Plenarprotokoll 19/78

Deutscher

Stenografischer Bericht

78. Sitzung

Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019

Inhalt:

Tagesordnungspunkt 17: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Partizi- pation in Wissenschaft und Forschung a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: stärken Die Hightech-Strategie 2025 – Forschung Drucksache 19/4857. 9116 A und Innovation für die Menschen Drucksache 19/4100. 9115 A , Bundesministerin BMBF. 9116 A Dr. Götz Frömming (AfD) . 9117 A b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Gutachten zu Forschung, Innovation Dr. (SPD). 9118 A und technologischer Leistungsfähigkeit Dr. h. c. (FDP). 9118 D Deutschlands 2018 Drucksache 19/1140. 9115 B Dr. (DIE LINKE). 9119 D Dr. (BÜNDNIS 90/ c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: DIE GRÜNEN). 9121 A Bundesbericht Forschung und Innovati- on 2018 (CDU/CSU). 9121 D Drucksache 19/2600. 9115 B (AfD) . 9123 C Dr. Manja Schüle (SPD). 9124 B d) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Rahmenprogramm der Bundesregie- (Südpfalz) (FDP) . 9125 A rung „Forschung für die zivile Sicher- (BÜNDNIS 90/ heit 2018 – 2023“ DIE GRÜNEN). 9125 D Drucksache 19/2910. 9115 D (fraktionslos). 9126 D e) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU). 9127 B Rahmenprogramm Quantentechnologi- en – von den Grundlagen zum Markt René Röspel (SPD). 9128 C Drucksache 19/4645. 9115 D f) Antrag der Abgeordneten Dr. h. c. Thomas Tagesordnungspunkt 18: Sattelberger, , , Antrag der Abgeordneten , weiterer Abgeordneter und der Fraktion , , weite- der FDP: Hightech-Strategie 2025 – Stra- rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: tegisch ausrichten Terrorismus effektiv bekämpfen, Verant- Drucksache 19/7118. 9115 D wortlichkeiten klären – Einsetzung einer Kommission zur Reform der föderalen Si- g) Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, cherheitsarchitektur – Föderalismuskom- Dr. Anna Christmann, , mission III weiterer Abgeordneter und der Fraktion Drucksache 19/7424. 9130 A II Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung , Freitag, den 1 Februar 2019 in Verbindung mit (AfD) . 9155 A (CDU/CSU) . 9155 D Zusatztagesordnungspunkt 8: (FDP) . 9156 D a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Roman Johannes Reusch, (BÜNDNIS 90/ und der Fraktion der AfD ein- DIE GRÜNEN). 9157 D gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum (CDU/CSU). Schutz der Bevölkerung vor ausländi- 9158 B schen Gefährdern Mario Mieruch (fraktionslos). 9159 B Drucksachen 19/931, 19/2226. 9130 A Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU). 9159 D b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- Dr. (AfD). 9160 C ordneten Roman Johannes Reusch, Martin Hess und der Fraktion der AfD: Zustän- digkeit des Bundes für die Abwehr von Gefahren Tagesordnungspunkt 20: Drucksachen 19/932, 19/2226. 9130 B a) Antrag der Abgeordneten Dr. Bettina Benjamin Strasser (FDP) . 9130 B Hoffmann, , , (Weil am Rhein) weiterer Abgeordneter und der Fraktion (CDU/CSU). 9131 B BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Strategie gegen Plastikmüll jetzt umsetzen Benjamin Strasser (FDP) . 9132 A Drucksache 19/6129. 9162 A Martin Hess (AfD) . 9133 C b) Antrag der Abgeordneten Steffi Lemke, (SPD). 9135 B Dr. Bettina Hoffmann, Claudia Müller, weiterer Abgeordneter und der Frakti- Benjamin Strasser (FDP) . 9135 D on BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ver- Dr. André Hahn (DIE LINKE). 9137 B schmutzung der Meere – Plastikflut un- verzüglich stoppen Dr. (BÜNDNIS 90/ Drucksache 19/5230. 9162 B DIE GRÜNEN). 9138 D Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/ (CDU/CSU) . 9140 A DIE GRÜNEN). 9162 B Konstantin Kuhle (FDP). 9141 B Marie-Luise Dött (CDU/CSU). 9163 B (SPD). 9142 C (AfD) . 9164 B Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 9143 D , Parl. Staatssekretär BMU. 9165 B (CDU/CSU). 9144 D (FDP). 9166 B Philipp Amthor (CDU/CSU). 9145 D (DIE LINKE) . 9167 A Björn Simon (CDU/CSU). 9168 C Tagesordnungspunkt 19: (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). Vereinbarte Debatte: Arbeitsprogramm 2019 9169 A der Europäischen Kommission (AfD). 9170 B Axel Schäfer (Bochum) (SPD). 9147 C (SPD). 9170 D Dr. Harald Weyel (AfD). 9148 D (FDP). 9172 A (CDU/CSU). 9149 C Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/ (FDP). 9150 C DIE GRÜNEN). 9172 D Gunther Krichbaum (CDU/CSU). 9150 D (CDU/CSU). 9173 C (DIE LINKE). 9152 A Mario Mieruch (fraktionslos). 9174 A Dr. (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 9153 A Dr. Barbara Hendricks (SPD). 9174 C (SPD). 9153 D (CDU/CSU). 9175 B Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019 III

Zusatztagesordnungspunkt 9: Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 9190 D Antrag der Abgeordneten , , , weiterer Ab- Dr. (CDU/CSU). 9191 D geordneter und der Fraktion der AfD: Vorfahrt Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU). 9192 D für wissenschaftliche Erkenntnisse – Keine Fahrverbote bis zur Neuüberprüfung der Stickstoffdioxid- und Feinstaubgrenzwerte Drucksache 19/7471. 9176 B Zusatztagesordnungspunkt 10: auf Verlangen der Fraktion Marc Bernhard (AfD). 9176 B Aktuelle Stunde DIE LINKE: INF-Vertrag bewahren, atoma- Karsten Möring (CDU/CSU) . 9177 B re Aufrüstung in Europa verhindern und US-Atomwaffen aus Deutschland abziehen Marc Bernhard (AfD). 9178 A Sevim Dağdelen (DIE LINKE). 9194 A Judith Skudelny (FDP). 9178 D (CDU/CSU). 9195 B Florian Pronold, Parl. Staatssekretär Dr. (AfD). 9196 B BMU. 9179 D Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD). 9197 C Ralph Lenkert (DIE LINKE) . 9180 D Alexander Graf Lambsdorff (FDP). 9198 B Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 9181 D (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). 9199 C Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU). 9182 C Nikolas Löbel (CDU/CSU). 9200 C Mario Mieruch (fraktionslos). 9184 B (AfD). 9201 C (SPD). 9184 C (SPD) . 9202 C Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE). 9203 C Tagesordnungspunkt 22: Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU) . 9204 C Antrag der Abgeordneten , (SPD). 9205 D , Jörg Cezanne, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: (CDU/CSU). 9206 C Dispozinsen deckeln – Verbraucherinnen und Verbraucher vor Überschuldungsfalle Nächste Sitzung . 9207 D schützen Drucksache 19/6525. 9185 D Fabio De Masi (DIE LINKE). 9186 A Anlage 1 (CDU/CSU). 9186 C Entschuldigte Abgeordnete. 9209 A (AfD). 9187 C (SPD) . 9188 D Anlage 2 (FDP). 9190 A Amtliche Mitteilungen. 9209 D

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78. Sitzung

Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019

Beginn: 9.00 Uhr

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Sportausschuss Finanzausschuss Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte Ausschuss für Wirtschaft und Energie nehmen Sie Platz. Die Sitzung ist eröffnet. Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft Verteidigungsausschuss Ich rufe die Tagesordnungspunkte 17 a bis 17 g auf: Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Ausschuss für Tourismus gierung Ausschuss Digitale Agenda Die Hightech-Strategie 2025 – Forschung und d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- Innovation für die Menschen gierung Drucksache 19/4100 Rahmenprogramm der Bundesregierung Überweisungsvorschlag: „Forschung für die zivile Sicherheit 2018 – (B) Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- 2023“ (D) schätzung (f) Ausschuss für Inneres und Heimat Drucksache 19/2910 Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Wirtschaft und Energie Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schätzung (f) Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Ausschuss für Inneres und Heimat Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss Digitale Agenda Ausschuss Digitale Agenda b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- e) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung gierung Gutachten zu Forschung, Innovation und Rahmenprogramm Quantentechnologien – technologischer Leistungsfähigkeit Deutsch- von den Grundlagen zum Markt lands 2018 Drucksache 19/4645 Drucksache 19/1140 Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schätzung (f) schätzung (f) Ausschuss Digitale Agenda Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur Dr. h. c. Thomas Sattelberger, Katja Suding, Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit Ausschuss Digitale Agenda Nicola Beer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung Hightech-Strategie 2025 – Strategisch aus- richten Bundesbericht Forschung und Innovation 2018 Drucksache 19/7118 Drucksache 19/2600 Überweisungsvorschlag: Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- schätzung (f) schätzung (f) Finanzausschuss 9116 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Ausschuss für Wirtschaft und Energie Mit der Nationalen Dekade gegen Krebs fördern wir (C) Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union erstmals Studien, die solche Fortschritte möglich ma- Ausschuss Digitale Agenda Haushaltsausschuss chen. Forschung durch Vergleich: Welche Ansätze in der Früherkennung, welche Therapien haben sich bewährt? g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kai Welche Unterschiede gibt es in den Kliniken? Welche Gehring, Dr. Anna Christmann, Margit Stumpp, Erfahrungen haben die Patienten gemacht? – So können weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- sich am Ende die besten Therapien für die Menschen in NIS 90/DIE GRÜNEN unserem Land durchsetzen. Patienten eine Stimme zu ge- ben, auch in der Forschung, das ist mir ein wichtiges An- Partizipation in Wissenschaft und Forschung liegen. Mit den Menschen gemeinsam Neues entwickeln, stärken darum geht es, egal ob beim Kampf gegen den Krebs, Drucksache 19/4857 ob bei der künstlichen Intelligenz oder wenn es um die Zukunft der Arbeit geht. Überweisungsvorschlag: Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- Wir nutzen die neuen Hightechmöglichkeiten; das schätzung (f) ist mein zweiter Punkt. Gerade in der Krebsforschung Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werden durch die Datenvernetzung und die künstliche Ausschuss Digitale Agenda Intelligenz große Fortschritte gemacht. Wir vernetzen Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Zentren der Krebsforschung und die Krankenhäuser die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich sehe und besser untereinander, damit sie Daten austauschen und höre keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Erkenntnisse gemeinsam nutzen können. Künstliche In- telligenz kann Muster in Krankheitsverläufen erkennen Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort und daraus schließen, welche Therapien Erfolg verspre- der Bundesministerin Anja Karliczek. chen, individuell und persönlich. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Individuell und persönlich, gerade auch in der Me- dizin, das ermöglicht uns künstliche Intelligenz. Dazu brauchen wir viele Patientendaten. Je mehr Daten wir ha- Anja Karliczek, Bundesministerin für Bildung und ben, umso besser. Gleichzeitig ist uns aber natürlich auch Forschung: die Privatsphäre der kranken Menschen wichtig. Diesen Sehr geehrter Herr Bundestagspräsident! Liebe Kol- Spagat gilt es zu leisten, nicht nur, wenn es um Patien- leginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und tendaten geht. Herren! Jeder zweite von uns erkrankt im Laufe seines Künstliche Intelligenz steckt überall, und damit bin (B) Lebens an Krebs. Krebs ist die zweithäufigste Todesur- (D) ich beim dritten Beispiel. Unsere Autoindustrie forscht sache. Wenn man fragt: „Vor welcher Krankheit fürch- intensiv an selbstfahrenden Autos, damit wir wirtschaft- ten Sie sich am meisten?“, dann antwortet die Mehrheit lich erfolgreich bleiben. Der Wohlstand in Deutschland in Deutschland: Krebs. – Deswegen haben wir in dieser hängt stark vom Erfolg der Automobilindustrie ab. Wir Woche die Nationale Dekade gegen Krebs gestartet. wollen die Autonation Deutschland bleiben. Zehn Jahre lang mobilisieren wir alle Kräfte. Wir wol- len Krebs besser verstehen, wir wollen Krebs verhindern, (Jürgen Braun [AfD]: Da wird hier aber wir wollen Krebs heilen. Die Nationale Dekade gegen nichts gemacht fürs Auto! Im Gegenteil!) Krebs ist ein zentrales Thema der Hightech-Strategie. Das Auto der Zukunft fährt autonom und mit regenerati- An ihr möchte ich heute zeigen, wie wir mit der High- ver Energie. Eine Möglichkeit ist dabei die Elektromobi- tech-Strategie Probleme lösen und was wir meinen, wenn lität, und dafür brauchen wir Batterien. Die können wir wir sagen: Die Menschen stehen im Mittelpunkt unserer heute nur in Asien kaufen. Die Autonation Deutschland Innovationspolitik. darf nicht abhängig sein von Asien. Drei Beispiele dafür: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – Erstens ein Transferthema. Neue Therapien müs- Jürgen Braun [AfD]: Sie tun aber alles dafür!) sen schneller raus aus dem Labor, ran ans Krankenbett Eine eigene Batterieproduktion ist eine Frage wirt- kommen. Je näher Forschung und Patienten beieinander schaftlicher Unabhängigkeit und gleichzeitig der Siche- sind, desto schneller gelingt uns das, so wie im Natio- rung von Wertschöpfung in Deutschland. Denn die Batte- nalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg rie wird ein wesentlicher Teil der Wertschöpfung im Auto und in Dresden. Im Rahmen der Nationalen Dekade ge- der Zukunft sein. In der letzten Woche haben wir des- gen Krebs bauen wir weitere solcher Standorte auf. Die wegen den Startschuss für eine Batterieforschungsfabrik Ängste und Sorgen der Patienten sind wichtig. Nicht nur gegeben. Wir nehmen 500 Millionen Euro in die Hand, in der Therapie, auch in der Forschung werden sie in Zu- um Batterieforschung in Deutschland voranzutreiben kunft eine wichtige Rolle spielen. Jeder Krankheitsver- und eigene Wertschöpfung möglich zu machen. lauf ist individuell. Persönlich zugeschnittene Therapien helfen individuell. Das ist eine Chance, wie wir sie noch Die Batterietechnologie ist die Schlüsseltechnologie, nie hatten, und diese Chance wollen wir nutzen. nicht nur für Mobilität, sondern auch für viele industri- elle Anwendungen und natürlich für die Energiewen- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- de. Damit ist die Aufgabe definiert: die technologische ordneten der SPD) Souveränität Deutschlands in der Batterietechnologie Deutscher Bundestag – 19. 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Bundesministerin Anja Karliczek (A) zu sichern. Sie wird wesentlich dazu beitragen, dass wir Meine Damen und Herren, so eine Hightech-Strategie (C) Mobilität, Industrie und Klimaschutz miteinander in Ein- ist eine feine Sache, wenn sie denn funktioniert, wenn klang bringen. Das ist eine der großen Herausforderun- sie die richtigen Impulse setzt, wenn sie sich nicht durch gen, vor denen wir stehen. innere Widersprüche, sondern durch eine kohärente, konsistente Planung auszeichnet. Das kann ich leider bei (Beifall bei der CDU/CSU und der LINKEN Ihrem Entwurf so nicht erkennen. Was Sie vorgelegt ha- sowie bei Abgeordneten der SPD – Jürgen ben, ist kein schlüssiges Programm zur Förderung von Braun [AfD]: Reines Phantasialand!) Hochtechnologie, sondern eine Anhäufung von wohl- klingenden Phrasen und Absichtserklärungen. Klimaschutz und wirtschaftliche Entwicklung in Ein- klang zu bringen, ist eine der Kernherausforderungen in (Beifall bei der AfD) den nächsten Jahren. Batterieforschung, künstliche Intel- Sie wollen Forschung und Entwicklung fördern, aber ligenz, Nationale Dekade gegen den Krebs: Das sind drei eben auch nur eine ganz bestimmte. Denn gleichzeitig Beispiele für das, was die Hightech-Strategie ausmacht, verfolgen Sie mit dieser Strategie ideologiegetriebene wie wir Herausforderungen angehen, wie wir uns für die gesellschafts- und umweltpolitische Ziele, die sich mit Zukunft aufstellen. Wir setzen auf die Verantwortung der dem Stichwort der „Großen Transformation“, also einer Menschen in unserem Land. Wir setzen auf unsere Fä- alle Bereiche erfassenden Umgestaltung unseres Landes, higkeiten, gemeinsam Neues zu schaffen, und wir setzen am besten beschreiben lassen – einem Begriff, den Sie, auf unsere Kraft, mit Innovation unsere Zukunft gut zu meine Damen und Herren, inzwischen ja vermeiden, weil gestalten. Sie gemerkt haben, dass er den Menschen Angst macht, Herzlichen Dank. und zwar zu Recht. Aber die Sache selbst ist eben leider noch nicht weg. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Zuruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ ordneten der SPD) DIE GRÜNEN])

