SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit

Heiko Wimmen Teilen und Herrschen Konfessionalismus und Machterhalt im Arabischen Frühling: , Irak, Libanon und Syrien

S 11 Juli 2014 Berlin

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ISSN 1611-6372

Übersetzung von SWP Research Paper 4/2014, »Divisive Rule«; Übersetzerin: Ina Goertz Inhalt

5 Problemstellung und Schlussfolgerungen 7 Bahrain 7 Politische Auseinandersetzungen und Konfessionalismus 10 Konfessionalismus und der Aufstand von 2011 14 Irak 2011/2013 15 Konfessionalismus und politische Konflikte im Irak 17 Konfessionalismus in den Protestbewegungen von 2011 18 Vom irakischen zum sunnitischen Frühling 19 Libanon 2005/2011 20 Konfession und Staat 21 Konfession, Widerstand und der Aufstand von 2005 22 2011: Ein neuer Beiruter Frühling 25 Syrien 26 Konfession, Macht und Gewalt 27 Konfessionalismus im syrischen Aufstand 31 Schlussbemerkungen und Empfehlungen 33 Empfehlungen 38 Abkürzungen

Heiko Wimmen ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika und Koordinator des SWP-Projekts »Elitenwandel und neue soziale Mobilisierung in der arabischen Welt«. Das Projekt wird gefördert aus Mitteln des Auswärtigen Amtes im Rahmen der Transformationspartnerschaften mit der arabischen Welt sowie der Robert Bosch Stiftung, und kooperiert mit der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem Studienwerk der Heinrich Böll Stiftung sowie dem Institut für Begabten- förderung der Hanns-Seidel-Stiftung.

Problemstellung und Schlussfolgerungen

Teilen und Herrschen Konfessionalismus und Machterhalt im Arabischen Frühling: Bahrain, Irak, Libanon und Syrien

Als im Frühjahr 2011 in Tunesien und Ägypten seit Jahrzehnten regierende Autokraten gestürzt wurden, breitete sich von dort eine Welle des Protests über die gesamte arabische Welt aus. Diese erfasste auch vier Länder, die in ihrer jüngeren Geschichte unter gewalt- samen ethnischen und konfessionellen Konflikten zu leiden hatten und deren Gesellschaften als tief gespal- ten bezeichnet werden können. Bahrain, Irak, Libanon und Syrien unterscheiden sich jedoch erheblich im Hinblick auf die Fähigkeit des Staates, die politische Ordnung zu gestalten und zu bewahren. Der Libanon und der Irak nach 2003 sind Beispiele für schwache Staaten, in denen politische Akteure konfessionelle Gegensätze zur Durchsetzung ihrer Machtansprüche instrumentalisieren und dabei zugleich strategische Interessen externer Schutzmächte betreiben. Im Irak vor 2003, in Syrien und in geringerem Maße auch in Bahrain nutzten autoritäre Herrscher die Instrumente eines starken Staates für Strategien des Teilens und Herrschens, um soziale Akteure davon abzuhalten, ihre Machtposition ernsthaft in Frage zu stellen. Viele Beobachter und politische Entscheidungs- träger befürchteten daher, dass Massenbewegungen wie in Tunesien und Ägypten in diesen Ländern zu destruktiven Konflikten führen könnten. Die Macht- apparate selbst trugen dazu bei, diese Ängste sowohl bei ihren ausländischen Verbündeten als auch bei ihren Anhängern vor Ort zu schüren, um sich selbst als die einzigen Garanten für Stabilität darzustellen. Anhänger der Protestbewegungen verwarfen solche Warnungen von Seiten der Regime als offenkundig eigennützig und beschuldigten ausländische Akteure, strategische Interessen vor demokratische Prinzipien zu stellen. Anfangs muteten solche Sorgen in der Tat über- zogen an. Einigen erschienen sie möglicherweise als Ausdruck derselben abschätzigen (orientalistischen) Denkweise, die die Chancen für Demokratie in der arabischen Welt generell unterschätzt und viele Beobachter daran gehindert hatte, die Erhebungen von 2011 vorherzusehen. Ebenso wie in Tunesien und Ägypten blieben die Protestbewegungen in den hier analysierten vier Staaten zunächst überwiegend fried- lich. Die Aufständischen bedienten sich eines Diskur-

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5 Problemstellung und Schlussfolgerungen

ses, der die Einheit des Volkes gegen die autoritären, gung und Gewalt in der jüngsten Vergangenheit in korrupten und Uneinigkeit stiftenden Eliten betonte. allen vier Staaten gefährliche gesellschaftliche Bis zu einem gewissen Maß erzeugten sie sogar eine Minenfelder erzeugt. Doch es bedurfte konkreter poli- Solidarität, die die tiefen gesellschaftlichen Gräben tischer Entscheidungen, um diese zur Explosion zu überbrückte. Für einen kurzen historischen Moment bringen. Die herrschenden Regime und etablierte poli- schien es geradezu denkbar, dass die Anziehungskraft tische Akteure hatten ein ureigenes Interesse daran, der Proteste die Spaltungen dieser Gesellschaften die friedlichen Bewegungen gegen Machtmissbrauch überwinden könnte. und Korruption in einen gewaltsamen Konflikt zu Damit erhoben diese Bewegungen einen Anspruch verwandeln und so die Bevölkerung zu zwingen, bei mit potenziell gewaltiger politischer Durchschlags- ihnen Schutz zu suchen. Dafür standen ihnen auch kraft. Mit Ausnahme der Kurdengebiete im Irak und in die nötigen Mittel zur Verfügung: Institutionen und Syrien ist die nationale Einheit in allen vier Ländern Anhänger, die zur Gewaltwendung bereit waren, so- ein hochgeschätztes Ideal, trotz – oder vielleicht auch wie Medien, die über diese Gewalt im gewünschten gerade aufgrund – der bestehenden Gegensätze. Die Sinne berichteten. Schließlich profitierten die auf Regierungen und politischen Akteure in diesen Staaten Konfrontation ausgerichteten Hardliner von dem gründen einen erheblichen Teil ihrer Legitimität da- anhaltenden strategischen Wettstreit in der Region, rauf, die Einheit der Nation zu schützen und interne der externe Akteure zur Bereitstellung diplomatischer Konflikte einzudämmen. Die Protestbewegungen und materieller Unterstützung bewegte. setzten ihre eigenen Narrative von nationaler Einheit und Eine Reihe von Unzulänglichkeiten, die typisch für Aussöhnung dagegen und drohten so, dieser Herrschafts- gespaltene Gesellschaften sind, hinderten die Auf- technik den Boden zu entziehen. standsbewegungen überdies daran, das volle Potential Schließlich sollten die Skeptiker Recht behalten. ihrer anfänglich inklusiven Anziehungskraft auszu- Unterstützt von den verbündeten Königreichen der schöpfen. Damit blieb jene breite Solidarisierung über Golfregion schlug das Regime in Bahrain den massi- soziale Gräben hinweg unmöglich, die in Tunesien ven Aufstand in dem kleinsten aller arabischen Staa- oder Ägypten zum Erfolg geführt hatte. Stattdessen ten nieder und verhängte Kollektivstrafen gegen die schwand die konfessionsübergreifende Unterstützung schiitische Bevölkerung. Im Irak dämmte Minister- im Verlauf der Krise immer weiter, und die Bewegun- präsident Nuri Al-Maliki die Proteste durch eine ge- gen lösten sich entweder ganz auf oder wurden selbst schickte Mischung aus Unterdrückung und konfessio- zu Parteigängern in jenen Konflikten, die sie zunächst neller Gegenmobilisierung ein, nur um zwei Jahre zu überwinden gehofft hatten. später eine tödliche Welle konfessioneller Gewalt zu Diese entmutigenden Erfahrungen sollten nicht zu ernten. Libanons »Intifada der Unabhängigkeit« von dem Schluss führen, dass autoritäre Regierungssysteme 2005, das erste und wohl erfolgreichste Beispiel einer die einzig praktikable Lösung für gespaltene Gesell- politischen Massenbewegung in der Region, führte schaften seien, oder gar dazu, dass Deutschland und rasch zu einer erbitterten Konfrontation zwischen Europa solche Herrschaftsformen hinnehmen sollten. sunnitischen und schiitischen Libanesen. Anfang 2011 Wie die Katastrophe in Syrien (und davor in Jugosla- gewann eine Bewegung für »den Sturz des konfessionel- wien) vor Augen führt, schafft die Unterdrückung len Regimes« an Unterstützung, wurde dann aber ethnischer und konfessioneller Konflikte diese nicht schnell selbst wieder von denselben konfessionellen aus der Welt. Im Gegenteil, autoritäre Regime kultivie- Gegensätzen eingeholt. In Syrien erreichten die über- ren solche Gegensätze mindestens genau so sehr, wie wiegend friedlichen Demonstrationen gegen das sie sie eindämmen. Stattdessen sollten Deutschland Assad-Regime bis zum Sommer 2011 enorme Ausmaße, und Europa in allen vier Ländern mit jenen Kräften doch die extrem gewalttätige Reaktion verwandelte zusammenarbeiten, die für konfessionsübergreifende die politische Auseinandersetzung in einen verheeren- Solidarität eintreten, und Initiativen für nationale den konfessionellen Konflikt und Syrien in ein neues Aussöhnung aktiv unterstützen. Wenn diese Ansätze Schlachtfeld für militante sunnitische Islamisten. In erfolgreich sein sollen, ist es darüber hinaus notwen- allen vier Ländern mündeten die Bewegungen in Ge- dig, die Spannungen in der gesamten Region zu redu- walt und eine Vertiefung der Spaltungen. zieren. Dazu muss eine Form der Zusammenarbeit In dieser Studie wird gezeigt, dass diese Entwick- sowohl mit dem Iran als auch mit den Ländern des lung keineswegs unvermeidlich war. Zwar haben Miss- Golfkooperationsrats (GKR) gefunden werden, die die stände und die lebendige Erinnerung an Benachteili- Sicherheitsbelange beider Seiten berücksichtigt.

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6 Politische Auseinandersetzungen und Konfessionalismus

Bahrain

Bereits im Herbst 2010 war es im Vorfeld der Parla- stration statt, deren Teilnehmer ihre Loyalität zur mentswahlen in Bahrain zu einer Welle von Verhaf- Al-Khalifa-Dynastie bekundeten. tungen von Menschenrechtlern und Oppositionellen Bald darauf kam es zu gewaltsamen Auseinander- gekommen.1 Angeregt durch die Ereignisse in Tune- setzungen. Diese wurden von (überwiegend saudi- sien und Ägypten riefen anonyme Online-Aktivisten arabischen) Einheiten der gemeinsamen Streitkräfte Ende Januar 2011 zu einem »Tag des Zorns« auf.2 Am des Golfkooperationsrats (GKR) zum Anlass genom- 14. Februar fanden in 55 Ortschaften in allen Teilen men, am 14. März in den Inselstaat einzumarschieren. des Königreichs spontane Demonstrationen mit meist Drei Tage später wurde der Perlenplatz zum zweiten nur wenigen Hundert Teilnehmern statt. Am Abend Mal geräumt. Die anschließende Welle an repressiven dieses Tages wurde das erste Todesopfer gemeldet. Maßnahmen hatte Züge einer Hexenjagd.4 Heute, fast Das Begräbnis am nächsten Tag war von weiteren drei Jahre später, herrscht nach wie vor Stillstand im Zusammenstößen begleitet, bei denen es zu einem politischen Prozess. Der Nationale Dialog ist zum Er- zweiten Todesfall kam. Daraufhin errichteten die liegen gekommen, und die wichtigsten Oppositions- Demonstranten ein provisorisches Zeltlager auf dem parteien boykottieren das Parlament. In schiitischen Perlenplatz, einem Verkehrsknotenpunkt am west- Wohngegenden kommt es täglich zu Protesten und lichen Rand des Finanzviertels von Manama. Das Lager Ausschreitungen, während Oppositionsführer und wurde am 17. Februar von Polizeikräften geräumt; Aktivisten aufgrund von höchst unglaubwürdigen dabei starben vier weitere Menschen. Als der reform- Beschuldigungen in Haft gehalten werden. willige Flügel des Herrscherhauses zwei Tage später vorübergehend die Oberhand gewann, wurden die Polizeikräfte abgezogen, woraufhin die Demonstran- Politische Auseinandersetzungen und ten den Platz erneut besetzten. In den vier darauf- Konfessionalismus folgenden Wochen wurde der Perlenplatz zu einem Forum für öffentliche Debatten, politische Aktionen Die Ereignisse von 2011 folgten einem seit Jahrzehn- und Großkundgebungen.3 Mit der Zeit stellten die ten wiederkehrenden Muster: Wann immer die Herr- Demonstranten immer radikalere Forderungen: An- scher von Bahrain ihren Machtanspruch in Frage stelle der Reformagenda, die von den offiziellen Oppo- gestellt sahen – durch Forderungen nach Mitbestim- sitionsparteien und Vertretern des Regimes in einem mung, aufgrund von Rivalitäten innerhalb der Dynas- hastig einberufenen »Nationalen Dialog« diskutiert tie oder durch Verlust ausländischer Unterstützung –, wurde, verlangten immer mehr Demonstranten den kamen sie ihren innenpolitischen Gegnern regelmäßig »Sturz von [König] Hamad” und den Übergang zu einer entgegen. Dabei gingen sie jedoch nie so weit, die Kon- Republik. Am 21. Februar fand auf der anderen Seite trolle über Staatsführung und Ressourcen abzutreten. der Stadt unter der Führung von prominenten sunni- Sobald die Bedrohung abgewendet war, wurden die tischen Geistlichen und Politikern eine Gegendemon- vereinbarten Mitbestimmungsmöglichkeiten rück- gängig gemacht oder inhaltlich ausgehöhlt und die anschließenden Proteste gewaltsam niedergeschlagen. So erhielt Bahrain 1973, als das Land den Schutz 1 Jon Marks, »Bahrain Returns to the Bad Old Days«, in: The Guardian, 13.9.2010, mals eine Verfassung und ein Parlament. Als aber die (Zugriff am 23.4.2014). USA zwei Jahre später die Rolle Großbritanniens in 2 Die Facebook-Seite »14. Februar – Revolution in Bahrain« der Region übernahmen, wurde die Verfassung wieder (arabisch), wurde am 26. Januar eingerichtet, (Zugriff am 30.4.2014). 4 Siehe Report of the Bahrain Independent Commission of Inquiry in 3 Amal Khalaf, »Squaring the Circle: Bahrain’s Pearl Round- seiner endgültigen Fassung vom 10.12.2011, about«, in: Middle East Critique, 22 (2013) 3, S. 265–280. (Zugriff am 23.4.2014).

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7 Bahrain

ausgesetzt und das Parlament aufgelöst. Innenpoliti- Dagegen wichen sowohl das Regime als auch die sche Zustimmung erkaufte sich Emir Isa bin Salman Opposition dem Thema der Ungleichbehandlung der Al Chalifa mit Hilfe von steigenden Öleinnahmen. Nach verschiedenen religiösen Gruppen bis in die späten 1989 bewegten der weltweite Demokratisierungstrend 1970er Jahre hinein aus. Diese Ungleichheit hat ihre und das Interesse der USA an einer Stabilisierung der Wurzeln im Prozess der Staatsgründung von Bahrain.7 Region das Regime zu einigen Zugeständnissen an In der Zeit vor der Kolonialisierung im ausgehenden eine sich herausbildende Verfassungsbewegung. So- 18. Jahrhundert hatten Beduinenstämme von der bald sich die Aufmerksamkeit der internationalen arabischen Halbinsel die Kontrolle über Bahrain über- Gemeinschaft und insbesondere der Amerikaner nommen und ein Feudalsystem eingeführt, in dem jedoch auf die Konflikte in Jugoslawien und Ruanda (schiitische) Einwohner durch (sunnitische) Eroberer richtete, wurden weitergehende Forderungen unter- ausgebeutet wurden. Die Etablierung einer modernen drückt, was zu einer regelrechten »Intifada« führte, Administration und Wirtschaft durch die Protektorats- die bis zum Ende des Jahrzehnts andauerte. Als der macht Großbritannien nach 1930 eröffnete vielen neue Emir (und heutige König) Hamad 1999 die Füh- Schiiten die Möglichkeit, durch individuellen beruf- rung des Inselstaats übernahm, versprach er mit der lichen Erfolg der feudalen Abhängigkeit zu entkom- »Nationalen Aktionscharta« zunächst umfassende men. Andere erreichten einen solchen Aufstieg als Reformen und fand damit breite Zustimmung in der Verwalter und Klienten der Feudalherren. Derartige Öffentlichkeit. Nachdem er jedoch seine Machtposition Aussichten zogen auch zahlreiche (meist sunnitische) gesichert hatte und aufgrund der bevorstehenden Einwanderer von der persischen Küste an, die weder Invasion im Irak wieder auf rückhaltlose Protektion mit der Dynastie verwandt waren noch dieser beson- von Seiten der USA rechnen durfte,5 dekretierte dere Loyalität entgegenbrachten. Die Mehrheit der Hamad eine Verfassung, die dem Parlament nur wenig schiitischen Bevölkerung blieb jedoch von dem tatsächliche Mitbestimmung einräumte. Der Zuschnitt wachsenden Wohlstand ausgeschlossen, und der der Wahlkreise garantierte überdies, dass selbst dieses fehlende Zugang zu den Korridoren der Macht führte weitgehend machtlose Parlament von einer königs- zur Vernachlässigung ihrer Stadtviertel und Dörfer. treuen Mehrheit dominiert wurde. Die Gegner der Monarchie stellten jedoch nicht die Die politische Opposition bemühte sich dagegen – ungleiche Behandlung der verschiedenen religiösen meist ohne Erfolg – eine einheitliche Front und ge- Gruppen in den Mittelpunkt ihres Protests, sondern meinsame Strategie zu bewahren. Immer wieder kam konzentrierten sich auf ideologische Diskurse wie es zu Spaltungen von Bewegungen und Parteien in arabischen Nationalismus und Kommunismus. Den »Radikale«, die es ablehnten, machtlose Institutionen Konfessionalismus lehnten sie als rückständig und und Partizipationsinstrumente ohne Substanz zu abträglich für die angestrebten Ziele der Einheit von legitimieren, und »Moderate«, die lieber an einem Nation und Klasse ab. Ihre Mitglieder kamen größten- unvollkommenen Prozess teilhaben wollten als an gar teils aus dem städtischen Raum, wo sie viel Kontakt keinem. So bildete sich im Laufe von sechs Jahrzehn- hatten mit Angehörigen anderer konfessioneller Grup- ten ein Muster heraus, das den Ablauf und die Ergeb- pen. Viele Anhänger der Königsfamilie stammten da- nisse der politischen Auseinandersetzung vorherseh- gegen von den beduinischen Eroberern ab und waren bar machte, bei der sich zudem oft immer wieder die- entsprechend Sunniten. Die Herrscher von Bahrain selben Akteure gegenüberstehen.6 hatten jedoch kein Interesse an der systematischen Bevorzugung einer Konfession gegenüber den anderen.

5 Die USA unterhalten in Bahrain mit einem Zentral- kommando (U.S. Naval Forces Central Command) und der 7 Zum folgenden Narrativ siehe Fuad I. Khuri, Tribe and State 5. US-Flotte ihren wichtigsten Flottenstützpunkt in der in Bahrain. The Transformation of Social and Political Authority in an Region. Er diente als Hauptstützpunkt für die »Operation Arab State, Chicago 1980; Abdulhadi Khalaf, Contentious Politics Iraqi Freedom« im Jahr 2003. in Bahrain, Oslo, August 1998, , 1998; Ute Meinel, Die Intifada im Ölscheichtum sondern auch die oppositionellen und allgemein politischen Bahrain. Hintergründe des Aufbegehrens von 1994–98, Münster Aktivitäten werden oft innerhalb der Familie tradiert. Viele 2002; Justin Gengler, Ethnic Conflict and Political Mobilization in prominente Aktivisten setzen die Arbeit ihrer Väter oder Bahrain and the Arab Gulf, PhD Thesis, Ann Arbor, 2011, (Zugriff jeweils am 1990er Jahre. 23.4.2014).

