Martin Thiele

Auf den Hügeln von L.A. - Mein Besuch in der Villa Aurora

Bisher hatte meine Reise nach Los Angeles vor allem dazu geführt, dass die Mehrzahl der Vorurteile gegenüber den US of A, die sich in mir als Mitteleuropäer über Jahre verinnerlicht hatten, bestätigt wurden. Die Autos waren breiter, die Straßen breiter, die Burger breiter und auch die Menschen in dieser oder jener Hinsicht breiter. Man unterhielt sich mit mir gerne „in a friendly way“ über Oberflächlichkeiten, kehrte mir jedoch ebenso unvermittelt den Rücken zu. Doch immerhin hatte ich als einer der gefühlt 100 Menschen, die sich in L.A. mit dem Bus bewegen, regelmäßig die Gelegenheit, mich in einem Smalltalk wiederzufinden. So ereignete es sich auch an jenem Morgen eines Tages Ende August.

Ich sitze nervös im Bus 302, der gerade den Pacific Coast Highway entlang brettert – nervös, weil mich der Bus erneut lange hat warten lassen und ich nun, entgegen aller deutschen Klischees, befürchte, zu spät zu meiner Verabredung zu kommen. Ethan, ein fahler, älterer Herr mit freundlichem

Gesicht, der, sich neben mich setzt und gleich nach dem ersten „How are you?“ begonnen hat, unentwegt von seiner Arbeit zu berichten, beruhigt mich etwas, da er in einem der Strandrestaurants tätig ist, die gleich an der Küste, unweit meines Ziels, liegen. An der Ecke Pacific Coast

Highway/Sunset Boulevard steigen wir gemeinsam aus und ich lasse mir von Ethan erneut den Weg weisen. „So, where do you wanna go?“, fragt er mich mit gedehnter Stimme. „Villa Aurora“, antworte ich und versuche meinen deutschen Akzent hinter einem imitierten US-amerikanischen zu verbergen. “Yeah, you just have to cross the street to the left and then up the hill on the right side, just some meters, there you’ll find it. Villa Laogo, right?“

Erleichtert darüber, dass ich vor meiner Abfahrt noch einige Kugelschreiberlinien in mein Notizheft skizziert habe, die mir den Weg zur Villa Aurora weisen sollen, steige ich nun die Serpentinenstraße

Paseo Miramar hinauf. Erst beim Versuch, solche Straßen zu erklimmen, weiß der Europäer Bürgersteige zu schätzen – der US-Amerikaner wohl seine Geländewagen. Doch die Straße ist wenig befahren, so dass ich mich nur einige Male in das Gestrüpp am Straßenrand flüchten muss. Die Sonne steht hoch an einem Himmel, der nicht im Entferntesten daran zu denken scheint, auch nur irgendein findiges Wölkchen zuzulassen. Staub wird von warmen Brisen umhergeweht und in nicht weiter Ferne kann man ein Rauschen hören, das wohl vom Meer und dem davor liegenden Highway kommen mag. Verschwitzt und außer Atem, denn noch immer hatte ich Hoffnung pünktlich zu meinem Termin zu erscheinen, erreiche ich die goldenen Ziffern 520. Ohne zu zögern findet sich mein Finger

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auf dem Klingelknopf wieder und nur ein Gedanke geht mir durch den Kopf: Es muss wohl an meiner schlechten Aussprache gelegen haben, dass Ethan diese Villa nicht kannte.

Nachdem der Summer ertönt ist und ich das schwarze Eisentor mit goldener Klinke geöffnet habe, steige ich die mit blau gemusterten Fliesen verzierte Steintreppe hinab, im Bewusstsein, dass dies vor mir bereits einige der größten Künstler des vergangenen Jahrhunderts getan haben. Trotz hitziger Temperatur bekomme ich eine Gänsehaut. Am Fuße der Treppe empfängt mich in aller Freundlichkeit eine der jungen Mitarbeiterinnen der Villa und leitet mich durch den schmalen, sauberen Innenhof in die Eingangshalle, in der mich Daniel Rothman empfängt. Er ist der