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Manche Leute denken, die Bundesregierung sei viel- leicht verrückt geworden, wenn sie sich anschauen, wie Dr. Götz Frömming, AfD, ist der nächste Redner. Sie in der ganzen Grenzwert- und Dieseldebatte agieren (Beifall bei der AfD) oder vielmehr nicht agieren. Jetzt hat Herr Scheuer ja mal wieder Brüssel angerufen, um den Grenzwert überprüfen zu lassen. Aber warum entscheiden Sie denn nicht ein- Dr. Götz Frömming (AfD): fach einmal etwas selbst, anstatt immer die Verantwor- (B) Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und tung nach Brüssel zu delegieren? (D) Herren! Sehr geehrte Frau Ministerin! Wir alle wissen: (Beifall bei der AfD) Deutschland ist heute noch die treibende Wachstumskraft im europäischen Wirtschafts-, Wissenschafts- und For- Meine Damen und Herren, es entsteht der Eindruck, schungsraum. Unser Land ist wirtschaftlich breit aufge- dass Sie, getrieben von den Grünen, aus Deutschland ei- stellt und erwirtschaftet rund ein Drittel des europäischen nen Öko-Musterstaat machen wollen, zentral gesteuert Bruttoinlandsprodukts. Wir sollten eigentlich zu Beginn und gelenkt. Deshalb ist Ihnen auch der Föderalismus ein jeder Sitzung den deutschen Unternehmern und Arbei- Dorn im Auge. Denn zur Großen Transformation gehört tern danken; denn ohne ihren täglichen Einsatz gäbe es natürlich auch die Umgestaltung des Bildungswesens das Geld gar nicht, das wir hier umverteilen können, wol- nach einheitlichen Vorgaben – gerade haben wir im Ver- len und müssen. mittlungsausschuss darüber debattiert –, damit Sie unsere Kinder mit Projekten wie „Bildung für nachhaltige Ent- (Beifall bei der AfD) wicklung“ noch effizienter umerziehen können. Allerdings ziehen am Horizont schon die ersten dunk- Die AfD-Fraktion wird sich dieser schleichenden De- len Wolken auf. Ein wichtiger Indikator für die Rege- industrialisierung und jeder Art von roter oder grüner nerationskraft einer Volkswirtschaft ist die sogenannte Planwirtschaft entschieden entgegenstemmen! Gründungsrate, also die Zahl der Unternehmensneugrün- (Beifall bei der AfD) dungen in Relation zum Bestand. Da stehen wir mit rund 7 Prozent ziemlich schlecht da. Die Gründungsrate in Insbesondere ist die CDU aufgefordert, in dieser Frage Großbritannien zum Beispiel ist doppelt so hoch. Be- nicht noch weiter auf die Grünen zuzugehen, als es unse- trachtet man nur die forschungs- und entwicklungsinten- rem Lande guttut. sive Industrie, stellt man fest: Da sieht es noch finsterer Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen aus. Da belegt Deutschland laut EFI-Gutachten, das wir mit ein paar Zeilen aus Brechts Ballade von der Unzu- heute auch debattieren, mit einer Gründungsrate von un- länglichkeit menschlichen Planens: ter 4 Prozent den letzten Platz von allen acht im Bericht berücksichtigten Ländern. Ähnlich sieht es bei den trans- Ja, mach nur einen Plan! nationalen Patentanmeldungen aus, einem wichtigen Zu- Sei nur ein großes Licht! kunftsindikator für uns als Exportnation. Seit Mitte der Und mach dann noch’nen zweiten Plan 2000er-Jahre stagnieren die Anmeldungen aus Deutsch- Gehn tun sie beide nicht. land, während Länder wie China, Japan und Korea hohe Vielen Dank. Wachstumsraten erzielen. Die Chinesen sind inzwischen an uns vorbeigezogen. (Beifall bei der AfD) 9118 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: zung der Grundlagenforschung an den Universitäten in (C) Jetzt erteile ich das Wort Dr. Karl Lauterbach, SPD. Deutschland in dem Volumen, das nötig ist, zum jetzigen Zeitpunkt konzertiert nicht geleistet wird. (Beifall bei der SPD) ( [CDU/CSU]: Max-Planck!)

Dr. Karl Lauterbach (SPD): Da haben wir ein Defizit. Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Wir haben ein zweites großes Defizit: Die außeruni- Herren! Zunächst einmal will ich an das anknüpfen, was versitären und die universitären Einrichtungen sind nicht die Ministerin vorgetragen hat. Am Beispiel der Krebser- ausreichend an die Industrie angebunden. Wenn man krankungen will ich die Nationale Dekade gegen Krebs den nächsten Schritt hin zum Medikament gehen will, erläutern, also darstellen, was die Problemlage ist, wie braucht man riesige Summen, braucht man Vertrauen, wir ihr mit der Nationalen Dekade begegnen können, was braucht man eine langfristige Sicht. Daher brauchen wir das für uns alle bedeutet, wo wir zusammenarbeiten müs- eine solche Anbindung. Wir erfinden in der Grundla- sen, wie groß die Herausforderungen sind und wie wir genforschung so einiges – das will ich auch nicht einge- das alles machen können. schränkt wissen; das darf nicht eingeschränkt werden –, Das Thema Krebsentstehung haben wir zum Unterthe- aber das kommt ganz selten beim Produkt an. Dafür ha- ma bei gesellschaftlichen Herausforderungen gemacht. ben wir weder Strukturen noch Vertrauen noch, wenn Wieso ist Krebs eine gesellschaftliche Herausforderung? man so will, eine zentrale Vermittlung. Das gehört aber Das ist der Fall – ich will hier niemandem die Laune ver- zu einer solchen Dekade. derben –, weil statistisch gesprochen jeder Zweite, der (Zuruf des Abg. Jürgen Braun [AfD]) hier sitzt, einmal in seinem Leben betroffen sein wird. Jeder Zweite! Wir wissen, dass wir bei Herz-Kreis- Hinzu kommt: Wir haben sehr viele Daten in der Me- lauf-Erkrankungen 90 Prozent der Fälle unter optimaler dizin, die aber oft nicht nutzbar sind, weil sie nicht im Vorbeugung verhindern könnten. Bei Krebs sind das lei- gleichen Format gesammelt werden. Bei 150 Genen, die der nur 40 Prozent der Fälle. Das heißt, 60 Prozent der bei Krebs eine Rolle spielen, kommt es genau darauf an, Fälle könnten wir nach jetzigem Wissen auch dann nicht wie ich die Gene kartiere: am Protein, am Genort, an vermeiden, wenn wir alles umsetzen würden, was wir der Messenger-RNA. Es gibt unterschiedliche Möglich- wissen. keiten, das Gleiche zu meinen, aber anders zu kartieren. Wenn ich das nicht in gleicher Weise kartiere, kann ich es Wieso ist das so? Krebs ist extrem schwierig. Krebs nicht auswerten. Dafür brauchen wir nationale Vorgaben. entsteht aus einer einzigen Zelle. Später sind es dann (B) (D) ganz viele Krebszellen, die dazu noch unterschiedlich Ich sage somit: In diesem Bereich ist sehr viel im sind. Auf dem Weg dorthin gibt es unterschiedliche Praktischen zu tun. Man muss sich gut auskennen. Aber Schritte, die der Tumor gehen muss: Erst gibt es eine Ver- wenn wir das nicht tun, dann kommen wir gegen Län- änderung, eine Mutation. Dann werden sozusagen gute der wie Amerika, wo es ein nationales Krebsinstitut gibt, Gene abgeschaltet, die einem helfen könnten. Die Gene, was diese Aufgabe übernimmt, oder England mit seinem die, sagen wir, kaputt sind, werden nicht richtig entfernt, NHS und wenigen Spitzenuniversitäten oder Frankreich, und das Immunsystem wird so manipuliert, dass es die- wo es eine zentrale Planung gibt, nicht an. Daher brau- sen Prozess im eigenen Körper nicht erkennt. Ganz zum chen wir dringend diese Strategie. Wir haben alle Voraus- Schluss wird auch noch Wachstumshormon produziert, setzungen, wir haben alles, was sie braucht: Wir haben damit der Tumor so schnell wie möglich wächst. – Das die Köpfe, wir haben das Geld, und wir haben die Mög- Ganze ist also super kompliziert. Wenn ich dem mit der lichkeiten. Das muss zusammengebracht werden – dafür Nationalen Dekade begegnen will, muss ich genau wis- die Nationale Dekade gegen Krebs als Beispiel für unse- sen, worauf ich hinauswill und wo wir unsere Probleme re Hightech-Strategie. haben. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich fange einmal an. Wir müssen die Grundlagenfor- der CDU/CSU) schung stärken. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: der LINKEN) Danke sehr. – Nächster Redner ist der Kollege Thomas Sattelberger, FDP. Bei Krebs wird viel zu wenig Grundlagenforschung be- trieben. Erinnern Sie sich? Wir haben hier darüber ge- (Beifall bei der FDP) sprochen: Jim Allison hat in Berkeley den Gedanken gehabt, mit einer Immuntherapie Krebs sozusagen im Körper zu behandeln. Wir gehen jetzt sogar so weit, dass Dr. h. c. Thomas Sattelberger (FDP): wir im Körper mit den eigenen Immunzellen sozusagen Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Frau die Medikamente gegen den Krebs produzieren können. Karliczek, schade, dass Sie gestern Abend ausgefallen Somit wird, wenn Sie so wollen, mein eigener Körper die sind bei meiner Rede zur Deutschen Transfergemein- Pharmafabrik. Das war also ein genialer Gedanke. Dieser schaft für die ländlichen Regionen. Das sind die Regio- wäre tatsächlich in Deutschland in dieser Art und Weise nen mit den Milchkannen, die Sie vor lauter 5G nicht nicht zu erfinden gewesen, weil die massive Unterstüt- sehen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9119

Dr. h. c. Thomas Sattelberger (A) Stattdessen müssen Sie heute ganz tapfer und mutig Die Satten bekommen die Förderkohle. Diejenigen, (C) das verteidigen, was das „Handelsblatt“ so skizziert: die wachsen wollen, die Erfolgshungrigen, lässt diese Bundesregierung alt aussehen. Der Staat ist kein guter Alle Ressorts haben darin aufgeschrieben, was sie Unternehmer. Aber er könnte Innovationsgeist entfachen. ohnehin … machen wollen. Im Kanzleramt hef- Fördern wir die Richtigen, diejenigen, die sich reinhän- tet das jemand zusammen … und stempelt High- gen, die frische Ideen haben, die für künftiges Wachstum tech-Strategie drauf. sorgen, nicht immer die fette Katze Deutschland AG! In meinen Worten: Sie werfen Ihre strategischen Worthül- sen wie tote Katzen über den Zaun und hoffen, dass die (Beifall bei der FDP) sich irgendwie von selber berappeln. Hören wir auf, immer alles das bewahren zu wollen, was (Beifall bei der FDP) in der Vergangenheit einmal getaugt hat. Fangen wir an, die Zukunft anzupacken! Sinnieren wir nicht über Verbo- Auf die Hightech-Strategie der Bundesregierung te! Erlauben wir mehr! Was das Kabinett angeht: Ich bin passt die berühmte Frage: Was ist eigentlich das Stra- hin- und hergerissen, wenn es um die Frage geht, ob Sie tegische an dieser Strategie? Die Expertenkommission statt auf die Ministerbank zurück auf die Schulbank ge- „Forschung und Innovation“ mahnt seit Jahren, dass der hören, um zu lernen, was Strategie ist und Strategieum- Hightech-Strategie konkrete Meilensteine fehlen, eine setzung. Machen Sie endlich Ihre Hausaufgaben! klare Zielhierarchie. Stärken-Schwächen-Analyse? Ehr- liche Positionierung, wo Deutschland im internationalen (Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Können Sie Wettbewerb steht? Fehlanzeige. Der Schweizer Inno- mal erzählen, was Sie wollen, anstatt immer vationsbericht analysiert diese Themen auf 60 Seiten. nur zu sagen, was andere falsch machen? Un- Die Bundesregierung schreibt wenige dürre Sätze. Frau glaublich!) Karliczek, im Beirat eines Mittelständlers hätte man Sie mit einer solchen Strategie kurz und bündig verabschie- Gründen Sie die Agentur für Sprunginnovationen! Die- det. se ist bis heute ein Pappkamerad. Beschleunigen Sie die steuerliche Forschungsförderung! Bauen Sie In- (Beifall bei der FDP – Stefan Müller [Erlan- novationsbrücken in die Regionen! Schließen Sie die gen] [CDU/CSU]: Woher wissen Sie denn MINT-Expertenlücke! Reformieren Sie Ihre bürokrati- das?) schen Förderstrukturen! Machen Sie sie schlank und un- Vorher hätte man Ihnen aber einige Fragen gestellt: Wa- bürokratisch! Es tut mir leid – auch für die Veganer –, rum steht trotz der 2005 begonnen Exzellenzstrategie die dass ich das so oft sagen muss: Ran an den Speck, Frau Karliczek! (B) erste deutsche Universität erst auf Platz 31 im Innovati- (D) onsranking, gefolgt von Universitäten auf den Plätzen 45 (Beifall bei der FDP – Ralph Brinkhaus [CDU/ und 92? Warum verschweigen Sie bei Patenten, dass CSU]: Das war mit eine der dümmsten Reden, Deutschland zwar bei der schieren Anzahl auf Platz 1 ist, die ich hier seit langem gehört habe!) bei forschungsintensiven Patenten aber auf Platz 5