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8 Politische Auseinandersetzungen und Konfessionalismus

Vielmehr strebten sie danach, königstreue Verbündete Netzwerke politischer Mobilisierung zu verwandeln. in allen Bevölkerungsgruppen zu gewinnen, nicht Die daraus entstandenen Bewegungen traten an die zuletzt unter schiitischen Geistlichen, um so den Stelle der traditionellen, städtisch geprägten Opposi- gefährlichen Einfluss säkularer Ideologien auf die tionsparteien.9 unteren Schichten zu begrenzen. Zur königlichen Hardliner innerhalb der Königsfamilie trugen durch Klientel gehörten auch viele Schiiten, die ihre gesell- tendenziöse Kommentare zur Verschärfung konfessio- schaftliche Position auf diesem Wege verbessern neller Spannungen bei.10 Hinzu kam die aktiv geför- konnten. derte Zuwanderung (meist sunnitischer) Arbeitskräfte Die iranische Revolution von 1979 veränderte diese aus Pakistan, Syrien und Jordanien. Diese Arbeitnehmer Gleichung von Grund auf. Mit seiner weitgehend ent- besetzten die Stellen, die man den bahrainischen Schii- rechteten schiitischen Mehrheit und seiner autoritä- ten aus Misstrauen verwehrt hatte, insbesondere in ren, prowestlichen Regierung bot sich Bahrain als Ziel den Polizeikräften. Die schnelle Einbürgerung dieser für die Pläne Irans an, seine Revolution zu »exportie- Zuwanderer wurde auf Seiten der Schiiten als Teil ren«. Es ist nach wie vor umstritten, in welchem Aus- eines groß angelegten Plans aufgefasst, das demo- maß Teheran im Rahmen dieser Bestrebungen sub- grafische Gleichgewicht zu ihrem Nachteil zu ver- versive Aktivitäten in Bahrain unterstützt hat,8 aber ändern. Anstatt die historischen Gegensätze durch dieser Verdacht vergiftet seither die Beziehung zwi- eine integrative Politik zu überwinden, arbeitete der schen dem bahrainischen Staatsapparat und seinen Staat von Bahrain nach 1990 aktiv an der Vertiefung schiitischen Bürgern. Zweifel an der Loyalität bahrai- dieses Grabens und brachte dadurch seine schiitischen nischer Schiiten führten in einer Zeit sinkender Öl- Bürger immer mehr gegen sich auf. einnahmen und steigender Arbeitslosigkeit zur Aus- Symptomatisch für den engen Zusammenhang von grenzung dieser Bevölkerungsgruppe in vielen Be- sozialer Benachteiligung und konfessionellen Gegen- schäftigungsfeldern. Da der wirtschaftliche Schwer- sätzen war die breite Unterstützung des schiitischen punkt des Inselstaats sich seit den 1980er Jahren Teils der Bevölkerung für die Nationale Aktionscharta zunehmend auf den Einzelhandel, die Finanzbranche des neuen Emirs Hamad im Jahre 1999. Neben sozia- und den Tourismus verlagerte und der Grad gewerk- len Reformen wurde auch eine Verringerung der Zahl schaftlicher Organisation zurückging, sank die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte angestrebt, um so der bahrainischen Jugendlichen, die über einen Stellen für bahrainische Arbeiter frei zu machen. Arbeitsplatz im städtischen, konfessionell gemischten Bewohner von Sitra, einer traditionellen Hochburg des Umfeld (oder überhaupt über einen Arbeitsplatz) schiitischen Widerstands, feierten den Herrscher und verfügten und die Erfahrung einer interkonfessionel- len Solidarität im Dienste gemeinamer Interessen hätten machen können. Gleichzeitig wurde Wohn- raum in den gemischten Vierteln in der Innenstadt von Manama selbst für diejenigen unerschwinglich, die noch Arbeit hatten. Infolge dieser Entwicklung 9 Fred H. Lawson »Repertoires of Contention in Contempo- gelang es einer neuen Generation junger, im Iran rary Bahrain«, in: Quintan Wiktorowicz (Hg.), Islamic Activism: A Social Movement Theory Approach, Bloomington 2003, S. 89– ausgebildeter schiitischer Geistlicher mit einer klaren 111. sozialpolitischen Agenda, schiitische Moscheen und 10 Scheich Khalid Bin Hamad (Cousin zweiten Grades des Gemeinschaftszentren am Rande der Hauptstadt in gegenwärtigen Herrschers) schrieb 1995 ein berüchtigtes Gedicht, in dem er vorschlug, die schiitische Bevölkerung auf 8 Beispielsweise verhaftete die bahrainische Regierung Ende entlegene Inseln zu deportieren, siehe Justin Gengler, »Royal 1981 Mitglieder der vom Iran ideell und materiell geförder- Factionalism, the Khawalid, and the Securitization of ›the ten Islamischen Front für die Befreiung Bahrains (IFLB) unter Shī‘a Problem‹ in Bahrain«, in Journal of Arabian Studies, 3 dem Vorwurf, terroristische Anschläge zu planen, um einen (2013) 1, S. 53–79. Ein später deportierter Berater der Königs- allgemeinen Aufstand der schiitischen Bevölkerung zu initi- familie behauptete in einem 2006 verfassten Bericht, ein ieren. Ein Überblick über angebliche iranische Komplotte geheimes Netzwerk entdeckt zu haben, das von diesen Hard- gegen Bahrain findet sich bei Mitchell A. Belfer, »The Four- linern innerhalb der königlichen Familie unterstützt werde, teenth Province: The Irano-Bahraini Conflict in Perspective« um schiitische Parteien und in der Öffentlichkeit stehende (Editor’s Note), in: Central European Journal of Security Studies, 5 Persönlichkeiten zu diskreditieren, siehe Bahrain Center (18.7.2011) 2, S. 6–18, (Zugriff am 23.4.2014). (Zugriff am 24.4.2014).

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trugen ihn auf Händen.11 Der Widerstand gegen das Solche Unterstützung verlieh dem Aufruf eine Zug- bahrainische Regime wurde zwar nach 2000 von poli- kraft, die er ansonsten nicht erreicht hätte. Aber sie tischen Kräften mit ausgeprägtem schiitischem Hinter- verstärkte zugleich den Eindruck, die Protestbewegung grund dominiert, aber gleichwohl ging es dabei vor- sei nur ein weiterer Versuch »der Schiiten«, ihre Situa- wiegend um Mitbestimmung und soziale Gerechtig- tion zu verbessern – unweigerlich auf Kosten von keit und nicht um Glaubensfragen. anderen Bevölkerungsgruppen – oder, schlimmer noch, religiöse und politische Normen nach iranischem Vorbild einzuführen. Um diesem Verdacht entgegen- Konfessionalismus und der Aufstand von zuwirken und so viele Menschen wie möglich an- 2011 zusprechen, wandten die Initiatoren verschiedene Taktiken an. Aggressivere Varianten des etablierten Die ersten Aufrufe zum »Tag des Zorns« gingen von Protestrepertoires, insbesondere Straßenblockaden anonymen Online-Aktivisten aus, fanden jedoch schnell mit brennenden Reifen, wurden vermieden, stattdes- Unterstützung auf Seiten illegaler politischer Grup- sen wurde Gewaltlosigkeit propagiert.14 Um den kon- pen aus dem schiitischen Milieu, wie etwa Al-Haq oder fessionsübergreifenden Charakter der Bewegung deut- Al-Wafa, und der in London ansässigen bahrainischen lich zu machen, wurde die Beteiligung bekannter Freiheitsbewegung (Bahrain Freedom Movement). Die sunnitischer Politiker herausgestellt;15 überall sah größte Oppositionspartei Al-Wifaq – angeführt von man Schilder und Transparente, auf denen Solidarität dem schiitischen Geistlichen – ließ ihr unter den verschiedenen Glaubensrichtungen prokla- stillschweigendes Einvernehmen durchblicken, und miert wurde, eine Verbundenheit, die durch gemein- auch der prominente Geistliche Isa Qasim signalisierte same sunnitisch-schiitische Gebete noch unterstrichen Zustimmung bei seiner Freitagspredigt vor den Ereig- wurde,16 während der Schwerpunkt der Demonstra- nissen.12 Die linksnationalistische, säkulare Waad war tionen auf sozialen Forderungen lag. Insbesondere die die einzige nicht-schiitische Partei, die die Kund- exklusive Kontrolle des Königshauses über den wert- gebungen ausdrücklich befürwortete. Soziale Netz- vollsten Grundbesitz in Bahrain war ein Protestpunkt, werke und die weite Verbreitung internetfähiger mit dem sich die große Mehrheit der von steigenden Mobiltelefone verstärkten die Breitenwirkung dieser

Aufrufe sicherlich. Viele dieser Hilfsmittel und Strate- 14 Abbas Al-Murshed, Politischer Wandel am Golf. Die Ökonomie gien waren jedoch bereits bei den Protesten Ende der von Konfessionalismus und Gewalt (arabisch), London: Bahrain 1990er Jahre eingesetzt worden. Die Internet-Aktivis- Centre for Studies in London, 2012, ; eine englische Übersetzung (The Gulf Example of Political Change: entgegenschlug und führen den letztendlichen Erfolg The Thrift of Sectarianism and Violence) in höchst unbefriedigen- der Mobilisierung auf die Beteiligung prominenter der Qualität ist verfügbar unter [Zugriff am 24.4.2014]). Abdelwahhab Hussein, eines der wichtigsten intellek- Bahrainische Menschenrechtsaktivisten hatten sich seit Jah- tuellen Anführers der Intifada der 1990er Jahre, der ren für diese Art von Protesten ausgesprochen und Trainings am Morgen des 14. Februar eine der ersten Protest- bei der serbischen Organisation CANVAS (Centre for Applied Nonviolent Action and Strategies) absolviert. Das Beispiel kundgebungen anführte.13 Ägyptens trug dazu bei, dass sie sich 2011 mit ihren Argu- menten durchsetzen konnten (Interview mit Al-Maskati; Matthiesen, Sectarian Gulf [wie Fn. 13], S. 47). 11 International Crisis Group (ICG), Bahrain’s Sectarian Chal- 15 Wie den Vorsitzenden der Waad-Partei Ibrahim Sherif lenge, 6.5.2005 (Middle East Report Nr. 40), S. 7, oder Mohamed Albuflasa, einen unabhängigen Politiker mit (Zugriff am 24.4.2014). sofortige Verhaftung und lang andauernde Inhaftierung nach 12 Unter ist eine Aufzeichnung der Predigt verfügbar (in besonders durch Solidaritätsbekundungen aus dem traditio- Arabisch). nalistisch orientierten sunnitischen Milieu bedroht fühlte. 13 Forschungsinterviews mit den Aktivisten Mohammed 16 Zainab Al-Khawaja, »Bahrain: Protesters Reject Sunni-Shia Al-Maskati, Ahmed Al-Widaei und Alaa Shehabi, Mai 2013. Ein Split Claims«, Institute for War and Peace Reporting (online), ausgewogener Augenzeugenbericht findet sich bei Toby 23.3.2011 ( Issue 7), (Zugriff am Spring That Wasn’t, Stanford 2013, Kapitel 3. 24.4.2014).

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10 Konfessionalismus und der Aufstand von 2011

Lebenshaltungskosten geplagten Bevölkerung identifi- Darüber hinaus wurde es nach den gewalttätigen zieren konnte. Der 14. Februar, der »Tag des Zorns«, Ausschreitungen bei der ersten Räumung des Perlen- fiel überdies auf den 10. Jahrestag des Referendums, platzes am 17. Februar für die sechs offiziellen poli- bei dem eine überwältigende Mehrheit der Bahrainis tischen Parteien immer schwieriger, sich mit ihrer für die später wieder aufgegebene Reformagenda von Botschaft der Mäßigung und der begrenzten Reformen König Hamad gestimmt hatte, und war damit ein Gehör zu verschaffen.19 Die Kräfte, die eine Republik wichtiges Symbol für den nationalen Konsens über mit einer (allenfalls) rein repräsentativen Rolle der den demokratischen Wandel. Mit einem Meer bahrai- Al-Khalifa-Dynastie forderten, gewannen zunehmend nischer Flaggen und mit feierlichen Bekenntnissen die Oberhand. Damit sahen sich diejenigen bestätigt, zur schiitisch-sunnitischen Verständigung bekräftig- die bereits von Anbeginn an eine verdeckte konfessio- ten die Demonstranten zusätzlich, dass sie die Einheit nelle Agenda vermutet und Bekenntnisse zu einer des Landes anstrebten und nicht seine Spaltung. Am konfessionsübergreifenden Staatsbürgerschaft als wichtigsten war vielleicht die Entscheidung, das reine Taktik angesehen hatten: Ohne die Macht des Protestcamp auf dem Perlenplatz zu errichten und Königshauses als Gegengewicht – so ihre Überlegung – damit an einem Ort, der nicht mit einer der religiösen würden schiitische Parteien bald das politische System Gruppen identifiziert wurde und an dem sich die Mit- dominieren.20 glieder aller Bevölkerungsgruppen auf neutralem Entsprechend bekräftigten die Redner auf der am Boden begegnen konnten. 21. Februar organisierten Gegendemonstration ihre Trotz zahlreicher Hinweise auf die Beteiligung von unerschütterliche Treue zum Königshaus. Diese Pro- Sunniten an den Kundgebungen17 bleibt es schwierig, testveranstaltung fand an der Al-Fateh-Moschee statt die genaue konfessionelle Zusammensetzung der auf und wurde nach ihr benannt, einem Ort, an dem an dem Perlenplatz versammelten Menge und damit den die Eroberung Bahrains durch beduinische Stämme Erfolg dieser Strategien zu beurteilen. Berichte oppo- unter Führung der Khalifahs im 18. Jahrhundert er- sitioneller Medien neigen dazu, den multikonfessio- innert wird. Dadurch wurde die Demonstration un- nellen Charakter der Proteste herauszustreichen, um missverständlich mit einem nationalen Narrativ damit die Argumentation zu stützen, wonach die verknüpft, das für den sunnitischen Bevölkerungsteil Demonstrationen den Willen des gesamten Volkes von identitätsstiftend ist. Diese Stoßrichtung der Kund- Bahrain zum Ausdruck brachten. Parteigänger des gebung wurde durch die führende Rolle von Politikern Regimes betonen, es habe sich bei den Aktivisten nahe- und Geistlichen aus dem Umfeld der Muslimbruder- zu ausschließlich um Schiiten gehandelt und damit schaft und salafistischer Strömungen noch akzentu- nur um einen Teil des bahrainischen Volkes, der über- iert. In ihrem Manifest beschrieben die Organisatoren dies unter dem Generalverdacht steht, im Dienste der das bahrainische Volk als zwei verschiedene (sunniti- außenpolitischen Ziele Irans zu stehen. Auch weiger- sche und schiitische) Gemeinschaften und warnten ten sich viele Demonstranten, ihren religiösen Hinter- vor einem konfessionell motivierten Konflikt. Damit grund offenzulegen, da es ihrer Meinung nach aus- lehnten sie das auf dem Perlenplatz vertretene Narra- schließlich von Belang sei, dass sie bahrainische tiv der nationalen Einheit ab und beschworen das Staatsbürger sind.18

17 Matthiesen, Sectarian Gulf [wie Fn. 13], S. 68; unter (in Arabisch, Zugriff am 24.4.2014). 19 Kommunikation per E-Mail mit Vertretern der Waad- sind Interviews mit Teilnehmern an den Protesten zu sehen Partei, Juni 2013; Abbas Al-Murshed, Die Jugendkoalition des (in Arabisch, Zugriff am 24.4.2014). Die Präsenz bahrainischer 14. Februar (arabisch), London: Bahrain Centre for Studies in Schiiten war in Gestalt bekannter Organisationen und Persön- London, 16.10.2012, (Zugriff am aus konservativen und religiösen Milieus machte ihre (schii- 24.4.2014). tische) Konfessionszugehörigkeit erkennbar. Sunniten aus 20 Das genaue demografische Verhältnis ist umstritten, aber diesen Milieus waren kaum vertreten, und Teilnehmer mit die Oppositionspartei Al-Wifaq erhielt 2006 und 2010 deut- sunnitischem oder gemischtem Hintergrund weit weniger lich über 50 Prozent der abgegebenen Stimmen, obwohl eindeutig zuzuordnen. radikalere schiitische Gruppen zu einem Boykott aufgerufen 18 Ebd. Kommentare auf oppositionsfreundlichen Websites hatten, siehe Justin Gengler, »And Then There Were None«, enthielten auch abfällige Äußerungen über »Sunniten, die zu bahrainipolitics.blogspot.com (online), 14.4.2011, Hause sitzen, während wir das Kämpfen übernehmen«, siehe were-none.html> (Zugriff am 24.4.2014).

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11 Bahrain

Schreckgespenst der Gewalt herauf, die bis dahin (sunnitische) Aktivisten auf dem Perlenplatz von der allein vom Regime ausgegangen war.21 konfrontativen und schiitisch geprägten Rhetorik, die Das allerdings sollte sich bald ändern. In Hetzreden dort zunehmend um sich griff, so sehr abgestoßen, schufen sunnitische Politiker mit salafistischem dass sie zur Gegenbewegung überliefen.23 Hintergrund irreale Schreckensszenarien.22 Anfang Das Regime seinerseits ließ keinen Zweifel an seinen März brachen an der Universität und in gemischten Präferenzen. Sicherheitskräfte und offizielle Medien, Wohnvierteln konfessionell motivierte Unruhen aus. die der Besetzung des Perlenplatzes bestenfalls neutral, Inmitten einer brodelnden Gerüchteküche entstanden meist jedoch feindselig gegenüberstanden, unterstütz- Straßenblockaden und Bürgerwehren, die weitere ten die Gegenbewegung massiv. Videos von Schläger- Zusammenstöße nach sich zogen. Die Initiatoren der trupps in Zivilkleidung, die während der konfessionell Proteste auf dem Perlenplatz und schiitische Geist- motivierten gewalttätigen Ausschreitungen im März liche bemühten sich darum, die Situation zu entschär- Seite an Seite mit der Polizei gegen Demonstranten fen, und organisierten beispielsweise am 5. März 2011 vorgingen, verstärken den Eindruck, dass einige Kräfte eine sieben Kilometer lange Menschenkette zwischen innerhalb des Regimes eine Eskalation anstrebten, um der Al-Fateh-Moschee und dem Perlenplatz. Es gelang eine politische Lösung unmöglich zu machen, während ihnen jedoch nicht, bekannte sunnitische Persönlich- andere mit der Opposition verhandelten, weil sie ge- keiten einzubeziehen. nau eine solche Lösung finden wollten. Viele Beobach- Umstritten bleibt, inwieweit die Demonstration am ter führen diesen Widerspruch auf grundlegende Kon- 21. Februar, die den Beginn dieser Eskalation mar- flikte zwischen rivalisierenden Strömungen innerhalb kierte, eine echte Meinungsbekundung bahrainischer des Herrscherhauses zurück. Die Interessen der Hard- Bürger war, die sich durch die Kundgebungen auf dem liner des Regimes standen demzufolge im Einklang Perlenplatz nicht repräsentiert oder gar bedroht fühl- mit denen der Organisatoren der Al-Fateh-Bewegung, ten. Zweifellos hatte diese, von einer kleinen Gruppe die einen für sie nachteiligen Kompromiss zwischen von (sunnitischen) Politikern und religiösen Persön- dem Palast und den schiitischen Parteien fürchteten.24 lichkeiten angeführte Veranstaltung den Anschein Äußere Einflüsse, insbesondere die Sorge Saudi-Ara- einer von oben gesteuerten Aktion, die in scharfem biens über eine mögliche Ausbreitung der Bewegung Kontrast zu der ausgelassenen Atmosphäre auf dem über Bahrain hinaus und eine Stärkung der strategi- Perlenplatz stand. Es gibt jedoch kaum Hinweise auf schen Position Irans gaben schließlich den Ausschlag eine erzwungene Teilnahme. Soziale Forderungen und zugunsten der Hardliner. Kritik an Korruption, die das oben erwähnte Manifest Nach der Eskalation Mitte März ließen die offiziel- der Organisatoren ebenfalls enthielt, stießen bei der len Medien jeglichen Anschein von Neutralität fallen versammelten Menge auf großen Widerhall. Erklärun- und unterstützten die nun folgende konfessionelle gen, die Gemeinsamkeiten mit den Protesten auf dem Hexenjagd. Kollaboration mit dem Iran oder ganz ein- Perlenplatz nahelegten– etwa die Forderung nach Frei- fach »Hochverrat« lauteten die pauschalen Anschuldi- lassung aller politischen Gefangenen – ernteten da- gungen gegen die Aktivisten des Perlenplatzes. Reli- gegen Pfiffe. Offenbar erwarteten die Zuhörer von der giöse Hasstiraden im Fernsehen stießen auf Beifall sich herauskristallisierenden sunnitischen Führung und wurden begleitet von der Zerstörung »ungeneh- eher eine kämpferische als eine ausgleichende Hal- migter« schiitischer Moscheen und Gemeindezentren. tung. Einigen Berichten zufolge fühlten sich manche Im Gegenzug rückten manche Regierungsgegner das Regime von Bahrain und sogar die gesamte sunniti- 21 Unter sind sche Bevölkerung des Landes in die Nähe der Al-Qaida. Videos der Kundgebung zu sehen (in Arabisch). Die von den Schiitisch-religiöse Rhetorik und Proteste mit zum Teil Organisatoren der Demonstration ins Leben gerufene poli- gewaltsamen Ausschreitungen sind heute wieder tische Vereinigung erhielt den Namen »Die Versammlung der Nationalen Einheit« (The Gathering of National Unity, kennzeichnend für die bahrainische Opposition. Beide TGONU). Seiten nutzen die Propaganda der anderen, um ihre 22 Beispielsweise enthüllte der ehemalige Abgeordnete Gegner als polarisierende religiöse Fanatiker im Mohammed Khaled am 2.3.2011 in einer durch saudische Dienste externer Mächte darzustellen, während man Medien übertragenen Rede angebliche Pläne, alle Sunniten selbst eine integrative, patriotische Gesinnung an den aus dem Bahrain zu vertreiben und rief zur Einrich- tung von Bürgerwehren auf (Zugriff jeweils am 4.5.2014). 24 Gengler, »Royal Factionalism« [wie Fn. 10].

