir sind deshalb sehr froh, dass wir uns in Berlin ge- fentlich bekannt geworden; Frau Hirsch, Sie haben sie in gen die SPD durchgesetzt haben, damit es hier Modell- Ihrem Redebeitrag gerade stark betont. Das eine ist die projekte für ein längeres gemeinsames Lernen geben Kritik am gegliederten Schulsystem. Hier sollten wir kann. keinen Rückschritt machen. Die Kultusminister haben sich viele Jahre sehr ausführlich über diese Frage gestrit- (Jörg Tauss [SPD]: Was?) ten. Wir sind schon ein ganzes Stück weiter, da die Län- Wowereit sagte noch im Wahlkampf, er unterschreibe keinen Koalitionsvertrag, in dem „Gemeinschafts- 1) Anlage 2 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9409

Staatsminister Steffen Flath (Sachsen) (A) der anerkennen, dass man, wenn Schule gut gemacht ist, (Bodo Ramelow [DIE LINKE]: Herr Muñoz (C) mit unterschiedlichen Schulformen zu einem sehr positi- ist kein Deutscher!) ven Ergebnis kommen kann. Lassen Sie uns ruhig einmal mit ein bisschen mehr (Beifall bei der CDU/CSU) Selbstbewusstsein an dieses Problem herangehen! Wir in Sachsen haben nicht das dreigliedrige System; (Beifall bei der CDU/CSU) wir haben uns für ein zweigliedriges entschieden. Wir Das würde den Schülern viel mehr Motivation geben als haben in der Mittelschule den Hauptschul- und den Real- immerzu diese Schlagzeilen. Leider ist der Muñoz-Be- schulbildungsgang zu einer Schulart zusammengefasst. richt zum Anlass genommen worden, um mehr Demoti- Daneben haben wir die Gymnasien. vation in den Schulen zu verbreiten. Unsere Schulen, (Jörg Tauss [SPD]: Und die Welt ist nicht un- insbesondere die Schüler, brauchen Motivation. Daran tergegangen!) sollten wir arbeiten. Dann ist mir nicht bange, dass die eingeleiteten Maßnahmen durchaus zu guten Ergebnis- Damit komme ich zu dem zweiten Kritikpunkt, den sen führen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein ge- Herr Muñoz anführt, der Koppelung von Bildungserfolg segnetes Osterfest. und sozialer Herkunft. Ich will mit einigem Stolz anfüh- Danke schön. ren: Es ist einigen Bundesländern, unter anderem Sach- sen, gelungen, mit der internationalen Spitzengruppe, (Beifall bei der CDU/CSU) nämlich Finnland, Kanada und Japan, auf einer Stufe zu stehen. Das fällt bei Ihnen, den Linken, unter den Tisch. Vizepräsidentin Petra Pau: Jetzt erzähle ich Ihnen einmal, wie das in der DDR Das Wort hat die Kollegin Sevim Dağdelen für die war. Hätte Herr Muñoz jemals eine Schule in der DDR Fraktion Die Linke. besucht und dieselbe Elle angelegt, die er jetzt anlegt, (Beifall bei der LINKEN) (Bodo Ramelow [DIE LINKE]: Schauen Sie sich einmal das finnische Schulsystem an!) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Sehr geehrte Da- dann wäre er zu dem Ergebnis gekommen, dass dieses men und Herren! Heute vor einem Jahr haben sich die System am Ende der DDR ein höchst sozial ungerechtes Lehrerinnen und Lehrer der Rütli-Schule an die Politik Bildungssystem war. Ganze 10 Prozent der Arbeiter- gewandt und um Hilfe gebeten. Heute ist an der Rütli- und Bauernkinder – so hat man damals immer gesagt – Schule Tag der offenen Tür. Man hatte die Gelegenheit, (B) haben noch das Abitur gemacht. sich einen Überblick zu verschaffen über die schulischen (D) (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) und außerschulischen Aktivitäten, die an der Rütli- Schule angeboten werden. Man konnte sich einen direk- Es war ein höchst selektives System. Man hat die Schü- ten Einblick verschaffen. ler acht Schuljahre lang gemeinsam lernen lassen. Am Die Rütli-Schule wurde letztes Jahr zum Synonym für Ende der DDR hat man 8,9 Prozent der Schüler ausge- das bildungspolitische Auslaufmodell in Deutschland: wählt und diese dann zum Abitur geführt. das dreigliedrige Schulsystem. (Jörg Tauss [SPD]: Aber auch nur, wenn man (Beifall bei der LINKEN) nicht aufgefallen ist!) Es hat uns eindringlich gezeigt, wozu Perspektivlosig- Das ist keine Kunst. Sie sollten jetzt, bloß weil Ostern keit und Armut führen können. Ich weiß, wovon ich ist, nicht so tun, als ob uns mit einer Auferstehung von rede. Ich wohne nur ein paar Straßen von der Rütli- linken, ideologischen Patentrezepten geholfen wäre. Die Schule entfernt. haben wir alle ausprobiert. Sie sind im Wesentlichen im letzten Jahrhundert gescheitert. Ich will Ihnen eines sagen, meine Damen und Herren, vor allem Ihnen, Frau Ministerin: (Beifall bei der CDU/CSU) (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Wer regiert denn in Es wäre erfreulich gewesen, wenn Herr Muñoz ein Berlin?) bisschen gewürdigt hätte, dass wir insbesondere nach PISA in den Ländern umfangreiche Bemühungen in die Ich kann, will und werde mich nicht damit abfinden, Wege geleitet haben. Lassen Sie uns diesen Weg jetzt dass wir in einem Land leben, in dem Zehnjährige be- unaufgeregt fortsetzen. Ich glaube, dass uns das mit un- reits alle ihre Träume aufgegeben haben, weil sie wissen, serem Bildungssystem gelingen kann. dass aus Hauptschülern in diesem Lande nichts wird. (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: In Ber- Ich will hier einen kurzen Schwenk machen. Ich lin?) durfte im letzten Jahr die Bundesrepublik beim G-8- Treffen der Bildungsminister vertreten. Wissen Sie, was Das kann nicht unser bildungspolitischer Ansatz sein. mir in Moskau aufgefallen ist? In keinem anderen Land (Beifall bei der LINKEN) dieser Erde wird so geringschätzig über das eigene Bil- dungssystem gesprochen, wie sogenannte Bildungs- Das Recht auf Bildung ist nicht nur ein eigenständi- experten in Deutschland es gelegentlich tun. ges Menschenrecht, sondern auch ein zentrales Instru- 9410 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