(Dr. [AfD]: Richtig!) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: und bei Spitzentechnologie nur auf Platz 8? Dr. Petra Sitte, Die Linke, ist die nächste Rednerin. (Dr. Alice Weidel [AfD]: Genau!) (Beifall bei der LINKEN) Und warum verlieren Sie kein Wort darüber, wie Sie die Expertenlücke schließen wollen in Mathematik, Infor- Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): matik, Naturwissenschaften, Technik? Guten Morgen, Herr Präsident! Meine Damen und (Zuruf der Abg. [AfD]) Herren! Herr Sattelberger, ich glaube, dass Sie ein ge- Data-Sciences-Experten, KI-Architekten, Tech-Spezia- störtes Verhältnis zu Katzen haben. listen, Meister, Techniker – uns fehlen mehrere Hundert- (Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN, der tausend. CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/ Warum, liebe Frau Karliczek, ignoriert die Strategie das DIE GRÜNEN) wachsende Klumpenrisiko dieses Landes? Schön ist, dass die Autoindustrie wächst und gedeiht. 60 Prozent Wenn ich hier zu diesem Tagesordnungspunkt nur die des gesamten Umsatzzuwachses der 50 größten deut- Überschriften der Vorlagen, über die geredet werden soll, schen Unternehmen in der letzten Dekade entfallen auf vortragen würde, dann würde das bedeuten, dass ich mei- die Automobilindustrie. Doch dieses Land hat x Auto- ne Redezeit von sechs Minuten nahezu ausschöpfe. Ich mobilhersteller und nur eine SAP. Gleichzeitig fließt die erwähne das, weil Forschungs-, Innovations- und Tech- IKT-Förderung überwiegend an die etablierten großen nologiepolitik wie auch die Hightech-Strategie selbst Unternehmen und Forschungseinrichtungen. Digitale so facettenreich und vor allem so entscheidend für die Unternehmer und Gründer gehen fast immer leer aus und Entwicklung von Gesellschaft, Umwelt und Wirtschaft haben dann noch Fraunhofer als Wettbewerber. sind. Ich komme mir bei der Debatte über die Vorlagen wie in einem Durchlauferhitzer vor. Wir können uns des (Beifall bei der FDP) Themas gar nicht in der Tiefe annehmen, sondern nur 9120 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Dr. Petra Sitte (A) den Versuch unternehmen, unsere Grundsatzfragen mehr schungen zu sozialen und gesundheitsbezogenen Dienst- (C) oder weniger anzureißen. Das werde ich tun. leistungen, Forschungen an Szenarien zur Stärkung der Sozialsysteme oder Forschungen zu Familien‑, Arbeits- (Beifall bei der LINKEN) oder Lebensmodellen in ländlichen wie in städtischen Erst in den vergangenen Tagen sind in ganz Europa Räumen. Es fehlt auch – Herr Sattelberger hat das schon Zehntausende Schülerinnen und Schüler für Klimaschutz angesprochen – Management- und Organisationsfor- auf die Straße gegangen. Was hat die 16-jährige Kli- schung sowohl für Unternehmen und staatliche Institu- maaktivistin Greta Thunberg den sogenannten Topmana- tionen als auch für soziale Organisationen. gern und Spitzenpolitikern in Davos gesagt? Ich zitiere: Schließlich sei erwähnt – um einmal das zu konterka- Erwachsene sagen immer wieder: Wir sind es den rieren, was Sie gerade gesagt haben –, dass im aktuellen jungen Leuten schuldig, ihnen Hoffnung zu geben. Haushalt die Mittel für Nachhaltigkeits- und Transforma- Aber ich will eure Hoffnung nicht. Ich will, dass ihr tionsforschung sogar gekürzt wurden. Das ist eine gran- in Panik geratet, dass ihr die Angst spürt, die ich je- diose Fehlentscheidung. den Tag spüre. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Was ist die Botschaft dahinter für uns? Wenn wir so wei- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) termachen, zerstören wir unsere eigenen Lebensgrundla- gen, und zwar weltweit. Also können die Lösungen, über Fazit aus Sicht der Linken: Was wir mit öffentlichen die wir hier reden, nicht isoliert, nicht national gedacht Geldern finanzieren, dient viel zu wenig uns selbst, dient werden. viel zu wenig der Gesellschaft. Das ist eine wesentliche Fehlstelle der Hightech- und Innovationspolitik der Bun- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- desregierung, und das muss sich dringend ändern. neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der LINKEN) Vielmehr bedarf es einer neuen Kultur. Es muss kollabo- Auch wenn weitere Strategiepapiere zum Beispiel zur zi- rativ, multilateral und kooperativ statt rein konkurrierend vilen Sicherheit, zur Quantentechnologie oder auch zur gedacht werden. Genau solche Ansätze sucht man in den künstlichen Intelligenz durchaus interessante Themenfel- Hightech-Strategien und den einzelnen Programmlinien der anreißen, habe ich das Gefühl, dass sie eher aus dem der Bundesregierung nahezu vergebens. Manche hier Wirtschaftsministerium als aus dem Forschungsministe- glauben allerdings noch immer, dass die meisten Pro- rium kommen. Manchmal frage ich mich schon – hier bleme technologiegetrieben gelöst werden könnten. Mit- kann ich an den Antrag der Grünen im positiven Sinne nichten ist das so! anknüpfen –, weshalb eine Bundesregierung genau so (B) entscheidet. Weshalb schlagen sich gesellschaftliche De- (D) (Beifall bei der LINKEN) batten, wissenschaftliche Erkenntnisse der Zukunftsfor- Mit Technologieentwicklungen und Digitalisierung schung oder Erfahrungen aus anderen Ländern so wenig stehen nicht nur Wirtschaften und Millionen Beschäf- in der Ausrichtung der Hightech-Strategie der Bundesre- tigte vor immensen Strukturbrüchen. Gesellschaften gierung nieder? verändern sich grundlegend. Das bedeutet aber auch (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- Ressourcenverschiebungen und Machtverschiebungen. NIS 90/DIE GRÜNEN) Das bedeutet, dass sich vorhandene soziale Ungerech- tigkeiten und ökologische Zerstörung vertiefen können. Ich gehe davon aus, dass Sie sich nicht etwa zu wenig Wir erleben das gerade. Es ist geschehen. Technische Eu- Beratung suchen – das ist sicherlich nicht der Punkt –, phorie oder der Spruch der FDP „Digital first. Bedenken sondern dass Sie sich zu einseitig Beratung suchen. second.“ sind vor diesem Hintergrund längst oldschool. (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- NIS 90/DIE GRÜNEN) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Das Wissen von Interessenorganisationen der Zivilge- Diese Vision ist für Gesellschaften nicht zukunftsfähig, sellschaft wie NGOs, Gewerkschaften, Umweltverbän- weil sie eindimensional – technik- und wachstumsorien- den, Bürgerrechtsorganisationen oder Sozialverbänden tiert – ist. Positive transformative Effekte aus Technolo- wäre in Programmbeiräten der Bundesregierung zur For- gieentwicklungen wie eine gerechtere soziale und gesell- schungsförderung genau richtig platziert. schaftliche Teilhabe, Ausbau demokratischer Strukturen (Beifall bei der LINKEN) und kulturelle Emanzipation erfordern neue Innovatio- nen, erfordern eben – so wird das umschrieben – soziale Für die Ausrichtung der Forschungsförderung wird sym- Innovationen. Transformationsforschung und Forschung biotisches Denken, wird auch ein dialogisches Denken zu sozialen Innovationen müssen also inhaltlich und fi- mit der Gesellschaft verlangt, wird Open Innovation ge- nanziell gestärkt werden. Sie müssen aber auch in alle braucht. Versuchen Sie es doch mal mit dieser Kooperati- Forschungsbereiche und alle Strategien integriert wer- onskultur! Dann wären sogar Sie, wäre das Ministerium, den. wäre die Bundesregierung sozial innovativ. (Beifall bei der LINKEN) Danke. In der Hightech-Strategie der Bundesregierung finden (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- sich nur in wenigen Förderlinien beispielsweise For- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9121