Programmdirektor der Villa und der einzige US-Amerikaner, der, neben zwei weiteren deutschen

MitarbeiterInnen und zwei regelmäßig wechselnden PraktikantInnen zum festen Stab derer gehört, die in L.A. für die Villa Aurora beschäftigt sind. Gemeinsam begeben wir uns in einen großen Raum, der nicht nur mit einer Leinwand, sondern auch mit einer umfangreichen Bibliothek ausgestattet ist. Durch die großen Fenster und die Balkontür flutet das strahlende Sonnenlicht und erleuchtet den Salon samt des Portraits Lion Feuchtwangers, unter dem wir auf zwei kleinen Sofas gegenüber voneinander Platz nehmen. Daniel Rothman schaut sich mit langem Blick zufrieden im Raum um und beginnt das

Gespräch, indem er mir sagt, dass dieser Raum der einzige gewesen ist, den Marta und Lion

Feuchtwanger damals richtig bewohnen konnten.

Feuchtwanger, der bereits 1922 mit Jud Süß internationalen Ruhm erlangte und einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts werden sollte, war nach der

Machtergreifung der NSDAP und dem damit verbundenen institutionalisierten Antisemitismus gezwungen, Deutschland zu verlassen. Nach Aufenthalten in Österreich und der Schweiz fand er zunächst Zuflucht an der französischen Riviera. Doch nach der offiziellen Kriegserklärung Frankreichs gegen Nazideutschland 1939 wurden sogenannte ‚feindliche Ausländer‘ interniert und die Auslieferung an die Nazis drohte. Da er in Deutschland wegen seiner Schriften gegen Hitler bereits zum Tode verurteilt worden war, blieb kein anderer Ausweg als die gefahrvolle Flucht, die seine Frau und ihn nach Amerika und letztlich Los Angeles führte.

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Es seien dieselben Gründe wie heute, antwortet mir Daniel Rothmans auf meine Frage, warum es die Feuchtwangers gerade nach Los Angeles zog. Nicht nur das Meer und mediterrane Klima, das beide im höchsten Maß genossen haben, sondern vor allem die Nähe zur regen Filmindustrie war von Bedeutung. Zumal Feuchtwanger, dessen Stoffe mehrfach angekauft und filmisch umgesetzt wurden, auch von Hollywood profitierte, wo beispielsweise Jew Süss unter der Regie von Lothar Mendes entstand. Doch schon allein sein Erfolg als Schriftsteller – er war zu dieser Zeit bereits für den

Nobelpreis nominiert und hatte jüngst seinen Roman Die Brüder Lautensack verkaufen können – ermöglichte ihm ein verhältnismäßig begünstigtes Leben im Exil, so dass er sich auch die Villa in den

Pacific Palisades mit Blick auf den weiten Ozean leisten konnte. 1928 von der Los Angeles Times als Mustervilla errichtet worden, stand sie jedoch inzwischen seit Jahren ohne die nötige Pflege als nahezu einziges Gebäude in den dortigen Hügeln leer. Die Feuchtwangers trotzten dem über die Jahre entstandenen Schmutz, den zerbrochenen Scheiben und dem überwucherten Garten, kauften die Villa in der idyllischen Abgeschiedenheit und zogen 1943 ein.

Der desolate Zustand der Villa war also der

Grund, warum Marta und zunächst nur diesen Salon bewohnen konnten, schlussfolgere ich. „That’s right“, bestätigt

Daniel Rothman und gießt Milch in den Kaffee, der uns beiden inzwischen gebracht wurde. Er steht auf und ich folge ihm durch den von

Bücherregalen gesäumten Raum zu einigen Bildern, die an der gegenüberliegenden Seite der Wand hängen. Auf den gerahmten Fotografien sind verschiedene Künstler zu sehen, die in den vergangenen Jahren, aber auch zu Feuchtwangers Zeiten, hier verkehrten. Mit einem Fingerzeig auf das Bild von und Lion Feuchtwanger erklärt mir der Programmdirektor, dass zwar noch einige Arbeiten zu verrichten war, das heruntergekommene Gebäude jedoch schon bald zu einem zentralen Künstlertreffpunkt, gerade für Exilanten, werden sollte.