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12 Konfessionalismus und der Aufstand von 2011

Tag lege. Auch wenn die Macht zwischen dem sun- nitischen und dem schiitischen Teil der Bevölkerung höchst ungleich verteilt ist, tragen die Führungen auf beiden Seiten aktiv dazu bei, genau die konfessionelle Polarisierung anzuheizen, die sie angeblich so strikt ablehnen.

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13 Irak 2011/2013

Irak 2011/2013

Ab Mitte 2010 kam es in südirakischen Städten wie heitskräften kam es zu weiterer Gewalt mit mehreren Kut und Basra zu ersten Protesten Jugendlicher gegen Todesopfern. Anhaltende Repressionen, unter ande- die schlechte Versorgungslage sowie gegen Korruption rem in Gestalt willkürlicher Festnahmen und der und Repression durch staatliche Organe. Als nach der Androhung von Mord und Vergewaltigung, zehrten lang erwarteten Regierungsbildung Ende des Jahres die Proteste nach und nach aus.27 Ende Juni mobili- keinerlei Verbesserungen eintraten, nahmen die sierte Ministerpräsident Maliki Tausende seiner An- Demonstrationen an Intensität zu. Unter dem Ein- hänger aus den südlichen Provinzen, die mit Bus- druck der Ereignisse in Tunis und Ägypten griffen sie kolonnen zu weit größeren Gegendemonstrationen auch auf andere Landesteile über, und die Aktivisten nach Bagdad gebracht wurden. Ungefähr zur selben in verschiedenen Städten begannen, ihre Manifesta- Zeit nahmen einige Organisatoren separate Gespräche tionen und Botschaften zu koordinieren.25 mit Regierungsvertretern auf, die Bewegung spaltete Die Regierung antwortete mit Zuckerbrot und Peit- sich und verebbte schließlich. sche. Ministerpräsident Nuri Al-Maliki betonte das Ende 2012 brachen neue Proteste aus, die nun auf Recht auf Demonstrationsfreiheit und kündigte Zu- die von Sunniten dominierten Landesteile im Nord- geständnisse und Verbesserungen an, schürte jedoch westen beschränkt blieben. Auch wenn die Demons- zugleich Ängste, dass die Demonstrationen zu terro- tranten sich vornehmlich soziale und humanitäre ristischer Gewalt führen könnten. Der Einsatz von Anliegen auf die Fahnen schrieben (wie etwa die Ent- Polizeikräften provozierte dann tatsächlich an meh- lassung weiblicher Gefangener, die systematischem reren Orten gewaltsame Ausschreitungen. Dagegen sexuellem Missbrauch ausgesetzt sein sollen), ging es wurden die Sicherheitskräfte aus ungeklärten Grün- ihnen im Wesentlichen um die vermeintliche Aus- den abgezogen, kurz bevor ein im Aufbau begriffenes grenzung sunnitischer Iraker durch die von schiiti- Protestcamp auf dem Tahrirplatz von Bagdad am schen Parteien dominierte Regierung und um Unter- 20. Februar von Schlägertrupps verwüstet wurde.26 stützung für sunnitische Politiker, die von Maliki Daraufhin riefen Online-Aktivisten und ein breites abgesetzt worden waren.28 Am 23. April 2013 kam es Bündnis von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Hawidscha bei Kirkuk29 (bereits 2011 eine der Hoch- für Freitag, den 25. Februar, einen »Tag des Zorns« aus. burgen des Protests) zu Zusammenstößen mit Regie- Scharfe Sicherheitsvorkehrungen und die nahezu rungstruppen, bei denen 50 Demonstranten getötet vollständige Abriegelung der Innenstadt von Bagdad und 110 weitere verletzt wurden. Dies führte zur begrenzten die Teilnehmerzahl jedoch auf wenige Militarisierung der Bewegung und zu einer weiteren Tausend, und strenge Auflagen für die wenigen Verschlechterung des Verhältnisses zwischen den Medienvertreter, die über das Geschehen berichten Konfessionsgemeinschaften im Irak, die ihren Aus- wollten, sorgten dafür, dass von diesen Ereignissen druck in einer neuen Serie tödlicher Terroranschläge

kaum etwas an die Öffentlichkeit drang. Trotz oder eher gerade wegen der starken Präsenz von Sicher- 27 Amnesty International, Days of Rage: Protests and Repression in Iraq, April 2011, (Zugriff am 24.4.2014). findet sich bei Saad Salloum, »Beneath the Liberation Monu- 28 Abdallah Otaibi, »Irakische Proteste mit konfessionellem ment All that Is Solid Vanishes into Air«, Heinrich Böll Stiftung, Unterton« (arabisch), in: Al-Hayat, Januar 2013; eine englische Middle East Office (online), 15.3.2012, (Zugriff am 24.4.2014). Weitere Hintergrund- contents/articles/politics/2013/01/iraqi-protests-take-on- informationen ergaben sich aus Forschungsinterviews mit sectarian-tone.html> (Zugriff am 24.4.2014). Saad Salloum (Mai 2013) und dem Aktivisten Haidar Haidar 29 ICG, Make or Break: Iraq’s Sunnis and the State, Brüssel, (April 2013). 14.8.2013 (Middle East Report Nr. 144), S. 32, 26 Kholoud Ramzi, »Protesters Attacked in Dawn Raid«, %20Africa/Iraq%20Syria%20Lebanon/Iraq/144-make-or-break- (Zugriff am 24.4.2014). iraq-s-sunnis-and-the-state.pdf> (Zugriff am 24.4.2014).

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14 Konfessionalismus und politische Konflikte im Irak

in schiitischen Regionen fand. Auch ein Jahr später wandte derjenigen waren, die schon Posten und Ämter bestehen solche von lokalen Führern und Politikern innehatten, und nicht, dass sie in derselben Moschee unterstützte »Protestcamps« in den westlichen beteten«.32 Da Dutzende von Revolutionsgefährten der Provinzen fort. Ihre wiederholte gewaltsame Unter- politischen Säuberung zum Opfer gefallen waren, war drückung hat die Anziehungskraft von Al-Qaida in bedingungslose Treue zum Machthaber überlebens- diesen Gebieten erneut erhöht und dazu beigetragen, wichtig, und die Solidarität von Großfamilien und den gesamten Irak in einen neuen Strudel konfessio- Clans wurde zum Grundprinzip dieser Diktatur.33 nell motivierter Konflikte zu stürzen. Nach der Eliminierung aller politischen Konkurren- ten blieb unter Saddam allein der politisierte schiiti- sche Islam als Widersacher übrig. Während das Regime Konfessionalismus und politische Konflikte einerseits die wichtigste schiitische Partei Dawa schika- im Irak nierte und verfolgte, bemühte es sich andererseits, schiitische Institutionen und Glaubensinhalte in das Der Gegensatz von Zentrum und Peripherie und die von der regierenden Baath-Partei propagierte Narrativ Rivalität tribaler und städtischer Machtzentren waren eines irakischen Nationalismus zu integrieren. Sogar und sind die vorherrschenden Trennlinien im un- ein fiktiver Stammbaum wurde erstellt, der Saddam abhängigen Irak. Der größte Teil des Südens konver- Hussein zu einem Nachfahren des von den Schiiten tierte erst im 19. Jahrhundert zum Schiismus, als die verehrten Imam Hussein erklärte.34 Als sich die Dawa- osmanische Politik der Zwangsansiedlung von Noma- Partei während des irakisch-iranischen Krieges von denstämmen und eine schlecht geplante Landreform 1980 bis 1988 auf die Seite Teherans stellte, eröffnete gesellschaftliche Verwerfungen nach sich zogen.30 Mit sich dem Regime die Möglichkeit, sie als unpatriotisch anderen Worten, viele Iraker wurden Schiiten, weil darzustellen. Zudem warb das Regime um die Loyali- sie arm und ausgegrenzt waren, nicht umgekehrt. tät der schiitischen Bevölkerung, indem es das arabi- Andererseits profitierten Schiiten in den Städten vom sche Wesen des Islam betonte und einen Gegensatz wirtschaftlichen Aufschwung durch die beginnende proklamierte zum Islam der iranischen »Scharlatane«. Ölförderung. Sowohl der Staat, der sich der klassi- Die meisten schiitischen Iraker kämpften pflicht- schen Mittel der Nationsbildung bediente (Erziehung getreu auf Seiten des Regimes, aber als Saddams ver- und Massenmedien), als auch die politische Opposition antwortungslose Politik der irakischen Armee im (insbesondere die einst mächtige kommunistische Golfkrieg 1991 eine demütigende Niederlage gegen Partei) sorgten dafür, dass die arabisch-irakische die US-geführte Koalition einbrachte, richteten die Bevölkerung ihre Identität nicht anhand religiöser empörten Soldaten ihren Zorn gegen die Baath-Partei, Kriterien definierte, sondern sich in erster Linie als und die Bevölkerung der südlichen Provinzen schloss Iraker oder Angehörige einer bestimmten gesellschaft- sich ihnen an.35 Da in diesen Gebieten an der Grenze lichen Schicht begriff. Föderale Modelle – ganz zu zu Kuwait vor allem Schiiten leben, waren es zwangs- schweigen von einer Aufspaltung des gemeinsamen läufig auch mehrheitlich Schiiten, die sich an dem Staates – standen bei den arabischen Irakern nie hoch Aufstand beteiligten. Die Proteste gewannen schnell im Kurs.31 eine schiitische Färbung und für die aus Kuwait her- Saddam Hussein, der heute als Inbegriff der Dis- beigeeilte, aus Sunniten bestehende Republikanische kriminierung von Schiiten gilt, entwickelte seine Garde gab es nur ein Motto: »Keine Schiiten mehr fanatische Ablehnung gegenüber den schiitischen Irakern erst gegen Ende seiner Herrschaft. Diese Haltung war jedoch nicht Ausdruck konfessioneller 32 Peter Sluglett/Marion Farouk-Sluglett, »Some Reflections on the Sunni/Shi’ Question in Iraq«, in: The Bulletin of the British Voreingenommenheit, sondern allein eine Frage des Society for Middle Eastern Studies, 5 (1978) 2, S. 79–87 (84). Machterhalts. Dass während seiner gesamten Regie- 33 Amatzia Baram, »Saddam’s Power Structure: The Tikritis rungszeit Sunniten, die wie er selbst aus dem Nord- before, during and after the War«, in: Toby Dodge/Steven westen kamen, die Schaltzentren der Macht besetzten, Simon (Hg.), Iraq at the Crossroads: State and Society in the Shadow hatte seinen Grund darin, »dass sie Freunde und Ver- of Regime Change, London: The International Institute for Stra- tegic Studies (IISS), 2003, S. 93–113 (Adelphi Paper Nr. 354). 34 Amatzia Baram, »Re-Inventing Nationalism in Ba’thi Iraq 30 Yitzhak Nakash, Shi’is of Iraq, Princeton 1994, Kapitel 1. 1968–1994«, in: William Harris (Hg.), Challenges to Democracy in 31 Fanar Haddad, Sectarianism in Iraq. Antagonistic Visions of the Middle East, Princeton 1997, S. 37. Unity, London/New York 2011. 35 Haddad, Sectarianism in Iraq [wie Fn. 31], S. 65–86.

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15 Irak 2011/2013

nach dem heutigen Tag.«36 Dem extrem brutalen Vor- für das politische System der Besatzungszeit gestellt.42 gehen gegen die Rebellen folgte ein Jahrzehnt wach- Das alte Regime hatte zudem jegliche Formen un- sender anti-schiitischer Ressentiments und wieder- abhängiger Politik und zivilgesellschaftlicher Orga- holter Gewaltausbrüche und Unruhen. nisation auf lokaler Ebene systematisch zerschlagen, Das Ende des Baath-Regimes im Jahre 2003 hätte die so dass zunächst religiöse Netzwerke die einzige Gelegenheit bieten können, ein neues Kapitel auf- Grundlage für die Schaffung politischer Vereinigun- zuschlagen und allen arabischen Irakern, ungeachtet gen waren. Der Zusammenbruch des irakischen ihrer Religionszugehörigkeit, gleichermaßen Zugang Staates nach dem Krieg erhöhte deren Bedeutung zu politischen Ämtern zu ermöglichen.37 Umfragen, noch zusätzlich. Das Sicherheitsvakuum, das sich die seinerzeit durchgeführt wurden, belegen, dass nur durch die Auflösung der irakischen Armee vergrößert eine Minderheit im Irak eine Politik entlang konfessio- hatte, wurde von lokalen und somit monokonfessio- neller Trennlinien befürwortete.38 Auch der politische nellen Milizen gefüllt. Widerstand gegen das unter der Führung der USA Die Volksvertretung nach konfessionellen Quoten etablierte Besatzungsregime wurde zunächst gleicher- zu organisieren führte dazu, dass sich die arabischen maßen von sunnitischen wie schiitischen Irakern ge- Sunniten, die im Irak nur 20 Prozent der Bevölkerung tragen.39 Fast alle Parteien auf der politischen Bühne ausmachen (im Gegensatz zu rund 60 Prozent Schii- hatten jedoch ein vornehmlich konfessionell gepräg- ten), zunehmend benachteiligt fühlten. Die äußerst tes Profil.40 Die irakische Exilopposition selbst hatte gewaltsame Unterdrückung des Unruheherds Falluja, das Prinzip der explizit konfessionellen und ethni- einer sunnitischen Hochburg, und die offene Partei- schen Ämterquoten bereits in den Strukturen des nahme schiitischer Geistlicher für die schiitische Ein- Anfang der 1990er Jahre eingerichteten Irakischen heitsliste vor den Wahlen 2005 erhöhte die »Besorgnis Nationalrats etabliert.41 Dieser Ansatz deckte sich mit unter den Sunniten, ins Abseits gedrängt zu werden«.43 der vorherrschenden Auffassung unter den politisch Daher entschieden führende politische Akteure unter Verantwortlichen der Besatzungsmächte, dass die den Sunniten, die Wahl zu boykottieren und den Massaker Saddams an der kurdischen und schiitischen politischen Prozess zu blockieren.44 Im Resultat ging Bevölkerung in erster Linie religiös und ethnisch moti- der Einfluss der Sunniten nur noch mehr zurück und viert gewesen seien und die einfachste Lösung darin verstärkte sich ihr Gefühl der Ausgrenzung, was den bestünde, die Macht mittels formaler Strukturen Boden für die konfessionellen Konflikte zwischen 2006 gerecht zwischen den unterschiedlichen Gruppen zu und 2008 bereitete. Mit einer Kombination aus militä- verteilen. Entsprechend wurde 2003 der »Irakische rischer Bekämpfung und politischer Vereinnahmung Regierungsrat« nach einem ethnisch-religiösen Quoten- gelang es den irakischen Kräften und den Besatzungs- schlüssel zusammengesetzt. Damit waren die Weichen mächten ab 2008, die Aufständischen und Milizen zu

besiegen und politische Vertreter der sunnitischen 36 Kanan Makiya, »The Arab Spring Started in Iraq«, in: Bevölkerung zurück ins Boot zu holen. Bei den Wah- The New York Times, 7.4.2013, (Zugriff am 24.4.2014). 37 Da die Autonomie der kurdischen Region bis 2003 schon 42 David Gairdner, Risk and Violence in Iraq’s New Sectarian institutionell gefestigt war, die Region eigene Sicherheits- Balance, Oslo: Norwegian Peacebuilding Resource Centre, kräfte besaß und von den USA gestützt wurde, stand sie nie September 2012, (Zugriff am 38 Eric Herring/Glen Rangwala, Iraq in Fragments. The Occupa- 24.4.2014). Zu Einzelheiten über die Regelung der Macht- tion and Its Legacy, London 2006, S. 148. teilung siehe Nussaibah Younis, »Set up to Fail: Consocia- 39 Khalil Osman, »Trans-sectarian Moral Protest against tional Political Structures in Post‐war Iraq, 2003–2010«, in: Occupation: A Case Study of Iraq«, in: Larbi Sadiki/Heiko Contemporary Arab Affairs, 4 (2011) 1, S. 1–18. Wimmen/Layla Al-Zubaidi (Hg.), Democratic Transition in the 43 Allawi, The Occupation of Iraq [wie Fn. 41], S. 340. Middle East. Unmaking Power, London/New York 2013, S. 42–65. 44 Die führenden Sunniten konnten ihre Gemeinschaft zu 40 Eine partielle Ausnahme war hier der Iraqi National einem fast totalen Boykott bei den Wahlen zur National- Accord (INA) unter der Führung von Iyad Allawi. Mit seinen versammlung Anfang 2005 bewegen und waren daher auch angeblichen Verbindungen zur CIA und seinem harten Vor- von der Erarbeitung der neuen Verfassung weitgehend aus- gehen gegen den Aufstand von Falluja verspielte er jedoch geschlossen. In dem sechs Monate später stattfindenden schnell seine Sympathien unter den sunnitischen Irakern. Referendum über die neue Konstitution scheiterte ihre Nein- 41 Ali Allawi, The Occupation of Iraq. Winning the War, Losing the Kampagne nur knapp, siehe Toby Dodge, Iraq: From War to a Peace, New Haven/London 2007, S. 53. New Authoritarianism, London 2012, S. 45.

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16 Konfessionalismus in den Protestbewegungen von 2011

(Irakija), ein Bündnis sunnitischer, säkularer und in jeweils nahezu ausschließlich von Sunniten oder nicht-islamistischer schiitischer Politiker, die meisten Schiiten bewohnte Sektoren geführt haben, ist die Stimmen auf sich vereinen. Einmal mehr wurde damit Gegend um den Tahrirplatz eines der wenigen verblie- unterstrichen, dass politische Ansätze, die nicht kon- benen Quartiere, die für Weltoffenheit und Urbanität fessionell gesteuert sind, in der irakischen Gesellschaft stehen. Dieses Gebiet repräsentiert somit eine Sphäre durchaus mehrheitsfähig sind. Interne Querelen und sozialer Interaktion, in der Sicherheit durch Toleranz das Geschick von Ministerpräsident Nuri Al-Maliki, und zivile Umgangsformen erreicht wird und nicht politische Gegner auszuschalten, unterminierten die durch eine martialische Militärpräsenz, wie sie etwa neue Kraft jedoch schnell.45 das Regierungsviertel auf der anderen Seite des Flusses – die strikt kontrollierte »Grüne Zone« – dominiert. Während die Auffassungen vieler Demonstranten mit Konfessionalismus in den dem kosmopolitanen Charakter dieses Ortes im Ein- Protestbewegungen von 2011 klang standen, besaß auch ein bedeutender Teil von ihnen einen religiösen und konservativen Hintergrund. Die Proteste im Jahr 2011 hatten ursprünglich keiner- Für diese Demonstranten wurden im angrenzenden lei konfessionelle Dimension. Sie richteten sich viel- Umma-Park Bereiche für gemischte (sunnitisch-schii- mehr gegen alle Parteien und Politiker des herrschen- tische) Gebete eingerichtet. An normalen Tagen dient den Machtgefüges. Ministerpräsident Nuri Al-Maliki diese Fläche als Rückzugsort für Alkoholiker. Mit der wurde zu ihrer wichtigsten Zielscheibe, nicht weil er Nutzung dieses Parkareals als Andachtszone unter- Schiit, sondern weil er der prominenteste und ein- strichen die Demonstranten ein weiteres Mal ihren flussreichste Vertreter dieses Systems war. Mit dem Anspruch, kollektiv öffentliche Verantwortung zu Fortgang der Proteste schlossen sich immer mehr übernehmen.46 Dieses Selbstverständnis wurde noch erfahrene Bürgerrechtsaktivisten den zunächst von durch andere Aktionen dokumentiert, etwa durch Jugendlichen spontan gebildeten Netzwerken an und Aufmärsche mit Besen und die demonstrative Reini- verbreiteten klare Botschaften gegen den Konfessio- gung der Straßen im Umfeld des Tahrirplatzes, womit nalismus. So brachten die Regierungsgegner die aus- zugleich die Kritik am »Dreck« zum Ausdruck ge- ufernde Korruption mit der Kontrolle der Politiker bracht werden sollte, den die offizielle Politik am über die konfessionell quotierte Ressourcenzuteilung Stecken hatte. in Zusammenhang. Letztlich seien auch die religiösen Den politischen Eliten gelang es zunächst nicht, Konflikte auf die von den Machthabern verfolgte mit ihrer Warnung vor Gewalt diese Atmosphäre des Strategie des Teilens und Herrschens zurückzuführen. gegenseitigen Vertrauens und der zivilen Umgangs- Neben zahlreichen Spruchbändern, auf denen ein formen zu vergiften. Zum einen war die Mehrheit der »vereintes Land« beschworen wurde, und einem Meer Demonstranten von so tiefer Verachtung für die herr- von irakischen Fahnen war eine rote Karte in Form der schenden Politiker geprägt, dass sie solchen Worten Landessilhouette eines der am häufigsten sichtbaren kaum Beachtung schenkten. Die Organisatoren waren Symbole des Protests. Außerdem erinnerten die Akti- jedoch auch fest entschlossen, die Manifestationen visten an historische Marksteine sunnitisch-schiiti- trotz aller staatlicher Gewalt friedlich zu gestalten, scher Einheit, wie der Aufstand gegen das britische um ihre moralische Glaubwürdigkeit zu bewahren Mandat von 1920. und den Sicherheitskräften keinen Vorwand für wei- Auch dass als Zentrum des Protests der Tahrirplatz tere Gewalt zu liefern. Daher wurden Personen oder (Platz der Befreiung) in Bagdad gewählt wurde, hatte Gruppen, die sich provozierend verhielten, oft umringt eine stark symbolische Bedeutung – jenseits der offen- und zu gemäßigtem Verhalten ermahnt. Bei mehreren sichtlichen Bezüge zum ägyptischen Vorbild und zum Gelegenheiten bildeten Aktivisten mit weißen Stirn- einstigen gemeinsamen Kampf gegen den britischen bändern eine menschliche Mauer zwischen den Sicher- Kolonialismus. Seit den gewaltsamen Konflikten zwi- heitskräften und gewaltbereiten Demonstranten. schen 2006 und 2008, die zu einer Aufteilung Bagdads Dass die Maßnahmen zur Gewaltvermeidung so lange erfolgreich waren und auch der überkonfessio- 45 Siehe ICG, Iraq’s Secular Opposition: The Rise and Decline of Al-Iraqiya, Bagdad/Brüssel, 31.7.2012 (Middle East Report Nr. 127), (Zugriff am 24.4.2014). [wie Fn. 25].