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Maßnahmen ergreifen werden. Dann lesen wir aber In- (C) Nächste Rednerin ist Dr. Anna Christmann, Bünd- terviews, in denen Sie sagen – ich zitiere –: „Mir geht es nis 90/Die Grünen. nicht darum, jedes Jahr mehr Geld ausgegeben zu kön- nen.“ Da frage ich mich doch: Was gilt denn nun? Wollen (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Sie dieses Land, wollen Sie Europa fit machen für die Zukunft? Oder wollen Sie den Wandel hin zu einer sau- Dr. Anna Christmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- beren, klimaverträglichen Nation verschlafen? NEN): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und sowie der Abg. Birke Bull-Bischoff [DIE Kollegen! Die Wissenschaft wird in diesen Tagen stark LINKE]) strapaziert, nicht nur durch Vergleiche mit fetten Katzen, die ich für äußerst unangemessen halte Wenn man sich anguckt, was Sie zur Erreichung die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ser Ziele konkret tun, stellt man fest, dass Sie die Mittel sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und für den Wissenschaftsbereich gerade mal um 500 Millio- der SPD – Zurufe von der FDP: Oh! Oh! – nen Euro pro Jahr erhöhen. Das ist im Hinblick auf die- Dr. h. c. Thomas Sattelberger [FDP]: Sehr ses Ziel viel zu wenig. Das lässt leider nur den Schluss zimperlich!) zu: Sie wollen das 3,5-Prozent-Ziel eigentlich überhaupt nicht erreichen. Kämpfen für die Wissenschaft sieht an- – nicht meine Erfindung –, sondern auch durch diese ders aus. Bundesregierung. Sie haben sich auf die Autonation be- zogen, Frau Karliczek. Ich frage mich, wie Sie eigentlich (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) dazu stehen, dass Ihre Bundesregierung aufgrund eines Stattdessen verwalten Sie, was es schon gibt. Die Briefs von letztlich hundert Privatpersonen eben einmal Hightech-Strategie gibt es seit 2006. Da sind keine neuen einen gesamten Forschungsstand beiseitewischt und da- Ideen zu erkennen. mit ihr Nichtstun in den Bereichen Gesundheitsschutz und saubere Luft rechtfertigt. (Widerspruch bei der CDU/CSU) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir haben zum Beispiel Experimentierräume für Mo- Das halte ich für äußerst kritisch im Hinblick auf die Hal- bilitätsforschung vorgeschlagen, wo es darum geht, den tung der Bundesregierung betreffend den Wissenschafts- Transfer von den guten Ideen, die wir haben, im großen standort Bundesrepublik. Stil in die Praxis zu bringen. Die Städte und Regionen könnten von der Mobilität der Zukunft längst viel stärker (B) Ich frage mich auch, wie Ihre Haltung als Wissen- profitieren, wenn wir auch im Innovationsbereich einen (D) schaftsministerin dazu ist. Ich hoffe, sie ist eine andere größeren Schritt machen würden. Bei Ihnen ist da leider als die anderer Kabinettsmitglieder; denn einen solchen Fehlanzeige. Brief als neue Erkenntnis in diesem Bereich zu sehen, hielte ich für eine Wissenschaftsministerin wirklich nicht (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) für angemessen. Nicht zuletzt würde ich auch im Bereich der europä- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ischen Kooperation deutlich mehr erwarten. Meseberger sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Erklärung, Aachener Vertrag – die Bekenntnisse liegen auf dem Tisch. Die konkrete Kooperation, zum Beispiel Es ist ein Problem, wenn die Bundesregierung den For- im Bereich KI, lässt aber sehr lange auf sich warten. Ich schungsstand in vielen Feldern selbst nicht anerkennt. würde mir wünschen, dass das deutlich schneller geht. Damit leisten Sie letztlich einer Wissenschaftsskepsis Aber dafür bräuchten wir wohl eine Wissenschaftsminis- Vorschub, die für unsere Gesellschaft gefährlich ist. terin, die für die Sache brennt – für Forschung, für Eu- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ropa und für unsere Zukunft. Ich fürchte, darauf müssen sowie bei Abgeordneten der LINKEN) wir noch eine Weile warten. Ich wünsche mir von Ihnen, Frau Ministerin, glasklare (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Ziele zur Stärkung von Forschung und Innovation, die deutlich machen, dass wir eben wissenschaftliche Er- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: kenntnisse benötigen, um Herausforderungen zu meis- tern. Aber von diesem klaren Bekenntnis zu Forschung Albert Rupprecht, CDU/CSU, ist der nächste Redner. und Innovation konnte ich bei dieser Regierung und auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- bei Ihnen als Ministerin bisher leider noch nicht viel ordneten der SPD) erkennen. Da erwarte ich deutlich mehr von einer For- schungsministerin. Albert Rupprecht (CDU/CSU): (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Sie lassen uns auch ein Stück weit ratlos zurück; Die deutsche Wirtschaft ist seit Jahren ausgesprochen denn Sie haben sich ja noch beim Forschungsgipfel im stark; sie brummt. Der Arbeitsmarkt hat ein historisch April 2018 zum 3,5-Prozent-Ziel für Forschung und Ent- herausragendes positives Niveau. Wir haben das erreicht, wicklung bekannt und gesagt, dass Sie dazu die nötigen was Kanzlerin Merkel immer wieder gesagt hat: Wir 9122 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Albert Rupprecht (A) wollen aus den Krisen der vergangenen Jahre gestärkt Hightech-Strategie ist der Aspekt des Transfers neu he- (C) hervorgehen. – Das ist Realität. Trotzdem gibt es Stoff rausgearbeitet worden und hat eine neue Bedeutung und zum Nachdenken. Qualität bekommen. Ich glaube, wir brauchen nicht drum herumzureden – Zweites Thema: die Agentur zur Förderung von das war gestern Abend Thema der Debatte und ist es auch Sprunginnovationen, ein vollkommen neuer Ansatz, um heute –: Bei einer Schlüsselfrage, beim Thema Transfer, hochinnovative Ideen umzusetzen und zur Anwendung haben wir in der Tat Nachholbedarf. Wenn wir uns die zu bringen. Das ist etwas, was unserer Haushaltsgesetz- größten, die wertvollsten Unternehmen im Bereich der gebung eigentlich widerspricht. Da werden wir Risiken Zukunftstechnologien auf dieser Welt anschauen, stellen eingehen und eingehen müssen. Ich bitte dieses Parla- wir fest, dass die vorderen fünf Unternehmen relativ jun- ment, nicht nur zu kritisieren, wenn da mal was schief­ ge US-Unternehmen sind. Sie dominieren die Weltmärk- läuft, sondern sich zu beteiligen und das mitzutragen. te in diesem Bereich. Deutschland liegt hier mit SAP Wenn man Risiken eingeht, kann es hin und wieder eben auf Platz 62. Wenn wir uns die KMU in Deutschland vorkommen, dass was danebengeht. anschauen, die an Prozessinnovation und Produktinno- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – vation beteiligt sind, stellen wir leider Gottes fest, dass Dr. h. c. Thomas Sattelberger [FDP]: Es tut ihr Anteil von 43 Prozent im Jahr 2006 auf 22 Prozent im sich ja nichts!) Jahr 2015 gefallen ist. – Doch, es tut sich sehr wohl etwas. (Dr. h. c. Thomas Sattelberger [FDP]: Sehr richtig!) (Dr. h. c. Thomas Sattelberger [FDP]: Nichts da!) Das ist in der Tat Stoff zum Nachdenken. Das kann uns nicht zufriedenstellen. Dritter Punkt: die KI-Strategie der Bundesregierung. Ich finde, dass diese Strategie herausragend ist. Wir haben im Bundeshaushalt, Frau Ministerin, im Bereich der Forschung und Wissenschaft in den letzten (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) Jahren Gas gegeben sondergleichen und den Haushalt mehr als verdoppelt. Wir haben ein Rekordniveau bei Wenn wir wissen, dass wir in Deutschland Exzellenzen den Forschern und Wissenschaftlern in diesem Land; in der Wissenschaft haben, dass das größte Forschungs- 400 000 Frauen und Männer arbeiten im Bereich der institut auf dieser Welt seit 30 Jahren im Saarland ansäs- Wissenschaft und Forschung, haben etwas anzubieten. sig ist, würden wir uns natürlich wünschen, dass wir in Auf der anderen Seite aber müssen wir feststellen, dass Deutschland auch in der Anwendung weiter wären. (B) die Innovationskraft in der Wirtschaft zurückgeht. Diese (Dr. Anna Christmann [BÜNDNIS 90/DIE (D) Innovationslücke, liebe Kolleginnen und Kollegen, müs- GRÜNEN]: Was wir seit 30 Jahren machen, sen wir in der Tat sehr ernst nehmen. kann nicht falsch sein!) (Dr. h. c. Thomas Sattelberger [FDP]: Geld Aber es ist, wie es ist. Wir haben Assets, in der Wissen- reinwerfen allein hilft nicht!) schaft und bei vielen Unternehmen. Was die Bundesre- gierung jetzt macht, nämlich dies mit anspruchsvollen Wenn wir Wohlstand und soziale Sicherheit auch in Maßnahmen zu einer Strategie über alle Bereiche hinweg einer älter werdenden Gesellschaft aufrechterhalten wol- zu verknüpfen, ist ein historisches Projekt mit außeror- len, dann geht das eben nur, indem wir die Produktivität dentlicher Kraft. Davon erwarten wir uns wirklich sehr steigern, und Produktivitätssteigerung schaffen wir nur, viel. indem wir auf Innovationen setzen. Deswegen ist die Verbesserung des Transfers eine der zentralen Schlüs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. selaufgaben dieser Legislatur. Wir waren in den Koali- René Röspel [SPD]) tionsverhandlungen der Ansicht, dass das Ministerium für Forschung und Bildung eine dritte Säule bekommen Viertens: die steuerliche Forschungsförderung. Die- sollte; diese dritte Säule sollte den Transfer beinhalten. ses Instrument, um insbesondere die Innovationskraft im Die Lebensabschnittspartner von der SPD waren davon Mittelstand zu stärken, kostet haushalterisch viel. Das nicht begeistert. Deswegen ist daraus nichts geworden. weiß ich – wir haben das über Jahre rauf- und runter- Das ändert aber nichts daran, dass das in der Sache abso- diskutiert –; ich halte es aber für richtig. Wichtig ist je- lut notwendig und begründet ist. doch, dass auch die Auftragsforschung Bestandteil dieser Förderung ist. Es kann nicht sein, dass Aufträge, die an (Beifall bei der CDU/CSU) das Fraunhofer-Institut, an Hochschulen vergeben wer- den, nicht bezuschusst werden. Das würde nämlich die Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir haben uns Versäulung stärken und wäre genau das Gegenteil von nichtsdestotrotz im Koalitionsvertrag an vielen Stellen dem, was wir brauchen. Wir brauchen Vernetzung, Zu- zum Transfer positioniert, mit vielen kleinen Passagen sammenarbeit, die Entstehung von Clustern statt eine und Projekten, aber auch mit historisch großen Paketen. Verhärtung der Versäulung. Ich nenne ein paar wenige: (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Zentral ist sicherlich die Hightech-Strategie. Die ordneten der FDP) ist nicht ohne. Allein im Jahr 2018 haben wir im Bun- deshaushalt 15 Milliarden Euro für Forschung und Fünfter Punkt: die Verlängerung des Paktes für For- Transfer ausgegeben. In der Weiterentwicklung dieser schung und Innovation. Das ist etwas, was in der Öf- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9123

Albert Rupprecht (A) fentlichkeit nicht so wahrgenommen wird, aber eine frei; aber es müssen Qualität und Ergebnisse dabei he- (C) außerordentliche Bedeutung hat. Nur noch mal die Zah- rauskommen. len: Von 2016 bis 2020 geben wir 45 Milliarden Euro an die außeruniversitären Forschungseinrichtungen. Das (Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- ist eine Menge Holz. Im Augenblick verhandeln wir die NEN]: Das glauben Sie ja selber nicht!) nächste Paktperiode, bei der es für uns ganz klar darum Danke schön. geht – das steht auch im Koalitionsvertrag –, dass es kein Weiter-so geben darf. Wir erwarten von den außer- (Beifall bei der CDU/CSU) universitären Forschungseinrichtungen, dass sie sich im Bereich des Transfers zu anspruchsvollen Zielen com- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: mitten, die überprüfbar sind. Wir sagen nicht: Wir geben Martin Reichardt, AfD, ist der nächste Redner. das planwirtschaftlich vor. – Wir bitten die außeruniver- sitären Forschungseinrichtungen, dass sie auf Basis ih- (Beifall bei der AfD) rer Kultur und ihrer Kompetenzen Vorschläge machen. Aber Fakt ist: Wir erwarten das und werden nur Verträge unterschreiben, wenn der Transferbereich anspruchsvoll, Martin Reichardt (AfD): präzise und greifbar formuliert ist, liebe Kolleginnen und Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Mi- Kollegen. nisterin! Sehr geehrte Damen und Herren! Es ist gut, dass unsere Regierung Visionen, Missionen und Zu- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- kunftsperspektiven hat. Die Hightech-Strategie liest sich ordneten der FDP) leider zum großen Teil wie eine Absichtserklärung, ein Wunschzettel und eine Worthülsensammlung. Sie wollen Noch ein paar Anmerkungen, weil immer wieder spe- Deutschlands Zukunftskompetenz stärken und vergessen kuliert wird, was die Unionsfraktion und die Ministerin dabei, das zu bewahren, was Deutschland einst groß ge- dazu meinen: Natürlich ist die Zahl der Ausgründungen macht hat. Das Fundament unseres Erfolges waren und nur ein Indikator. Wenn es heißt, dass sich Transfer auf sind gute Bildung und Ausbildung, die Zahl der Ausgründungen reduzieren lässt, und uns das unterstellt wird, ist das natürlich Blödsinn. (Beifall bei der AfD) Menschen, die für Ziele kämpfen, in unserem Land anpa- (Dr. h. c. Thomas Sattelberger [FDP]: Ja!) cken und sich für unser Land einsetzen. Transfer ist viel vielschichtiger und weitläufiger. Natür- Auch ihre Hightech-Strategie benötigt in Zukunft (B) (D) lich ist es so, dass ein Wissenschaftstransfer in den Geis- gute Bildung, Ausbildung und insbesondere Fachkräf- teswissenschaften vollkommen anders ablaufen muss als te. Studien zeigen, dass die hohe Korrelation zwischen in der Medizinforschung. Innovationen und Qualifikationen in den MINT-Fächern klar und vorhanden ist. In Deutschland ist die Zahl der Auch Aussagen, Frau Ministerin, wonach die Union Beschäftigten im akademischen MINT-Bereich gestie- die Grundlagenforschung zurückführen und die Wissen- gen, auch im akademischen Facharbeiterbereich, dort schaftsfreiheit begrenzen wolle, sind vollkommener Un- allerdings deutlich geringer. Dem ist aber entgegenzu- sinn. Ganz im Gegenteil: Grundlagenforschung ist genau setzen, dass die Zahl der MINT-Akademiker im Alter das, was wir brauchen, und zwar mehr denn je, um gro- von über 55 Jahren sehr stark steigt; bereits 2012 waren ße Sprünge zu machen und Innovationen zu erreichen. es 470 000 Personen. Es besteht also ein hoher Bedarf Wenn das Max-Planck-Institut forscht, hat das immer an Ersatzfachkräften und darüber hinaus ein Bedarf an wieder herausragende Ergebnisse für Innovationssprün- Fachkräften, die zusätzlich gebraucht werden. 2015 wur- ge zur Folge. Deswegen brauchen wir nicht weniger den 335 000 MINT-Stellen nicht besetzt. Die Zukunfts- Grundlagenforschung. Vielmehr müssen wir die Grund- strategie in dieser Frage lautet: Wir müssen Frauen und lagenforschung stärken. Mädchen stärker für die MINT-Fächer begeistern. – Sie lassen dabei allerdings außer Acht, dass, wenn wir diese (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Frauen und Mädchen für die MINT-Fächer begeistern, ordneten der SPD) wir sie dann als Fachkräfte aus anderen Bereichen abzie- hen. Auch darüber, wie diese Begeisterung erzeugt wer- Der nächste Punkt: Wissenschaftsfreiheit. Wir waren den soll, sagen Sie nichts. es, die 2012 das Wissenschaftsfreiheitsgesetz gegen har- ten Widerstand erkämpft haben; denn wir sind der festen (Beifall bei der AfD) Überzeugung: Wissenschaft wird nicht durch Budget- Schon heute sagen 60 Prozent der Unternehmer, die steuerung kontrolliert, sondern anhand von Ergebnissen. größte Bedrohung für ihr Unternehmen sei der Fach- In dem, was sie machen, sind sie frei. Sie müssen nur kräftemangel. In technischen Unternehmen bleiben viele Qualität liefern und das, was sie an Erkenntnissen ge- Stellen unbesetzt, weil es an qualifizierten Bewerbern wonnen haben, der Gesellschaft zur Verfügung stellen. fehlt. Auch wenn es den meisten hier nicht passt: Das Das ist der Auftrag. Deswegen steuern wir nicht mehr ist die Folge der demografischen Katastrophe, meine Da- das Budget, sondern die Ergebnisse. Das ist unser An- men und Herren. satz. Anders als die Grünen, die ideologisch begründen, was gut und schlecht ist, sagen wir: Die Wissenschaft ist (Beifall bei der AfD) 9124 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Martin Reichardt (A) Deutschland ist nämlich nicht von jener Klimakatastro- Für mich steht fest: Der digitale Wandel erfordert auch (C) phe bedroht, die Sie als Ersatzfegefeuer für Ihre Klimare- neue Antworten im Bereich der zivilen Sicherheitsfor- ligion aufbauen wollen, sondern von der demografischen schung, über den wir heute diskutieren. Katastrophe, und die sollten wir hier endlich zur Kennt- (Beifall bei der SPD) nis nehmen. Das Beispiel Doxing zeigt doch: Es braucht keine frem- (Beifall bei der AfD – Dr. Petra Sitte [DIE den Regierungen, die Kriminelle anwerben, um unserer LINKE]: Die meisten alten Männer sitzen bei Demokratie und uns zu schaden. Es reicht ein junger Mit- euch!) telhesse, der für sich und seine rechte Gesinnung um Auf- In Ihrem Bericht sehen Sie sich in der Verantwortung für merksamkeit buhlt. Der Staat hat für die Sicherheit seiner kommende Generationen. Die kommenden Generationen Bürgerinnen und Bürger zu sorgen – Punkt. Deshalb ver- werden aber immer kleiner, und damit wird der Fachkräf- bietet sich auch eine Debatte, die sich ausschließlich auf temangel, auch im innovativen Bereich, eben immer grö- Terrorabwehr oder Kriminalitätsbekämpfung beschränkt. ßer. Da muss gegengesteuert werden. Es geht auch nicht um Staatstrojaner oder Backdoors. Es geht schlicht darum, Technologien zu entwickeln, die uns Qualitätsstandards in der Bildung setzen Sie ebenfalls alle schützen. nicht. Ausbildungsbetriebe klagen über mangelnde Aus- bildungsreife bei Schulabgängern; sie müssen nachschu- Mit diesem Programm werden wir Projekte fördern, len. Auch die Hochschulen klagen über den Bildungs- die den Helfern helfen. Es geht um eine bessere Koor- stand der Studenten; auch hier haben wir Nachholbedarf. dination von Rettungskräften bei Großeinsätzen. Es geht darum, zu schauen, wie im Fall eines Stromaus- (Beifall bei der AfD) falls lebenswichtige Infrastruktur aufrechterhalten wer- Das, meine Damen und Herren, ist die Folge einer jah- den kann. Kurz und gut: Es geht um uns alle. Und dabei relangen ideologiegetriebenen falschen Bildungspolitik, sollte immer klar sein: Nicht Technik schafft Sicherheit. die in sinnlose Bildungsexperimente investiert hat. Sicherheit schaffen nur Menschen. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der SPD) Qualifizierte Lehrer werden durch Quereinsteiger Ich gebe Ihnen zwei Beispiele: ersetzt; auch das ist eine Folge des Fachkräftemangels. Ich bin Potsdamerin. Bei uns werden sehr häufig gan- Sie haben sich das Ziel gesetzt, 3,5 Prozent des Brutto- ze Stadtteile gesperrt, weil immer wieder Bomben aus inlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aufzu- dem Zweiten Weltkrieg gefunden werden, die entschärft wenden. Aber das Fundament für Forschung und Ent- werden müssen. Dann kommt Sprengmeister Schwitzke, (B) wicklung ist gute Bildung. Die USA investieren 7 Prozent ein Held in meiner Region. Zukünftig wird er von Robo- (D) des Bruttoinlandsprodukts in Bildung, Deutschland gut tern unterstützt werden. Genau darum geht es in diesem 4 Prozent. Um zukunftsfähig zu werden, müssen wir in Programm: Wir investieren viele Millionen Euro, um diesem Bereich mehr Geld in die Hand nehmen. Fehlen- neue Sensoren zu erforschen. de Fachkräfte und ein schlechter Bildungsstandard sind Realität in Deutschland. Es steht also schlecht um die Das zweite Beispiel ist schon etwas problematischer: Zukunftsperspektiven und insbesondere auch um Ihre das Pilotprojekt Gesichtserkennung am Berliner Bahnhof Hightech-Strategie. Südkreuz. Hier testen Bundespolizei, BKA und Deutsche Bahn Videoanalysesysteme. Heute können wir uns noch Vielen Dank. entscheiden: Gehe ich durch die Tür mit Gesichtserken- (Beifall bei der AfD) nung, oder gehe ich durch die Tür ohne Gesichtserken- nung. Ich frage mich aber schon: Wie lässt sich mithilfe von Kameras und teilautonomen Systemen eigentlich Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: erkennen, ob jemand rennt, weil er seinen Zug erreichen Dr. Manja Schüle, SPD, ist die nächste Rednerin. will oder weil er ein Attentat plant. (Beifall bei der SPD) Es ist also unsere Aufgabe, sorgsam austarierte Si- cherheitslösungen vorzulegen und dabei auch immer an Dr. Manja Schüle (SPD): das zu denken, was das Bundesverfassungsgericht schon Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und 1983 festgestellt hat: Allein das Wissen, dass ich beob- Kollegen! Liebe Gäste auf der Tribüne! Im Dschungel achtet werden könnte, schränkt mich in meinen Grund- der Nachrichten buhlen immerfort neue Wörter und rechten ein. Meldungen um unsere Aufmerksamkeit. Anfang Januar (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wurden unsere privatesten Daten ins Netz gestellt, und der FDP) plötzlich reden alle über Promidoxing. Dabei vergessen wir, dass das nicht nur Prominente betrifft. Es betrifft Wir geraten unter Druck: auf der einen Seite durch mili- unsere Familien, Kinder, Freunde, Kollegen und Mitar- tante Ausspähversuche, auf der anderen Seite aber auch, beiter. Ihre und unsere Daten, unsere Wohnadressen, Te- wenn wir uns nur darauf konzentrieren, mit Videoüber- lefonnummern, unsere Chats und Fotos werden ins Netz wachung oder Videoanalysesystemen zu operieren. Des- gestellt und können bis zum heutigen Tag heruntergela- halb ist dieses Programm mehr. Wir denken die nächs- den werden. Auch wenn der Link auf Twitter gelöscht ist: ten Technologieschritte gleich mit, zum Beispiel durch Das Internet vergisst bekanntermaßen nichts. Quantencomputer. Sie sind deutlich leistungsfähiger als Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9125