Sevim DaðdelenDağdelen (A) ment, um andere Menschenrechte wahrnehmen zu kön- (Beifall bei der LINKEN) (C) nen. Ich möchte Sie auffordern, diese Wahrheiten endlich an- (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Wie zuerkennen und Konzepte zu entwickeln. heißt der Kultusminister in Berlin?) (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Wie Umso kritikwürdiger ist es, wenn bestimmten Menschen heißt denn der Senator? Sagen Sie das doch dieses Recht teilweise oder ganz vorenthalten wird. Ins- mal! – Jörg Tauss [SPD]: Es gibt bereits Ganz- besondere auf diesen Zusammenhang hat auch Herr tagsschulen und Ähnliches!) Muñoz in seinem Deutschlandreport deutlich hingewie- – Selbstverständlich sind auch wir für die Ganztags- sen. Wenn Kinder in Armut aufwachsen, ist die Wahr- schule und für die Einführung eines Rechtsanspruchs auf scheinlichkeit groß, dass sie in ihrer Schullaufbahn kostenlose Kita- und Kindergartenplätze, und das nicht Benachteiligungen erfahren. Umgekehrt mindert eine erst im letztem Jahr. geringe Bildung die Chancen der Menschen, an der Ge- sellschaft zu partizipieren. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD – Dr. Martina Krogmann (Jörg Tauss [SPD]: Das ist völlig richtig!) [CDU/CSU]: Macht es doch in Berlin! Das ist Zu den Betroffenen zählen in unserer Gesellschaft auch doch verlogen, sich hier hinzustellen und so et- die Kinder der Migrantinnen und Migranten, vor allem was von sich zu geben!) die Kinder der Flüchtlinge. Sie leben in prekären sozia- Machen Sie uns das erst einmal nach. len und ökonomischen Verhältnissen. Ich möchte mit Blick auf unsere lieben Zuschauerin- Weil Sie das immer wieder zu leugnen versuchen, nen und Zuschauer sagen, dass man, wenn man sich die möchte ich zur Illustration auf Folgendes hinweisen: Der Liste der Rednerinnen und Redner ansieht, auf eine Un- Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, die vorzei- art aufmerksam wird: Herr Staatssekretär Andreas Storm tig eingeschult werden, ist um etwa ein Drittel geringer, ist anwesend, hat seine Rede aber zu Protokoll gegeben. als es bei deutschen Kindern der Fall ist. Dagegen ist die Herr Jörg Tauss von der SPD ist anwesend, hat seine Zahl der Zurückstellungen bei diesen Kindern etwa dop- Rede aber auch zu Protokoll gegeben. Gleiches gilt für pelt so hoch wie bei deutschen Kindern. Es machen dop- Herrn Swen Schulz. – Wenn Sie hier im Parlament an- pelt so viele von ihnen keinen Schulabschluss, und es wesend sind und an dieser Debatte teilnehmen können, gehen doppelt so viele von ihnen auf die Hauptschule. dann sollten Sie auch mit uns über den überaus wichti- Das hat auch Auswirkungen darauf, wie viele von ihnen gen Bericht von Herrn Muñoz debattieren. die Fachhochschul- oder Hochschulreife erlangen, ob sie (B) eine Berufsausbildung machen und wie das spätere Er- (Dr. Claudia Winterstein [FDP]: Wer hat seine (D) werbsleben verläuft. Rede denn zuerst zu Protokoll gegeben? Sagen Sie das doch auch einmal, Frau Kollegin!) (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Wer re- giert denn in Berlin?) Sehr geehrte Damen und Herren, es sind nicht nur die Kinder der Migrantinnen und Migranten, deren Men- Ich möchte klarstellen: Die Linke teilt die Auffassung schenrecht auf Bildung in Deutschland beschnitten wird. von Herrn Muñoz, dass es sich dabei nicht um ein ethni- Das selektive Bildungssystem der Bundesrepublik sches Problem handelt, sondern um ein soziales Pro- grenzt auch Menschen mit Behinderungen aus. Herr blem. Begreifen Sie das endlich! Muñoz hat am 19. Februar 2007 einen gesonderten Be- (Beifall bei der LINKEN – Dr. Martina richt zur Situation der Schülerinnen und Schüler mit Be- Krogmann [CDU/CSU]: Sagen Sie den Men- hinderungen vorgelegt. Vor dem UN-Menschenrechtsrat schen doch mal, wer in Berlin regiert!) in Genf forderte er die deutsche Politik auf, endlich die Probleme der Ausgrenzung von Menschen mit Behinde- Dass dem so ist, das wird an den eklatanten Unterschie- rungen und des Abschiebens dieser Kinder und Jugendli- den im Hinblick auf die Lesekompetenz der Schüler chen in Sonderschulen aufzugreifen und geeignete deutlich. Schritte zu unternehmen, um gerechte und gleiche Lern- bedingungen zu schaffen. (Zuruf des Abg. Jörg Tauss [SPD]) (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) – Ich möchte Ihnen eines sagen, Herr Tauss: Wenn Sie darauf verweisen, dass Sie das schon seit PISA I und Um für alle Kinder und Jugendlichen einen diskrimi- PISA II wissen, und wenn Ihnen jetzt auch der Muñoz- nierungsfreien Zugang zu Bildung sicherzustellen, be- Bericht bekannt ist, dann muss ich Sie darauf aufmerk- darf es eines Bildungssystems, das an den individuellen sam machen, Bildungsbedürfnissen anknüpft. (Dr. Martina Krogmann [CDU/CSU]: Wer ist (Ilse Aigner [CDU/CSU]: Jetzt wissen wir denn in Berlin Bildungssenator?) aber immer noch nicht, wer in Berlin regiert! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Dann fangt was Brecht in „Das Leben des Galilei“ geschrieben hat: doch in Berlin damit an!) Wer die Wahrheit nicht weiß, ist ein Dummkopf, aber wer die Wahrheit kennt und sie einfach verleugnet, ist Eine Abschiebung und Aussonderung der Kinder von ein Verbrecher. Migrantinnen und Migranten in Sonderschulen aufgrund Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9411

Sevim DaðdelenDağdelen (A) fehlender bzw. mangelhafter Sprachkenntnisse ist nicht Sevim Dağdelen (DIE LINKE): (C) hinnehmbar. Ebenso ist es nicht hinnehmbar, dass Kin- Danke. der mit motorischen Behinderungen allein deshalb, weil (Beifall bei der LINKEN) die entsprechenden Vorrichtungen fehlen, abgeschoben und ausgegrenzt werden. Vizepräsidentin Petra Pau: (Beifall bei der LINKEN – Michael Wir haben die Reden des Kollegen Swen Schulz Kretschmer [CDU/CSU]: Die Redezeit ist zu (Spandau) von der SPD-Fraktion, der Kollegin Dorothee Ende, Frau Präsidentin!) Bär von der Unionsfraktion, der Kollegin Gesine Multhaupt von der SPD-Fraktion, des Kollegen Uwe Ziel muss ein Bildungssystem sein, das die Individualität Schummer von der Unionsfraktion und der Kollegin und die unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder Renate Schmidt (Nürnberg) von der SPD-Fraktion zu zum Ausgangspunkt der Pädagogik macht und ihre indi- Protokoll genommen.1) viduelle Förderung damit verbindet, dass mit- und von- einander gelernt wird. Damit ist die Aktuelle Stunde beendet. Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Abschließend möchte ich noch kurz anmerken – – Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun- destages auf Mittwoch, den 25. April 2007, 13 Uhr ein. Vizepräsidentin Petra Pau: Das geht wirklich nicht mehr, Kollegin Dağdelen. Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimreise, ein erfolgreiches Wochenende und na- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) türlich ein wunderschönes Osterfest. – Das ist kein Grund für Beifallsbekundungen, sondern (Schluss: 15.55 Uhr) schlicht der Geschäftsordnung und der Verabredung zwi- schen den Fraktionen geschuldet. 1) Anlage 2

(B) (D)

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9413

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten

entschuldigt bis entschuldigt bis Abgeordnete(r) einschließlich Abgeordnete(r) einschließlich

Dr. Bartsch, Dietmar DIE LINKE 30.03.2007 Otto (Frankfurt), Hans- FDP 30.03.2007 Joachim Beck (Bremen), BÜNDNIS 90/ 30.03.2007 Marieluise DIE GRÜNEN Pieper, Cornelia FDP 30.03.2007

von Bismarck, CDU/CSU 30.03.2007 Pronold, Florian SPD 30.03.2007 Carl-Eduard Raidel, Hans CDU/CSU 30.03.2007 Blumentritt, Volker SPD 30.03.2007 Runde, Ortwin SPD 30.03.2007 Bulmahn, Edelgard SPD 30.03.2007 Schäfer (Bochum), SPD 30.03.2007 Ernst, Klaus DIE LINKE 30.03.2007 Axel

Ernstberger, Petra SPD 30.03.2007 Schily, Otto SPD 30.03.2007

Friedhoff, Paul K. FDP 30.03.2007 Schmidt (Mülheim), CDU/CSU 30.03.2007 Andreas Glos, Michael CDU/CSU 30.03.2007 Steppuhn, Andreas SPD 30.03.2007 Dr. Götzer, Wolfgang CDU/CSU 30.03.2007 (B) Thiele, Carl-Ludwig FDP 30.03.2007 (D) Gröhe, Hermann CDU/CSU 30.03.2007 Thönnes, Franz SPD 30.03.2007 Heinen, Ursula CDU/CSU 30.03.2007 Wellenreuther, Ingo CDU/CSU 30.03.2007 Hilsberg, Stephan SPD 30.03.2007 Wolf (Frankfurt), BÜNDNIS 90/ 30.03.2007 Hörster, Joachim CDU/CSU 30.03.2007 Margareta DIE GRÜNEN

Humme, Christel SPD 30.03.2007 Anlage 2 Ibrügger, Lothar SPD 30.03.2007 Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Koschorrek, Rolf CDU/CSU 30.03.2007 zur Aktuellen Stunde: Konsequenzen der Bun- Lehn, Waltraud SPD 30.03.2007 desregierung aus den UN-Berichten des Sonder- berichterstatters, Vernor Muñoz, zum deutschen Dr. Lötzsch, Gesine DIE LINKE 30.03.2007 Bildungssystem (Zusatztagesordnungspunkt 6 )

Lopez, Helga SPD 30.03.2007 Andreas Storm, Parl. Staatssekretär bei der Bun- desministerin für Bildung und Forschung: Im Februar Mattheis, Hilde SPD 30.03.2007 2006 hat UN-Sonderberichterstatter Vernor Muñoz Meckel, Markus SPD 30.03.2007 Deutschland bereist, um sich ein Bild vom deutschen Bildungssystem zu machen. Eine gute Woche war Pro- Merten, Ulrike SPD 30.03.2007 fessor Muñoz seinerzeit in unserem Land. In der vergan- genen Woche hat er seinen offiziellen Bericht vor dem Müller-Sönksen, FDP 30.03.2007 Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in Genf vor- Burkhardt gestellt. Herrn Professor Muñoz ist für seinen Bericht zu dan- Nitzsche, Henry fraktionslos 30.03.2007 ken. Über das deutsche Bildungssystem fällt er keines- wegs ein „vernichtendes Urteil“, wie das bisweilen zu 9414 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