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17 Irak 2011/2013

nelle Diskurs aufrechterhalten werden konnte, war ausdrücklich auf konfessionalistische Untertöne.47 einerseits auf die Anwesenheit und Entschlossenheit Vertreter der Proteste von 2011 äußerten bedingte einer erfahrenen Kerngruppe von Aktivisten zurück- Zustimmung für die neue Bewegung48 und reisten zuführen, von denen viele bereits Erfahrungen in sogar in die Region, um ihre Solidarität zu bekunden, Bürgerinitiativen gesammelt hatten. Zum anderen äußerten jedoch Zweifel an den Motiven und Zielen war es aber auch der Tatsache zu verdanken, dass die einiger führender Aktivisten des Protests. Demonstrantenzahl begrenzt blieb (zwischen 3000 Zu diesen gehörten lokale Geistliche, Clanführer und 5000 am 25. Februar). Diese geringe Beteiligung und Mitglieder der Irakischen Islamischen Partei (ein limitierte jedoch zugleich auch den Einfluss und die Ableger der Muslimbruderschaft), aber auch Anhänger Schlagkraft der Bewegung. Die Wahlen lagen kaum der Baath-Partei und ehemalige Kämpfer aus der Wider- ein Jahr zurück und alle wichtigen Parteien hatten standsbewegung gegen die Besatzung mit Kontakten sich zu einer »großen Koalition« zusammengetan, wie zu dschihadistischen Gruppen.49 Damit war die neue sie typisch für Systeme ist, in denen die politische Bewegung nicht nur fast ausschließlich sunnitisch, Macht durch vorgegebene Quoten und Zuteilung von sondern barg auch das Potential, in konfessionelle Ämtern zwischen gesellschaftlichen Gruppen auf- Auseinandersetzungen auszuarten. Nachdem Regie- geteilt wird. Es hätte einer Mobilisierung der Massen rungstruppen, die in den Augen der Aktivisten und bedurft, um die Legitimität der formellen politischen der lokalen Bevölkerung als »schiitische« Einheiten Akteure und Institutionen glaubhaft in Frage zu stel- galten, am 23. April 2013 mit brutaler Gewalt gegen len. Dies war jedoch unerreichbar, da nahezu alle Par- das Camp der Demonstranten in Hawidscha vorgegan- teien – die auch den Großteil der irakischen Medien gen waren, begann die Militarisierung der Proteste. kontrollieren – und sämtliche Geistliche – sunnitische Webseiten, die 2011 für die Organisation der De- wie schiitische – sich gegen die Bewegung stellten. monstrationen genutzt worden waren, füllten sich Der Mangel an Verbündeten in der offiziellen Politik mit religiös verbrämter Hasspropaganda. Die machte es den Oppositionellen überdies unmöglich, Eskalation der konfessionellen Konflikte im Nach- Schutz vor staatlicher Gewalt zu erlangen, und ließ barland Syrien heizte die Konfrontation im Irak weiter kaum Optionen offen, wie und besonders von wem die an und sorgte darüber hinaus für einen wachsenden geforderten Reformen umgesetzt werden sollten. Zustrom an Waffen und dschihadistischen Kriegern. Gleichzeitig erreichte die Regierung mit ihrer angst- Die gleichzeitige Zunahme von Anschlägen auf schii- schürenden Propaganda, dass sich Gegenkräfte for- tische Stadtviertel, Moscheen und Märkte führte dazu, mierten, die im Frühsommer 2011 schließlich das dass die schiitischen Iraker alle Sympathien für die Ende der Protestbewegung besiegelten. Revolte im Nordwesten des Landes fahren ließen und sich jede konfessionsübergreifende Signalwirkung verlor, die von diesen Protesten und ihren ursprüng- Vom irakischen zum sunnitischen Frühling lichen Forderungen hätte ausgehen können.

Die Proteste zur Jahreswende 2012/13 dagegen waren eine Reaktion auf die Verhaftung der Leibwächter des (sunnitischen) Finanzministers Rafi Al-Issawi und richteten sich von Anfang an gegen die angebliche Ausgrenzung der sunnitischen Bevölkerung. Die kon- kreten Forderungen der Opponenten konzentrierten sich jedoch zunächst auf rechtliche und institutionel- 47 Ali Issa, «Tipping towards Iraq’s Squares: An Interview with Falah Alwan«, Jadaliyya (online), 22.1.2013, le Maßnahmen und schlossen auch soziale Themen (Zugriff am 24.4.2014). bedingungen weiblicher politischer Gefangener. Die 48 Iraqi Civil Society Solidarity Initiative, Iraqi Civil Society Demonstrationen blieben friedlich und verzichteten Organizations: »Escalating Political Conflict among Leaders of the Major Blocks Endangers the Unity of Iraqi Society and Reflects Negatively on Civil Peace«, 30.1.2013, (Zugriff am 24.4.2014); Forschungsinterviews mit Saad Salloum, Haidar Haidar. 49 ICG, Make or Break: Iraq’s Sunnis and the State [wie Fn. 29], S. 16–22.

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18 Libanon 2005/2011

Libanon 2005/2011

Die Umwälzungen in Ägypten im Jahr 2011 fanden in eigenen Studentenorganisationen,51 sowie zahlreiche libanesischen Online-Foren eine große Resonanz, die nicht politisch organisierte junge Libanesen damit, rasch in eine breite Unterstützung mündete für eine auf dem Märtyrerplatz im Zentrum Beiruts Zelte auf- Bewegung im eigenen Land unter der Devise »Das Volk zuschlagen. In den folgenden zehn Tagen nahm die fordert den Sturz des konfessionellen Regimes«. Eine Zahl der Zelte und der auf dem Platz abgehaltenen Mischung aus jungen Leuten, die sich erstmals poli- Kundgebungen stetig zu, mit einem ersten Höhepunkt tisch engagierten, sowie Aktivisten mit langjähriger am 28. Februar, als im Parlament die Debatte über die Erfahrung in Bürgerinitiativen und Anhängern nicht- Ermordung des ehemaligen Ministerpräsidenten auf konfessioneller Parteien setzte diesen Slogan in direkte der Tagesordnung stand. An diesem Tag widersetzten politische Aktion um. Am 27. Februar kamen etwa sich mehrere Tausend Protestierende friedlich dem 2000 Menschen zu einer ersten Demonstration zusam- vom Innenministerium verhängten Demonstrations- men. Die fortan regelmäßig wiederholten Sonntags- verbot. Armee und Sicherheitskräfte machten keine kundgebungen erreichten am 20. März mit etwa Anstalten, die Anordnung ernsthaft durchzusetzen. 20000 Teilnehmern ihren Höhepunkt, und für etwas Angesichts dieser offensichtlichen Untergrabung sei- mehr als einen Monat gelang es der Bewegung, durch ner Autorität erklärte Ministerpräsident Omar Karami eine bewusste Konzentration auf soziale Probleme das noch am gleichen Tag im Parlament seinen Rücktritt. Image von Verfechtern der »nationalen Einheit« und Seine Rede wurde live im Fernsehen ausgestrahlt und Überparteilichkeit aufrechtzuerhalten. Sie war letzt- auf einer Riesenleinwand auf dem Märtyrerplatz über- lich aber nicht in der Lage, die tiefen Gräben in der tragen.52 Das so erzeugte Siegesgefühl heizte die Be- libanesischen Politik und Gesellschaft zu überbrücken, geisterung weiter an und erhöhte den Zulauf zu der und nicht gefeit gegen das Klima der konfessionellen Bewegung. Anhaltende Proteste und internationaler Feindseligkeit und Angst, das durch den Konflikt im Druck, vor allem seitens der USA, zwangen das syrische benachbarten Syrien noch angeheizt wurde. Im Früh- Regime und seine libanesischen Verbündeten schließ- sommer 2011 wurden die internen Auseinanderset- lich zum Einlenken. Am 7. März kündigte Syriens Prä- zungen immer schärfer. Die Mehrheit der nicht sident Baschar Al-Assad den endgültigen Abzug der parteilich gebundenen Teilnehmer zog sich zurück syrischen Streitkräfte aus dem Libanon an. und die Bewegung verlief im Sande. Acht Jahre zuvor hatte es im Libanon eine massive Volksbewegung gegeben, in der einige Beobachter 51 Mitglieder der Jugendorganisationen wurden zumeist von damals einen Vorboten für künftige Ereignisse in der Aktivisten aus dem universitären Milieu mobilisiert, die aus Region sahen.50 Die Ermordung des früheren Minister- eigenem Antrieb handelten und nicht auf strategische Vor- gaben aus den Parteizentralen warteten. Einige von ihnen, präsidenten Rafiq Al-Hariri am 14. Februar 2005 wie die sehr aktiven Anhänger von General Michel Aoun schweißte die politische Opposition gegen das von (damals noch im Exil), gehörten nicht einmal einer formalen Syrien gesteuerte libanesische Regime zusammen. Parteistruktur an. Augenscheinlich war den Parteispitzen Eine unerwartet hohe Beteiligung an der Trauerkund- zunächst nicht bewusst, welches politische Potential diese gebung am 16. Februar löste Diskussionen darüber Bewegung barg, so dass »ihre« Aktivisten weitgehend sich selbst überlassen blieben, siehe Christian Gahre, Staging the aus, ob eine Massenmobilisierung denkbar wäre. Diese Lebanese Nation. Urban Public Space and Political Mobilisation in the Überlegungen der Politiker wurden jedoch schnell von Aftermath of Hariri’s Assassination, Magisterarbeit, Beirut 2007; den Ereignissen überholt. Am Abend des 18. Februar Rayan Majed, L’engagement politique des étudiants dans l’Intifada begannen Aktivisten, darunter einige aus den partei- de l’Indépendance, Magisterarbeit, Beirut 2007; André Sleiman, »Le Camp de la Liberté, plate-forme de la révolution souve- rainiste de 2005«, in: Annales de sociologie et d’anthropologie (Uni- versité Saint-Joseph, Beirut), 18–19 (2007–2008), S. 121–160. 50 Samir Kassir, »Beirut, Frühling der Araber« (arabisch), in: 52 Verfügbar unter (in Arabisch, Zugriff am document/articles/Pr000553.doc> (Zugriff am 24.4.2014). 24.4.2014).

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Aber damit hatte die eigentliche Auseinanderset- Vordergrund.55 Im Herbst 2006 zog die »Allianz des zung erst begonnen. Nur 24 Stunden später versam- 8. März« ihre Minister aus dem Kabinett ab, installierte melte die Hisbollah ihre Anhänger in der Innenstadt ihrerseits ein Protestcamp im Zentrum von Beirut und zu einer prosyrischen Kundgebung, deren Ausmaß sabotierte die Arbeit der Regierung für einen Zeitraum alle vorangegangenen Demonstrationen in den Schat- von 18 Monaten. Am 7. Mai 2008 setzte schließlich die ten stellte.53 Im Gegenzug legte die Opposition am Hisbollah ihre militärische Macht ein, zerschlug die 14. März nach und brachte mit Hilfe der finanziellen im Aufbau begriffenen und schlecht organisierten und logistischen Mittel der Hariri-Familie und ihrer regierungsnahen Milizen (sowohl die Armee als auch politischen Verbündeten eine etwa doppelt so große die Sicherheitskräfte griffen nicht ein) und zwang der Zahl an Demonstranten auf die Beine. Inzwischen Regierung Bedingungen auf, die der Hisbollah faktisch hatten auch die politischen Parteien erkannt, welches Vetorechte gegen alle Regierungsentscheidungen ver- Potential das »Freiheitscamp« auf dem Märtyrerplatz schafften. Seitdem gären Spannungen zwischen Sun- besaß, politische Unterstützung zu generieren und niten und Schiiten. Für viele der antikonfessionellen den Anspruch zu untermauern, die Opposition spreche Aktivisten, die Anfang 2011 auf die Straße gingen, im Namen des gesamten libanesischen Volkes. Die gehörte die reale Angst vor einem neuen Bürgerkrieg Freizügigkeit, mit der die studentischen Initiatoren zu ihren wichtigsten Beweggründen. anfangs noch hatten agieren können, wurde immer mehr durch eine strenge Steuerung von oben abgelöst, und die Versuche von einigen der politisch ungebun- Konfession und Staat denen Aktivisten, die im Camp entstandenen Struk- turen zu einer permanenten Bürgerbewegung zu Politische Repräsentation entlang konfessioneller verstetigen, scheiterten am Einspruch der Partei- Kriterien ist schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts ein führungen.54 Kennzeichen des Libanon. Akteure vor Ort, europäi- Die Daten der beiden rivalisierenden Demonstra- sche Mächte und die osmanischen Herrscher haben tionen, der 8. und 14. März, wurden zu Namensgebern gemeinsam darauf hingewirkt, die Konfession zu der für die politischen Lager, deren unüberwindbarer entscheidenden Kategorie zu machen, anhand deren Antagonismus bis heute die libanesische Politik prägt die Beziehung zwischen der Bevölkerung und dem und lähmt. In dieser Konfrontation kristallisierten Staat organisiert wurde.56 Treibende Kraft dieser Ent- sich nicht nur grundlegend widerstreitende Ansichten wicklung war ein enges Wechselspiel zwischen sozia- über die Rolle Syriens im Libanon, sondern auch un- len und politischen Konflikten im Libanon selbst vereinbare Auffassungen über Libanons politische sowie regionalen und internationalen strategischen Ausrichtung und Bündnispolitik in der Region. Wäh- Interessen. Solange die libanesischen politischen rend die »Allianz des 14. März« auf Neutralität und Akteure sich selbst überlassen blieben, schmiedeten eine enge Anlehnung an den Westen und die Golf- sie wechselnde und meist konfessionsübergreifende monarchien setzt, drängt die »Allianz des 8. März« Bündnisse, um in ihrem immerwährenden Kampf um darauf, gemeinsam mit dem Iran und Syrien militan- Machtanteile und Ressourcen Kompromisse zu erzie- ten »Widerstand« gegen die USA und Israel zu leisten. len, von denen alle profitierten. Sobald sich jedoch die Zwar gelang es den wichtigsten politischen Akteuren Konflikte in der Region verschärften, versuchten ex- etwa ein Jahr lang, sich auf ein Mindestmaß an ge- terne Mächte, das strategisch wichtige Land auf ihre meinsamer Regierungsarbeit zu verständigen, aber Seite zu ziehen und unterstützten dann diejenigen der Krieg zwischen der Hisbollah und Israel im Som- mer 2006 rückte die Differenzen nachhaltig in den 55 Obwohl der Konflikt politisch umstritten war, erzeugte er einen bemerkenswerten Schub an konfessionsübergreifender Solidarität mit den betroffenen Bevölkerungsteilen (zumeist 53 In seiner Rede erhob Generalsekretär Hassan Nasrallah Schiiten) und Bewunderung für die militärischen Leistungen nachdrücklich den Anspruch, für seine politische Linie eine der Hisbollah. Politische Akteure unternahmen jedoch keine genauso große oder gar größere Legitimierung durch das ernsthaften Versuche, dieses Momentum zur Suche nach Volk zu haben: »Ich frage die Welt und unsere Landsleute: einem nationalen Konsens zu nutzen. Sind diese Hunderttausende bloße Marionetten?«. Unter 56 Ussama Makdisi, The Culture of Sectarianism, Berkeley 2000. sind die betreffenden Passagen der Rede 19. Jahrhundert findet sich bei Samir Khalaf, Civil and Uncivil (in Arabisch) zu sehen (Zugriff am 24.4.2014). Violence in Lebanon: A History of the Internationalization of Com- 54 Sleiman, »Le Camp de la Liberté« [wie Fn. 51], S. 160. munal Conflict, New York 2002.

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20 Konfession, Widerstand und der Aufstand von 2005

libanesischen Gruppen, die sich zu diesem Zweck Darüber hinaus waren in der neuen Ordnung nicht anboten. Mit Unterstützung von außen drängten die alle gleichermaßen willkommen. Syriens faktisch radikalen Kräfte die moderaten immer weiter in den unanfechtbare hegemoniale Rolle zwang wichtige Hintergrund und machten die sonst übliche Verstän- christliche Führungspersönlichkeiten ins Exil, andere digung unmöglich. wurden zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt, So brach der von 1975 bis 1990 währende libane- ihre Parteien zerschlagen. Libanesische Christen muss- sische Bürgerkrieg zu einem Zeitpunkt intensiver ten nicht nur den Verlust ihrer politischen Privilegien amerikanisch-sowjetischer Rivalität aus. Mehrheitlich hinnehmen, sondern wurden überdies von Politikern muslimische Gruppen kämpften für soziale Gleich- vertreten, die viele als bloße Handlanger Syriens ab- stellung und eine Korrektur der konfessionellen Macht- lehnten. verteilung, aber auch für eine deutliche Annäherung an das von der UdSSR protegierte arabisch-nationalis- tische Lager und für eine eindeutige Parteinahme Konfession, Widerstand und der Aufstand zugunsten des Kampfs der Palästinenser gegen Israel. von 2005 Ihre (vorwiegend christlichen) Gegner verteidigten den Status quo, traten für Neutralität in regionalen Das rigorose Vorgehen im Libanon barg für Syrien Konflikten und eine prowestliche Ausrichtung ein allerdings das Risiko, dass Libanesen mit unterschied- und akzeptierten schließlich auch Unterstützung aus lichem konfessionellem Hintergrund ihre Differenzen Israel. Diese bewaffnete Konfrontation machte den überwinden und sich gegen die Besatzer zusammen- Libanon schnell zum Schauplatz eines Stellvertreter- schließen würden. Als der ehemalige Ministerpräsi- kriegs, in dem die externen Akteure sich oft über die dent Hariri im Jahr 2005 ermordet wurde, kam es Absichten ihrer Klientel im Land selbst hinwegsetzten genau zu diesem Effekt. Der bis dahin nur von den und der erst beendet werden konnte, als die Sowjet- (zumeist christlichen) Verlierern des Bürgerkriegs pro- union zusammengebrochen war und sich die USA pagierte Widerstand gegen Syrien wurde zur gemein- nach dem Golfkrieg von 1991 eine anscheinend stabile samen Sache. Zumindest vorübergehend schob ein Vorherrschaft in der Region erobert hatten.57 Teil der Libanesen seine Ängste und konfessionell be- Statt auf Kompromiss und Versöhnung wurde die gründeten Konkurrenzkämpfe beiseite. Nachkriegsordnung auf Milizenführern aufgebaut, die Der Märtyrerplatz war die ideale Bühne für die einflussreiche Positionen in den politischen Institutio- Inszenierung dieses besonderen Narrativs nationaler nen besetzten, wobei Syrien als gefürchtete Ordnungs- Einheit. Nicht nur seine exponierte Lage im Stadt- macht fungierte. Die Ressourcen wurden nach konfes- zentrum und in der Nähe wichtiger politischer Insti- sionellen Quoten und entsprechend der Verhand- tutionen machte ihn zu einem perfekten Treffpunkt, lungsmacht der Anführer der konfessionellen Grup- sondern auch die Tatsache, dass im Bürgerkrieg genau pen verteilt. Für libanesische Bürger bestand damit hier die Frontlinie verlief – mit dem christlichen ein direkter Zusammenhang zwischen ihren persön- »Gebiet« im Osten und dem muslimischen im Westen. lichen Chancen und der politischen Durchsetzungs- Die Menschen, die sich dort versammelten, sahen sich fähigkeit ihrer jeweiligen führenden Repräsentanten. selbst auf hochemotionale Weise (und wurden von Deren bloße Präsenz und ständiger Wettstreit um den Medien und PR-Experten, die ihre Fähigkeiten in Machtanteile und Ressourcen hielt auch die Erinne- den Dienst der Sache stellten, auch so dargestellt) rung an die Vergangenheit und die Angst vor neuer als ein wiedervereinigtes Volk, das sein souveränes Gewalt wach. Hinter einer Fassade inszenierter natio- Gemeinwesen durch eine echte Bewegung von unten naler Versöhnung und ritualisierter Verurteilungen wiederherstellt, anstelle der verordneten Versöhnung des Konfessionalismus waren die 1990er-Jahre ein im Schatten der Fremdherrschaft, die das Kennzeichen Jahrzehnt, das von Angst und Hass zwischen den Kon- der 1990er Jahre gewesen war. fessionen geprägt war.58 Darüber hinaus trat mit dem Gefühl nationaler (Wieder)Vereinigung gegen ausländische Besatzung 57 Ein detaillierter Bericht über den Krieg und seine Ursachen findet sich bei Theodor Hanf, Koexistenz im Krieg. Staatszerfall und Entstehen einer Nation im Libanon, Baden-Baden 1990. gen Konfrontation, siehe Theodor Hanf, E pluribus unum? 58 Meinungsumfragen zeigen, dass die Intensität konfessio- Lebanese Opinions and Attitudes on Coexistence, Byblos: Friedrich- neller Einstellungen bereits 2002 beträchtlich zugenommen Ebert-Stiftung, 2007, (Zugriff am 24.4.2014).