Dr. Manja Schüle (A) klassische Computersysteme und ermöglichen neue Ver- vorgelegt. Greifen Sie zu! Bedienen Sie sich! So geht (C) schlüsselungsalgorithmen, die schwerer zu knacken sind. Forschungsförderung. Sie wollen wir stärker in die Anwendung bringen. Dafür stellen wir in den nächsten Jahren 650 Millionen Euro (Beifall bei der FDP) zur Verfügung. Ein weiterer Antrag von mir und meiner Fraktion zum (Beifall bei der SPD) Thema Quantencomputer liegt vor; denn hier liegen die Chancen auf der Straße. Gehen Sie zusammen mit un- Noch mal zum Südkreuz. Ist unser Sicherheitsempfin- seren Forschern und Start-ups mutig voran, und setzen den wirklich befriedigt, wenn überall Kameras hängen? Sie sich für quantenresistente Kryptografie made in Ger- Ich schaue da vor allen Dingen zu den Gästen auf der many ein! Tribüne. Ich bin mir ziemlich sicher: Ihre persönliche und berufliche Sicherheit ist eher bedient, wenn der Zug (Beifall bei der FDP) pünktlich und der Schaffner gesund ist. Das ist nicht tri- vial, sondern zeigt: Die Grenzen des Schutzes vor Be- Wir haben sowohl die Leute als auch die Reputation, um drohung, aber auch der Schutz unserer Bürgerrechte sind da einen Standard zu setzen, der weltweit lange gültig ist fließend und nicht einseitig zu verletzen. Genau das ist und von dem wir lange zehren können. Auch hier liegen unsere Aufgabe. Auch deshalb ist es uns Sozialdemokra- Lösungen vor. Bedienen Sie sich! ten wichtig, nicht nur die technischen Voraussetzungen zu erforschen, sondern die gesellschaftlichen Folgen mit- (Beifall bei der FDP) zudenken. Als letzter Bereich in dem Report wird die Sichtbar- Herzlichen Dank. keit dieser Industrie bzw. dieses Forschungsbereichs angesprochen. Wenn man mit Gründern in dieser Szene (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Petra spricht, erfährt man, dass sie sich oft nicht richtig wahr- Sitte [DIE LINKE]) genommen fühlen. Wir variieren ja die Instrumente, auf die Sie potenziell reagieren könnten; wir haben es auch Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: mit einer schriftlichen Einzelfrage versucht. Ich sage Mario Brandenburg, FDP, ist der nächste Redner. Ihnen: Schreiben Sie doch einen Wettbewerb mit einem Preisgeld auf das Erreichen eines in der Szene wirklich (Beifall bei der FDP) wahrgenommenen Meilensteins aus – das könnte bei- spielsweise der erste Rechner mit 50 Qubits sein –, um Mario Brandenburg (Südpfalz) (FDP): Aufmerksamkeit auf dieses Feld zu legen, in dem wir so (B) Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! viele schlaue Köpfe haben und sehr anerkannt sind. Grei- (D) Stellen Sie sich vor, Sie sitzen hier, lauschen der Plenar­ fen Sie ihnen unter die Arme! Die FDP unterstützt Sie debatte und liegen parallel irgendwo anders noch am dabei. Strand und genießen die Sonne. Was sich wirr anhört, Vielen Dank und ein schönes Wochenende. wäre Ihnen theoretisch möglich, wenn Sie ein Quanten- teilchen wären. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Heiterkeit bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: SES 90/DIE GRÜNEN) Kai Gehring, Bündnis 90/Die Grünen, ist der nächste Diese interessante Domäne der Physik wird wahrschein- Redner. lich unser Leben verändern. Deswegen möchte ich meine spärliche Redezeit von zwei Minuten und dreißig Se- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kunden dem Rahmenprogramm „Quantentechnologien“ widmen. Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vorab: Ich bin froh, dass es dieses Programm gibt und Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im- dass – Kollegin Schüle hat es gesagt – Geld hineinfließt. mer wieder frage ich mich, ob die Forschungsförderung Es gibt da durchaus Bereiche, die mich positiv stimmen. der Bundesregierung eigentlich die richtigen Prioritäten Bei industrienaher Forschung wie Quantensensorik oder setzt und inwieweit Sie damit die großen gesellschaftli- Quantenkommunikation gibt es Partnerschaften mit Un- chen Herausforderungen unserer Zeit adressieren und be- ternehmen. Dort sehe ich Fortschritt. wältigen helfen. Artensterben, Vermüllung der Umwelt, Konflikte und Kriege weltweit, die lebensbedrohliche Etwas problematischer sieht es bei Quantencomputern Klimakrise – dazu fehlt uns vieles in der Forschung, Frau aus. Unsere klassischen Fördersysteme greifen dort lei- Karliczek. der oft nicht; denn es ist nicht ganz klar, welche Tech- nologie sich durchsetzt, ob supraleitend oder gefangene (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ionen. Des Weiteren ist es nicht möglich, Prototypen zu sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) bauen und Umsätze zu zeigen, um in gängige Förderpro- gramme zu kommen. Deswegen haben die Freien Demo- Damit wir den zukünftigen Generationen einen lebens- kraten Ihnen – mein Kollege Thomas Sattelberger ist da- werten Planeten hinterlassen können, müssen wir im rauf eingegangen – verschiedene Lösungsmöglichkeiten Forschungsbereich die richtigen Lösungen finden. Alles 9126 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Kai Gehring (A) andere wäre zukunftsvergessen. In Ihrer Forschungsstra- Binden Sie zum Beispiel die Schulen noch stärker ein, (C) tegie gehören Mensch und Umwelt endlich in den Mit- damit auch Arbeiterkinder die Forschungsbegeisterung telpunkt. endlich stärker packt! Das Elternhaus darf nämlich nicht dafür verantwortlich sein, wer die Spitzenforscherin oder (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Spitzenforscher von morgen ist. sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Aus dem BMBF hören wir zu den großen Fragen und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten unserer Zeit leider wenig oder so wie heute leider auch der SPD) nichts Neues. Dabei können Sie sich gerne an grünen Vorschlägen bedienen, ganz im Sinne von Open Access. Damit kein Talent auf der Strecke bleibt, brauchen wir „Wissen wächst, wenn es geteilt wird.“ vor allem auch gut ausfinanzierte Hochschulen. Garan- tieren Sie der Herzkammer unseres Wissenschaftssys- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) tems endlich verlässliche Aufwüchse, Frau Karliczek, Erst in der letzten Sitzungswoche haben wir unseren An- die die außeruniversitären Forschungseinrichtungen trag zur Stärkung der Klimaforschung eingebracht. Und längst haben; denn ein guter Hochschulpakt kommt Leh- ich appelliere nochmals an Sie: Lassen Sie uns gemein- re und Forschung zugute. sam die Grundlagen- und Anwendungsforschung in die- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ser Menschheitsfrage deutlich stärken! und bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Durch diese verlässliche Finanzierung haben wir na- türlich auch hohe Erwartungen an außeruniversitäre Das Gleiche gilt für die Friedensforschung. Statt einsei- Forschung: herausragende Resultate, gute Arbeitsbe- tig in die Militärforschung zu investieren, müssen wir dingungen, Diversity und Geschlechtergerechtigkeit, durch die beste Forschung dabei helfen, Konflikte zu Transparenz und Unabhängigkeit, aber eben auch starke lösen, bevor sie in Gewalt ausbrechen und Menschen Brücken in die Wirtschaft und in die Gesellschaft hinein. hunderttausendfach vertrieben werden. Das ist Deutsch- Diese Brücken brauchen Innovationen, die unsere Ge- lands Verantwortung in der Welt als Global Player, als sellschaft eben nicht nur technisch, sondern auch sozi- Friedensmacht und als Wissenschaftsland. al-ökologisch voranbringen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Besten Dank. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Forschung und Innovation sind eben mehr als Tech- sowie bei Abgeordneten der LINKEN) (B) nik, Technik, Technik und mehr als Managersprech à la (D) FDP. Gerade weil technologische Entwicklungen unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft so stark verändern, Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: brauchen wir starke Geistes- und Sozialwissenschaften. Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Mario Mieruch. (Beifall der Abg. Birke Bull-Bischoff [DIE LINKE]) Mario Mieruch (fraktionslos): Ungleichheitsforschung, Migrationsforschung, Ge- Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen schlechterforschung, Arbeitsmarktforschung – gerade und Herren! Liebe Frau Christmann, wenn hundert Lun- solche Disziplinen geben Innovationen Sinn und eine genärzte und sonstige Experte nur Privatpersonen sind, Richtung, nämlich dem Gemeinwohl zu dienen. frage ich Sie: Was ist dann Jürgen Resch? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Ich möchte existenzielle Zukunftsfragen nicht un- sowie bei Abgeordneten der SPD und der ter Panik diskutieren; denn Panik ist in der Regel ein LINKEN) schlechter Ratgeber und führt selten zu rationalen Ent- scheidungen. Ich möchte unsere Zukunft nicht ideolo- Uns Grünen im Bundestag ist dabei besonders wich- gisch am Reißbrett planen. Ich möchte auch nicht, dass tig, die Gesellschaft einzubinden. Sehr zögerlich hat das man sich zu oft unrealistische oder gar unerreichbare auch die Regierung verstanden und widmet jetzt der Par- Ziele setzt, mit denen man dann sehenden Auges schei- tizipation so ein ganz kleines Restekapitel in der High- tert. Statt aus dem Scheitern zu lernen und sich realistisch tech-Strategie. Aber die Bürgerwissenschaften können zu korrigieren, setzt man sich noch unerreichbarere Ziele viel mehr; das haben wir in unserem Antrag herausgear- und scheitert immer wieder. Unsere Gesellschaft kennt beitet. Landauf und landab tüfteln die Menschen längst mittlerweile leider keine Fehlerkultur mehr. Nein, sie in Reallaboren und in Citizen-Science-Projekten an den verlernt derzeit auch ihre Debatten- und Diskussionskul- großen Herausforderungen. tur. Es gibt nur noch Befürworter oder Leugner, und die- (René Röspel [SPD]: Das steht doch in der se sind – das gilt für beide Seiten – viel zu bedingungslos. Hightech-Strategie!) Jedem ist mittlerweile klar, dass nächstes Jahr nicht Also trauen Sie sich mehr, und trauen Sie den Menschen 1 Million Elektrofahrzeuge über unsere Straßen rollen mehr zu! Die Bürgerwissenschaften gehören gestärkt. werden, weil die Bürger das nicht wollen und der freie Markt das derzeit nicht möchte. Statt dem Rechnung (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zu tragen und den Kurs anzupassen, heißt das neue Ziel Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9127