Die Feuchtwangers bauten, teilweise von Verehrern aus ihrer Umgebung unterstützt, das Haus wieder auf. Marta kümmerte sich passioniert um das Entstehen eines weitläufigen Gartens mit Rosen und Palmen und kaufte mit ihrem Gatten antike Möbel aus Secondhandläden an. Er wiederum setzte zunächst seinen Eifer daran, eine umfangreiche Bibliothek mit bedeutsamen Bänden und seltenen Werken zusammenzutragen. Wie Feuchtwanger zog es auch , Bertolt Brecht und

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Aldous Huxley in die Gegend zwischen Santa Monica und Malibu. Neben ihnen waren unter anderem Hanns Eisler, Charles Chaplin, Charles Laughton, Arnold Schönberg, Albert Einstein und Gäste im Haus der Feuchtwangers.

Mir scheint es, als sprächen wir über alte Bekannte, als Daniel Rothman die ein oder andere Anekdote zum damaligen Leben in der Künstlerenklave zum Besten gibt. Die Feuchtwangers und Manns wechselten sich mit größeren Einladungen ab, wobei Heinrich Mann eine weit engere Freundschaft mit Feuchtwanger verband, als sein Bruder Thomas. Dieser wiederum geriet in harsche Zwistigkeiten mit Arnold Schönberg, da es schien, als hätte Mann ihn als Charakter des Doktor Faustus verarbeitet. Trotz einiger Unzulänglichkeiten ermöglichten die gemeinschaftlichen Künstlerbegegnungen ein Höchstmaß an kreativem wie auch politischen Austausch. Neben dem gemeinsamen Essen in oftmals größerer Runde wurden deutsch- und englischsprachige Lesungen abgehalten und jüngste

Manuskripte diskutiert. Feuchtwanger und Brecht arbeiteten gemeinsam an Die Geschichte der

Simone Machard, dem Stoff, den Feuchtwanger später als Roman veröffentlichte und Brecht von den verkauften Filmrechten profitierte.

Ich konstatiere, dass man sich das Leben im Exil doch weit furchtbarer vorstellt, als es mir hier auflebt.

„That’s not exactly right...“, korrigiert mich Daniel Rothman, mit dem ich inzwischen wieder Platz genommen habe, und rückt meinen Eindruck etwas zurecht. Das Grausamste für die Exilanten musste das Gefühl der Machtlosigkeit gewesen sein. Sie fühlten sich, trotz Sympathien zu den Amerikanern, nachdrücklich als Deutsche und mussten voller Schande mit ansehen, wie die Nazis ihr Land vergifteten. So schilderte auch Thomas Mann nach seiner Übersiedlung in der New York Times, „It is hard to bear. But what makes it easier is the realization of the poisoned atmosphere in Germany. That makes it easier because it’s actually no loss. Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me. I have contact with the world and I do not consider myself fallen.“ Doch selbst das künstlerische Schaffen, in das die Exilanten alle mögliche Opposition zu legen bereit waren, half ihnen kaum über die bittere Tatsache hinweg, dass sie in vielen Fällen gar nicht wussten, was inzwischen mit ihren in der Heimat verbliebenen Freunden oder Verwandten geschehen war. Der Kriegseintritt der USA verschlimmerte die Lage gar noch. Alle Deutschen wurden als ‚feindliche Ausländer‘ unter eine Ausgangssperre ab 20 Uhr gestellt. Selbst als die größten Berühmtheiten unter den deutschsprachigen Widerständlern im amerikanischen Exil, Thomas Mann und Albert Einstein, mit Nachdruck gegen die demütigenden Maßnahmen vorgingen, wurden sie aufrechterhalten. Das Kriegsende markierte mit dem beginnenden Feldzug gegen potenzielle Kommunisten durch die berüchtigten McCarthy-Anhörungen einen Wendepunkt in der US-amerikanischen Innenpolitik. Brecht