(A) lesen war. Er stellt vielmehr fest, dass sich seit Jahrzehn- Eine Gesellschaft, die in Lernen und Leistung nur ein (C) ten die Bildungsbeteiligung und das allgemeine Bil- Relikt aus alten Zeiten sieht, kann Schulen so viel Bil- dungsniveau in Deutschland kontinuierlich verbessern dungsreformen verordnen wie sie will. Sie wird den ge- und die Nachfrage nach höherwertigen Bildungsab- wünschten Erfolg nicht erzielen. Es kann nicht sein, dass schlüssen wächst. Er betont den „hohen Entwicklungs- fast jeder Zehnte die Schule ohne Abschluss verlässt. stand“ unseres Bildungssystems und lobt auch die Maß- Auch läuten ein Schulabschluss oder der Gesellenbrief nahmen von Bund und Ländern, um noch besser zu nicht das Ende des Lernens sein. werden. Besser werden kann und muss man immer. Wir müssen Leistung würdigen und belohnen. Dafür KMK-Präsident Zöllner hat völlig recht, wenn er sagt: brauchen wir einen Mentalitätswandel. Die Stärke eines „Die Diskussion über Schulformen ist sekundär. Es gibt Bildungssystems hat etwas mit dem Klima in einer Ge- keinerlei eindeutige Belege, ob das gegliederte oder das sellschaft zu tun. Da geht es nicht um Strukturen, da geht integrierte Schulsystem besser ist. Auch das dreiglie- es viel grundlegender um den Stellenwert von Lernen drige Schulsystem kann Durchlässigkeit gewährleisten. und Leistung in der Gesellschaft, da geht es um das An- Wenn man allein Diskussionen um die Schulformen sehen all jener, die sich um die Bildung und Erziehung führt, kommt man in der Bildungspolitik keinen Schritt der Kinder und Jugendlichen kümmern. nach vorne.“ Wenn der Bericht von Professor Muñoz dem dient, Worauf es vielmehr ankommt, ist die stärkere indivi- dann hat er einen wichtigen Beitrag geleistet. duelle Förderung des einzelnen Kindes. Die besonderen Anforderungen, die an unsere Schulen gestellt werden Patrick Meinhardt (FDP): Es ist schon bemerkens- – zum Beispiel bei der Integration von Kindern und Ju- wert: Da kommt ein Sonderberichterstatter der Vereinten gendlichen aus sozial schwachen Familien oder jenen Nationen nach Deutschland, um sich einen Überblick mit Migrationshintergrund –, kennen wir. Der im ver- über unser Bildungssystem zu verschaffen. Er trifft Ent- gangenen Jahr von der Bundesregierung gemeinsam mit scheidungsträger aus Politik, Lehrerverbänden, Eltern- der KMK vorgelegte Nationale Bildungsbericht widmete organisationen, Schüler und Studenten. Ein Riesenwir- sich ausführlich dem Thema „Bildung und Migration“. bel wird veranstaltet. Der Sonderberichterstatter reist Das Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderung wieder ab und legt nun, ein Jahr später, seinen Bericht setzen wir in Deutschland so gut um wie nirgendwo vor. sonst. Und die Rolle der Sprachförderung in der früh- kindlichen Bildung haben wir auch ohne diesen Bericht Zunächst muss man feststellen, dass Muñoz in seinem erkannt. Bericht – ganz unabhängig von der Frage, ob der Son- derberichterstatter die deutsche Bildungslandschaft in (B) Gerade das duale System aus betrieblicher und schuli- (D) der ihm zur Verfügung stehenden Zeit wirklich in ausrei- scher Ausbildung trägt seinen Teil dazu bei. Ein Viertel chender Ausführlichkeit begutachten konnte – wenig der höheren Schulabschlüsse werden in der beruflichen wirklich Neues zu bieten hat. So wird in dem Bericht Bildung erworben. So hat zum Beispiel Schweden jetzt beispielsweise hinterfragt, ob es sinnvoll ist, dass in ankündigt, sein international so hoch gelobtes Schulsys- Deutschland die Gliedrigkeit so unterschiedlich ist. Es tem zu reformieren. Vorbild ist das angeblich so gibt Länder mit einem dreigliedrigen Schulsystem, es schlechte deutsche Bildungssystem. gibt Länder mit einem zweigliedrigen Schulsystem und Bildung ist die soziale Frage der Gegenwart. Bildung es gibt leider auch Länder, die den Weg wieder für die schafft die Voraussetzung dafür, dass niemand zum Mo- uralte und schon längst überkommene Einheitsschule be- dernisierungsverlierer wird. Und zwar in zweifacher schreiten wollen. Hinsicht: Bildung ist der Schlüssel für kulturelle, sozia- le, ökonomische und politische Chancen zur Teilhabe, Das Problem unseres Bildungssystems ist doch nicht für individuelle Lebenschancen und für die gesellschaft- die Gliedrigkeit, sondern die häufig mangelnde Durch- liche Entwicklung. Bildung formt nicht nur die Identität lässigkeit. Wir haben die „wundervolle“ Einrichtung der eines Menschen und gibt ihm einen kulturellen Halt in Kultusministerkonferenz. Die ureigenste Aufgabe die- der modernen Welt. Bildung legt auch das Fundament, ser Konferenz ist es, für Durchlässigkeit und die gegen- damit sich jeder einzelne nach seinen Fähigkeiten entfal- seitige Anerkennung der Abschlüsse im deutschen Bil- ten kann. dungssystem zu sorgen. Wenn Herr Muñoz jetzt zu dem doch sehr überraschenden Schluss kommt, dass eben Deshalb passen Bund und Länder gemeinsam unser diese beiden Punkte bei uns nur unzureichend erfüllt Bildungssystem an die Herausforderungen der Zukunft sind, muss man deutlich sagen, dass die KMK seit bald an. Denn Bund und Länder haben aus den vielfältigen 60 Jahren grandios gescheitert ist. Studien der letzten Jahre die richtigen Schlüsse gezogen. Dieser neue Bericht zeigt deutlich: Uns fehlt es nicht Ich möchte hier nur die Bildungsberichterstattung an Erkenntnissen über die Mängel des deutschen Bil- nennen: Sie ist Teil eines umfassenden Monitoringsys- dungssystems. Die sind uns alle längst bekannt. Wir müs- tems, zu dem auch Vergleichsuntersuchungen wie zum sen endlich wegkommen von diesen ewigen Strukturde- Beispiel PISA und Beiträge der Bildungsforschung ge- batten. Wie häufig wollen wir eigentlich noch föderale hören. Den nächsten Bildungsbericht erwarten wir im Debatten führen? Wir brauchen Diskussionen darüber, nächsten Jahr zum Themenfeld: „Übergänge Schule-Be- was die Inhalte der Bildung unserer jungen Menschen rufsausbildung-Hochschule-Arbeitsmarkt“. sein sollen! Welches Wissen wollen wir vermitteln? Wel- Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9415