Mario Mieruch (A) „emissionsfreie Mobilität“ oder auch – wie mittlerweile Meine Damen und Herren, die Expertenkommissi- (C) ganz unverhohlen geäußert wird – „Einschränkung der on Forschung und Innovation – beileibe kein einseiti- Mobilität“. Wenn im Rahmen dieser Strategien irgend- ges Gremium, liebe Frau Kollegin Sitte – bescheinigt wann einmal das Perpetuum mobile erfunden wird, bin Deutschland in ihrem Gutachten von 2018 eine „positive ich gerne der Erste, der sich verneigt. Man wickelt füh- Dynamik“ der Forschungs- und Innovationspolitik. Beim rende Schlüsseltechnologien wie die Kernenergie ab, legt neuesten weltweiten Bloomberg Innovation Index hat die Axt an die Automobilindustrie und findet faule Koh- Deutschland fast mit dem Spitzenreiter Südkorea gleich- lekompromisse. gezogen. Beides freut uns natürlich. Aber wir ruhen uns nicht darauf aus, sondern wir folgen gern der Aufforde- Satte 3,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes sollen rung der EFI, angesichts der internationalen Herausfor- künftig für Forschung und Entwicklung ausgegeben wer- derungen und des digitalen Wandels in der Innovations- den. Das ist erst mal positiv; die Richtung stimmt. Ich politik weiter Gas zu geben. will Ihnen aber mal sagen, wie viel ein echter weltwei- ter Technologieführer investiert: 7 bis 9 Prozent, und das Meine Fraktion – auch unser Koalitionspartner – ist über Jahrzehnte. weiterhin bereit für verstärkte Investitionen im Bereich Forschung und Innovation. Hierfür bietet unser Koaliti- Geld ist hier aber nicht alles; denn die Quelle aller onsvertrag die richtigen Leitplanken. Auch der vor weni- Entwicklung ist die Bildung. Immer mehr Länder stel- gen Wochen beschlossene und verabschiedete Haushalts- len fest, dass Inklusionsexperimente eben doch nieman- plan für das Jahr 2019 bietet den richtigen Rahmen. dem nutzen und mehr Schaden als Nutzen angerichtet haben. Dennoch ziehen einige ihre Pläne weiter durch. Die von der EFI formulierten Leitlinien für die Die Aufhebung des Kooperationsverbotes steckt im Ver- F-und-I-Politik sind im Übrigen alle in unseren Koali- mittlungsausschuss, und der Nachwuchs lernt derweil die tionsvertrag eingeflossen. Das 3,5-Prozent-Ziel wurde Digitalisierung am Smartphone aus China. Leistungsbe- genannt. Es ist ein ehrgeiziges Ziel, das wir zum Bei- reitschaft vom Nachwuchs einzufordern, ist jedoch keine spiel durch die Fortschreibung des Paktes für Forschung Sünde, sondern der verantwortungsvolle Grundstein für und Innovation mit einem jährlichen Aufwuchs von eine globale Wettbewerbsfähigkeit. 3 Prozent umsetzen; Albert Rupprecht hat darauf hin- gewiesen. An dieser Stelle sei gesagt, wir werden dieses Digitalisierung, Industrie 4.0, KI – alles Themen, 3,5-Prozent-Ziel nicht ohne die Privaten, nicht ohne die deren Diskussionsstatus hier leider viel zu oft mit up to Unternehmen schaffen. Deshalb freue ich mich, dass bei- date nichts zu tun haben. Spricht man nämlich mit eben spielsweise BASF seinen ohnehin schon hohen F-und-E- erwähnten Technologieführern, dann bemängeln die- Etat zuletzt fast verdoppelt hat. Auch das ist ermutigend, wenn wir auf das 3,5-Prozent-Ziel schauen. (B) se, dass hier alles viel zu lange dauert. Im Bericht heißt (D) es: „Wir etablieren eine offene Innovations- und Wag- (Beifall bei der CDU/CSU) niskultur.“ Nein, hier sind wir einfach nicht konsequent genug; denn in jedem Wahlkampf hören die Bürger, wir Außerdem werden wir eine steuerliche Forschungsför- müssen Demokratie abbauen, und erleben dann das Ge- derung etablieren, und das, lieber Kollege Sattelberger, genteil. Das Gleiche gilt für Steuern. Wer wirklich offen wohlgemerkt neben der Projektförderung und insbeson- ist, steigt auch nicht aus der Kernenergie aus. Bill ­Gates dere für kleine und mittlere Unternehmen, also nicht nur schiebt dieses Thema nicht von ungefähr in den USA für die Satten und die Fetten. Das ist das Entscheidende, gerade wieder richtig an. Aber hey, wer will Bill Gates lieber Kollege. schon den Sinn für Zukunftstechnologien unterstellen? (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Vielen Dank. ordneten der SPD) Hier müssen wir jetzt ein bisschen Tempo machen. Hier Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: gilt meine Aufforderung an den Finanzminister Scholz, bald einen Vorschlag vorzulegen. Nächster Redner ist Dr. Stefan Kaufmann, CDU/CSU. Die Hightech-Strategie, die wir vorgelegt haben, greift (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- die Empfehlungen der EFI auf. Das betrifft insbesondere ordneten der SPD) die stärkere Berücksichtigung wichtiger Querschnittsthe- men wie autonome Systeme und künstliche Intelligenz – Frau Ministerin, Sie haben dazu ausgeführt –, aber auch Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU): die Förderung von Sprunginnovationen und eine konse- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! quente Stärkung des Transfers. Hier darf ich gerne auf Meine Damen und Herren! Wir haben heute Morgen die Ausführungen von Albert Rupprecht verweisen. von der Opposition schon viel Miesepetriges und Schie- fes gehört. Herr Kollege Brandenburg, im Bereich der Wir sind in die Umsetzung gegangen. Wir haben eine Quantentechnologie machen wir ein Programm in Höhe KI-Strategie vorgelegt. Die Agentur zur Förderung radi- von 650 Millionen Euro, also viel mehr als das, was Sie kaler Innovationen ist auf dem Weg. Auch hier werden heute Morgen hier glauben machen wollen. Auch das sei wir bald einen entsprechenden Aufschlag machen. einmal an dieser Stelle gesagt. (Beifall des Abg. René Röspel [SPD]) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Apropos Tempo. Meine Damen und Herren, dass der ordneten der SPD) dringend erforderliche DigitalPakt Schule getrieben von 9128 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Dr. Stefan Kaufmann (A) der Eitelkeit der Länder vom Bundesrat ausgebremst und zwar mit deutlichen Mehrausgaben für den Bereich (C) wurde, ist angesichts des enormen Nachholbedarfs im der Forschung. Bereich der digitalen Bildung mehr als ärgerlich. Ich darf zusammenfassen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Erstens. Deutschland ist gut aufgestellt. Zweitens. Wir ordneten der SPD) arbeiten mit Hochdruck an allen relevanten Stellschrau- ben. Drittens. Jetzt geht es darum, gemeinsam noch mehr Diesen Nachholbedarf hat auch die EFI ganz klar be- Dynamik zu entfachen. Wir als Parlament tragen unseren nannt. Nun drohen die Länder – ich sage das ganz deut- Teil dazu bei. lich –, den DigitalPakt als Geisel für ihren Bund-Länder- Streit über Finanzbeziehungen zu nehmen. Das kann uns Danke sehr. nicht gefallen, meine Damen und Herren. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ordneten der SPD) Wir als Bund sind bereit, in dieser Legislaturperiode 3,5 Milliarden Euro zu investieren, um die Länder bei Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ihrer Aufgabe zu unterstützen, die Schulen, aber auch die Voraussichtlich letzter Redner in dieser Debatte ist der Lehrer und Schüler besser auf die digitale Welt vorzube- Kollege René Röspel, SPD. reiten und damit das Lernen an sich zu modernisieren. In diesem Zusammenhang, liebe Frau Christmann, einen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Satz in Richtung Baden-Württemberg und Ministerprä- der CDU/CSU) sident Kretschmann: Es geht nicht nur um zwei Laptops mehr oder weniger pro Schule, es geht darum, die Schu- René Röspel (SPD): len endlich ans Netz zu bringen, und zwar flächende- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- ckend und schnell. Das ist einer gemeinsamen Anstren- ren! Wir debattieren heute auch den Bundesbericht For- gung aller Länder wert, meine Damen und Herren. schung und Innovation, ein fast 400 Seiten starkes Do- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- kument, in dem man lesen kann, wie hervorragend und wie des Abg. [FDP]) breit Deutschland wissenschaftlich aufgestellt ist. Ein Blick hinein lohnt sich. Herr Katzenberg – – Sehr wertvoll sind die Ausführungen der EFI zum Thema „Zielkonflikt Nachhaltigkeit versus Innovati- (Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU und onspolitik“ und das klare Bekenntnis zu einer technolo- der FDP) (B) gieoffenen staatlichen F-und-E-Förderung. Wir müssen (D) die Chancen innovativer Technologien, wie zum Beispiel Herr Sattelberger, ich habe beim Blick da hinein wirk- CRISPR/Cas im Sinne eines zukunftsfähigen Innovati- lich keine toten und fetten Katzen gefunden, sondern ei- onsstandortes in Deutschland nutzen und nicht von vorn- nen Überblick über ganz viele engagierte Institute und herein verteufeln, meine Damen und Herren. Menschen, die Wissenschaft in Deutschland betreiben. Es lohnt sich, nicht nur darüber zu reden, sondern auch (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- einmal dorthin zu gehen; denn dann lernt man auch als ordneten der FDP) Politiker tatsächlich, was längst gemacht werden müsste. Das wird an vielen Orten schon fast wie selbstverständ- Außerdem geht es um eine bessere Verzahnung von In- lich gemacht. novations- und Industriepolitik. Gut ist in diesem Zusam- menhang, dass wir in die neue Hightech-Strategie das In- Meine SPD-Ruhrgebietskollegen und ich sind im Sep- novationsprinzip aufgenommen haben, also die Prüfung tember ein bisschen durch das Ruhrgebiet gefahren und neuer Gesetze auf die Folgen für das Innovationsklima. haben uns in Dortmund das Max-Planck-Institut für mo- lekulare Physiologie angeschaut. Wir haben vier Direkto- Nochmals zurück zum Genome Editing bzw. der Bio- ren angetroffen, zwei davon kommen aus dem Ausland. technologie, einem sehr zentralen Thema für unsere Zu- Wir haben gefragt: Warum sind Sie eigentlich nach Dort- kunftsfähigkeit. Warum richten wir eigentlich nicht ei- mund gekommen? Wohl nicht wegen des merkwürdigen nen Biotechrat ein, vergleichbar der Nano-Kommission, Blicks auf das komische Stadion dort? die wir 2005 ins Leben gerufen haben, mit dem Ziel, die Chancen und Risiken der Gentechnik in einem breiten (Heiterkeit bei der SPD) öffentlichen Dialog zu erörtern? Das scheint mir ange- sichts der Bedeutung des Themas angemessen, meine – „Unruhe bei den Sozialdemokraten“. Damen und Herren. (Heiterkeit bei der SPD) Zum Ende noch ein Blick über den Tellerrand. Der Sie haben gesagt: Weil wir tatsächlich Arbeitsbedingun- Forschungsstandort Deutschland wird nur dann langfris- gen für unsere Forschung finden, die wir sonst nirgends tig eine Perspektive haben und weltweit wettbewerbsfä- finden, und zwar weltweit nirgends finden. – Das heißt, hig bleiben, wenn wir einen starken europäischen For- Deutschland ist mittlerweile hervorragend aufgestellt, schungsraum entwickeln. Deshalb ist es gut und richtig, und wir machen gute Arbeit. dass Deutschland den von Kommissar Oettinger ausgear- beiteten mittelfristigen Finanzrahmen und auch den Ent- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wurf zu Horizon Europe von Carlos Moedas unterstützt, der CDU/CSU) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9129