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Auf den Hügeln von L.A. - Mein Besuch in der Villa Aurora verließ einen Tag nach seiner ersten Anhörung vor dem Komitee für unamerikanische Umtriebe das Land. Hanns Eisler wurde bald darauf ausgewiesen und auch Lion Feuchtwanger musste sich über einen langen Zeitraum hinweg den geradezu zynischen Anschuldigungen des ‚premature antifascism‘ stellen. In seinem in den USA berühmtesten Werk Goya oder der arge Weg der Erkenntnis verarbeitete er zeitgleich verschiedene Anspielungen auf die McCarthy-Ära. Selbst in den letzten Wochen seines Lebens, im Dezember 1958, war Lion Feuchtwanger gezwungen, zu einer Anhörung zu erscheinen. Am Tag nach seinem Tod wurde politisch entlastet und bekam die amerikanische Staatsbürgerschafft endlich zuerkannt.

Ich breche das kurze Schweigen, indem ich mich bei Daniel Rothman für den interessanten Eindruck bedanke, den er mir über die Geschichte des Hauses und die Geschichte des deutschen Künstlerschaffens im Exil vermittelt hat. Er bietet mir an, noch in der Villa zu bleiben und mich durch das Haus führen zu lassen. Da ich die unzähligen verwinkelten Räumlichkeiten noch gar nicht gesehen habe, nehme ich dankend an und begleite ihn in sein Büro, wo ich erneut auf die junge deutsche Mitarbeiterin treffe, die mir bereits Einlass gewehrt hat. Claudia führt mich durch weitere

Räume in die obere Etage des Hauses und erzählt von ihrem Praktikum, das sie für drei Monate in der

Villa absolviert. Als Praktikant könne sich eigentlich jeder bewerben, der sich für den Kunstbetrieb interessiere und einigermaßen Fingerspitzengefühl im Umgang mit eigenwilligen Künstlern mitbringe.

Wir passieren ein großes Gemälde, auf dem sitzend Lion Feuchtwanger mit seiner offenbar einst

überaus attraktiven Frau Marta abgebildet ist, und erreichen über einen schmalen Gang, auf dem sich die Wohnräume der Künstler befinden, einen Arbeitsraum. „Hier arbeiten in der Regel die

Schriftsteller, die sind aber beide gerade außer Haus“, sagt mir Claudia. Ich kann wohl nicht verbergen, dass ich über die umfangreiche Bibliothek mit all den edel anmutenden Bänden äußerst beeindruckt bin. Claudia greift meinen Gedanken unvermittelt auf: „Das hier ist bei weitem nicht die komplette Bibliothek Feuchtwangers.“

Nach dem Tod des Schriftstellers blieb Marta allein in der Villa wohnen und zog sich lange zurück. Nachbarn berichteten, dass sie das Haus mit ihrem so gepflegten Garten vernachlässigte und nur noch alleine die Gebirgskämme bestieg oder sich in die Wellen des Ozeans stürzte. Doch die Zeit und die Zuwendung ihrer Freunde halfen ihr, die Trauer und Einsamkeit zu überwinden. In zweierlei Hinsicht sorgte Marta dafür, dass Lion Feuchtwangers Stellenwert für die kalifornische Kunst- und Bildungslandschaft von weiterer und nachhaltiger Bedeutung bleiben sollte. Zum einen ermöglichte sie der University of Southern California (USC) das Feuchtwanger Institut für unter der Leitung von Dr. Harold von Hofe, einem Schüler und langjährigen Freund Feuchtwangers, einzurichten. Zum

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Auf den Hügeln von L.A. - Mein Besuch in der Villa Aurora anderen schenkte sie der Universität die umfangreiche und exklusive Bibliothek, das Haus und den dazugehörigen Garten unter der Abmachung, noch bis zu ihrem Lebensende darin wohnen bleiben zu dürfen. Dieser Schritt begründete sich zum einen in der Sorge, das weitläufige Grundstück allein nicht finanzieren zu können, aber auch im innigen Wunsch, die Villa als einen Ort zu erhalten, der stets als ein Zentrum der Kunst in Verbindung mit dem Namen Feuchtwanger wahrgenommen werden sollte. Aufgrund der beträchtlichen Unterhaltungskosten machte die Universität jedoch recht bald nach Marta Feuchtwangers Tod 1987, von dem im Testament niedergeschriebenen Recht Gebrauch, das Haus selbst wieder zu verkaufen.