(A) che Werte wollen wir vermitteln? Wie können wir den den PISA-Ländern ein klarer Zusammenhang darin zu (C) Schülerinnen und Schülern am besten Lernen beibrin- sehen, wie gut sie abgeschnitten haben und wie viel gen? Aber auch: Wie können wir Kindergärten und Kin- mehr Eigenverantwortlichkeit sie ihren Schulen einge- dertagesstätten zu wirklichen Bildungseinrichtungen ma- räumt haben. chen, ohne sie zu verschulen? Lassen wir die Strukturdebatten endlich sein. Nicht Integrativer Unterricht, Unterricht mit stärkerem Mi- die Menschen müssen sich dem Bildungssystem anpas- grationshintergrund, Förderung von e-learning und Fern- sen, sondern das Bildungssystem muss sich den Men- unterricht auch im schulischen Bereich, Stärkung einer schen anpassen. privaten Bildungslandschaft: Die Reglementierungen in diesen Bereichen werden von uns Liberalen seit langem Jörg Tauss (SPD): Man sollte sich bei Herrn Muñoz kritisiert. Diese Reglementierungen werden jetzt auch entschuldigen. Viele Reaktionen auf seine sachlichen im Bericht von Señor Muñoz kritisiert. Wir Liberale füh- und konstruktiven Anregungen sind unverständlich und len uns dadurch bestätigt. arrogant. Dass in dieser Diskussion ein Wettbewerb um die Wenigstens in einem Punkt haben die vielen Kritiker beste Bildung hilft, ist doch völlig klar. Wir brauchen des Berichts von Professor Vernor Muñoz Villalobos keinen von oben diktierten einheitlichen Bildungsbrei. aber völlig recht: Der Bericht enthält wenig Erkenntnisse Die Chancen, dass wir die beste Bildung bekommen, über den Zustand unseres Bildungssystems, die wirklich sind viel höher, wenn 16 Bundesländer in einen Wettbe- neu sind. Das Schlimme ist nur, dass daraus noch nicht werb um die beste Bildung treten, als wenn nur eine in allen Ländern die richtigen Konsequenzen gezogen Bundesregierung daran arbeitet. Seien wir doch froh, worden sind. Nicht erst seit PISA, IGLU und auch dem dass die meisten Länder gerade dabei sind, die besten Nationalen Bildungsbericht sind die negativen Wirkun- Modelle für sich zu finden, und lassen wir ihnen und vor gen unseres überwiegend dreigliedrigen, früh differen- allem den Schulen die Zeit, Ergebnisse zu setzen. Genau zierenden Schulsystems bekannt. Es selektiert die Schü- deswegen soll die Bundesrepublik Deutschland in der lerinnen und Schüler viel zu früh in zumeist drei Schulpolitik wettbewerbsföderalistisch sein. PISA 2 hat Bildungsgänge, wobei die Durchlässigkeit oft nur in eine gezeigt, dass genau dieser Grundgedanke die beste Richtung gegeben ist – nämlich nach unten. Junge Men- Grundlage für eine bessere Bildungspolitik ist. Hören schen aus sozial schwachen Familien oder mit Migra- wir endlich auf, jeden Tag neu in diesem Hohen Haus tionshintergrund haben bei uns bei gleicher Befähigung das Trauerlied auf die nicht vorhandene Bundeszustän- und Begabung schlechtere Bildungschancen. Insgesamt digkeit zu singen. Schule ist Ländersache, Schule bleibt erreichen unsere Schülerinnen und Schüler auch in den Ländersache – Punkt. (B) besten Bundesländern nur knapp den Durchschnitt der (D) Auch die Forderung nach einer stärker pädagogischen Leistungen der Schülerinnen und Schüler in anderen und nicht nur fachlichen Ausrichtung der Ausbildung Staaten. Und weiterhin ist trotz intensiver Beschulung der „Helden des Alltags“ – wie sie unser Bundespräsi- die Integrationsquote von Menschen mit Behinderungen dent genannt hat –, der Lehrer, und einem guten, wirk- etwa in den regulären Arbeitsmarkt viel zu niedrig. lich guten Weiterbildungsangebot für Erzieherinnen und Dies alles ist nicht neu – aber eben nach wie vor Re- Erzieher ist bekannt. Die „Qualifizierung der Qualifizie- alität in Deutschland. Insofern sollte nicht der Überbrin- rer“ muss ein zentrales Thema sein. Dem fühlen wir Li- ger der abermaligen schlechten Botschaft kritisiert wer- berale uns verpflichtet. den, sondern die weiterhin bestehenden Missstände. Wir Wir Liberale fühlen uns außerdem an einem ganz zen- möchten Herrn Professor Muñoz Villalobos daher dafür tralen Punkt des Muñoz-Berichts bestätigt: Er stellt fest, danken, dass er das deutsche Bildungssystem mit all sei- dass die deutschen Schulen im OECD-Vergleich wesent- nen föderalen Untiefen und bildungspolitischen Ver- lich weniger autonom sind als Schulen in anderen Län- schränkungen sowie auch Stärken wie Schwächen fair dern. In der Arbeitsübersetzung des Berichts heißt es und sachorientiert erfasst hat. Es ist ihm außerordentlich wörtlich: „Gemessen am PISA-lndex für Schulautono- gut gelungen. mie verfügen deutsche Schulen über eine geringere Au- Weiterhin gilt es in Deutschland, die richtigen tonomie als die anderen OECD-Schulen im Durch- Schlüsse aus den vorliegenden und zukünftigen Untersu- schnitt.“ Wir fordern schon seit langem mehr Freiheit chungen zu ziehen. So erwarten wir im Herbst 2007 die vor Ort und mehr Eigenverantwortlichkeit für die Schu- dann dritte PISA-Untersuchung. Diese Aufforderung len. Die Schulen wissen in enger Kooperation mit Schü- richtet sich natürlich in erster Linie an die Länder, die für lern und Lehrern selbst am besten, was gut für sie ist. Schulfragen zuständig sind. Die Stellungnahme der Schulen brauchen deutlich mehr Entscheidungsfreihei- KMK verweist zu Recht darauf, dass die Länder die Pro- ten bei Personalangelegenheiten, Budgetfragen, sowie bleme unseres Bildungssystems bereits an vielen Stellen Unterrichtsinhalten und -methoden. auch in Angriff genommen haben. Nicht zuletzt der Bundesländer wie Baden-Württemberg und Nord- Bund hat mit dem erfolgreichen Ganztagsschulpro- rhein-Westfalen, Niedersachsen machen uns vor, wie er- gramm, das in der Großen Koalition verlängert worden folgreich Aufgaben von Verwaltungen von Landes- und ist, einen wichtigen Beitrag dazu leisten können. Er hat Kommunalebene direkt auf Schulen übertragen werden insgesamt 4 Milliarden Euro für den Ausbau von schuli- können und wie so eine Diskussion in Gang gesetzt wer- schen Ganztagesangeboten bis 2009 zur Verfügung ge- den kann. Denn eines ist auch klar: Es ist bei den führen- stellt. Dennoch dürfen wir in unseren Anstrengungen 9416 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

(A) nicht nachlassen, wenn wir es mit der Chancegleichheit system zu „selektiv sei“ und man doch die frühe Auftei- (C) in der Bildung, der Integration sowohl von jungen Mi- lung der Schülerinnen und Schüler überdenken solle. grantinnen und Migranten als auch von Menschen mit Wenn sich nun der amtierende Präsident der Kultusmi- Behinderung ernst meinen. nisterkonferenz, Herr Zöllner, hinstellt und im Fernse- hen verbreitet, das dreigliedrige Schulsystem böte „ge- Dies ist nicht nur eine Frage der Zukunft der Haupt- nügend Durchlässigkeit“, so ignoriert er nicht nur die schule, wie es gegenwärtig oft diskutiert wird. Die Se- Ergebnisse zahlreicher nationaler und internationaler lektivität unseres Schulsystems ist nach wir vor vielmehr Studien, sondern auch Resultate eines Berichts, den er ein grundlegendes Problem, das soziale Benachteiligun- selbst mit in Auftrag gegeben hat. Im Nationalen Bil- gen direkt in schlechtere Bildungschancen hinein verlän- dungsbericht 2006 heißt es nämlich auf Seite 53: „Die gert. Dies ist ein bildungspolitischer Skandal und kann Durchlässigkeit [im deutschen Bildungssystem] ist in nicht oft genug thematisiert werden. Die SPD-Bundes- der Praxis eher gering sowie überwiegend abwärts ge- tagsfraktion steht hier klar an der Seite der bildungsbe- richtet.“ Da hilft auch das schöne Reden von der indivi- nachteiligten Schülerinnen und Schüler und unterstützt duellen Förderung nichts, das inzwischen ja sogar die nachdrücklich die Forderung nach einem möglichst lan- konservativen Lehrerverbände beherrschen. Individu- gen gemeinsamen Lernen in den Schulen. elle Förderung ist gut, wichtig und richtig. Aber sie ist Die Empfehlungen von Herrn Professor Muñoz nicht umsetzbar, wenn man Kinder mit zehn Jahren auf Villalobos sollten Bund und Länder daher ernst nehmen unterschiedliche Schulformen verteilt. und auf den jeweiligen politischen Ebenen auf ihre Um- Auch die Bundesregierung könnte sich hier öffentlich setzbarkeit prüfen. Das heißt natürlich nicht, dass wir deutlicher äußern; in ihren eigenen Berichten tut sie dies alle Empfehlungen eins zu eins umsetzen müssen. So schon. So ist im Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Bil- lehnen wir etwa den Vorschlag von Professor Muñoz dung/Arbeit für den Integrationsgipfel, die unter der Fe- Villalobos zum Homeschooling in Übereinstimmung mit derführung von Herrn Müntefering tagte, zu lesen: der KMK ab. Kinder und Jungendliche sollten nicht in Parallelgesellschaften und Nischen aufwachsen, sondern Eine frühzeitige Aufteilung auf Schulformen er- in ihrem Schulalltag die Werte einer offenen, demokrati- schwert im weiteren Verlauf eine Integration und schen und pluralen Gesellschaft gemeinsam erleben. die Erfolgschancen von Kindern aus sozial benach- Dennoch bleibt die intensive Prüfung der weiteren Emp- teiligten und zugewanderten Familien. fehlungen unverzichtbar. Dies gebietet bereits sowohl Zurzeit gibt es eine Negativauslese. Sozial benachtei- der Respekt vor dem Auftrag des UN-Sonderbericht- ligte und Migrantenkinder werden nach unten durchge- erstatters als auch die unüberschätzbare Bedeutung der reicht. Die Ergebnisse können Sie in vielen Hauptschu- (B) Chancengleichheit in der Bildung für die Zukunft vieler len besichtigen. Daher ist unser System nicht mehr (D) junger Menschen. zukunftsfähig. Heute ist es übrigens ein Jahr her, dass der Brief der Lehrerinnen und Lehrer der Rütli-Schule Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- bekannt wurde, die die Abschaffung ihrer eigenen NEN): Zunächst einmal stimmt es mich sehr nachdenk- Schule forderten. Es ist ein Fakt – das belegen alle Stu- lich, wie so mancher politische Repräsentant dieses Lan- dien über das deutsche Bildungssystem – dass der sozia- des sich im Umgang mit internationalen Gremien le Hintergrund den Bildungserfolg bestimmt. Hier allein gebärdet. Da hören wir, wie sich der Sprecher des nord- auf bessere Sprachkompetenz zu setzen, reicht nicht aus. rhein-westfälischen Kultusministeriums ereifert, Herr Wir brauchen echte Bildungsgerechtigkeit durch umfas- Muñoz habe „offenbar das deutsche Bildungssystem sende Bildungsangebote. nicht verstanden“, sein Bericht sei „völlig unbrauchbar für die bildungspolitische Diskussion“. Oder der Kultus- Muñoz kritisiert in seinem Bericht auch den Umgang minister des Saarlandes empört sich darüber, das deut- mit behinderten Kindern, die selten eine Regelschule be- sche Bildungssystem sein doch „kein Fall für Amnesty suchen, derzeit nur 12 Prozent. Die Bundesregierung International“. lässt durch ihren Botschafter Steiner lapidar mitteilen, das sei doch alles kein Problem. Für behinderte Kinder Hier zeigen sich Ignoranz und auch Missachtung ge- gelte die Schulpflicht, und überhaupt hätten wir doch genüber einem Gremium der Vereinten Nationen, die aus gute Sonderpädagoginnen und -pädagogen. Das ist zy- unserer Sicht nicht hinnehmbar sind. Wir erwarten eine nisch. Behinderte Kinder werden bei uns systematisch deutliche Positionierung der Bundesregierung und keine ausgegrenzt, weil sie auf Sonderschulen abgeschoben Stellungnahme à la „In unserem Bildungssystem ist werden. Diese mögen im Einzelnen eine sehr gute Arbeit schon alles in Ordnung“ wie von Herrn Steiner vor der leisten, aber es ist und bleibt ein Absondern, das echte UN. Die Bundesregierung muss klarmachen, dass sie Teilhabe verhindert. UN-Gremien und ihre Berichterstatter ernst nimmt und Berichtsergebnisse nicht mit dem lapidaren Verweis auf Professor Muñoz hat unser Bildungssystem sehr wohl „Verständnisschwierigkeiten aufgrund soziokultureller verstanden, auch wenn das im Föderalismus-Klein-Klein Interpretationsunterschiede“ abtut, wie die Kultusminis- durchaus manchmal schwer fällt. Ihm zu unterstellen, er terkonferenz dies in ihrem internen Bericht nach der habe sich ja keinen richtigen Eindruck verschaffen kön- Reise von Herrn Muñoz getan hat. nen, weil seine Reise nur ein paar Tage dauerte, ist frech. Es ist verständlich, dass manchen die Kritik peinlich ist; Nun zum Inhalt des Berichts. Ein zentraler Kritik- denn sie ist berechtigt. Die Bundesregierung und die punkt von Professor Muñoz ist, dass das deutsche Schul- Kultusministerkonferenz müssen endlich Konsequenzen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9417

