Ausland Der verfluchte Ball LONDON Global Village: In London trafen sich die Mannschaften des WM-Finales von 1966 wieder. s gibt Spiele, die enden nach 90 oder Als sich die deutsche Mannschaft hinter gut mit ihnen gemeint. Sie sind nicht wie die 120 Minuten, und es gibt Spiele, die dem Festredner Beckenbauer versammelt, Jungs von 1954 mit etwa 2000 Mark, einem Eenden nie. Das Weltmeisterschafts- drückt der „Ausputzer“ einem Fernseher und einem Kühlschrank abge- finale von 1966 ist bis heute nicht zu Ende, Mann sein Champagnerglas in die Hand: speist worden oder mussten den Rest ihres weil nie geklärt wurde, ob jener Ball, den „Hier, gießen Sie den Inhalt einfach irgend- Lebens in einer Lotto-Annahmestelle zu- der Brite in der 101. Minute an wo in die Blumen.“ Dann stellen sich die bringen. „Der Uwe und ich sind hochzufrie- die Unterkante des deutschen Tores setzte, Leute auf die Zehenspitzen. Geflüster. „Look den“, sagt Schulz und zieht dazu ein Ge- drin war oder nicht. here, the Emperor“ – „Schau, der Kaiser.“ sicht, ausdruckslos wie Buster Keaton. „Seit Als sich die deutschen Spieler später Die Letzten drängen Richtung Becken- 42 Jahren habe ich eine Versicherungsbe- bei Queen Elizabeth II. von England ihre bauer, werfen ihre Gläser auf die gelbbe- zirksvertretung, seit 35 Jahren einen Auto- Gratulation abgeholt hatten, tröstete sie zogenen Sofas des Botschafters, aber als matenspielbetrieb.“ Das Geld damals sei ihr Trainer Helmut Schön mit den Wor- das ewige Wunderkind des deutschen Fuß- mehr wert gewesen, und man habe weniger ten: „Jungs, lieber guter Zweiter, als balls zu sprechen beginnt, kehrt eine an- Steuern gezahlt. „Ich beneide keinen, der schlechter Erster.“ Nach dem Sieg von dächtige Ruhe ein. Beckenbauer hält eine heute fünf Millionen Euro im Jahr verdient.“ 1954, als die Deutschen zeigten, dass sie die Ansprache, als stünde er beim Stanglwirt Wie viel sie damals für den zweiten Trümmer des Krieges beiseitegeräumt hat- in Kitzbühel, und als er endet, umspült ihn Platz bekommen hätten, will jemand wis- ten, bewies die Niederlage von 1966, dass heftiger Applaus. Beide Mannschaften ste- sen. Schulz zuckt mit den Schultern: „Kei- sie auch vorbildliche Verlierer sind: Sie gin- hen jetzt wie Verlierer da. ne Ahnung, frag mal den Wolfgang.“ gen mit Anstand vom Platz, Der Wolfgang, das ist die Köpfe gesenkt, ohne , ein Mann Proteste. mit scheuen Augen, der als Heute, 40 Jahre nach dem zuverlässiger Abwehrspieler Schlusspfiff, gibt die Deut- bekannt war und im Finale, sche Botschaft in London als die Sekunden wegtickten einen Empfang für die und Deutschland 1:2 zurück- Teams von damals. Um den lag, alle Befehle vergaß, sei- Geruch der Straße fernzu- nen Defensivposten verließ halten aus der Residenz, und das Ausgleichstor er- wurde die bessere Gesell- zielte, in der 89. Minute. schaft der Metropole in Weber sagt: „15000.“ dunklen Anzügen geladen, Die anderen drängen die Korken von Champa- jetzt zum Aufbruch, aber gnerflaschen klacken sanft, Weber zieht es zurück zu und allein hält einem Foto: Es zeigt die Re- ein Pilsglas in der Hand. aktionen nach dem Latten- „Ich kann die Sache mit tor. „Die Engländer haben

dem Tor nicht mehr hören“, BRUNO VINCENT / GETTY IMAGES die Arme hochgerissen. Ich sagt der Mannschaftskapitän Finalisten von 1966 in London*: „Die Sache mit dem Tor“ habe damals gerufen: Hört im sich füllenden Prunksaal, auf zu jubeln, sonst muss „aber beim 3:2 muss der Schiedsrichter auf Für die meisten war 1966 der Höhe- der Schiedsrichter das Tor geben.“ Auf dem Eckball entscheiden, und beim 4:2 muss er punkt einer langen Anstrengung, für Foto geht er fast in die Knie und streckt die abpfeifen, denn da waren schon Zuschauer Beckenbauer die Ausgangsstation einer Arme flehentlich in die Richtung des Man- auf dem Platz. Wenn wir so viel Glück ge- Märchenkarriere im Fußball. 1966 hatte nes neben ihm – Bobby Charlton. habt hätten wie unsere Jungs in diesem Jahr er nach seinem 120-minütigen Duell Nur einer tanzte damals aus der Reihe mit der Auslosung, wir wären fünfmal mit Englands Ass Bobby Charlton gesagt: der demütig vom Platz schleichenden Ver- Weltmeister geworden.“ Ein Mann in dun- „Mir war’s am Ende völlig wurscht, wie’s lierer: nahm den Ball des klen Nadelstreifen drängt heran, bittet ihn ausgeht, I wollt nur noch, dass endlich Spiels unter den Arm, sperrte ihn in einen um ein Autogramm auf den Rücken seines Schluss ist.“ Keller in und vergaß das Ding. Anzugs. „Nee“, sagt Seeler, und setzt seinen Aber es ging weiter für ihn, immer 30 Jahre später eroberte ihn die englische Namen auf die Einladung. weiter. Boulevardpresse zurück. Für 180000 Mark Die englischen Spieler sind nicht ganz Willi Schulz hat wieder ein Glas Cham- – mehr als die gesamte Mannschaft da- so freigebig. Vom dreifachen Torschützen pagner in der Hand, Uwe Seeler ein Pils. mals verdient hatte. Haller verschenkte Geoff Hurst heißt es, er sei nicht erschie- Beide wirken nicht so, als ob der Glanz, das Geld und bescherte seinem Land ei- nen, weil er für unter 1000 Pfund Gage der Beckenbauer umgibt, sie in Neidge- nen kleinen Triumph im ewig währenden sein Haus nicht verlasse. Bobby Charlton, fühle stürzen könnte. Der Fußball hat es deutsch-englischen Duell: Es ist egal, ob platziert direkt neben dem Champagner- der Ball drin war oder nicht, wenn du es stand: „Wir alten Spieler leben von solchen * Siegfried Held, Wolfgang Weber, der stellvertretende schaffst, den Ball vor den Augen von Botschafter in London Hans Henning Blomeyer-Barten- Gagen.“ Und übrigens: „Der Ball war drin. stein, Karl Heinz Schnellinger, Willi Schulz, Uwe Seeler, 100000 Zuschauern zu stibitzen, bist du Der Schiedsrichter hat es so entschieden.“ , Helmut Haller. der wahre Sieger. Thomas Hüetlin

130 der spiegel 13/2006