„Das heißt, dass ein Teil der Gedenkbibliothek Feuchtwangers in der Universität zu finden ist, richtig?“

„So ist es“, bestätigt mir Claudia, „die Villa hat etwa 20.000 Bände als Dauerleihgabe, doch die USC beherbergt darüber hinaus 8.000 der ältesten und seltensten Bände, die ihr Feuchtwanger vermacht hat." Wir verlassen das Arbeitszimmer und gehen die Außentreppe des Hauses nach unten in den

Garten, der neben der sorgfältig gepflegten Wiese wild bepflanzt ist. Eine kleine Asiatin schlendert grüßend an uns vorbei und Claudia erklärt mir, dass sie eine der vier zurzeit anwesenden StipendiatInnen ist. Wir kommen ins Gespräch über die weitere

Entwicklung der Villa von einem leerstehenden Gebäude zur heutigen

Künstlerresidenz.

Unter den Parteien der BRD herrschte schnell Einigkeit darüber, die Villa als

Kulturdenkmal des Exils in Los Angeles zu erhalten. Es sollte eine Würdigung der deutschen

Widerständler sein, ein Bekenntnis dazu, dass die Nachkriegsgeneration aus der Geschichte gelernt hat und die Emigranten als wichtigen Teil der eigenen Kultur achten. 1988 gründete sich in Berlin der

Kreis der Freunde der Villa Aurora mit dem Geschäftsführer des Tagesspiegel Lothar C. Poll als Vorsitzendem. Der Bundestag stimmte dem Betrag von ursprünglich 500.000 DM als jährliche

Programmmittel zu und für einen Betrag von 1,9 Millionen Dollar, den die Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin zur Verfügung stellte, konnte die Villa erstanden werden. Die Stiftung sollte auch im Anschluss noch beträchtliche Summen zur Renovierung des Gebäudes bewilligen. Ein nicht enden wollendes Genehmigungsverfahren bezüglich des Kaufvertrages, der zwischen den Freunden der Villa Aurora und der University of Southern California abgeschlossen wurde, sowie aufwändigste

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Renovierungsarbeiten ließen Jahre verstreichen. Im Dezember 1995 wurde die Villa feierlich eröffnet und die ersten deutschen Stipendiatinnen, die Schriftstellerin Irina Liebmann und die bildende Künstlerin Lisa Schmitz, konnten begrüßt werden. Auch Heiner Müller, der zeitgleich in Los Angeles weilte, konnte kurzentschlossen als einer der ersten Gäste im Feuchtwanger-Haus einziehen. In Berlin institutionalisierte sich ein Büro, das Villa Aurora Forum, welches unter der Leitung von Dr. Mechthild Borries-Knopp die Künstlerresidenz in L.A. repräsentierte und sich fortan um die Auswahl der kommenden StipendiatInnen und die Finanzierung kümmerte. Inzwischen wird die Villa, als gemeinnütziger Verein, im Wesentlichen von öffentlichen Mitteln des Auswärtigen Amtes und des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gefördert.

Eine Echse huscht durch das Gebüsch neben mir einen Baum hinab. Ich fühle in dieser Idylle über der pulsierenden Metropole nichts mehr vom schnelllebigen Rausch der Stadt. Der Nachmittag verstreicht und ich habe das Vergnügen noch einige Stunden im Garten des Hauses zuzubringen. Am Abend dieses wunderbaren Tages bin ich zum Dinner mit den StipendiatInnen und den beiden

Praktikantinnen eingeladen. Höflich trage ich die Salatschüssel ins Speisezimmer und nehme an einem Tisch mit der Komponistin Kirsten Reese und den beiden Schriftstellern Klaus Modick und

David Wagner Platz. Die Komponistin Pei-Yu Shi, der ich bereits am Tag begegnet war, ist nicht zugegen, da sie noch ihrer Arbeit nachgeht. Während die Lasagne verteilt wird, frage ich in die Runde, wie es sich mit dem Arbeitsalltag in der Villa verhält. „Es wäre töricht...“, entgegnet mir Klaus Modick bestimmt, „bei dieser Möglichkeit, die den Stipendiaten zuteil wird, hier in L.A. zu leben, sich nur zum

Schreiben im Zimmer zu verschließen.“ So bestätigen auch die beiden Anderen, dass die

Ideenfindung, das Gewinnen neuer Eindrücke und das Abstandnehmen zum Arbeitsalltag in

Deutschland eigentlich von größerer Wichtigkeit seien als das tatsächliche Produzieren vor Ort.