(A) ziehen. Eine andere Struktur und eine bessere Qualität – denen Angebote verzahnt, und die Förderung wird deut- (C) beides ist wichtig für unser Bildungssystem. Alle Kinder licher beschrieben. Aber es wird eine große Aufgabe der werden gebraucht und müssen eine gerechte Chance auf nächsten Jahre und Jahrzehnte sein, die Integration von Teilhabe in unserem Land haben. Kindern mit Migrationshintergrund ins deutsche Schul- system weiter zu entwickeln. Marcus Weinberg (CDU/CSU): Lassen Sie mich Zum Schluss noch zur sogenannten Schulstrukturde- einleitend einiges sagen zu der Frage, wie wir meines batte. Ich teile die Auffassung von Herrn Baumerts, dem Erachtens mit dem Bericht des UN-Sonderberichterstat- Bildungsforscher, und von Herrn Zöllner, dem KMK- ters umgehen sollten. Ich bin der Meinung, dass dieser Präsidenten, dass wir jetzt um Gottes willen nicht eine Bericht wichtig ist und sich einreiht in eine Reihe von Diskussion führen sollten über die Frage der Schulstruk- Berichten und von Vergleichsuntersuchungen über das tur. Es ist nicht wichtig, was draufsteht, sondern was deutsche Bildungssystem. Also sollten wir mit diesem drinnen stattfindet. Das heißt, die Durchlässigkeit und Bericht respektvoll umgehen, aber auch kritisch. Einige die individuelle Förderung müssen im Vordergrund ste- Teile sind im Bericht meines Erachtens durchaus richtig hen. Gerade bei der Schulstruktur haben sich auch ver- dargestellt, sind allerdings schon seit geraumer Zeit, ins- schiedene Länder in den letzten Jahren massiv bewegt. besondere seit den PISA-Untersuchungen, bekannt. Hier In Hamburg wird es demnächst Stadtteilschulen geben, muss das deutsche Bildungssystem nacharbeiten; das in Schleswig-Holstein sogenannte Regionalschulen. Ich machen wir. Einige Teile im Bericht sehe ich als durch- mache an einem Beispiel deutlich, dass hier das födera- aus problematisch und sachlich in der dargestellten Form tive System durchaus positive Elemente mit sich bringt: als nicht richtig an. In Bayern haben wir noch weitestgehend funktionie- rende Hauptschulen – diese werden reformiert mit dem Deutlich muss gesagt werden, dass es auch positive Programm Bayern 2020 –, in Hamburg haben die Haupt- Teile im Muñoz-Bericht gibt. So wird zum Beispiel er- schulen nicht mehr die nötigen Ergebnisse erzielt und wähnt, dass der hohe Entwicklungsstand des deutschen werden deshalb aufgelöst zu sogenannten Stadtteilschu- Bildungssystems zu begrüßen ist. Die Bildungsbeteili- len. Wir sehen also, dass man sich von Land zu Land gung ist kontinuierlich gestiegen, und mittlerweile haben verschieden dieser Problematik angenommen hat, mit 90 Prozent der alterstypischen Jahrgänge einen Ab- durchaus auch verschiedenen Ergebnissen. Ich persön- schluss der Sekundarstufe II. Auch tauchen im Bericht lich bin Anhänger des Modells der Zweigliedrigkeit, die zurzeit durchgeführten Reformen auf. Das deutsche aber – und das ist das Gute am föderativen System – ich Schulsystem reformiert sich in der Verantwortung der will mich nicht festlegen für Bayern oder für Sachsen Länder, beginnend bei der Schulstruktur über die Frage oder für Thüringen. Diese Länder und die Bildungspoli- von Methodik, Didaktik, Qualitätssicherung, Autonomie (B) tiker sollen selbst entscheiden, welches Modell für sie (D) von Schulen, bis hin zur Frage des Ausbaus und der am besten ist. Es darf auf jeden Fall nicht wieder zu Qualitätsverbesserung der vorschulischen Bildung. Das einem Kulturkampf kommen zwischen verschiedenen deutsche Bildungssystem ist in Schwung gekommen und ideologisch bedingten Ansätzen des gegliederten Schul- zieht aus den doch schlechten Daten der Vergleichs- systems und des Gesamtschulsystems. Diese Diskussion untersuchungen die nötigen Konsequenzen. bringt uns nicht weiter. Ich teile nicht die Auffassung des UN-Sonderbericht- Als Fazit bleibt festzuhalten: Der Bericht des Herrn erstatters, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung Muñoz ist wichtig, und er wird sich einreihen in die be- ausgegrenzt werden. Wir haben in Deutschland ein qua- stehenden Berichte und Analysen über das deutsche Bil- litativ hochwertiges System der sonderpädagogischen dungssystem. Die kritischen Punkte sollten herausgear- Förderung, und Kinder mit Behinderung werden in der beitet und dann auch vonseiten der Politik korrigiert Regel im Normalunterricht beschult. Dies erfolgt zum werden. Ich kann für die Fraktion der CDU/CSU deut- Beispiel über sogenannte Integrationsklassen. lich sagen, dass wir diesen Bericht sehr ernst nehmen. Es gilt im Grundsatz immer, dass die individuelle Wir machen aber dort, wo es angebracht ist, die nötigen Förderung der Kinder übergeordnet betrachtet werden kritischen Anmerkungen. muss, und es gilt das Primat der integrativen Förderung. Allerdings kann es auch passieren und kommt vor, dass Swen Schulz (Spandau) (SPD): Dass wir die Aktu- dies nicht möglich ist, und dann, glaube ich, haben wir in elle Stunde über den Bericht des UN-Sonderbericht- Deutschland ein sehr ausgeprägtes Angebot an anderen erstatters für das Recht auf Bildung, Herrn Muñoz, nicht Bildungseinrichtungen. Richtig ist die Tatsache, dass zu einer angemessenen Zeit diskutieren, stimmt mich Kinder mit Migrationshintergrund in Deutschland be- schon etwas traurig. Aber das eigentliche Problem ist nachteiligt sind. Hier allerdings, glaube ich, haben die doch, dass wir für die meisten in dem Bericht angespro- Bundesländer wie auch die Bundesregierung in den letz- chen Fragen hier im Deutschen Bundestag gar keine Zu- ten Monaten wichtige Maßnahmen eingeleitet. Wir wer- ständigkeit haben. den einen nationalen Integrationsplan entwickeln, der insgesamt zum Schwerpunkt hat, wie Kinder mit Migra- Vor ein paar Jahren noch haben wir gemeinsam mit tionshintergrund besser gefördert werden können. Hinzu den Ländern einen kräftigen und wichtigen Impuls für kommt, dass viele Länder – ich nenne das Beispiel Ham- die Schullandschaft gegeben, indem wir das Ganztags- burg – mittlerweile Handlungskonzepte im Bereich der schulprogramm aufgelegt haben. Bei der Föderalismus- Integration entwickelt haben. Hier werden die verschie- reform haben die Ministerpräsidenten aber darauf be- 9418 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