René Röspel (A) Übrigens: Die meisten dieser Parteien, die in den Län- gie; Herr Brandenburg, Sie haben das sehr sachkundig (C) dern beteiligt sind, bis auf ganz rechts, waren daran be- dargestellt. Dann geht es in die speziellen Programme, teiligt, den Wissenschaftsstandort in den letzten Jahren die in der Hightech-Strategie nicht unbedingt ausgewie- deutlich nach vorne gebracht zu haben. sen sind, und das ist ein richtiger Weg. Jetzt reicht es aber nicht, sich selbst zu beweihräu- Dann üben wir auch politischen Einfluss aus. Wir als chern, sondern auch zu sehen: Was müssen wir eigentlich Sozialdemokraten haben gesagt, es reicht nicht, wenn kritisch sehen? – Weil es ein richtiger Weg ist, sich immer man Gesundheitsforschung immer nur unter dem Blick- wieder einen Spiegel vorzuhalten, ob man auf dem richti- winkel sieht: Was müssen wir molekularbiologisch he- gen Weg ist, hat noch die rot-grüne Bundesregierung vor rausfinden? Vielmehr wollen wir auch mehr Versorgungs- etwas über zehn Jahren gesagt: Es reicht nicht, wenn wir forschung. Wir wollen wissen: Wie müssen Menschen den BuFI präsentieren, sondern wir wollen eine kritische gepflegt werden, damit sie gesund werden? Und wie ist Reflexion dessen, was wir politisch tatsächlich machen. überhaupt Krankheit zu verhindern? Wir wollen also, So ist die Expertenkommission Forschung und Innovati- dass Gesundheitsforschung auch bedeutet, Prävention zu on entstanden, die uns jährlich einen kritischen Bericht erforschen, also Möglichkeiten zu entwickeln, dass man liefert und ihre Sicht auf die technologische Leistungsfä- gar nicht krank wird. higkeit Deutschlands darstellt. Das ist gut so; denn wer glaubt, dass Politik Forschung machen könne, irrt. Das (Beifall bei der SPD) machen immer noch die Forscherinnen und Forscher. Einen Bericht müssten wir eigentlich auch mitdisku- Die Aufgabe der EFI ist, uns die strukturellen Defi- tieren, der an anderer Stelle noch diskutiert werden wird. zite oder auch das zu benennen, was positiv läuft. Wir Das ist nämlich der Nationale Bildungsbericht; denn un- bekommen jedes Mal einen interessanten Bericht. Im sere Nobelpreisträger und ‑trägerinnen werden nicht an jetzigen Bericht, den wir diskutieren, steht, dass Grund- den Universitäten gemacht, sondern in den Kindergärten. lagenforschung ganz wichtig ist und ausgebaut werden (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des muss. Das machen wir. Das ist auch richtig. Dann wird BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gesagt: Wir brauchen eine Agentur für Sprunginnovati- onen, um Innovationen, die sich nicht langsam entwi- Vielleicht sitzen da ja schon die künftigen Nobelpreisträ- ckeln, sondern von heute auf morgen geschehen, anzu- ger und wissen das noch gar nicht, wissen noch nicht ein- kurbeln. Auch das wird auf den Weg gebracht, und auch mal, ob in Literatur, Physik oder Medizin. Es geht darum, das ist ein richtiger Weg. Also, wir lernen auch von dem, jedes Talent, das wir haben, zu heben. Deswegen finde was uns die EFI sagt. ich es ausdrücklich zynisch, wenn die AfD, wie mehrfach (B) Dann gibt es auch Punkte, an denen es immer noch im Ausschuss geschehen, sagt, für jedes Kind ist ja seine (D) Fragezeichen gibt. Schule da. Wer also als Arbeiterkind auf die Hauptschule kommt, der soll auch da bleiben. Nein, wir sagen, jedes Wenn es zum Beispiel darum geht, dass die Grün- Kind muss zu dem gemacht werden, was es am besten dungsraten oder die Innovatorenquoten in Deutschland kann, und wir wollen volle Unterstützung, auch als So- zurückgehen, also die Zahl der Unternehmen, die inno- zialdemokraten. vativ arbeiten, dann hat EFI auch nicht so recht eine Ant- wort. (Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) Was die Gründungsraten anbelangt, so geht aus der Abbildung im Bericht der Expertenkommission hervor, Wir haben ein anderes Verständnis von Bildung und dass die Zahl der Gründungen in der Zeit deutlich nach Bildungspolitik. Deswegen ist es der wesentliche Ansatz, der Finanzkrise dramatisch abgenommen hat, in einer alle Menschen und alle Kinder unabhängig von ihrer Her- Zeit übrigens, in der die FDP regiert hat, nämlich zwi- kunft auszubilden und ihnen die bestmöglichen Chancen schen 2009 und 2013. Glauben wir einmal den Experten, zu geben, damit wir auch zukünftig hervorragende For- die das geschrieben haben. Da muss wohl irgendetwas scher und übrigens auch gute Handwerker haben. nicht richtig gut gelaufen sein, und es ist gut, dass es jetzt wieder besser läuft. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Trotzdem haben wir noch nicht das richtige Patentrezept Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: in dieser Frage gefunden, und wir müssen alle daran ar- Damit schließe ich die Aussprache. beiten. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorla- Nun kann Politik tatsächlich nicht forschen, aber wir gen auf den Drucksachen 19/4100, 19/1140, 19/2600, können bestimmte Rahmenbedingungen setzen und An- 19/2910, 19/4645, 19/7118 und 19/4857 an die in der forderungen an Forschung stellen. Deswegen gibt es zum Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Beispiel die Hightech-Strategie, die seit 2006 auf dem Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich Weg ist und im Rahmen derer wir immer wieder nachfor- der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. dern, immer wieder ändern, eine übergreifende Program- matik entwickeln und sagen: Ja, wir wollen im Bereich Bevor ich die nächsten Punkte aufrufe, bitte ich da- Klima mehr machen. Wir müssen im Bereich Energie rum, die offenbar notwendigen Platztausche zügig vor- mehr machen. Wir brauchen Quantencomputertechnolo- zunehmen. 9130 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble (A) Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 sowie die Zu- gen und ihre Taten planen. Auf der anderen Seite stehen (C) satzpunkte 8 a und 8 b auf: 40 Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder, die genau diese Terroristen stoppen sollen. Man muss kein 18. Beratung des Antrags der Abgeordneten Prophet sein, um zu wissen, dass es da auf Dauer zu Pro- Benjamin Strasser, Konstantin Kuhle, Stephan blemen kommt. Leider müssen wir feststellen, dass bei Thomae, weiterer Abgeordneter und der Frak- der inneren Sicherheit in Deutschland zu oft zu viele zu- tion der FDP ständig sind und, wenn es darauf ankommt, keiner ver- Terrorismus effektiv bekämpfen, Verant- antwortlich ist. wortlichkeiten klären – Einsetzung einer (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Kommission zur Reform der föderalen Si- DIE GRÜNEN) cherheitsarchitektur – Föderalismuskom- mission III Ich möchte den Reformbedarf aufgrund der begrenzten Redezeit nur kurz aufzeigen. Wir müssen uns beispiels- Drucksache 19/7424 weise überlegen, ob es wirklich noch 16 Landesämter Überweisungsvorschlag: für Verfassungsschutz braucht, ob wir einem Landesamt Ausschuss für Inneres und Heimat (f) in Bremen mit 49 Vollzeitstellen den gleichen Arbeits- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz umfang zumuten wollen wie in Baden-Württemberg mit ZP 8 a) Zweite und dritte Beratung des von den Ab- 350 Stellen, obwohl wir wissen, dass sich Extremisten geordneten Roman Johannes Reusch, Martin nicht proportional über unser Land verteilen. Hess und der Fraktion der AfD eingebrachten (Beifall bei der FDP) Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz der Be- völkerung vor ausländischen Gefährdern Weshalb ist es eigentlich in Deutschland möglich, dass die Länder gemeinsame Rundfunkanstalten, aber kei- Drucksache 19/931 ne gemeinsamen Sicherheitsbehörden unterhalten? Wir Beschlussempfehlung und Bericht des Innen- müssen uns die Frage stellen, ob wir mit weniger Behör- ausschusses (4. Ausschuss) den mehr Sicherheit organisieren können. Drucksache 19/2226 (Beifall bei der FDP) b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Zweiter Aspekt: Gemeinsames Terrorabwehrzentrum. Berichts des Innenausschusses (4. Ausschuss) Was ist dort die Lage? Wir wissen, im September 2016 zu dem Antrag der Abgeordneten Roman hat das Gemeinsame Terrorabwehrzentrum den At- (B) Johannes Reusch, Martin Hess und der Frakti- tentäter aus Berlin als kleinkriminellen Drogendealer (D) on der AfD eingeschätzt. Parallel plant er mit einem französischen Salafisten Anschläge. Die Polizei vereitelt diese. Das Zuständigkeit des Bundes für die Abwehr Gemeinsame Terrorabwehrzentrum weiß von nichts. Das von Gefahren ist ein Problem. Wir brauchen ein GTAZ-Gesetz, das die Drucksachen 19/932, 19/2226 Verantwortlichkeiten klar regelt. Wir müssen den Zustand der organisierten Verantwortungslosigkeit beenden. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. Sind Sie damit (Beifall bei der FDP) einverstanden? – Dann ist das so beschlossen. Das Traurige ist aber, dass die Strukturprobleme bei Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem der inneren Sicherheit jahrelang bekannt sind und wir sie Kollegen Benjamin Strasser, FDP. hier auch diskutieren. Der ehemalige Bundesinnenmi- nister Thomas de Maizière hat 2017 radikale Vorschläge (Beifall bei der FDP) gemacht, die ich im Übrigen gar nicht in allen Punkten teile. Wer sie aber damals geteilt hat, war , Benjamin Strasser (FDP): war Clemens Binninger und waren auch Sie, Herr Kol- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und lege Schuster. Ich weiß, dass Sie eigentlich auf unserer Kollegen! Unsere föderale Sicherheitsarchitektur stammt Seite sind, genau wie Herr Lischka von der SPD, der sich im Prinzip aus einem Land vor unserer Zeit, genauer ge- geäußert hat, wie Frau Mihalic und Herr von Notz, die sagt, aus den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts, einer sich geäußert haben. Uns ist es bewusst. Wem es aber Zeit ohne Handys, ohne Internet, ohne Tablets, ohne Glo- nicht bewusst ist, ist das Bundesinnenministerium, das balisierung und vor allem ohne weltweit organisierten gar nicht hier ist. Terrorismus. Was sich über Jahrzehnte bewährt hat, das (Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär: föderale Prinzip, sieht sich heute anderen, neuen Bedro- Doch!) hungslagen ausgesetzt. Da waren der rechtsterroristische NSU und der Fall Amri, die ganz eindeutig klargemacht Herr Seehofer ist schon im Wochenende. Er lebt ja auch haben, wo die Probleme liegen und wie wir sie lösen in seiner eigenen Welt. könnten. (Beifall bei Abgeordneten der FDP und Auf der einen Seite haben wir es mit kleinsten, hoch- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – mobilen terroristischen Zellen zu tun, die sich im Alltag Konstantin Kuhle [FDP]: Jedes Wochenende ganz normal über Bundesländergrenzen hinweg bewe- dasselbe!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9131

Benjamin Strasser (A) Herr Krings, jetzt bekommen Sie eben die Prügel ab; Ich widerstehe jedem Reflex, Sie jetzt in der üblichen (C) das tut mir sehr leid. Ich schätze Sie. – Aber Ihr Minis- Manier – Regierungsfraktion, Oppositionsfraktion – an- ter spricht beim Antrittsbesuch im GTAZ allen Ernstes zugreifen. davon – ich zitiere –, die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern funktioniere sehr gut. Und weiter: (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Die Grundstrukturen bei der Sicherheit passen. – Herr GRÜNEN]: Na, da sind wir mal gespannt, Krings, die FDP-Fraktion gönnt Herrn Seehofer nach Herr Schuster!) einem langen politischen Leben wirklich seinen Ruhe- Nein, das tue ich nicht, weil ich Ihren Antrag – ich gehe stand. Aber muss er allen Ernstes schon im Bundesinnen- auf keines der vielen Details ein – gut finde. ministerium anfangen? Er ist noch Minister. Er soll mal seine Arbeitsverweigerung beenden und die Probleme (Beifall bei der FDP) anpacken, die in unserem Land drängen. Ja, 80 Prozent der Inhalte dieses Antrags – da fehlen noch (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ ein paar Sachen – sind in Ordnung. Warum? Sie sind fast DIE GRÜNEN) alle von mir. Entschuldigung! Wir werden den gordischen Knoten bei der Födera- (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU – lismusdebatte nur lösen können, wenn Bund und Länder Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNIS- sich an einen Tisch setzen, hinter verschlossenen Türen SES 90/DIE GRÜNEN – Michael Theurer Tacheles reden und vor allem Konsequenzen ziehen. Die [FDP]: Wieso? Haben Sie es geschrieben?) Föderalismuskommissionen I und II haben gezeigt, dass der Föderalismus zur Reform fähig ist, ohne das Prinzip Im Ziel dieses Antrags, meine Damen und Herren, als solches über Bord zu werfen. Hören wir auf, nur zu sind sich unglaublich viele Sicherheitspolitiker in die- reden, handeln wir! Eine Föderalismuskommission III sem Land einig – im Ziel! Der vorgeschlagene Weg ei- wäre das richtige Mittel der Wahl. ner Kommission ist eingetreten, ausgelatscht und bisher Vielen herzlichen Dank. völlig unerfolgreich. Sie haben es selber aufgezählt: verliert mit ernsten Reformvorschlägen, die ich (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten gut fand, 16 : 0 im Bundesrat. des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Benjamin Strasser [FDP]: Bitter, bitter, bit- ter!) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Armin Schuster, CDU/CSU, ist der nächste Redner. Wolfgang Schäuble hatte als Innenminister den Weg da- (B) (Beifall bei der CDU/CSU) für gebahnt, endlich eine Schnittstellenbetrachtung der (D) Bundeszollverwaltung und der Bundespolizei vorzuneh- men – gescheitert! Die Werthebach-Kommission wur- Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): de erster Klasse von Hans-Peter Friedrich beerdigt. Ich Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- glaube, er musste es, er wollte es vielleicht gar nicht. Wir ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich wollte eigent- haben zusammen mit der FDP in unserer gemeinsamen lich damit aufhören, Herr Strasser. Jetzt fange ich damit Regierungszeit eine Kommission eingerichtet, an: Sie wollen eine Regierungskommission. Das müssen wir schon genau benennen, so wie es in Ihrem Antrag (Benjamin Strasser [FDP]: Ja, 2012! Da wa- steht. ren wir noch gar nicht so lange dabei!) (Benjamin Strasser [FDP]: Nein, nein! – um die Sicherheitsgesetzgebung zu evaluieren. Wir ha- Michael Theurer [FDP]: Föderalismuskom- ben uns so verhakt – BMJ und BMI –, dass es nie zu mission ist eine gemischte Kommission!) einem Ergebnis kam. Der Empfehlungskatalog NSU 1.0 enthält Handlungsempfehlungen für die Sicherheitsar- Jetzt einigen Sie sich einmal mit Ihrem Partei- und Frak- chitektur, die wir mit den Ländern nicht umsetzen konn- tionschef. Der sagte hier gestern Mittag – Zitat –, eine ten – es wird bis heute hartnäckig verweigert –, gewisse Regierungspraxis sei es wohl geworden, Ent- scheidungen in Kommissionen zu verlagern, statt sie im (Michael Theurer [FDP]: Wer regiert denn in Parlament zu treffen. den Ländern?) (Benjamin Strasser [FDP]: Weil Sie gar nicht die darauf zielen, dass es in Fällen wie Amri oder NSU handeln, Herr Schuster!) eine zentrale Ermittlungsführung mit Durchgriffsrechten Also, da muss ich zustimmen. Das ist gibt. Ich erinnere hier an den Anschlag vom Breitscheid- jetzt ein merkwürdiger Vorschlag von der FDP. platz und die Rolle des GTAZ. Ich würde kein Gesetz machen, sondern einen anderen Weg gehen. Das müssten (Beifall bei der CDU/CSU) wir aber diskutieren. Im Übrigen, Herr Strasser, ist es eine ganz perfide Taktik, Meine Damen und Herren, internationaler Terroris- mich zu loben; aber Sie haben recht. mus, Cybercrime, OK in Europa und weltweit – was für (Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der ein Anachronismus ist es da, dass der Bundesinnenmi- CDU/CSU und der FDP – Heiterkeit bei Ab- nister in der Ständigen Konferenz der Innenminister und geordneten der SPD) -senatoren der Länder nur ein Gastrecht genießt! 9132 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