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unvermeidlich der »Gründungsmythos« der libanesi- Rhetorik griff in einer Weise um sich, die auch viele schen Unabhängigkeit wieder ins Bewusstsein der nicht-schiitische Aktivisten als abstoßend empfanden. Libanesen, die Erinnerung an den gemeinsamen Unter den Schiiten selbst blieben nur diejenigen bei Kampf gegen die französische Kolonialmacht in den der Bewegung, die eindeutig gegen die Hisbollah 1940er Jahren.59 Eines der zentralen Ereignisse der waren oder anderen, vorgeblich nicht-konfessionellen Großdemonstration am 14. März war dann auch die Gruppierungen angehörten wie der Demokratischen Verlesung einer erneuten Souveränitätserklärung Linken oder der nationalistischen Bewegung des im durch den später ermordeten Publizisten Gibran Exil lebenden Generals Michel Aoun. Der 8. März Tueni, in der christliche und muslimische Libanesen verschob die Maßstäbe, denn die an jenem Tag in das das Versprechen abgaben, in guten und in schlechten Stadtzentrum Beiruts strömenden Massen von Hisbol- Zeiten zusammenzuhalten. Mit ihrer ekstatischen lah-Sympathisanten stellten den von der libanesischen Zurschaustellung nationaler, konfessionsübergreifen- Opposition erhobenen Anspruch in Frage, den Willen der Harmonie und Einheit erhob die Bewegung des des gesamten libanesischen Volkes zu repräsentieren. Märtyrerplatzes für sich einen besonders wirksamen Die Aktivisten vom Märtyrerplatz antworteten mit den Anspruch auf Legitimität, während gleichzeitig den gleichen Mitteln und setzten das Klientelnetzwerk der von der Besatzungsmacht gesteuerten politischen Hariri-Familie ein, um ihren politischen und morali- Institutionen ebendiese Legitimität vollständig ab- schen Anspruch durch quantitative Überlegenheit zu gesprochen wurde. untermauern. Mit dem Schulterschluss aller anderen Doch nicht alle Bevölkerungsgruppen fühlten sich Glaubensgemeinschaften gegen die Schiiten gelang von diesem Narrativ der nationalen Einheit gleicher- dies auch.61 In weniger als einem Monat geriet die maßen vertreten. Beobachter wiesen schon früh auf anfangs von spontan agierenden Jugendlichen ins die auffällig niedrige Beteiligung schiitischer Libane- Leben gerufene Bewegung unter die vollständige Kon- sen hin. Genauer gesagt hielten viele Libanesen, die trolle konfessionell gebundener politischer Akteure, den politischen Ansichten der Hisbollah nahestanden die einmal mehr ihre partikularistischen Interessen (überwiegend, aber nicht ausschließlich Schiiten), die unter dem Banner des libanesischen Patriotismus Ermordung Hariris von Anfang an für eine von Israel verfolgten. unter falscher Flagge durchgeführte Operation, die Syrien kompromittieren sollte,60 und schrieben die Ereignisse am Märtyrerplatz amerikanischen Machen- 2011: Ein neuer Beiruter Frühling schaften zu. Dennoch beobachtete die Partei selbst das Geschehen drei Wochen lang abwartend aus der Anfang 2011 verband sich der Enthusiasmus vieler Ferne. Libanesen über die offensichtlichen Erfolge der Auf- Die Bewegung auf dem Märtyrerplatz bestritt diese standsbewegungen in Ägypten und Tunesien mit der Abwesenheit der Schiiten zunächst. Zum Beweis, dass Unzufriedenheit über die mit Fraktionskämpfen der Eindruck schlicht falsch sei, wurden einzelne beschäftigte politische Klasse im eigenen Land. Die schiitische Teilnehmer ins Rampenlicht gestellt und Begeisterung über die Ereignisse in Nordafrika einte Zuversicht bekundet, dass sich bald mehr und mehr die Menschen über all jene konfessionellen und poli- Schiiten der Bewegung anschließen würden. Als die tischen Bruchlinien hinweg, die den Libanon seit 2005 Hisbollah am 8. März schließlich Position bezog, wan- spalteten. Deshalb waren die Aktivisten, die 2011 die delte sich die Hoffnung in Aggression. Antischiitische ersten Proteste im Libanon organisierten, davon über- zeugt, dass eine breite Mobilisierung rund um die 59 Siehe Hanna Ziadeh, Sectarianism and Intercommunal Nation- Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und einer building in Lebanon, London 2006, Kapitel 5. inklusiveren Politik sowie der gemeinsame Wider- 60 Interviews des Autors in Wohnvierteln, die von der Hisbollah dominiert werden, im Februar 2005. Schiitische stand gegen eine korrupte politische Klasse dazu bei- Jugendliche, die sich ein Stück weit von der Partei distanzier- ten, brachten ihre Sympathie für die antisyrische Agenda der 61 Auf beiden Seiten wurden die Teilnehmerzahlen zu Pro- Proteste zum Ausdruck und verwiesen auf die Konkurrenz pagandazwecken zu einer Höhe aufgebauscht, die an den durch billige syrische Arbeitskräfte. Diejenigen, die an den jeweiligen Standorten gar nicht möglich gewesen wären Demonstrationen teilgenommen hatten, berichteten von (angeblich eine Million am 8. März und anderthalb Millionen antischiitischen Parolen bereits vor dem 8. März, insbeson- am 14. März). Dagegen erscheint das von diesen Berichten dere von Hariri-Anhängern aus sunnitisch bewohnten Stadt- angenommene Verhältnis der Teilnehmerzahlen der beiden vierteln. Demonstrationen (2:1) in etwa angemessen.

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tragen könnten, die konfessionellen Gegensätze ab- Bewegung von Anfang an zu verbalen Gefechten zwi- zubauen oder zumindest zu mildern.62 schen Mitgliedern dieser Parteien, die den »Wider- Da sich die Bewegung die Abschaffung des »konfes- stand« gegen Israel und die USA zur ersten nationalen sionellen politischen System« auf ihre Fahnen ge- Pflicht ausriefen, und Aktivisten, die der Hisbollah schrieben hatte, erschien die von Anfang an starke keinen Sonderstatus einräumen wollten. Als einige Präsenz von Mitgliedern säkularistischer Parteien wie Kräfte auf schärfere Angriffe gegen die politische der Libanesischen Kommunistischen Partei (LKP) und Klasse drängten und bestimmte Politiker namentlich der Syrischen Sozial-Nationalistischen Partei (SSNP)63 als Symbole des zu stürzenden »konfessionellen Re- zunächst nur plausibel.64 Trotz ihrer antikonfessio- gimes« attackieren wollten, folgten lange Auseinander- nellen politischen Programmatik sind diese Parteien setzungen, die in einem fragwürdigen Kompromiss in der Vergangenheit jedoch strategische Bündnisse endeten: Während die Demonstranten auf Spruch- mit Parteien eingegangen, die ein eindeutig religiös bändern die Führer aller relevanten konfessionellen geprägtes Profil haben, und vertreten politische Posi- Parteien geißelten, nahmen sie von der Hisbollah tionen, die für viele Libanesen einen konfessionellen lediglich den Vorsitzenden der Parlamentsfraktion ins Anstrich haben. Auf der Suche nach starken staatlichen Visier der Kritik; Generalsekretär Hassan Nasrallah Partnern bei der Verwirklichung seiner Vision eines blieb als Ikone des »Widerstands« verschont. Nationalstaats auf dem Gebiet des »fruchtbaren Halb- Den libanesischen Medien und der Öffentlichkeit monds«65 war der libanesische Zweig der SSNP seit mit ihrem gut entwickelten Sensorium für versteckte Jahrzehnten ein treuer Anhänger des syrischen Baath- konfessionelle und parteipolitische Interessen blieb Regimes und nach 2005 ein loyaler Bündnispartner diese Doppelbödigkeit natürlich nicht verborgen. Da- der Hisbollah, was auch deren direkte militärische her dauerte es nicht lange, bis speziell jene Medien, Unterstützung während der Zusammenstöße im Mai die hinter der »Allianz des 14. März« stehen, die 2008 einschloss. Dieser Kurs brachte der Partei Kabi- 2011er-Bewegung als eine kaum verschleierte Propa- nettsposten und vorteilhafte Wahlbündnisse ein. Die gandaaktion der »Allianz des 8. März« darstellten. LKP ihrerseits hat sich, geleitet von anti-imperiali- Diese Wahrnehmung schien noch dadurch bestätigt stischen und anti-zionistischen Zielsetzungen, in der zu werden, dass Parlamentspräsident Nabih Berri, der jüngeren Vergangenheit trotz ideologischer und histo- berüchtigt für die Ausnutzung (schiitischer) konfes- rischer Gegensätze eng an der politischen Linie der sioneller Quoten zugunsten seiner eigenen Klientel- Hisbollah orientiert.66 So kam es 2011 in der neuen netzwerke ist, der Bewegung öffentlich seine Unter- stützung aussprach. Letzteres verstärkte den verbreite- 62 Forschungsinterview mit Aktivist Basil Saleh, September ten Verdacht, dass die Forderung nach einem Ende des 2011. konfessionell geprägten politischen Systems (also nach 63 Einige Aktivisten behaupten, dass Parteimitglieder auf- grund ihres Erfahrungsvorsprungs im Organisieren und Lei- Abschaffung konfessioneller Quoten, der Vetorechte ten von politischen Veranstaltungen schon die ersten Treffen etc.) nichts weiter sei als ein Manöver, dass demogra- der aufkeimenden Bewegung dominiert hätten, Forschungs- fische Gewicht der libanesischen Schiiten in eine poli- interview mit Aktivist Ali Noureddine, September 2011. tische Vormachtstellung umzumünzen.67 64 Siehe Basim Sheet, »Die Bewegung für die Abschaffung Die internen Differenzen verschärften sich zusätz- des konfessionellen Systems und seiner Symbole« (arabisch), lich, als der Konflikt im benachbarten Syrien eska- Permanent Revolution (online, in Arabisch), 2012, (Zugriff am ihre Solidarität mit oder gar Begeisterung für die syri- 25.4.2014). sche Aufstandsbewegung zum Ausdruck und begriffen 65 Das Attribut »syrisch« im Namen der Partei bezieht sich sie als Teil des in der gesamten arabischen Welt aus- auf ein Gebiet, das sich von der östlichen Mittelmeerküste bis zum Persischen bzw. Arabischen Golf und damit weit über die Grenzen des heutigen Staates Syrien hinaus erstreckt. Widerstand gegen die israelische Besatzung monopolisiert zu Die Partei vertritt eine Nationalidee, die sich auf eine grenz- haben und behaupten, die Hisbollah habe Operationen überschreitende gemeinsame Kulturgeschichte dieses geo- anderer Organisationen, zum Beispiel der linksorientierten graphischen Raumes gründet und in der sich verschiedene Libanesischen Nationalen Widerstandsfront, aktiv sabotiert. Glaubensrichtungen, Ethnien und Sprachen wiederfinden 67 Das exakte demografische Verhältnis ist nicht bekannt, sollen. jedoch werden besonders die sunnitischen Libanesen von der 66 Viele Kommunisten machen die Hisbollah für die Ermor- Furcht umgetrieben, das Wachstum der schiitischen Konfes- dung linker Intellektueller in den späten 1980er Jahren ver- sionsgemeinschaft könnte ihre traditionelle Vorrangstellung antwortlich. Darüber hinaus beschuldigen sie die Partei, den innerhalb des muslimischen Lagers in Frage stellen.

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getragenen Kampfes gegen repressive Regierungen. Sie waren entsetzt, als sich herausstellte, dass viele ihrer Mitstreiter stattdessen Partei für das Assad-Regime er- griffen und diese Haltung mit Syriens Unterstützung für die Widerstandsagenda der Hisbollah begründe- ten. Die Gleichsetzung des syrischen Aufstands mit sunnitisch-islamistischem Extremismus (mit Verbin- dungen zu Akteuren im Libanon), die Medien und soziale Netzwerke aus dem Umfeld der »Allianz des 8. März« betrieben, löste bei nicht-sunnitischen Akti- visten noch weitere Ängste aus. Die Unabhängigen unter den Initiatoren der Kampagne für »den Sturz des konfessionellen Systems« waren nun gefangen zwischen Parteistrategen, die die Mobilisierung zu taktischen Zwecken ausnutzten, und Mitkämpfern, deren Wahrnehmung zunehmend von der Furcht vor religiös motivierter Gewalt bestimmt wurde. Für ihre Botschaft, dass die geforderten Veränderungen über konfessionelle und parteipolitische Gräben hinweg zum Vorteil aller Libanesen sein würden, konnten sie bald keine Resonanz mehr erzielen.

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Syrien

Ende Januar 2011 hielten kleine Gruppen von Aktivi- Die Proteste, die diese städtischen, elitebasierten sten im Zentrum von Damaskus Mahnwachen ab, mit Netzwerke von Regimekritikern organisierten, wur- denen sie auf soziale Probleme aufmerksam machen den in den folgenden Wochen mutiger und gipfelten und ihre Unterstützung für die beginnende Revolu- schließlich in einer am 16. März vor dem Innenminis- tion in Ägypten demonstrieren wollten. Sie wurden terium abgehaltenen Demonstration für die Freilas- eingeschüchtert und von Schlägern vertrieben. Auf- sung politischer Gefangener. Sie konnten jedoch nie rufe zu einem »Tag des Zorns« am 4. Februar, die in die Dynamik einer Massenbewegung erreichen. Statt- den sozialen Medien verbreitet wurden, verhallten dessen begehrten die Bewohner von Vierteln abseits ohne nennenswerte Reaktionen.68 Einige der erfahre- der Stadtzentren und in den Provinzstädten gegen neren oppositionellen Aktivisten bekundeten öffent- Missstände auf, die sie zuvor als unausweichliche Tat- lich ihre Zweifel, ob es in Syrien zu einer Erhebung sachen des Lebens hingenommen hatten. Zum ersten des Volkes kommen könne, und wiesen darauf hin, größeren Protest kam es am 17. Februar im belebten dass den Revolutionen in Tunis und Ägypten jahre- Damaszener Viertel Harika nach einer Auseinander- lange Vorarbeit vorausgegangen sei, die in Syrien setzung zwischen einem Bewohner und der Verkehrs- nicht möglich war.69 Vor 2011 waren Aktivitäten in polizei.72 Dem folgten Demonstrationen in der süd- einem vordergründig unpolitischen sozialen und lichen Stadt Daraa, wo sich der Zorn des Volkes gegen kulturellen Rahmen praktisch die einzige Möglichkeit einen ohnehin unbeliebten örtlichen Gouverneur an für praktizierten Dissens. Eng überwacht von den der Festnahme und Misshandlung von Schulkindern allgegenwärtigen Sicherheitsdiensten und gelegent- entzündete, die »revolutionäre« Graffitis gemalt hat- lichen Repressionen ausgesetzt, wurde diese »laterale ten.73 Die von Online-Aktivisten vor Ort über ausländi- Zivilgesellschaft«70 mit ihren linken, liberalen und sche Netzwerke verbreiteten Bilder der Gewalt gegen säkularen Anschauungen so lange toleriert wie sie die Bewohner Daraas lösten in ganz Syrien Proteste sich mit einem Minimum an öffentlicher Präsenz aus. In den ersten drei Monaten des Aufstands han- begnügte und darauf verzichtete, dauerhafte und delte es sich um kleine, spontan formierte Zellen unabhängige Strukturen zu schaffen.71 junger und politisch meist unerfahrener Aktivisten, die auf ein zunehmend harsches Vorgehen der Sicher-

heitskräfte trafen. Im Juni 2011 schuf der Abzug der 68 »Q&A: Syrian Activist Suhair Atassi«, Aljazeera.com, 9.2.2011, Sicherheitskräfte aus Hama, der viertgrößten Stadt (Zugriff am 25.4.2014). Demonstrationen, die die Stadt fast einen Monat lang 69 Ammar Abdulhamid, »Syria Is not Ready for an Uprising«, in Beschlag nahmen.74 Dagegen blieb die Bewegung in in: The Guardian, 7.2.2011, (Zugriff am 25.4.2014). die Außenbezirke beschränkt, während in den Zentren 70 Dieser Begriff wurde dem Autor 2007 von einem syrischen beider Städte Regierungsanhänger Gegendemonstra- Intellektuellen vorgeschlagen, der sich bemühte, unter dem tionen abhielten. Im Sommer 2011 gingen die gewalt- Schutz reformwilliger Kräfte innerhalb des Regimes Frei- räume für »unabhängige« öffentliche Aktivität zu schaffen. 71 Die meisten NROs wurden gezwungen, sich unter die 72 Al-Quds Al-Arabi, 18.2.2013. Eine englische Zusammen- Ägide der von First Lady Asma Al-Assad begründeten »Syri- fassung und ein Video der Ereignisse sind verfügbar unter schen Stiftung für Entwicklung« zu stellen, Salam Kawakibi (Zugriff am 9.4.2014). All Odds, Den Haag: Humanist Institute for Cooperation with 73 Hugh Macleod, »Inside Deraa«, Aljazeera.com, 19.4.2011, Developing Countries (Hivos), April 2013 (Knowledge Pro- (Zugriff am 25.4.2014). The Guardian, 1.8.2011, (Zugriff am 25.4.2014).