(A) standen, dass der Bund nie mehr helfen darf, um Schule wert. Die Preisträger waren eine Grundschule sowie vier (C) zu verbessern. Das ist grotesk! Und diesen Unfug hat Gesamtschulen. Alles Schulen, in denen gemeinsam ge- auch Muñoz angesprochen. lernt wird. Was sagt uns das? Ich zitiere als Antwort den Bundespräsidenten. Er hat in seinem Grußwort bei der Wo wir Bundespolitiker allerdings sehr wohl noch et- Preisverleihung gesagt: was machen können, das ist der Bereich vorschulischer Bildung. Die heftige familienpolitische Debatte der letz- Die für den Preis nominierten Schulen zeigen zum ten Wochen hat auch einen bedeutenden bildungspoliti- Beispiel vorbildlich, wie behinderte und nichtbe- schen Aspekt. Es ist zum Beispiel in Berlin ganz klar be- hinderte und wie lernschwache und hochbegabte legt: Kinder, die in der Kindertagesstätte sind, gehen viel Schüler erfolgreich gemeinsam unterrichtet werden besser vorbereitet in die Schule und finden sich dort können. schneller und besser zurecht. Insbesondere bei der Sprachkompetenz ist das deutlich. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Lassen Sie uns endlich vernünftig dieses Thema diskutieren anstatt Natürlich gibt es viele Kinder, die wunderbar von den immer nur emotionale Debatten zu führen, die die Eltern Eltern betreut und vorbereitet werden. Doch das ist häu- verunsichern. Wenn das der Effekt des Muñoz-Berichtes fig nicht möglich, nicht gegeben. Ich finde, dass wir da- wäre, hätte er unglaublich viel erreicht. bei auch einen weiteren wichtigen Aspekt nicht verges- sen sollten: Kinder brauchen Kinder! Und so viele Dorothee Bär (CDU/CSU): Ich freue mich sehr, Nachbarskinder gibt es nicht mehr an allen Orten. dass der Sonderberichterstatter der UN Deutschland be- Die Kita ist der Ort, an dem die Grundlagen gelegt sucht hat, um sich einen Eindruck vom deutschen Bil- werden. Die Kita ist eine Bildungseinrichtung und muss dungssystem zu verschaffen. Gleichzeitig frage ich mich auch so behandelt werden: hinsichtlich der Qualifikation jedoch, wie er während seines einwöchigen Besuchs zu des Personals, hinsichtlich der Ausstattung und auch einigen seiner Schlussfolgerungen kommt. Es gibt Bil- hinsichtlich der Gebührenfrage. dungsforscher, die über Jahrzehnte ausführliche Studien zu unserem Bildungssystem gemacht haben. Herr Die SPD setzt sich, ganz im Sinne von Herrn Muñoz, Muñoz benötigt für die Erkenntnisse aus solchen Studien für ein Recht auf Bildung auch vor der Einschulung ein. offensichtlich nur einen flüchtigen Blick auf unser Das beinhaltet, dass dieses Bildungsangebot gebühren- Schulsystem. frei gestellt werden muss. Denn erstens dürfen Einkom- mensschwache nicht abgeschreckt werden, und zweitens Ich möchte dennoch auf einige seiner Kritikpunkte wollen wir gerade eine Mischung haben und nicht durch eingehen. Er schlägt vor, das sogenannte Homeschooling in Deutschland zu stärken. Gleichzeitig möchte er aber (B) hohe Gebühren provozieren, dass Gutverdienende aus- (D) weichen und ihre Kinder nicht in der Kita anmelden. die Chancenungleichheit im deutschen Bildungssystem gemindert sehen. Aber gerade das Unterrichten zu Hause Wir sollten also auch und gerade als Bildungspolitiker festigt doch die Selektivität und – schlimmer noch – im Deutschen Bundestag die Initiativen für Betreuung führt zu Parallelgesellschaften, die wir doch alle verhin- und Bildung von Kindern vor dem Schuleintritt unter- dern wollen. Denn wo sonst als in der Schule lernen Kin- stützen. Wenn die Familienministerin der SPD folgt und der im Austausch mit anderen unsere Werte einer offe- einen ordentlichen Finanzierungsvorschlag macht, kom- nen, demokratischen und pluralen Gesellschaft? men wir auch gegen die beharrenden Kräfte voran. Widersprüchlichkeiten finden sich auch in anderen Der Muñoz-Bericht spricht zu Recht ein Thema an, Bereichen des Berichts. So stellt Herr Muñoz selbst fest, dass in Deutschland kaum einmal sachlich debattiert dass weder PISA noch andere internationale Untersu- wird: die Schulstruktur. Die Frage ist, ob es richtig sein chungen einen schlüssigen Zusammenhang zwischen kann, nach der vierten Klasse, also mit zehn Jahren etwa, Schulsystem und Schulerfolg nachweisen. Dennoch for- über den weiteren Schulweg zu entscheiden. Ich hatte dert er eine Überprüfung des dreigliedrigen Schulsys- nach der Grundschule keine klare Empfehlung für Real- tems und kritisiert es zudem. Außerdem kritisiert er, dass schule oder Gymnasium. Meine Eltern haben es mit dem Kinder mit Behinderung nicht ausreichend integriert Gymnasium versucht. Ich weiß nicht, ob ich studiert würden. Als Vorsitzende der Lebenshilfe in meinem hätte, wenn ich auf die Realschule gekommen wäre. Heimatlandkreis trifft mich dieser Vorwurf besonders. Schließlich sehe ich dort, welche wertvolle und un- Ich weiß, dass das nicht die einzige wichtige Frage schätzbare Arbeit die Lebenshilfe für Behinderte leistet. der Schulpolitik ist. Aber sie gehört auf die Tagesord- Und auch die Integration von Behinderten in unser nung. Wann können wir in Deutschland endlich diesen Schulsystem ist seit langem gang und gäbe. Integrative Irrglauben abräumen, dass Lernen nur in homogenen Modelle gibt es vom Kindergarten bis zur Schule. Gruppen sinnvoll ist? Das ist ständisches Denken aus vergangenen Jahrhunderten! Wenn das richtig wäre, Völlig außer Acht lässt Herr Muñoz gleichzeitig un- müssten unsere Gymnasiasten die besten der Welt sein, ser duales Ausbildungssystem, um das wir weltweit be- sind sie aber nicht. neidet werden und das als Vorbild gilt. In allgemeinbil- denden und beruflichen Ausbildungsgängen erwerben Nun kann ich ja viel erzählen und Herr Muñoz viel 90 Prozent der Jugendlichen einen Abschluss der schreiben. Aber vielleicht hat der Bundespräsident mehr Sekundarstufe II. Der Blick des Sonderbeauftragten al- Autorität? Der hat nämlich 2006 den ersten „Deutschen lein auf die Sekundarstufe I verengt sein Bild des deut- Schulpreis“ verliehen. Das Ergebnis war bemerkens- schen Schulsystems derart, dass es falsch wird. Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9419