Der Schwerpunkt der Villa liegt heute auf dem Stipendiatenprogramm für Künstler. Jährlich können sich bis zu 16 Künstler aus dem Bereich Literatur, Film, bildender Kunst und Musik für jeweils drei Monate in der Villa aufhalten und mit einer Förderung von 1.800€ monatlich in Los Angeles tätig sein. Auch Lesungen, Filmvorführungen, Konzerte oder Ausstellungen werden in Zusammenarbeit mit amerikanischen Kultureinrichtungen durchgeführt, ganz in Rückbesinnung auf die Zeiten der Feuchtwangers. Die Ausstattung des Hauses, samt Flügel, Bibliothek und digitalen Arbeitsplätzen, ist ganz auf das konzentrierte Schaffen der Künstler ausgerichtet. Wie die stetig wachsenden Bewerberzahlen zeigen, erfreut sich das Künstlerprogramm wachsender Beliebtheit, so dass die Bewerbungen inzwischen weitaus strenger vonstatten gehen. Bildende Künstler beispielsweise müssen vor der ordentlichen Bewerbung erst von anderen renommierten Kulturinstitutionen

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Auf den Hügeln von L.A. - Mein Besuch in der Villa Aurora vorgeschlagen werden. Voraussetzung für einen Stipendienaufenthalt in der Villa Aurora ist also, neben der Bindung zum deutschen Kunstbetrieb, ein nicht unerhebliches Renommee im betreffenden Schaffensbereich vorweisen zu können. Ein besonders wertvolles Programm, das gleichzeitig den verantwortungsbewussten Umgang mit der Exilantengeschichte der Villa verdeutlicht, stellt das

Writers in Exile-Stipendium dar. In Zusammenarbeit mit verschiedenen

Menschenrechtsorganisationen und der Feuchtwanger Memorial Library an der USC wird jährlich ein bis zu zwölfmonatiges Aufenthaltsstipendium in der Villa vergeben, für Schriftsteller die in ihrem Heimatland verfolgt werden. Nicht nur, dass die Villa Aurora hiermit an die historischen Verfolgungen erinnert, gleichzeitig wird ein Zeichen für die freie Meinungsäußerung weltweit gesetzt.

Eben noch habe ich die Frage in die Runde geworfen, in welchem Maße sich die Künstler im hiesigen Zusammentreffen gegenseitig in ihrer Arbeit bereichern, und Minuten später finde ich mich in einer hitzig geführten Diskussion über die Frage wieder, welche Kunstform die konkretere ist. Da habe ich meine Antwort: Eloquent und unnachgiebig werden die Argumente bestärkt und verworfen und ich frage mich, meinen Nachtisch genießend, ob es auch schon vor 65 Jahren so im Feuchtwangerhaus zugegangen ist. Ich sitze noch bis in die Abendstunden in der Villa Aurora – mein Taxi kommt, wie erwartet, zu spät – und lasse die unzähligen neuen Impressionen auf mich wirken. Welche großartige und überdauernde Bedeutung liegt in den Mauern dieser Villa oberhalb einer Stadt, die mir bis dahin oftmals als schnelllebig und oberflächlich begegnet ist. Mein Blick schweift ziellos umher und endet auf einem der grünen Schilder, die über jeder Tür angebracht sind. Erst beim genaueren Hinsehen erkenne ich, dass mir hier nicht EXIT sondern EXIL grün entgegenleuchtet. Ich schmunzele in mich hinein und verlasse die Villa, hinaus in die Nacht.

Martin Thiele

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