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freien Kundgebungen im Zuge des immer härteren Macht unterbinden würden, selbst aber nicht in der Durchgreifens der Sicherheitskräfte nach und nach in Lage waren, solche Netzwerke ins Leben zu rufen. Eine bewaffnete Kämpfe über. Trotz wiederholter inter- Karriere in der Armee oder im Sicherheitssektor war nationaler Versuche, in dem Konflikt zu vermitteln für viele Angehörige dieser, in ihrer Geschichte lange (unter anderem von Seiten Kofi Annans), steuerte das an den Rand gedrängten Gemeinschaft eine Möglich- Land seit der Gründung der Freien Syrischen Armee keit zum gesellschaftlichen Aufstieg.77 Ende Juli auf direktem Weg in einen Bürgerkrieg. Gleichzeitig band Hafis Al-Assad die überwiegend sunnitische städtische Kaufmannsklasse, die seine linksgerichteten Vorgänger verprellt hatten, wieder an Konfession, Macht und Gewalt75 das Regime und vergab einflussreiche Ämter an Per- sonen, die in ihren Heimatregionen über traditionelle Alawiten, die allgemein dem schiitischen Islam zu- Autorität und soziales Kapital verfügten. Über die gerechnet werden, machen ungefähr zehn Prozent der weitverzweigten Strukturen der Baath-Partei konnten syrischen Bevölkerung aus, dominieren jedoch das Provinzeliten unabhängig von ihrer Religionszugehö- Militär und den allmächtigen Sicherheitssektor in rigkeit Zugang zum Machtzentrum und zu Ressourcen Syrien.76 Diese Vorrangstellung geht auf die Rekrutie- erlangen. Damit sicherte sich das Regime ihre Unter- rungspräferenzen der französischen Kolonialverwal- stützung, während sie zugleich immer unter den tung zurück. Die jetzige Form ihrer Vorherrschaft wachsamen Augen von zumeist alawitischen Sicher- erreichten die Alawiten jedoch erst durch das Jahr- heitsoffizieren blieben. An der Spitze dieser Pyramide zehnt der Putsche und Gegenputsche, an dessen Ende aus Klientelismus und Kontrolle mündeten alle diese im Jahr 1970 schließlich Hafis Al-Assad (der Vater des auf Loyalität und Begünstigung gegründeten Bezie- gegenwärtigen Präsidenten) an die Macht kam. hungen schließlich in einem Machtgeflecht, das die Ähnlich wie ihr verfeindetes ideologisches Pendant Großfamilie der Assads, die Sicherheitsdienste und die im benachbarten Irak, erkannte die herrschende syri- syrische Geschäftswelt eng miteinander verwob.78 sche Baath-Partei in ihrem Streben nach Festigung Der Verlauf des gewaltsamen Konflikts zwischen ihrer Macht, dass die Bande von Religions-, Clan- und dem Regime und der Muslimbruderschaft in den Jah- Familienzugehörigkeit stärker waren als alle anderen ren 1976 bis 1982 war ein Beweis für die Wirksamkeit Quellen der Solidarität. Das Regime Hafis Al-Assads dieser Strategie und trug dazu bei, diese Praktiken machte sich diese Erkenntnis zunutze und besetzte noch weiter zu zementieren. Obwohl sie die religiö- die Ränge von Armee, Sicherheitsdiensten und Sonder- sen, sozialen und konfessionellen Vorurteile gegen die einheiten mit loyalen Verbündeten, die überwiegend Emporkömmlinge vom Land aufgriff, konnte die aus der alawitischen Gemeinschaft stammten. Als

Absicherung gegen Widersacher aus den eigenen Rei- 77 Einem in der syrischen Opposition verbreiteten Diskurs hen (Assad selbst hatte einen alawitischen Rivalen aus zufolge verzichtete das Assad-Regime bewusst darauf, die dem Amt gedrängt und wurde ein Jahrzehnt später alawitischen Kerngebiete im Nordwesten zu entwickeln, mit von seinem eigenen Bruder herausgefordert) achtete dem Ziel, Angehörige der Gemeinschaft zur Migration in die das Regime auf ein sorgsam ausbalanciertes Macht- Städte zu bewegen. Als Angestellte im öffentlichen oder Sicherheitssektor wurden sie dann zu abhängigen Klienten gleichgewicht zwischen den verschiedenen alawiti- des Regimes, siehe Christa Salamandra, »Sectarianism in schen Clans. Nicht-alawitische Offiziere wurden in Syria: Anthropological Reflections«, in: Middle East Critique, 22 Positionen untergebracht, in denen sie die Gründung (2013) 3, S. 303–306. von alawitisch kontrollierten Netzwerken autonomer 78 Eine grafische Darstellung des gegenwärtigen Aufbaus der Machtstrukturen findet sich unter . Siehe auch Samer Abboud, Syria’s Business Economy of Syria under Asad, London 1997; Raymond Hinne- Elite between Political Alignment and Hedging Their Bets, Berlin: busch, Syria: Revolution from Above, London/New York 2004. Stiftung Wissenschaft und Politik, August 2013 (SWP Com- 76 Angeblich sind 80 Prozent der Offiziere Alawiten. Berich- ments 22/2013), . Eine Probleme, ihre Befehlsgewalt über Alawiten auszuüben, die aufschlussreiche Analyse der Regionalisierung der Macht im ihnen dem Rang nach eigentlich unterstehen, siehe Reva baathistischen Syrien findet sich bei Kheder Khaddour/Kevin Bhalla, »Making Sense of the Syrian Crisis«, Stratfor.com, Mazur, »The Struggle for Syria’s Regions«, in: Middle East 5.5.2011, (Zugriff am 25.4.2014). struggle-syrias-regions> (Zugriff jeweils am 28.4.2014).

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Muslimbruderschaft das vom Assad-Clan gesponnene denjenigen Mitgliedern der Gemeinschaft, die weder Netz aus wechselseitigen Abhängigkeiten nicht zer- Nutznießer des Regimes noch an dessen Verbrechen stören. So blieben weite Teile der sunnitischen Land- beteiligt waren, Grund, einen Machtwechsel zu fürch- bevölkerung und die städtische Kaufmannsklasse von ten – denn es schien wenig wahrscheinlich, dass eine Damaskus auf Distanz zu den Aufständischen oder neue Führung sich die Mühe machen würde, zwischen stellten sich gar auf die Seite des Regimes. Schuldigen und Unbeteiligten zu unterscheiden. Diese Der Konflikt und insbesondere das Massaker von Logik machten sich teilweise auch die Mitglieder ande- Hama im Jahr 1982 erzeugten ein Klima der Angst, das rer Minderheiten zu eigen (Christen, Drusen, Ismai- vom Regime gründlich genutzt wurde, um seine gesell- liten, Schiiten, Tscherkessen), die als bevorzugte Klien- schaftliche Basis zu konsolidieren und auszubauen. tel des Regimes galten, und aus diesem Grund Vergel- Angriffe der Islamisten auf Alawiten, die nicht in tung befürchteten.81 direkter Verbindung zum Regime standen, schürten die Furcht vor Vergeltungsmaßnahmen nach einem möglichen Regimewechsel und ließen ein kollektives Konfessionalismus im syrischen Aufstand Gefühl der Bedrohung aufkommen, das eine Rückkehr des Islamismus mit bevorstehendem Völkermord Ausgangspunkt des Aufstands von 2011 war die Stadt gleichsetzte.79 Andere Minderheiten wurden vom Daraa und die Region Hauran, die vorwiegend von System Assad durch gelegentliche Vorzugsbehandlun- sunnitischen Arabern bewohnt und dennoch seit gen umworben und waren vornehmlich daran inter- jeher für ihre unerschütterliche Regimetreue bekannt essiert, dass die Islamisten in Schach gehalten wurden. sind. Dieser Landesteil im Südwesten Syriens stellte Auch Sunniten, die sich einem gemäßigt westlichen stets einen gewichtigen Teil der Partei- und Staats- Lebensstil zuwandten, betrachteten den Islamismus beamten82 und verweigerte der Muslimbruderschaft mit Sorge. während des Konflikts von 1976 bis 1982 die Unter- Die bewaffnete Konfrontation in den 1980er Jahren stützung. Die in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts war für das Regime nicht nur ein Beweis dafür, dass eingeführten Wirtschaftsreformen hatten jedoch, der Sicherheitssektor in alawitische Hände gehörte, ebenso wie in anderen Städten der syrischen Provinz, sondern veranlasste es auch dazu, diese Dienste mit für beträchtliche soziale Spannungen gesorgt. Als sich immer größerer Macht, ja sogar tödlicher Macht aus- Mitte März 2011 angesehene Bürger bei Regierungs- zustatten. So verbreitete sich die Wahrnehmung, jeder und Sicherheitsbeamten für die nach ihrer Graffiti- Alawit in beliebiger Position könne mächtige Bezie- Aktion inhaftierten Schulkinder einsetzten (siehe hungen mobilisieren um Gegner und Konkurrenten oben, S. 25) und verächtlich abgekanzelt wurden, ent- auszuschalten. Dieser pauschale Eindruck entsprach luden sich angestaute Wut und Verbitterung in offener zwar nicht immer den Tatsachen,80 war jedoch prä- Rebellion. Die ersten Proteste richteten sich jedoch gend für das öffentliche Bild der Alawiten in den nicht gegen den konfessionellen Charakter des Re- Augen vieler anderer Syrer. Dieses Image gab auch gimes, sondern gegen die Willkürherrschaft des ört- lichen Gouverneurs (dessen Residenz in Brand gesetzt wurde) und die grassierende Korruption, als deren 79 Khaddour und Mazur (»The Struggle for Syria’s Regions« [wie Fn. 78]) berichten von einem Sicherheitsoffizier, der seine Tochter im vorwiegend von Sunniten bewohnten Stadt- teil Midan in Damaskus statt in seiner Heimatstadt Tartous registrieren ließ, damit ihr Ausweis im Fall eines zukünftigen 81 Ängste dieser Art brachten Anfang der 1990er Jahre viele gewaltsamen Konflikts nicht ihren alawitischen Hintergrund syrische Christen dem Autor gegenüber zum Ausdruck; An- verraten würde. gehörige muslimischer Minderheiten berichteten, dass ihnen 80 So bestehen ausgeprägte Unterschiede zwischen Alawiten dieselben Ressentiments entgegengebracht würden wie den aus den verschiedenen Regionen. Zum Beispiel stammen die Alawiten. meisten hochrangigen alawitischen Angehörigen der Sicher- 82 Wie etwa Vizepräsident Farouk Al-Sharaa, Ministerpräsi- heitsdienste aus der Küstenregion und dem Küstengebirge, dent Wael Al-Halaqi, der stellvertretende Außenminister während viele alawitische Bewohner der Zentralebene rund Faisal Al-Mekdad, Informationsminister Omran Al-Zoubi um Homs sich wie Gemeinschaftsangehörige zweiter Klasse sowie der langjährige Ministerpräsident Mahmoud Al-Zoubi, behandelt fühlen, siehe Aziz Nakkash, The Alawite Dilemma in siehe Tareq Al-Abd, »Tribalism and the Syrian Crisis«, As-Safir, Homs. Survival, Solidarity and the Making of a Community, Berlin: 18.1.2013, unter (Zugriff am files/iez/09825.pdf> (Zugriff am 28.4.2014). 28.4.2014).

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Protagonist besonders der Cousin des Präsidenten Baschar Al-Assad hieb in seiner Rede vor dem syrischen Rami Makhlouf attackiert wurde.83 Parlament drei Tage später in dieselbe Kerbe.85 Eine Als leicht zugängliche und oft einzig verfügbare Spirale der Gewalt in Baniyas, Dschibla und Homs Versammlungsorte und potenzielle Zufluchtsorte bei (erstmals tauchten Videos auf, in denen die Mörder die Razzien boten sich den Protestierern die Moscheen an. Leichen ihrer Opfer zur Schau stellten) führte schnell In Daraa wurde die historische Al-Omari-Moschee da- auch zu konfessionell motivierten Ausschreitungen. her zum Zentrum des Aufstands und beherbergte Traditionelle Führungspersönlichkeiten, darunter auch ein Feldlazarett. Sie wurde am 23. März von auch regierungstreue Sunniten, konnten die Lage Regierungskräften gestürmt, wobei fünf Menschen nicht länger unter Kontrolle halten.86 ums Leben kamen. Die gewaltsame Einnahme dieses Angesichts dieser Eskalation, die auf höchster besonderen, nach dem verehrten Kalifen Omar bin Al- Regierungsebene und in regimefreundlichen Medien Khattab benannten sunnitischen Andachtsorts verlieh zusätzlich geschürt wurde, konnten die beträchtlichen dem Konflikt in Daraa augenblicklich eine starke kon- Anstrengungen vieler Aktivisten, konfessionsübergrei- fessionelle Dimension, insbesondere da die Attacke fende Solidarität herzustellen und einen gesamtsyri- alawitischen Stoßtruppen unter dem direkten Kom- schen Nationalismus heraufzubeschwören, das Ab- mando des Präsidentenbruders Maher Al-Assad zu- gleiten in eine offene konfessionelle Konfrontation geschrieben wurde. Einflussreiche religiöse Persön- nur verlangsamen, aber nicht aufhalten. Mit der stei- lichkeiten aus dem Salafisten- und Sufi-Milieu, die bis genden Zahl an Opfern entwickelte sich eine Eigen- dahin ihre Anhänger von einer Beteiligung an den dynamik der Gewalt. Öffentliche religiöse Rituale wie Protesten abgehalten hatten, gingen nun in offene Beisetzungen und Trauerzüge wurden zum Anlass für Opposition zum Regime. neue Proteste und weitere Mobilisierung und damit Anders als Daraa besaßen jedoch viele der Städte, in auch für neue Gewalt. Religiöse Bekundungen und ein denen Solidaritätskundgebungen stattfanden (wie religiöser Wortschatz gewannen in den folgenden zum Beispiel Baniyas, Latakia, Homs), eine gemischte Wochen bei den Demonstrationen immer mehr Raum. Bevölkerungsstruktur aus Alawiten und Sunniten. Am Aufrufe zum Dschihad und das Tragen von Leichen- 25. März befand sich Latakia am Rande einer Kata- tüchern (als symbolischer Ausdruck der Bereitschaft strophe, als bewaffnete Gruppen (angeblich Schmugg- zum Märtyrertod) verbreiteten sich im April in Bani- ler aus dem Umfeld eines Mitglieds der Assad-Familie) yas und in Homs.87 Dies spielte der Strategie des Re- aus dem umliegenden Bergland in die Stadt strömten, gimes in die Karten, den Aufstand als einen von radi- um die örtlichen Alawiten vor Übergriffen durch ver- kal-islamistischen Gruppen kontrollierten Umsturz- meintlich islamistische Demonstranten zu schützen. versuch zu verunglimpfen, schreckte aber auch zu- Unbekannte Personen tauchten in alawitisch und nehmend solche Mitglieder der nicht-sunnitischen sunnitisch bewohnten Vierteln auf, um die Bewohner Gemeinschaften ab, die anfänglich an den Demonstra- vor bevorstehenden Angriffen der jeweils anderen tionen gegen das Regime teilgenommen hatten.88 Die Gruppe zu warnen. Die traditionellen Führer beider von der Grünen Bewegung89 im Iran aus dem Jahr Gemeinschaften arbeiteten mit den örtlichen Behör- den zusammen, so dass die Situation unter Kontrolle (Zugriff am 23.6.2014). sprecherin Buthaina Shaaban jedoch weiteres Öl ins 85 Filmaufnahmen der Rede sind zu sehen unter Feuer und behauptete, es sei eine »konfessionelle (in Arabisch, Verschwörung« gegen Syrien im Gange.84 Präsident Zugriff am 28.4.2014); Barout( Geschichte Syriens im vergangenen Jahrzehnt [wie Fn. 83], S. 33) zählt 17 Erwähnungen des Aus- drucks »konfessioneller Konflikt« in der Rede. 83 So zerstörten die Demonstranten die Büros von Syriatel, 86 Siehe Barout, Geschichte Syriens im vergangenen Jahrzehnt einem Mobilfunkunternehmen unter der Kontrolle von [wie Fn. 83], Teil 5-5-2, S. 9f, (Zugriff am Jamal Barout, Geschichte Syriens im vergangenen Jahrzehnt (ara- 28.4.2014). bisch), Teil 5-5-1, Doha: Arab Center for Research & Policy 87 Ebd. Studies, 16.9.2011, S. 13, 20–23, 31, (Zugriff am 89 Demonstranten berichteten, dass sie in der ersten Phase 28.4.2014). des Aufstands in direktem Kontakt mit iranischen Aktivisten 84 »Tote in Syrien und Anschuldigungen, das Regime sei das standen, die sie über Taktiken und Strategien von Protesten Ziel« (arabisch), Aljazeera.net, 27.3.2011, berieten. Persönliche Kommunikation im Sommer 2011.

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2009 übernommene Protestmethode des nächtlichen geschürt, die sie am herrschenden Regime festhalten »Tabkir«, bei der ganze Stadtviertel »Allahu Akbar« ließen. (Gott ist groß) von den Dächern rufen, diente viel- Zudem propagierte das Regime während des Kon- leicht dazu, ein Gefühl von Solidarität und kollektiver flikts durchgängig das Leitbild eines säkularen syri- Macht zu erzeugen, verbreitete jedoch auch Angst und schen Nationalismus und stellte sich als einzigen Schrecken in den nicht-sunnitischen Gemeinschaften. aufrichtigen Verfechter eines multiethnischen und Im Gegenzug trug das Regime durch den Einsatz multireligiösen Zusammenlebens dar. Dank seines alawitisch dominierter Milizen und Spezialeinheiten,90 internen Zusammenhalts und der wirksamen Kon- durch kollektive Vergeltungsmaßnahmen gegen sun- trolle über die Medien gelang es dem Assad-System, nitische Dörfer und Stadtteile sowie durch die In- seine Vertreter immer wieder mit dieser Botschaft dienstnahme ausländischer Kämpfer mit schiitischem auftreten zu lassen. Hinweise auf konfessionell moti- Hintergrund (aus dem Libanon, dem Irak und dem vierte Gewalt wurden vertuscht, christliche wie sunni- Iran) dazu bei, viele sunnitische Syrer davon zu über- tische Geistliche als Kronzeugen für den inklusiven zeugen, dass die Repression vor allem konfessionell Charakter des Regimes mobilisiert. Der Opposition motiviert war. war es dagegen aufgrund ihrer Führungsschwäche Fast drei Jahre Kampf, Flucht und gewaltsamer Tod und fehlender offizieller Strukturen nicht möglich, haben die Reihen der auf Integration bedachten ur- sich wirksam von extremistischen Strömungen zu sprünglichen Protestführer gelichtet. Gleichzeitig distanzieren. Dies erlaubte es dem Regime, das Bild drückte die zunehmende Präsenz radikaler Islamisten einer gänzlich von islamistischen Extremisten unter- dem bewaffneten Aufstand einen immer deutlicher wanderten Bewegung zu zeichnen.93 sichtbaren religiösen Stempel auf91 und ließ selbst bei Unabhängig von den strategischen Kalkulationen Syrern mit wenig Sympathie für die Assad-Familie das des Regimes lassen sich die Geschwindigkeit und die Gefühl entstehen, das Regime sei möglicherweise das Wucht der konfessionellen Eskalation in Syrien nur kleinere Übel. mit der tief verwurzelten Angst vor anderen Glaubens- Der Opposition zufolge war das von Anfang an das richtungen erklären, die ihren Ursprung in den gewalt- Ziel des Regimes. Die Entlassung militanter Islamisten samen Konflikten der 1980er Jahre hat und durch die aus den Gefängnissen, die Aufstellung von Artillerie Praxis politischer Herrschaft in den folgenden drei neben schiitischen oder christlichen Andachtsorten, Jahrzehnten mit Bedacht geschürt wurde. Selbst ein um Vergeltungsmaßnahmen zu provozieren, und der noch so sorgfältig geplanter und umgesetzter Master- Einsatz alawitischer Milizen zur Niederwerfung auf- plan hätte kein solches Klima des Schreckens und der ständischer Viertel92 werden unter anderem als Beweis Feindseligkeit aus dem Nichts heraufbeschwören dafür angeführt, dass das Regime eine bewusste und können: Erinnerungen an vergangene, konfessionell zynische Strategie verfolge, die anfänglichen Bürger- motivierte oder so wahrgenommene Gewalttaten und proteste in einen religiös motivierten Konflikt aus- erlittene Ungerechtigkeit verbanden sich zu einem arten zu lassen. So habe es jene breite Welle der Soli- äußerst leicht entflammbaren Gemisch. Nur ein klei- darität mit den Opfern staatlicher Gewalt verhindert, ner Funke der Gewalt genügte, um es zur Explosion zu die in anderen Ländern die Aufstände vorangetrieben bringen. hat, und stattdessen unter den Alawiten, wie auch bei Die syrische Opposition konnte diese Entwicklung anderen Minderheiten und säkularen Sunniten, Ängste nicht verhindern. Ein Problem lag darin, dass den Aktivisten der jüngeren Generation die Sprengkraft

93 Berichten übergelaufener Soldaten zufolge wurden die 90 Siehe Nakkash, The Alawite Dilemma in Homs [wie Fn. 80]; Demonstranten in den ersten Krisenwochen in Anweisungen Joseph Holliday, The Assad Regime: From Counterinsurgency to Civil und Befehlsschreiben als »Terroristenbanden« im Solde exter- War, Washington, D.C.: The Institute for the Study of War, ner, mit Saudi-Arabien verbundener Verschwörer bezeichnet. März 2013, S. 10, (Zugriff am 26.6.2014). eingeschränkt und der Zugang zu Medien streng kontrolliert, 91 Diese Beobachtung bezieht sich auf die Wahrnehmung von um zu verhindern, dass anderslautende Informationen zu Syrern, die noch unter der Kontrolle des Regimes leben. Sie den Truppen vordrangen, siehe Human Rights Watch, »By All enthält keine Einschätzung über die relative Stärke oder Means Necessary«. Individual and Command Responsibility for Crimes Schwäche der säkularen/moderaten Kräfte im Vergleich zu against Humanity in Syria, Dezember 2011, (Zugriff am 92 Nakkash, The Alawite Dilemma in Homs [wie Fn. 80], S. 9f. 28.4.2014).