(A) Ich gebe Herrn Muñoz recht, dass die frühkindliche terrichten. Allein bei unseren europäischen Nachbarn (C) Förderung weiter verbessert werden kann. Er geht in sei- sind es im Schnitt mehr als 80 Prozent. Wer heute als nem Bericht darauf aber leider nicht weiter ein. Insbe- Schüler auf eine Sonderschule gehen muss, hat nahezu sondere gezielte Sprachförderung ausländischer Kinder keine Chance, auf dem regulären Ausbildungs- oder in vorschulischen Einrichtungen gemeinsam mit den El- Arbeitsmarkt einen Platz zu bekommen. Der ganz über- tern wäre ein solcher Vorschlag, um den Zusammenhang wiegende Anteil landet gleich in den Werkstätten für Be- von Herkunft und Bildungschancen zu verändern. hinderte, aus denen statistisch gesehen nur ungefähr 1 Prozent wieder herauskommen. Schließlich möchte ich noch als Berichterstatterin für das BAföG einige Worte zu Kindern mit Migrationshin- Angesichts dieser Zahlen – diese sind ungeachtet zahl- tergrund sagen. Herr Muñoz behauptet, dass sie in reicher nationaler Absichtserklärungen seit Jahren kon- Deutschland besonders schlecht gestellt sein. Dem wirkt stant – ist doch die Frage mehr als berechtigt, auf welcher die Bundesregierung mit der Novellierung des BAföG Sprosse der Leiter unser Land bei der Verwirklichung des entgegen, indem sie besonders die Förderung von Mi- Menschenrechts auf Bildung für behinderte Kinder. denn granten in den Vordergrund stellt. Ausländische Auszu- tatsächlich steht. bildende, die bereits langfristig aufenthaltsberechtigt sind oder wenigstens bereits lange in Deutschland leben Der Umgang einer Gesellschaft, einer Nation mit be- und eine aufenthaltsrechtliche Dauerperspektive haben, hinderten Kindern und Jugendlichen erfordert nach mei- sollen daher ohne Anknüpfung an eine vorherige Min- ner festen Überzeugung immer wieder neu die Frage desterwerbsdauer der Eltern gefördert werden. nach dem Menschenbild, das dem jeweiligen Bildungs- und Ausbildungssystem zugrunde liegt. Das deutsche Bildungssystem bietet sicherlich Ent- wicklungsmöglichkeiten. Unsere Bundesländer haben Vor diesem Hintergrund wünsche ich mir sehr, dass dafür nicht nur die rechtliche, sondern vor allem auch wir diesen Teil der Kritik aus dem Muñoz-Bericht nicht die sachliche Kompetenz. Deshalb freue ich mich auf einfach nur zurückweisen, so wie es viele Kollegen in ei- eine angeregte Diskussion dieses Themas auf Länder- ner ersten Reaktion getan haben. ebene. Bei der Umsetzung des Menschenrechts auf Bildung sollten wir uns ernsthaft mit diesem Phänomen auseinan- Gesine Multhaupt (SPD): Heute ist ein guter Tag dersetzen. Schaffen wir doch gemeinsam die Vorausset- für alle behinderten Menschen in Deutschland. Ungefähr zungen für ein integratives System. Wichtig dabei ist, zeitgleich zu unserer Plenardebatte unterzeichnet die Be- dass wir die immer noch bestehende und praktizierte hindertenbeauftragte der Bundesregierung, Frau Karin Trennung – schon in der Ausbildung von Erziehern und Evers-Meyer, in New York die Menschenrechtskonven- Lehrkräften – zwischen allgemeinbildenden Pädagogen, (B) tion und das Zusatzprotokoll über die Rechte behinderter Pädagogen mit interkulturellem Schwerpunkt und Son- (D) Menschen. Damit kommt Deutschland einer Forderung derpädagogen überwinden. aus dem Muñoz-Bericht nach. Ich freue mich sehr, dass Wenn Kinder mit Migrationshintergrund, behinderte wir also heute nicht nur reden, sondern nun auch aktuell und nichtbehinderte Kinder sich von früh auf im Kinder- im Interesse der behinderten Menschen in unserem Land garten und in der Schule kennen lernen, schafft dies handeln. Der UN-Sonderberichterstatter analysiert mit Akzeptanz und die Fähigkeit, sich mit Würde zu begeg- seinem Bericht, inwieweit in Deutschland das Men- nen. schenrecht auf Bildung umgesetzt wird. Viele Kollegen haben bereits auf zahlreiche positive Der gemeinsame Weg von klein auf ist zusätzlich Sachverhalte im dem vorliegenden Bericht verwiesen. auch unter volkswirtschaftlichen Aspekten interessant, Bezogen auf die Bildung von behinderten Kindern sind da unter dem Strich viel weniger öffentliche Mittel benö- eine Reihe von anerkennenden Punkten enthalten: Sie tigt werden. haben die gleichen Rechte wie nichtbehinderte Kinder. Lassen Sie mich mit einem Zitat von unserem Alt- Zudem unternehmen alle Bundesländer große Anstren- Bundespräsidenten Johannes Rau schließen: „Men- gungen, um sie individuell zu fördern. Des Weiteren schenrecht und Behinderung: Alle Fragen, die damit zu haben wir gut ausgebildete Sonderpädagogen, in allen tun haben, münden letztlich in die Frage, in welch einer Teilen unseres Landes, und unumstritten geben wir ins- Gesellschaft wir leben wollen. Die Antwort darauf muss gesamt viel Geld für ihre Beschulung aus. Die Anerken- jede und jeder von uns Tag für Tag selber geben.“ nung für dieses Bemühen von vielen Menschen, die täg- lich hier ihre Arbeit tun, kommt in dem Bericht nicht zu Uwe Schummer (CDU/CSU): Das deutsche Bil- kurz, und darum erwähne ich dies auch an dieser Stelle dungssystem ist differenziert. Differenzierung ist ein ganz ausdrücklich. Vorteil, wenn es faire Chancen der Beteiligung für alle Doch nun zu der Kritik: Herr Muñoz kritisiert meines gibt. Menschen sind unterschiedlich. Bildungsstrukturen Erachtens völlig zu recht, dass wir mit diesen Anstren- müssen sich diesen Unterschieden anpassen. Wir haben gungen insgesamt noch nicht erfolgreich genug sind. Las- eine hohe Bildungsbeteiligung; das Recht auf Bildung sen Sie mich dazu nur zwei Zahlenbeispiele nennen: Mit haben wir durch die allgemeine Schulpflicht verankert. unserem System von Sonder- und Förderschulen – den Auch bei den Hauptschülern gelingt es, 85 Prozent nach Rahmenrichtlinien für Körperbehinderte, für Sprachbe- der Schule in Lohn und Brot zu bringen. Die Jugendar- hinderte, für Lernbehinderte, für Geistigbehinderte – ge- beitslosigkeit ist unterdurchschnittlich. In Deutschland lingt es uns bundesweit nur 12 Prozent aller behinderten beträgt sie 9 Prozent, in Finnland 19 Prozent, in Frank- Kinder gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern zu un- reich 25 Prozent. 9420 Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007