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der konfessionellen Gegensätze erst deutlich wurde, schen Gesellschaft verwurzelt haben. Damit standen als diese schon nicht mehr in den Griff zu bekommen dem Assad-Regime politische Werkzeuge zur Ver- waren. Anfangs waren viele jüngere Syrer fest davon fügung die es ihm ermöglichten, die Protestbewegung überzeugt, dass der überwältigende Wunsch nach in einem bestimmten Teil der Gesellschaft einzuhegen einem Ende der Unterdrückung mühelos konfessio- und in anderen Gruppen Ängste zu verbreiten, die nelle Differenzen überbrücken würde, die sie ohnehin diese an die Seite des Regimes zwangen. häufig als irrelevant ansahen (etliche geben an, sich vor 2011 der konfessionellen Identität vieler Bekann- ter oder Kollegen nicht bewusst gewesen zu sein). Genauso glaubten sie, dass die Ängste der Minder- heiten durch nachdrückliche Bekenntnisse zu einer alle Syrer einschließenden Solidarität überwunden werden könnten.94 Die Regimekritiker der älteren Generation, die es besser wussten, leugneten und verdrängten das Problem häufig, einige so gut, dass sie das offensichtliche Wiederaufflammen des konfessio- nellen Fanatismus nicht wahrnahmen. Diese Haltung ging nicht selten mit der kategorischen Weigerung einher, das Problem auch nur zu erörtern. Weder symbolische Ernennungen von Kurden, Christen und Alawiten in den oppositionellen Syrischen Nationalrat bzw. in die 2012 gegründete »Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte« noch rhetorische Selbstverpflichtungen auf die nationale Einheit und auf einen »zivilen Staat«95 konnten diese Ängste und Bedenken abbauen. Manche Kritiker be- zeichnen diesen Diskurs gar als Spiegelbild der Stra- tegie des Regimes.96 Damit soll nicht behauptet wer- den, dass syrische Intellektuellen und Oppositionelle durch einen proaktiven Umgang mit dem Faktor Kon- fessionalismus – was zunächst einmal die Anerken- nung des Problems vorausgesetzt hätte – das Abgleiten in religiös motivierte Auseinandersetzungen hätten aufhalten oder wesentlich verzögern können. Vielmehr soll aufgezeigt werden, dass Jahrzehnte der autoritä- ren Herrschaft den Konfessionalismus tief in der syri-

94 Interviews mit syrischen Aktivisten im Exil, Beirut (Okto- ber 2012, April 2013) und Kairo (Oktober 2013). 95 Wie Akram Al-Bunni aufzeigt, hatten verbale Selbst- verpflichtungen dieser Art häufig einen Beiklang von takti- schem Opportunismus und trugen damit nicht zur Glaub- würdigkeit der Opposition bei, Akram Al-Bunni, The Syrian Revolution and Future of Minorities, April 2013 (Arab Reform Brief 67), S. 6f, (Zugriff am 28.4.2014). 96 Forschungsinterviews mit den Oppositionsaktivisten Maan Abdelsalam (Oktober 2011), Salam Kawakibi (Juli 2013). Salamandra (»Sectarianism in Syria« [wie Fn. 77], S. 305) liefert eine besonders anschauliche Beschreibung für die Dilemmata syrischer Dissidenten: »Erklärte Atheisten be- schuldigen sich gegenseitig des Konfessionalismus.«

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Schlussbemerkungen und Empfehlungen

Die Volksbewegungen, die 2011 in Bahrain, im Irak als Zentrum des konfessionell motivierten Widerstands und Syrien und 2005 und 2011 im Libanon entstan- gegen das Assad-Regime. In der Innenstadt von Damas- den, nahmen für sich in Anspruch, alle sozialen, kus hätten Demonstrationen solcher Größenordnung ethnischen und religiösen Gruppen im Wunsch nach diese Gleichung grundlegend geändert. Es gelang aber Veränderung zu vereinen. Jede dieser Gesellschaften dem Regime, die Kontrolle über diese Räume zu be- war in ihrer jüngeren Vergangenheit von destruktiven haupten und für die Aufmärsche der eigenen Anhän- konfessionellen Konflikten erschüttert worden. Dies ger zu nutzen. erklärt, warum in allen vier Ländern das Narrativ Diese Beobachtung weist auf das zentrale Dilemma einer nationalen Aussöhnung im und durch den all dieser Bewegungen hin: Ihre inklusiven Agenden Kampf gegen eine repressive Herrschaft ein erheb- und Diskurse überzeugten nicht alle gesellschaftlichen liches Mobilisierungspotential entfalten konnte. Statt Gruppen gleichermaßen. Auch bei Großdemonstratio- als Beschützer der nationalen Einheit wurden Regime nen hielt sich die weit überwiegende Mehrheit min- und etablierte politische Akteure als Verursacher kon- destens einer konfessionellen Gruppe fern oder schlug fessioneller Konflikte dargestellt. Wenn es nur gelänge, sich auf die Seite des Regimes. Die individuelle Teil- sich ihrer zu entledigen, wäre damit auch die Wurzel nahme einiger Angehöriger dieser Gruppen – oft, dieser Gegensätze entfernt. Mit diesem Argument wenn auch nicht ausschließlich, handelte es sich um suchten die Bewegungen der Legitimation dieser Re- Vertreter der sozialen Elite – vermochte anfangs den gime den Boden zu entziehen, eine Legitimation, die Anschein von Inklusivität aufrechtzuerhalten. Doch sich gerade aus dem Anspruch speiste, diese potenziell die Hoffnung, dass die Präsenz dieser Personen größe- konfliktträchtigen Gesellschaften zusammenzuhalten. re Teile der abseits stehenden Gruppen dazu bewegen Die Zugkraft dieses Narrativs war 2005 im Libanon könnte, sich dem Aufstand anzuschließen, zerschlug am stärksten, aus dem schlichten Grund, dass dort sich spätestens, als diese stattdessen Teil einer Gegen- tatsächlich eine – wenn auch oberflächliche – Versöh- bewegung wurden und die gewaltsame Unterdrückung nung historischer Rivalen, der sunnitischen Muslime der Aufständischen unterstützten oder sich sogar und Christen, stattfand und Mauern der Angst ein- aktiv daran beteiligten. gerissen wurden. Die Ereignisse rund um den Märtyrer- Einige der Gründe für dieses Scheitern sind in den platz in Beirut zwischen dem 18. Februar und 14. März Protestbewegungen selbst zu suchen. Im Gegensatz zu sind ein besonders anschauliches Beispiel für das ihren Vorbildern in Tunesien und Ägypten gereichte transformative Potential kollektiver Aktion und für den Aktivisten in den hier erörterten Ländern das die Ressourcen, die durch die Überwindung gesell- Fehlen einer zentralen und hierarchischen Führung schaftlicher Gräben freigesetzt werden können, beson- eindeutig zum Nachteil. Informelle und spontan eta- ders wenn es Gewalterinnerungen und existenzielle blierte Entscheidungsstrukturen boten zwar Foren zur Ängste sind, die diese Gräben haben entstehen lassen. Diskussion von Slogans und Botschaften, vermochten Sie sind auch ein Beleg für die besondere Bedeutung es aber nicht, eine einheitliche politische Linie vor- öffentlicher Räume in gespaltenen Gesellschaften: In zugeben und alle Beteiligten darauf zu verpflichten. drei der vier Fälle fanden die Proteste an Orten statt, Radikale und auch konfessionelle Kräfte nutzten die die exponiert und zugleich konfessionell »neutral« Gelegenheit des Aufruhrs, um kontroverse und für und damit geeignet waren, dem Narrativ der natio- manche Bevölkerungsgruppen bedrohliche Ziele zu nalen Versöhnung einen topographischen Ausdruck propagieren. Traditionelle und neue Medien der zu verleihen. Im Gegensatz dazu waren die riesigen Gegenseite griffen solche Diskurse dankbar auf, um Demonstrationen in der syrischen Stadt Hama im Juli die »verdeckte« (konfessionelle) Agenda der Bewegung 2011 trotz einer erheblichen Beteiligung von Angehö- zu entlarven. Die gewaltsame Repression und stei- rigen der konfessionellen Minderheiten nicht geeignet, gende Opferzahlen ließen die Stimmen der Radikalen dieses Narrativ zu stützen. Denn Hama gilt als sunni- immer dominanter werden. Wo eine kohärente Orga- tische Stadt und besonders seit dem Massaker von 1982 nisation mit einer klar strukturierten Führung viel-

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leicht in der Lage gewesen wäre, solche »Extremisten« All diese Faktoren trugen dazu bei, das politische im Griff zu behalten oder sich überzeugend von ihnen Potential des Narrativs der nationalen Versöhnung zu abzusetzen, konnte dies einer Bewegung mit einer begrenzen. Rhetorische Bekenntnisse und moralische Vielfalt an Sprechern und Meinungen nicht gelingen. Appelle allein erwiesen sich als unzureichend: Wenn Darüber hinaus bedienten sich die Demonstranten durch kollektive politische Aktion Mauern der Angst zwar durchaus innovativer und kreativer Formen des niedergerissen und Solidarität über Gräben hinweg öffentlichen Protests. Dennoch waren ihre Botschaften erzeugt werden sollen, müssen Individuen und Grup- oft von religiöser Symbolik und Rhetorik durchsetzt, pen von beiden Seiten des Grabens sich tatsächlich wie es in Gesellschaften, wo religiöse Praxis ein zen- von Angesicht zu Angesicht begegnen und diese Soli- traler Bestandteil des Alltagslebens ist und einen der darität unmittelbar in die Tat umsetzen. Deshalb ist es wenigen Räume mit begrenzter Autonomie bietet, nur auch so wichtig, dass die für die Proteste genutzten natürlich ist. Aber da Gebetsstätten und religiös kon- öffentlichen Räume nicht mit einer bestimmten kon- notierte Ausdrucksformen die Konfession einer Person fessionellen Bedeutung befrachtet sind, sondern eine verraten, war es für die Gegner dieser Bewegungen ein neutrale Plattform bilden, auf der sich alle Teilnehmer Leichtes, sie mit einer bestimmten Konfession zu iden- auf Augenhöhe begegnen können. Selbst in der An- tifizieren und damit ihren inklusiven Diskurs zu dis- fangsphase, in der die inklusiven Botschaften noch kreditieren. deutlich dominierten und die Parteien im Hintergrund Die politischen Parteien wurden zunächst von den blieben, vermochte das Narrativ der nationalen Ein- Massenbewegungen überrascht. In Bahrain und im heit und Aussöhnung in den Gesellschaften der vier Libanon schalteten sie sich jedoch schnell ein und hier untersuchten Staaten nicht genügend Menschen spielten eine ausgesprochen ambivalente Rolle. Einer- auf beiden Seiten des Grabens zu überzeugen, um es seits erhöhte sich so die Zahl der Teilnehmer, anderer- von einem emphatisch vorgetragenen Ideal in poli- seits unterminierte die sichtbare Präsenz von Parteien tische Realität zu verwandeln. mit konfessioneller Ausrichtung oder so wahrgenom- menen Programmen den überkonfessionellen An- Die herausgeforderten Regime nutzten diese Schwä- spruch. Das galt auch dann, wenn ihre Mitglieder chen mit großer Effizienz. Ebenso wie die Machthaber nicht unter dem Banner der Partei marschierten und in Tunesien und Ägypten setzten die Herrscher in aktiv am Aufbau eines konfessionsübergreifenden Bahrain, im Irak und in Syrien sowie die politischen Bündnisses mitarbeiteten. In Syrien hatte die promi- Akteure im Libanon die von ihnen kontrollierten Pro- nente Rolle der Muslimbruderschaft in den Opposi- pagandawerkzeuge ein, um die Aufstandsbewegungen tionsstrukturen, die im Ausland entstanden sind, die in die Nähe radikaler Islamisten zu rücken und/oder gleiche Wirkung, trotz der Bemühungen der Organi- als Handlanger externer Akteure zu diskreditieren. Je sation, ihren Diskurs mit Bekenntnissen zu demokra- nach Ausrichtung des Regimes wurden Saudi-Arabien, tischen Prinzipien zu spicken. Dagegen lehnten die die USA oder der Iran als externe Drahtzieher aus- Aktivisten während der Proteste im Irak im Jahre 2011 gemacht. Wie auch in Tunesien und Ägypten bestand jegliche Beteiligung von Parteien ab, die Teil der herr- der Zweck dieser Propaganda darin, innenpolitische schenden Machtstrukturen waren. Das hinderte schii- Unterstützung für die Anwendung von Gewalt zu tische Parteien und Geistliche nicht daran, die Protest- gewinnen und die internationale Gemeinschaft zur bewegung als Tarnstruktur für Baathisten und die Duldung einer solchen Reaktion zu bewegen. In Gesell- Al-Qaida zu bezeichnen, beraubte sie aber jeder Mög- schaften, die entlang konfessioneller Linien gespalten lichkeit, Verbündete innerhalb der offiziellen Politik sind, bedeutet die Gleichsetzung von Volksbewegun- zu finden. Sunnitische Politiker instrumentalisierten gen mit extremistischen islamistischen Organisatio- ihrerseits 2013 die Proteste im Nordwesten des Landes nen jedoch auch, dass die Teile der Bevölkerung, bei für ihren Machtkampf mit Bagdad und initiierten so denen dieser Diskurs verfängt, das so entworfene Be- eine neue Runde konfessionell motivierter Gewalt. Im drohungsszenario mit einer bestimmten Konfession Libanon stellten sich die Parteien mit konfessioneller identifizieren (mit der sunnitischen im Irak und in Ausrichtung entweder offen gegen die Bewegung vom Syrien, mit der schiitischen in Bahrain oder, wie im Märtyrerplatz oder nutzten sie für ihre eigenen Libanon, je nach politischem Lager mit der einen oder Machtambitionen und machten damit jegliches Poten- der anderen). Die überall verwurzelten kollektiven Er- tial für eine konfessionsübergreifende Alternative innerungen an erlittene Diskriminierung und Gewalt, zunichte. die in jüngerer Zeit erlebten Beispiele konfessioneller

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32 Empfehlungen

Konflikte in der Region und die beschriebenen Schwä- oben nach unten abläuft.«97 Die politischen Führun- chen der Bewegungen machten es den Regimen leicht, gen investierten zweifellos erhebliche Energie und mit ihren Argumenten ausreichend Angst zu verbrei- setzten zum Teil auch rohe Gewalt ein, um ihre Ge- ten, um den Widerhall des Narrativs der nationalen folgschaft zu bewegen, sich einmal mehr in den Einheit und Aussöhnung zu begrenzen. Schutz des Regimes und konfessioneller Ghettos zu Die Anwendung von Gewalt und die unweigerlich begeben. Der schnelle und nachhaltige Erfolg dieser folgende Gegengewalt und Radikalisierung der Oppo- Bemühungen ist jedoch auf die historischen Erfahrun- sitionsbewegungen ließen die Propaganda glaubhaft gen gewaltsamer und autoritärer Herrschaft in diesen klingen oder sogar tatsächlich wahr werden. Statt zu Gesellschaften zurückzuführen. Ganz gleich, ob es Solidarität führte die politische Auseinandersetzung sich bei den bestimmenden Akteuren um Feudal- nun zu vertieften Gegensätzen: Teilnehmer, die ur- herren handelte, die im 19. Jahrhundert Stammes- sprünglich hinter dem inklusiven Narrativ gestanden solidarität zur Bekämpfung von Bauernaufständen hatten, änderten ihre Einstellung und zogen sich mobilisierten, um Geheimdienstagenten, die Jugend- zurück oder schlossen sich sogar Gegenbewegungen liche in monokonfessionelle Volksmilizen rekrutieren, an, die dann Gewalt zwischen den Gemeinschaften oder um eine Monarchie, die sich selbst zum Über- initiierten. In Ägypten konnte gewaltsame Repression lebensgaranten einer konfessionellen Minderheit im Jahre 2011 die Proteste nicht eindämmen, weil sie stilisiert: Das Schema bleibt immer das einer von oben alle Teile der Bevölkerung gleichermaßen traf (oder erzwungenen Solidarität, die letztlich in eine gewalt- dies jedenfalls so empfunden wurde) und damit die same Auseinandersetzung führt und damit sämtliche Menschen zusammenbrachte, während in den hier Optionen für horizontale Solidarität zerstört. Wie die beschriebenen Gesellschaften die Gewalt alte Wunden Ereignisse von 2011 belegen, vertiefen die Herrscher wieder aufriss und neue verursachte und damit die und politischen Führungen in gespaltenen Gesell- Menschen in feindselige, konfessionelle Lager aus- schaften bestehende Gegensätze und Bruchlinien einandertrieb. durch die von ihnen angewandten Strategien und Zusammenfassend lässt sich Folgendes feststellen: Praktiken des Machterhalts. Damit sind sie eine trei- Die Ereignisse von 2011 in Bahrain, im Irak und in bende Kraft hinter jenen Konflikten, auf deren Ein- Syrien sowie im Libanon 2005 und 2011 zeigen deut- dämmung und Kontrolle sie ihren Machtanspruch lich, dass gespaltene Gesellschaften das Potential für gründen, und tragen sie aktiv zu deren Fortdauer und prodemokratische Bewegungen in sich bergen, die zu künftiger Gewalt bei. vorhandene Gräben überwinden und so neue Formen politischer Legitimation von unten generieren kön- nen. Die Herrscher bzw. die etablierten politischen Empfehlungen Akteure, deren Position damit in Frage gestellt wurde, versuchten entweder, diese Bewegungen zu verein- Ausgehend von den obigen Analysen sollte die offen- nahmen und für ihre eigenen Zwecke auszunutzen, sichtlichste Schlussfolgerung für politische Entschei- oder sie denunzierten das Narrativ der nationalen dungsträger in Deutschland und Europa darin be- Einheit und Aussöhnung als eine getarnte konfessio- stehen, dass Furcht vor ethnisch und konfessionell nelle Agenda. Diese Gegendiskurse stützten sich nicht motivierten Konflikten kein Grund sein kann, auto- ausschließlich auf Verleumdung. Mit ihrer Propagan- ritäre Herrscher zu dulden oder gar zu unterstützen. da nutzten die Regime vielmehr eine Reihe der diesen Diese Herrscher können derartige Konflikte vielleicht Bewegungen inhärenten strukturellen Schwächen aus. kurzfristig unterdrücken, werden aber, sobald ihr Dass sich Protestbewegungen mit einer konfessions- Machterhalt in Frage steht, solche Gegensätze für ihre übergreifenden Zielsetzung in religiös motivierte Kon- eigenen Zwecke ausnutzen und so eine neue Runde frontationen wandelten, war nicht nur das Ergebnis der Gewalt einleiten, die den Boden für weitere Kon- einer geschickten Manipulation von oben. Es ist, wie frontationen in der Zukunft bereitet. In gespaltenen Toby Matthiesen festgestellt hat, ein stark eigen- Gesellschaften erzeugt die autoritäre Stabilität von dynamisches Geschehen: »Wenn sich Konfessionalis- heute den Bürgerkrieg oder sogar den Völkermord von mus als ein wirksames Mittel erweist, um politische morgen. Gegner zu diskreditieren, wird es sich auf allen Ebenen der Gesellschaft durchsetzen und damit zu einem Prozess, der sowohl von unten nach oben als auch 97 Matthiesen, Sectarian Gulf [wie Fn. 13], S. 10.

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33 Schlussbemerkungen und Empfehlungen

Forderungen nach mehr Demokratie und Partizi- sie dann anhand überzogener Maßstäbe zu beurteilen pation stoßen selten auf Gegenliebe bei autoritären und als ineffektiv abzutun. Auch wenn die Erfahrung Machthabern, ganz gleich, ob diese an der Spitze einer von Solidarität im Kampf um Bürgerrechte bei einigen homogenen oder einer gespaltenen Gesellschaft Individuen möglicherweise konfessionsübergreifende stehen. Im letzteren Fall können sie jedoch darauf Anschauungen begründet oder vertieft, sind solche rechnen, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung sie Gruppen allein nicht in der Lage, »die Gesellschaft über in dieser ablehnenden Haltung unterstützen wird: ethnische Grenzen hinweg zusammenzuschweißen nämlich jene Bürger, die glauben (oder denen weis- und eine auf Spaltung ausgerichtete ethnische Politik gemacht wird), dass Demokratisierung die Position zu unterminieren«98, wie es von einem Teil der Litera- der Gruppe schwächen wird, der sie sich selbst zurech- tur zu Konfliktlösung und Friedensbildung erwartet nen. Zahlenmäßig stärkere oder politisch durchschlags- wird.99 kräftiger Rivalen, so die Furcht, könnten dann mehr Wo es diesen Gruppen gelungen ist, eine Massen- Einfluss oder gar Kontrolle über staatliche Institutio- mobilisierung von erheblichem Ausmaß zu erreichen, nen erlangen, materielle Ressourcen für sich be- war dies oft auf ihre Zusammenarbeit mit oder auf anspruchen, anderen ihre sozialen Werte aufdrängen parallele Bemühungen durch Führungspersönlich- und Vergeltung für vergangene Ausgrenzung üben. keiten zurückzuführen, die auf traditionelle Formen Autoritäre Herrscher und politische Akteure mit kon- von Autorität und Solidarität zurückgreifen konnten. fessioneller Ausrichtung haben wiederholt demons- Kleriker, Oberhäupter einflussreicher Familien und triert, wie wirksam solche Ängste geschürt und in Ab- lokale Respektspersonen waren oft bereit, sich dem lehnung gegenüber Demokratie an sich umgewandelt Narrativ der nationalen Einheit und Aussöhnung an- werden können. zuschließen, ohne dabei die Bedeutung konfessionel- Externe Akteure, die zu langfristigen Lösungen ler Identifikationen grundsätzlich in Frage zu stellen. beitragen wollen, müssen erkennen, dass normative Versuche zur Schaffung politischer Plattformen, die Rezepte für »Demokratisierung«, »gute Regierungs- die existierenden Spaltungen überbrücken sollen, führung« und »Nation-Building« oft an den eigent- müssen auf die Einbindung solcher Akteure zielen lichen Konfliktursachen vorbeigehen. Sinnvoller er- und ihren Einfluss und ihre moralische Autorität scheint, nach vorhandenen Potentialen für ein Soli- nutzen. Über solche Integrationsleistungen hinaus daritätsbewusstsein, das die Bruchlinien überwölbt, können sie auch dazu beitragen, eine Radikalisierung und für eine partizipatorische Regierungsführung zu zu verhindern, und Versuche blockieren, Gegenbewe- suchen und diese gezielt zu fördern. Die Ereignisse gungen aufzubauen, auch wenn diese Fähigkeit an von 2011 haben nicht nur diese Potentiale deutlich ihre Grenzen stößt, sobald es zu übermäßiger Gewalt- zum Vorschein gebracht, sondern auch die Kräfte und anwendung kommt. Dynamiken aufgezeigt, die sie blockieren. Ähnliches gilt für politische Parteien, die ihre Mit- Eine liberale Zivilgesellschaft, die sich von organi- glieder häufig nach derselben Logik gemeinschaft- sierten Interessenvertretungen über Nichtregierungs- licher Loyalität und Repräsentation rekrutieren und organisationen bis hin zu informellen Gruppen von Aktivisten erstreckt, bleibt das Fundament und der 98 Zitiert nach Bruce Hemmer, The Democratization of Peace Building. The Political Engagement of Peacebuilding NGOs in Democ- wichtigste Rückhalt für eine demokratische Regierungs- ratizing Societies, Diss., Irvine 2009, S. 61. führung und für das Konzept einer überkonfessionel- 99 Häufig zitiert wird in diesem Zusammenhang die Studie len Staatsbürgerschaft. Im Jahr 2011 (im Libanon auch von Ashutosh Varshney, Ethnic Conflict and Civic Life: Hindus and 2005) war es in entscheidendem Maße der politischen Muslims in India, New Haven 2003, die eine direkte Kausal- Erfahrung und den intellektuellen Anregungen von beziehung zwischen religionsübergreifenden zivilgesellschaft- Netzwerken und Individuen aus diesem Milieu zu ver- lichen Netzwerken und erfolgreicher Konfliktvermeidung herstellt. Belege dafür, dass derartige Erwartungen die US- danken, dass die Bewegungen anfänglich ein Narrativ amerikanische Strategie im Irak nach 2003 beeinflusst haben, entwerfen konnten, das alle Konfessionen gleicher- finden sich bei Larry Diamond, Squandered Victory: The American maßen ansprach und einbezog. Jede Unterstützung Occupation and the Bungled Effort to Bring Democracy to Iraq, New für diese politisch Aktiven ist eine wertvolle Investi- York 2007. Eine nuancierte Darstellung bietet Thania Paffen- tion in die Zukunft dieser Gesellschaften, auch wenn holz/Christoph Spurk, Civil Society, Civic Engagement, and Peace- building, New York: Conflict Prevention and Reconstruction die Wirkung oft nicht sofort ersichtlich ist. Gleichzei- (CPR) Unit of the World Bank, 2006 (Social Development tig ist es wichtig, solche Akteure und Aktionsformen Papers), (Zugriff am 28.4.2014).

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34 Empfehlungen

mobilisieren. Wer sich auf die Zusammenarbeit mit seinerzeit eine überwältigende Zustimmung in der Parteien beschränkt, die einen vermeintlich säkula- Bevölkerung. Die darin genannten Ziele spiegelten ren, über die konfessionellen Trennlinien hinweg- sich in dem von der Opposition im Oktober 2011 vor- gehenden Ansatz verfechten, lässt die Tatsache außer gelegten Manama-Dokument wider.101 Trotzdem ver- Acht, dass die Aufnahme solcher Bekenntnisse in eine lief der während der Ereignisse des Jahres 2011 auf Parteisatzung und die Mitgliedschaft in internatio- den Weg gebrachte »Nationale Dialog« im Sande.102 nalen Organisationen – wie der Sozialistischen oder Für einen Erfolg fehlt es in erster Linie am Willen der Liberalen Internationale – häufig nichts weiter als herrschenden Dynastie, oder an der Fähigkeit ihrer eine dünne Fassade ist, hinter der diese Parteien am reformwilligen Mitglieder, sich gegen unnachgiebige Ende doch nur die Interessen einer einzelnen Konfes- Verwandte durchzusetzen. Deutschland und Europa, sionsgemeinschaft vertreten. Andererseits haben und besonders Großbritannien, sollten ihren Einfluss Parteien, die keinen Hehl daraus machen, eine be- nutzen, um dem reformbereiten Flügel den Rücken zu stimmte Glaubensrichtung zu repräsentieren (wie die stärken. libanesische Hisbollah, die irakische Sadr-Bewegung, Im Irak hatten sich die einflussreichsten politischen die Wifaq im Bahrain, die syrische Muslimbruder- Kräfte des Landes im Jahr 2010 in Erbil, der Haupt- schaft), oftmals trotzdem einen inklusiven Diskurs stadt der Kurdenregion, bereits auf ein Abkommen übernommen. Solche Akteure müssen eingebunden geeinigt, das eine Machtteilung unter ihnen regeln und die praktische Umsetzung ihrer erklärten Ab- sollte. Statt auf dieser Vereinbarung aufzubauen, um sichten eingefordert werden, da ihr Einfluss vor Ort in die wichtigsten strukturellen Schwächen der nach der Regel so stark ist, dass es keine Lösung gegen ihren 2003 etablierten politischen Ordnung anzugehen, Willen geben kann. befeuerte die Regierung den Konfessionalismus, um Mit Ausnahme Syriens, wo die Bemühungen um die eigene Macht zu maximieren und ihre Gegner an eine politische Lösung noch immer auf unüberwind- den Rand zu drängen.103 Ministerpräsident Nuri bare Widerstände treffen,100 haben politische Akteure Al-Maliki hat sich im Gebrauch dieser Techniken als und internationale Vermittler in allen hier diskutier- sehr geschickt erwiesen, jedoch beweist die jüngste ten Ländern Prozesse zur Konfliktbewältigung in Gang Gewalt im Nordwesten des Irak, dass eine immer gesetzt. Der Anspruch auf Partizipation und die Ängste höhere Konzentration institutioneller Macht offen- vor Marginalisierung müssen in diesen Dialogen glei- sichtlich nicht zu mehr Stabilität führt, sondern chermaßen berücksichtigt wurden. Allerdings wurden vielmehr selbstzerstörerisch wirkt. Andererseits hat die so geschaffenen gemeinsamen Plattformen fast ein beträchtlicher Teil der arabischen Bevölkerung des immer wieder aufgegeben, sobald weniger kompro- Iraks auch unter dem unmittelbaren Eindruck eines missbereite lokale Akteure Unterstützung bei exter- ungeheuren Ausmaßes an religiös motivierter Gewalt nen Mächten der Region fanden (insbesondere bei immer wieder inklusive, auf einem überkonfessionel- Saudi-Arabien und Iran). Im Ergebnis blockieren damit len irakischen Nationalismus beruhende Ansätze die strategischen Auseinandersetzungen in der Region unterstützt. Der Irak braucht einen Prozess des natio- jeden möglichen Aussöhnungsprozess in den hier nalen Dialogs, der die in Erbil erreichte grundsätz- besprochenen Ländern. Wenn die externen Akteure

überzeugt werden können oder sich gezwungen 101 Bahrain Justice and Development Movement, «Manama sehen, zu einer Lösung der Konflikte beizutragen, statt Document«, bahrainjdm.org, (Zugriff am 28.4.2014). siert und Roadmaps erarbeitet werden, die für externe 102 Guido Steinberg, Kein Frühling in Bahrain. Politischer Still- wie lokale Akteure gleichermaßen verbindend sind stand ist die Ursache für anhaltende Unruhen, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, März 2013 (SWP-Aktuell 23/2013), und die mit Hilfe internationaler Institutionen um- (Zugriff am 28.4.2014). In Bahrain fand die Nationalcharta, die der heute 103 Der genaue Inhalt der Vereinbarung ist strittig, siehe ICG, amtierende König schon 2001 vorgeschlagen hatte, Déjà vu All over Again? Iraq’s Escalating Political Crisis, 30.7.2012 (Middle East Report Nr. 126), , insbes. Fn. 6. Eine englische Teilüberset- (Zugriff am 28.4.2014). agreement-s-19-points> (Zugriff jeweils am 28.4.2014).

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35 Schlussbemerkungen und Empfehlungen

liche Vereinbarung dem Urteil der irakischen Öffent- libanesischen Armee entscheidend dafür sein, ob das lichkeit und der Wähler unterwirft. Nur auf der Basis Land davor bewahrt werden kann, in einen konfessio- einer solchen, in den Grundsätzen konsensuellen nellen Bürgerkrieg abzugleiten. Externe Akteure, die Plattform kann eine Formel entwickelt werden, zur Vermeidung von Gewalt beitragen wollen, sollten welche die Verpflichtung zu einem vereinigten Irak neben der Vermittlung zwischen den beiden politi- mit zuverlässigen Garantien gegen Benachteiligung schen Lagern direkte materielle Hilfe für die libanesi- verbindet. Entscheidend ist, dass dieser gesellschaft- schen Streitkräfte anbieten.104 liche Dialog nicht länger auf kleine Kreise politischer Tatsächlich steht eine überwältigende Mehrheit der Akteure beschränkt bleiben darf – wohl einer der libanesischen Bevölkerung hinter der im Taif-Abkom- größten Fehler des politischen Prozesses nach 2003 –, men einmal mehr formulierten Selbstverpflichtung sondern offen und transparent für die irakische zu einem friedlichen Nebeneinander in einer religiös Öffentlichkeit sein muss, um eine effektive Zurechen- und politisch pluralistischen Gesellschaft. Kein poli- barkeit des Handelns zu ermöglichen. Ebenso müssen tischer Akteur, auch nicht Hisbollah, verfolgt eine alle Akteure einbezogen werden, die effektiven Ein- Agenda der Ausgrenzung anderer konfessioneller fluss besitzen. Das gilt insbesondere für die Clan- und Gruppen. Extremisten und konfessionell motivierte Stammesführer im Nordwesten, deren Unterstützung Hasspropaganda finden einen gewissen Widerhall, vor benötigt wird, um den Krieg gegen den islamistischen allem in Gemeinschaften, deren politischer Führung Extremismus zu gewinnen, aber auch für externe es an Glaubwürdigkeit mangelt, wie es etwa bei den Sponsoren, vor allem Saudi-Arabien und den Iran. libanesischen Sunniten der Fall ist. Aber auch solch Deutschland und Europa sollten auf der zuletzt posi- radikale Tendenzen werden in erster Linie durch Dis- tiven Dynamik in den Beziehungen zum Iran auf- kurse der Angst vor den anderen Glaubensgruppen bauen und sich bemühen, einen Prozess in die Wege genährt und werden an Einfluss verlieren, sobald der zu leiten, der zu einer Irak-Konferenz unter inter- Realitätsgehalt der entworfenen Schreckensszenarien nationaler Schirmherrschaft führt. Wenn es gelingt, schwindet. Das Taif-Abkommen enthält Ansätze, solche die iranische Klientel im Irak zu überzeugen, von Bedrohungsgefühle durch mehr statt durch weniger ihrem Kurs der Ausgrenzung abzulassen und sich Demokratie zu mindern (Dezentralisierung, zusätz- einer substanziellen Partizipation des sunnitischen liche Rechtsmittel gegen Machtmissbrauch). Sobald Teils der Bevölkerung zu öffnen, dann könnten auch die Spannungen in der Region nachlassen und sich Saudi-Arabien und andere GKR-Staaten leichter zu der libanesische Politiker wieder vornehmlich um libane- Einsicht gebracht werden, dass verbesserte Beziehun- sische Angelegenheiten kümmern anstatt die Kon- gen mit Teheran nicht zu iranischer Vorherrschaft in flikte anderer auszutragen, gibt das Taif-Dokument der Region führen, sondern zu deren Stabilisierung einen klaren Kurs vor. Seine endgültige Umsetzung beitragen werden. erfordert genau die Art von einfallsreichem Verhand- Auch im Libanon gibt es bereits ein »Dokument der lungsgeschick und politischem Scharfsinn für un- nationalen Verständigung«, das Taif-Abkommen von vollkommene, aber tragfähige Kompromisse, durch 1989, in dem sich alle wesentlichen Bürgerkriegs- die sich libanesische Politiker immer ausgezeichnet parteien und politische Akteure darauf geeinigt haben, haben. Wenn diese Prozesse erst einmal wieder tat- das auf Konfessionen orientierte politische System sächlich in libanesischer Hand sind, können externe zügig abzuschaffen. Doch mit seiner Strategie des Akteure keinen besseren Beitrag zum Erfolg leisten, Teilens und Herrschens verhinderte Syrien bis 2005 als sie den Libanesen selbst zu überlassen. die vorgesehenen Schritte zur Umsetzung dieses pro- Eine Einigung nach dem Modell des libanesischen grammatischen Beschlusses. Seitdem haben sich die Taif-Abkommens wurde auch als Lösung für den Kon- Verstrickung lokaler Akteure in regionale Konflikte flikt in Syrien vorgeschlagen.105 Derartige Ideen basie-

und die daraus resultierende tiefe Polarisierung als ebenso lähmend erwiesen. Der 2006 mit aktiver euro- 104 Siehe Heiko Wimmen, Libanons langsame Selbstzerstörung. päischer Unterstützung begonnene »Nationale Dialog« Unter dem Druck der Syrienkrise zerfallen staatliche Institutionen, ist entsprechend ohne Ergebnis geblieben. Solange die Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, August 2013 (SWP- Spannungen in der Region, und insbesondere der Aktuell 48/2013), (Zugriff am 28.4.2014). Bürgerkrieg im benachbarten Syrien, nicht unter Kon- 105 Stephan Rosiny, »Power Sharing in Syria: Learning from trolle gebracht werden, ist im Libanon keine Lösung Lebanon’s Taif Experience«, in: Middle East Policy, 20 (Herbst möglich. In der Zwischenzeit wird das Verhalten der 2013) 3,

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36 Empfehlungen

ren jedoch auf einer falschen Interpretation sowohl stimmen. Eine Teilung der Macht entlang konfessio- der Absichten der politischen und militärischen neller Linien könnte jedoch politische Führer darin Akteure als auch der Art ihrer Herrschaftsansprüche. bestärken, genau auf den homogenen Zusammenhalt Lediglich die Partei der Demokratischen Einheit der Konfessionsgemeinschaften hinzuwirken, den (Partiya Yekîtiya Demokrat, PYD), die maßgebliche solche Systeme voraussetzen und durch besonders Kraft unter den syrischen Kurden, nimmt für sich in wirksamen Zugriff auf Einfluss und Ressourcen be- Anspruch, die Interessen eines genau abgegrenzten lohnen. Inmitten eines gewaltsamen Konflikts ist Teils der syrischen Bevölkerung zu vertreten. Sie wird weitere Gewalt das zuverlässigste Mittel zu diesem dementsprechend jeder Lösung zustimmen, die der Zweck, nicht zuletzt auch gegen Widerspruch aus der faktischen Autonomie, die sie für diese Gemeinschaft eigenen Gruppe. Nach einem Ende des Bürgerkriegs bereits erreicht hat, formale Anerkennung verleiht. würde ein solches System die syrischen Bürger noch Die ideologischen und politischen Agenden aller ande- für Generationen in diese Kategorien einsperren. ren Konfliktparteien schließen es nachdrücklich aus, Die Ereignisse vor Ort lassen es ohnehin sehr un- den Akteuren auf der jeweils anderen Seite des Gra- wahrscheinlich erscheinen, dass dieser oder irgendein bens zwischen Regime und Opposition Legitimität, anderer Masterplan zur Umgestaltung des politischen geschweige denn einen Teil der Macht zuzugestehen. Systems in Syrien demnächst auf der Tagesordnung Bei einigen Kräften auf Seiten der Regierungsgegner steht. Stattdessen könnte eine allmähliche Stabilisie- gilt das auch für jeden, der sich nicht ihrer spezifi- rung der Frontlinien und ein unbehagliches Neben- schen Auslegung des Islam anschließt. einander der vom Regime oder den Rebellen gehalte- Auch eine Organisation politischer Repräsentation nen Gebiete mittelfristig noch das erträglichste aller entlang konfessioneller Kriterien würde den komple- schlechten Szenarien sein. Solange kein umfassender xen Loyalitäten, Präferenzen und Ängsten eines Groß- Kompromiss in Sicht ist, wäre es für Deutschland und teils der syrischen Bevölkerung nicht gerecht werden. Europa vernünftig und zwingend, in Syrien Zugänge Selbst nach fast drei Jahren Krieg und konfessionell für humanitäre Hilfen zu öffnen und zu diesem Zweck motivierter Gräueltaten gibt es wenig Anzeichen da- Waffenstillstände zu vermitteln. Außerdem sollten für, dass ein signifikanter Teil der sunnitischen Mehr- Deutschland und Europa ihr Möglichstes tun, damit heit sich selbst in erster Linie als Glaubensgemein- alle Kämpfer wenigstens das Kriegsvölkerrecht respek- schaft begreift oder Führungspersönlichkeiten Legi- tieren. Dazu wäre es nötig, zumindest indirekt mit all timität verleiht, weil sie als Vertreter dieser Gemein- jenen Rebellengruppen in Kontakt zu treten, die vor schaft gelten. Ort beträchtlichen Einfluss haben: Neben den so- Eine bedeutende Zahl an Sunniten unterstützt genannten moderaten Rebellen der Freien Syrischen weiterhin das Regime, lebt in Gegenden, die unter der Armee wären das auch Akteure des islamistischen Kontrolle des Regimes stehen, oder sucht dort Zuflucht, Spektrums und die PYD. Wo die Stabilisierung gelingt, während die Bevölkerung in den »befreiten« Gebieten sollte neben humanitärer Hilfe auch Unterstützung sich Gruppen widersetzt, die eine extremistische sun- bei der Einrichtung inklusiver lokaler Selbstverwal- nitische Ideologie vertreten und dort die Obergewalt tungsstrukturen geleistet werden, die eine effektive an sich gerissen haben. Es ist auch keineswegs eindeu- praktische Alternative zur Herrschaft des Assad- tig, dass Angst vor Vergeltung und vor islamistischem Regimes wären und Syrien Region für Region wieder- Extremismus die Mehrheit der Alawiten und anderer aufbauen könnten. Solche Strategien könnten Beden- Minoritäten dazu getrieben hat, sich vor allem über ken hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Einheit ihre Konfession zu definieren, oder etwa die Alawiten des Staates aufkommen lassen, aber wenn die lokalen davon überzeugt hätte, das Assad-Regime als den Governance-Strukturen inklusiv und partizipatorisch wahren Vertreter der Interessen der Konfessions- gestaltet und mit tatsächlicher Macht ausgestattet gemeinschaft zu akzeptieren. Viele halten stattdessen werden könnten, wären sie möglicherweis ein sehr aus Mangel an Alternativen oder in der Hoffnung auf viel stabilerer und zuverlässigerer Garant gegen auto- eine Rückkehr zur Normalität an einem Regime fest, ritäre Tendenzen und Repression, als es konstitutio- dem sie sonst wenig Vertrauen entgegenbringen. nelle Klauseln auf der Ebene der zentralen Exekutiv- Grundsätzlich sollte diese Beobachtung optimistisch macht jemals sein können.

power-sharing-syria-lessons-lebanons-taif-experience> (Zugriff am 28.4.2014).

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Abkürzungen

CANVAS Centre for Applied Nonviolent Action and Strategies (Belgrad) CIA Central Intelligence Agency FSA Freie Syrische Armee GKR Golfkooperationsrat ICG International Crisis Group IFLB Islamische Front für die Befreiung Bahrains IISS The International Institute for Strategic Studies (London) INA Iraqi National Accord LKP Libanesische Kommunistische Partei NRO Nichtregierungsorganisation PYD Partiya Yekîtiya Demokrat (Partei der Demokratischen Einheit, Syrien). SSNP Syrische Sozial-Nationalistische Partei TGONU The Gathering of National Unity (Bahrain)

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