(A) Eine Woche Deutschland reichen sicher nicht, um die es auch der Muñoz-Bericht sagt, eine der führenden Bil- (C) gesellschaftliche, kulturelle und föderative Vielfalt auf- dungsnationen; mit Selbstbewusstsein, weil wir in einem zuarbeiten. Ein Blick aus der Distanz kann jedoch hilf- umfangreichen Reformprozess steckern nach dem ein reich sein, um Entscheidungen zu prüfen. Professor folgender Bericht zu besseren Ergebnissen kommen Muñoz hat mit seinem Bericht die engagierte Bildungs- wird. debatte in Deutschland weiter angetrieben. Keine ideolo- Zweitens. Auch wenn vieles nach PISA/IGLU und gische Systemdebatte. Die Wahrheit ist immer konkret: vielen anderen Untersuchungen nicht mehr neu ist, ist Wir müssen Klassengrößen verkleinern, mehr Lehrer die Außensicht eines UN-Sonderbotschafters hilfreich. einstellen, weniger Unterrichtsausfall organisieren – egal in welcher Schulform. Entscheidend ist die gezielte Ein- Drittens. Sie ist hilfreich, weil wir uns, ohne uns in zelförderung. Deutschland hat weniger Abiturienten, Strukturdiskussionen zu verlieren, fragen müssen, ob wir weil wir mit der dualen Berufsausbildung eine eigene nach dem PISA-Schock für alle Kinder und Jugendli- Form gleicher Qualifizierung geschaffen haben. Die Me- chen schon die richtigen Maßnahmen eingeleitet haben. chatroniker-Ausbildung ist wie das Abitur, der Meister- Ohne erste Erfolge der Länder zu schmälern, wird die brief ist wie der Bachelor zu bewerten. Antwort lauten: In einigen Ländern ja, in anderen weni- ger. 43 Prozent der Schüler erreichen das Abitur nicht über das Gymnasium, sondern über den beruflichen Bil- Viertens: Natürlich ist es gut, wenn es in nahezu allen dungsweg. Ländern Bildungspläne für den frühkindlichen Bereich gibt. Nur: Werden sie mit ausreichend Personal mit ent- Wir müssen die Eltern stärker einbeziehen; Integra- sprechender Qualifikation und genügend Zeit auch um- tion ist auch Hausaufgabe. gesetzt? In einigen Ländern ja, in anderen Ländern sind Notwendig ist Breitenbildung, nicht nur Spezialisten. diese Pläne noch zu sehr ausschließlich gedrucktes Pa- Das Berufsprinzip der dualen Ausbildung: Neben dem pier. Staat finanzieren auch die Betriebe mit fast 30 Milliar- Fünftens. Es gibt den Beginn kostenloser Kitas, wie den Euro die Berufsausbildung. zum Beispiel in Rheinland-Pfalz, anderswo gibt es nicht Von 342 Berufsbildern sind aber nur 20 offen für einmal ausreichend kostenpflichtige Plätze, um den seit Hauptschüler. Zugangsbeschränkungen müssen wir be- 1996 verankerten Rechtsanspruch für 3- bis 6-Jährige zu seitigen durch eine qualifizierte Stufenausbildung nach erfüllen, wie zum Beispiel in Niedersachsen. dem Kammervorschlag. Sechstens. Es gibt mehr Ganztagsschulen als noch vor Reformen, die in die richtige Richtung gehen: Ab sieben Jahren mit individueller Förderung und rhythmi- dem vierten Lebensjahr Sprachtest in nordrhein-westfä- siertem Unterricht – Rheinland-Pfalz – es gibt sie nach (B) lischen Kindergärten. Eine gezielte Förderung, wenn wie vor zu selten, und zu häufig sind sie nur die Fortset- (D) Mängel auftreten. Ferner: Ganztagsunterricht. Nicht als zung des Frontalunterrichts in den Nachmittag hinein Zwangsveranstaltung, sondern bedarfsgerecht, um die ohne ausreichende Aufenthaltsräume, ohne sportliche Wahlfreiheit zu verbessern. Ebenso: Mehr Durchlässig- und Freizeitmöglichkeiten, wie zum Beispiel bei G 8 in keit zwischen den Bildungssystemen und Kompetenzen Bayern. aufwerten, egal ob sie schulisch, akademisch oder beruf- Siebtens. Es gibt zunehmend das Ziel individueller lich erworben wurden. Förderung von Kindern. Existieren tut es häufig an pri- Hierzu gibt es einen gemeinsamen Antrag zum Euro- vaten Schulen, seltener an öffentlichen. Es gibt mehr pä- päischen Bildungsraum. dagogische Ausbildung der Lehrer, aber immer noch zu häufig werden Fächer und nicht junge Menschen unter- Für uns ist der Muñoz-Bericht eine gute Momentauf- richtet. nahme. Er wird in die weitere Bildungsberatung einflie- ßen. Achtens. Ja, wir strengen uns an, Migrantenkindern ausreichenden Sprachunterricht zu bieten, der – hier teile ich die Kritik von Professor Muñoz nicht – der Schlüssel Renate Schmidt (Nürnberg) (SPD): Zehn kurze für jedweden Lernerfolg ist. Aber wir sind noch weit Punkte zu dem Bericht von Herrn Muñoz mit seinen 108 entfernt davon, allen Kindern, auch zum Beispiel denen Absätzen. In einer Stunde, die inaktueller nicht sein ohne Ausweispapiere, in ausreichendem Umfang den könnte, weil dieser Bericht landauf/landab bereits disku- Schulbesuch zu ermöglichen. Es wäre hoch an der Zeit, tiert, kritisiert und kommentiert wurde, nur noch nicht endlich den Vorbehalt der Bundesrepublik Deutschland von uns. Dennoch, ich bin ein optimistischer Mensch, zur Kinderrechtskonvention zurückzunehmen. Hier sind deshalb: die Länder am Zug. Erstens. Ich freue mich, dass dem Bericht von Profes- Neuntens. Wir leben in Zeiten der Globalisierung, sor Muños hier, im Ausschuss und durch die Bundesre- diese verlangt von jungen Erwachsenen, also den Eltern, gierung den Respekt erteilt wird, der ihm zukommt. Dies Mobilität und Flexibilität. Tun wir genug, dass unsere hebt sich wohltuend von manch anderen Äußerungen ab. Kinder und Jugendlichen dabei nicht unter die Mobili- Ich freue mich, dass wir diesen Respekt mit der not- tätsbildungsräder kommen? Was tun wir bei allem zu ak- wendigen Selbstkritik, aber auch mit berechtigtem zeptierenden förderalen Bildungswettbewerb, damit der Selbstbewusstsein paaren; mit Selbstbewusstsein, weil Umzug der Eltern nicht regelmäßige Ehrenrunden oder wir nicht wie einige den Eindruck erwecken wollen, bil- sogar Schulartwechsel für ihre Kinder bedeutet? Und: dungspolitisches Entwicklungsland zu sein, sondern, wie Brauchen wir nicht gerade in föderalen Strukturen einen Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 92. Sitzung. Berlin, Freitag, den 30. März 2007 9421

(A) einheitlichen Bildungskern gleichlautend in allen Län- Tagung der Versammlung vom 19. bis. 21. Juni 2006 in (C) derverfassungen? Paris – Drucksachen 16/2600, 16/4248 Nr. 1.1 – Zehntens und letztens. Der Muñoz-Bericht sollte mangels Zuständigkeit auf Bundesebene nicht als Instru- ment zu einer weiteren Schlacht um das dreigliedrige Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Schulsystem verwendet werden. Dabei sollte aber den- Reaktorsicherheit noch die deutsche Einmaligkeit der sehr frühen, der zu Unterrichtung durch die Bundesregierung – frühen Einteilung der Schüler nach Schularten nicht nur zu denken geben, sondern auch zu Konsequenzen führen. Zweiter Bericht über die Substitution risikoreicher durch risikoärmere Biozid-Wirkstoffe und Biozid-Pro- Wir müssen uns fragen: Warum glauben nur wir im dukte, über den aktuellen Sachstand zur Umsetzung der Biozid-Richtlinie und des Überprüfungs-Program- deutschsprachigen Raum, dass eine Einteilung nach Be- mes der Altwirkstoffe sowie der aktuellen Entwicklun- gabungen und zukünftig nach Elternhäusern am besten gen auf EU-Ebene mit zehn Jahren vorgenommen wird? Und warum disku- – Drucksache 16/2909, 16/3194 Nr. 1.1 – tieren wir als Folge davon – wie es Muñoz auch anmahnt – immer wieder über Institutionen und Strukturen und viel zu selten über Bildungsinhalte, Bildungsvermittlung, Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben Bildungslust und Bildungsaufstieg? mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden EU- Vorlagen bzw. Unterrichtungen durch das Europäische Die Konsequenzen davon gehen uns auf Bundesebene Parlament zur Kenntnis genommen oder von einer Bera- nämlich schon etwas an. Frühe Einteilung der Kinder, tung abgesehen hat. ihre mangelnde individuelle Förderung und zu geringe pädagogische Lehrerausbildung bedeuten eine hohe Quote an Schulabbrechern und eine zu niedrige an Abi- Auswärtiger Ausschuss turienten und Studienanfängern. Die Folgen davon trägt Drucksache 16/150 Nr. 1.66 der Bund. Sie schlagen sich in Arbeitslosenquoten und Eingliederungsmaßnahmen, in Mangel an Akademike- rinnen und Akademikern nieder. Die Durchlässigkeit un- Innenausschuss seres Schulsystems ist bisher noch im Wesentlichen eine Drucksache 16/4105 Nr. 2.2 Rutschbahn nach unten. Wenn ein Kind aus einer bil- Drucksache 16/4258 Nr. 2.23 dungsfernen Familie in Bayern bei gleicher Intelligenz eine sechsmal schlechtere Chance hat, das Abitur zu ma- (B) Ausschuss für Wirtschaft (D) chen, als ein Kind aus einer bildungsnahen Familie, dann und Technologie ist das keine Durchlässigkeit, sondern vor allem eine der Drucksache 16/150 Nr. 2.112 größten sozialen Ungerechtigkeiten in Deutschland. Drucksache 16/150 Nr. 2.174 Drucksache 16/2555 Nr. 2.108 Aus diesen zehn Gründen bin ich Herrn Professor Drucksache 16/4105 Nr. 1.6 Muñoz für seinen differenzierten Bericht dankbar, er ist Drucksache 16/4105 Nr. 2.24 kein Skandalbericht, wie ihn manche darstellen wollen, Drucksache 16/4105 Nr. 2.25 er ist in seinen Augen nicht neu, er würdigt die in An- Drucksache 16/4105 Nr. 2.28 griff genommenen Reformen und er ist kein bildungspo- Drucksache 16/4105 Nr. 2.88 Drucksache 16/4258 Nr. 1.6 litisches Ruhekissen, sondern ein Auftrag, in Dankbar- Drucksache 16/4258 Nr. 2.11 keit gegenüber allen Eltern, Lehrern und Lehrerinnen, Drucksache 16/4258 Nr. 2.21 Schülern und Schülerinnen, die sich trotz manchen Wid- Drucksache 16/4258 Nr. 2.61 rigkeiten mühen, das Beste aus sich und aus unserem fö- deralen Bildungssystem zu machen, schnell und effizient zu handeln. Ausschuss für Arbeit und Soziales Drucksache 16/4258 Nr. 2.46

Anlage 3 Ausschuss für Gesundheit Amtliche Mitteilung Drucksache 16/4501 Nr. 2.8 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 Ausschuss für Umwelt, Naturschutz der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den und Reaktorsicherheit nachstehenden Vorlagen absieht: Drucksache 16/3196 Nr. 1.43 Drucksache 16/3196 Nr. 1.46 Drucksache 16/4258 Nr. 2.50 Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Menschenrechte – Unterrichtung durch die deutsche Delegation in der Ver- und humanitäre Hilfe sammlung der Westeuropäischen Union/Interparlamentari- sche Europäische Versammlung für Sicherheit und Vertei- Drucksache 16/2555 Nr. 1.43 digung (WEU/IEVSV) Drucksache 16/4105 Nr. 1.4

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