(A) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Freunde, wir müssen, wenn wir das, was Sie vorschla- (C) Herr Kollege Schuster, der Kollege Strasser würde gen, tun wollen, konstruktiver über AnKER-Zentren und gerne eine Zwischenfrage stellen. sichere Herkunftsstaaten reden können, (Benjamin Strasser [FDP]: Ja, aber dann las- Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): sen Sie das doch eine Föderalismuskommis- sion tun! – Dr. Konstantin von Notz [BÜND- Ja, ich warte schon darauf. NIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerade waren Sie noch so konstruktiv, Herr Schuster!) (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP) dann müssen wir konstruktiv über ein Muster-Polizeige- setz reden können. Benjamin Strasser (FDP): Herr Kollege Schuster, Sie haben jetzt mit vielen (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE schönen Worten erklärt, was alles notwendig wäre und GRÜNEN]: Machen Sie nicht die Mottenkiste warum man nicht handelt. Stimmen Sie mir nicht zu, auf!) dass das vor allem ein Problem der Unionsfraktion ist? Jetzt komme ich zu uns. Ich habe den Kollegen Krings hier einmal in der Frage- stunde gefragt, wie die Bundesregierung sich denn jetzt (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE stellt: auf die Seite von Herrn de Maizière und Ihnen, die GRÜNEN]: Ja bitte!) sagen, dass wir Reformen im Bereich der inneren Sicher- Ich schone uns nicht und betreibe Selbstkritik. SPD und heit brauchen – das haben Sie in einem Gastbeitrag mit Union sind in diesem Land garantiert dafür verantwort- Herrn Binninger im April 2017 entsprechend dargelegt –, lich, dass einige Landesinnenminister sich aufführen, als oder auf die Seite von Horst Seehofer, der „Passt schon“ wenn sie ein Fürstentum führen würden. sagt und lieber die Finger davon lässt? (Beifall bei der FDP sowie des Abg. (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Stimmt doch Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/ gar nicht!) DIE GRÜNEN] – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Nicht nur die Innenminister, auch – Hat er doch gesagt. – Was können wir als Parlament andere!) von dieser Regierung eigentlich noch erwarten? So, das sage ich auch einmal. Das ist die Gemengelage, (Beifall bei Abgeordneten der FDP) über Bodo Ramelow, und alle an- (B) deren Ministerpräsidenten. Sie von der FDP regieren in (D) Nordrhein-Westfalen mit Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Herr Strasser, mit der Performance verschlechtern Sie (Benjamin Strasser [FDP]: Sie stellen den einen guten Antrag. Innenminister!) und wollten die Schleierfahndung nicht im Koalitions- (Michael Theurer [FDP]: Das ist aber auch vertrag haben, Herr Strasser. Das ist doch ein Oberwitz. keine Antwort!) (Beifall bei der CDU/CSU – Benjamin Strasser Meine Damen und Herren, ich habe es versucht, ich [FDP]: Das ist jetzt ein billiges Argument!) versuche es noch einmal: Mit der FDP konnten wir bis- her nicht so klug diskutieren, wie Sie gerade zum Thema – Ich gestatte Ihnen sogar, sich jetzt wieder hinzusetzen. Cybersicherheitsarchitektur und Onlinebefugnisse vor- Sonst wäre es unfair. getragen haben. Was will ich damit sagen? Wir haben zwei Kommis- ( [CDU/CSU]: Genau! – sionen, Michael Theurer [FDP]: Sehen Sie, wir haben (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE uns erneuert!) GRÜNEN]: Sie haben 55 Kommissionen, Herr Schuster! 55!) Es ist ein sehr guter Antrag. Das ist das erste Mal, dass ich von Ihnen so etwas höre. Wir sind gesprächsbereit. die den Auftrag haben, den gordischen Knoten zu durch- schlagen, den Sie und auch ich durchschlagen wollen. Zum Trennungsgebot. Sie sind auch eine Fraktion, die Die erste Kommission nennt sich Ministerpräsidenten- daran Schuld trägt, dass wir nicht weiterkommen. konferenz, und die zweite Kommission nennt sich Innen- ministerkonferenz. Meine Damen und Herren, da sitzen (Beifall bei der CDU/CSU – Benjamin wir alle zusammen drin. Strasser [FDP]: Ach!) (Michael Theurer [FDP]: Was? Ich sitze da Die Grünen regieren in diesem Land mit, oder sie regie- nicht drin!) ren wie in Baden-Württemberg. Alle zusammen sind wir dafür verantwortlich, dass sich (Michael Theurer [FDP]: Die Grünen? – diese Dinge nicht bewegen und wir sie nicht konstruktiv Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE diskutieren. Und wenn die Regierungen in diesem Land, GRÜNEN]: Mit wem eigentlich?) mit dieser bunten Farbenlehre, nicht in der Lage sind, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9133

Armin Schuster (Weil am Rhein) (A) diesen Knoten zu durchschlagen, dann ist es eine Aufga- Martin Hess (AfD): (C) be für uns hier in diesem Parlament. Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und (Beifall bei der FDP – Benjamin Strasser Herren! Liebe Kollegen von der FDP, in Ihrem Antrag [FDP]: So ist es! Darum stellen wir den An- beschreiben Sie zutreffend, welche massiven Probleme trag!) die Sicherheitsbehörden bei der Bekämpfung des enor- men islamistischen Terrors in unserem Land haben. Zur Dann müssen wir uns dem Selbsttest aussetzen, ob wir Lösung dieser erheblichen Sicherheitsprobleme wollen in der Lage sind, so konstruktiv gemeinsam über all die Sie eine Kommission einrichten, die bis zum Jahr 2020 strittigen Punkte zu diskutieren, dass wir zu einem Plan Vorschläge zur Neuausrichtung der föderalen Sicher- kommen. Ich glaube, dass solch ein Plan hochnotwendig heitsarchitektur machen soll. Das Problem ist nur: Wir ist. haben keine Zeit mehr bis 2020. Jetzt verrate ich Ihnen, warum ich nur 80 Prozent Ihres (Beifall bei der AfD) Antrags gut finde. Wenn wir das schaffen und eine natio- nale Sicherheitsstrategie, die wir gemeinsam entwickeln, Wir können nicht mehr nach der Devise handeln: Wenn obendrauf setzen, könnte ich mir – der Staatssekretär hält ich nicht mehr weiterweiß, dann bilde ich einen Arbeits- sich vielleicht besser die Ohren zu – kreis. (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Das bisherige politische Versagen wurde ja von Ihnen, Dr. Günter Krings, Parl. Staatssekretär: Nein, Kollege Schuster, gerade sehr anschaulich dargestellt. nein!) Die Terrorgefahr ist so hoch wie nie vorher. Deshalb im Bundeskanzleramt auch einen nationalen Sicherheits- müssen wir jetzt sofort handeln, und wir müssen jetzt berater vorstellen. wirksame Maßnahmen zum Schutz unserer Bürger um- setzen. (Benjamin Strasser [FDP]: Armin Schuster! Herr Krings wird Innenminister!) (Beifall bei der AfD) Aber bei dieser Idee wird mir seit zehn Jahren erklärt: Anders formuliert: Der Worte sind genug gewechselt, Vergiss es! Da machen die Länder nie mit. jetzt muss endlich gehandelt werden. Meine Damen und Herren, wir haben globale Bedro- Dazu ist es erforderlich, dass als Erstes das Hauptpro- hungen, wir haben europäische Bedrohungen. Der Bund blem gelöst wird, das für die desaströsen Zustände im muss mehr Verantwortung erhalten. Ich bin der festen Bereich der inneren Sicherheit verantwortlich ist, und (B) Überzeugung: Das alles gemeinsam in eine nationale Si- das sind unsere offenen Grenzen. (D) cherheitsstrategie zu gießen und sie vielleicht auch mit einem Kopf zu versehen, wäre etwas, was die Lebens- (Beifall bei der AfD) qualität der Menschen in Deutschland deutlich positiv beeinflussen würde. Es müssen endlich alle Fraktionen in diesem Haus zur Kenntnis nehmen, dass wir nur mit einer ehrlichen und Ich möchte – erstens – den Ländern etwas sagen. Wer ideologiefreien Problemanalyse glaubt, er müsse seine Pfründe verteidigen, der irrt in den Augen der Bevölkerung ganz sicher. Ihr sind Zuständig- die Sicherheitsprobleme unserer Zeit lösen können. Da- keitserwägungen völlig wurscht. ran fehlt es außer der AfD bedauerlicherweise allen Frak- tionen in diesem Hause. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) (Benjamin Strasser [FDP]: Sie legen über- Sie will Sicherheit, und wir müssen sie garantieren. haupt keine Vorschläge vor!) Zweitens sei mir ein Satz an die Presse erlaubt, mit Die Wahrheit ist und bleibt: Deutschland ist so unsi- der ich seit zehn Jahren darüber diskutiere und von der cher wie nie zuvor. ich immer den Satz höre: Ach, Herr Schuster, Strukturde- batten sind total langweilig und machen keine Auflage. – (Beifall bei der AfD) Liebe Journalisten, bleibt dabei! – Wir sollten uns aber nicht davon beeindrucken lassen, dass man damit nicht Noch nie zuvor in unserem Land mussten die Weih- in die Zeitung kommt. nachtsmärkte mit Betonpollern vor islamistischen An- schlägen geschützt werden. Noch nie zuvor in der Ge- (Beifall bei der FDP) schichte unseres Landes mussten zum Schutz unserer Wir sollten es tun. Frauen bei öffentlichen Veranstaltungen Frauenschutz- zonen eingerichtet werden. Ich danke Ihnen. ( [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) NEN]: Ich mach mir die Welt, wie sie mir ge- fällt!) Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Nächster Redner ist der Kollege Martin Hess, AfD. Noch nie zuvor in der Geschichte unseres Landes ist die Zahl der Körperverletzungs- und Tötungsdelikte mit dem (Beifall bei der AfD) Tatmittel Messer so exorbitant in die Höhe geschossen 9134 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Martin Hess (A) wie in den letzten Jahren. Und noch nie gab es für die rück! Und schieben Sie endlich alle Personen ab, die sich (C) Bürger unseres Landes eine so hohe terroristische An- illegal in unserem Land aufhalten! schlagsgefahr. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Aber – auch das gehört zur Wahrheit – mit diesen Wir hatten im Juli 2018 einen Höchststand von 776 is- Maßnahmen alleine können wir den islamistischen Ter- lamistischen Gefährdern; zum Jahresbeginn 2014 waren ror nicht stoppen; denn die Polizei verfügt schlicht und es lediglich 165. Die Anzahl der Gefährder hat sich also ergreifend nicht über genügend Ressourcen, um alle is- seit der Grenzöffnung fast verfünffacht. lamistischen Gefährder, die sich bereits in Deutschland Zur Erinnerung: Bei Gefährdern stellt sich nicht mehr befinden und einen Terroranschlag planen, lückenlos zu die Frage, ob sie einen Terroranschlag begehen, sondern überwachen. Es ist daher zum Schutz unserer Bevölke- nur noch, wann. Auch bei den Salafisten, dem islamis- rung, gerade unter Verhältnismäßigkeitserwägungen, tisch-terroristischen Personenpotenzial und den islamis- zwingend erforderlich, alle Gefährder entweder in ihre tischen Terrorverfahren haben wir stetig steigende Zah- Heimat abzuschieben oder in Abschiebehaft zu nehmen. len zu verzeichnen. Das belegt ganz eindeutig, dass alle Dort, wo das nicht möglich ist, muss der längerfristige Maßnahmen, die diese Regierung zur Bekämpfung des Gewahrsam zur Anwendung kommen. Anders kann die islamistischen Terrors ergreift, völlig unzureichend sind. Gefahr für Leben und Gesundheit unschuldiger Bürger in Sie vernachlässigen in unverantwortlicher Art und Weise unserem Land unmöglich abgewehrt werden. die Sicherheit und den Schutz unserer Bürger. (Beifall bei der AfD) (Beifall bei der AfD) Mit der Umsetzung dieser Maßnahme können auf ei- Schauen Sie sich die Terrorlage doch einmal genau nen Schlag 776 tickende Zeitbomben effektiv entschärft an! Nahezu alle Terrorverdächtigen sind als Flüchtlinge werden. Für uns und für die Bürger unseres Landes ist es in unser Land eingereist. daher in keinster Weise nachvollziehbar, warum Sie sich (Benjamin Strasser [FDP]: Der NSU ist auch diesem massiven Sicherheitsgewinn verweigern. Die Si- aus dem Ausland gekommen? Und die Hacker cherheit und der Schutz unserer Bürger sind für uns nicht auch?) verhandelbar. Oder, um es mit den Worten der FDP aus- zudrücken: Sicherheit first. Bedenken second. Ich könnte viele Beispiele aufzählen, will mich aber jetzt auf den aktuellsten Fall beschränken, nämlich den der (Beifall bei der AfD) drei Iraker, die am Mittwoch festgenommen wurden, weil (B) sie in einem Dorf in Schleswig-Holstein einen Terroran- Wir haben es heute mit islamistischen Terroristen zu (D) schlag geplant hatten, bei dem möglichst viele Bürger tun, die international vernetzt, kriegserfahren und zum umgebracht werden sollten. Meine Fraktion dankt von Massenmord selbst an unschuldigen Frauen und Kindern dieser Stelle ganz ausdrücklich allen Sicherheitskräften, bereit sind. Die Überwachung dieser Terroristen kann in die an der Verhinderung dieses Anschlages beteiligt wa- vielen Bundesländern aber nur unzureichend erfolgen, ren. Super Job gemacht! weil die Vielzahl der unterschiedlichen Polizeigesetze keinen geeigneten Rechtsrahmen für effektive Gefah- (Beifall bei der AfD) renabwehr bietet. Und das ist keine neue Erkenntnis; das Aber auch diese Terroristen – das gehört zur Wahr- sagen uns die Sicherheitsexperten seit Jahren. Deshalb heit – sind als vermeintlich Schutzsuchende über die of- können wir den Kampf gegen den islamistischen Terro- fenen Grenzen in unser Land gekommen. Und solange rismus nur gewinnen, wenn wir, wie wir das in unserem wir diesen Kardinalfehler der offenen Grenzen in der Antrag fordern, dem Bund die Zuständigkeit für die Ge- deutschen Sicherheitspolitik nicht endlich korrigieren, so fahrenabwehr im Bereich der Terrorbekämpfung übertra- lange laufen alle Versuche, die Sicherheitsbehörden bes- gen. ser aufzustellen, ins Leere. Als Polizist und Pragmatiker fordere ich Sie deshalb (Beifall bei der AfD) auf, endlich zu handeln. Was wir jetzt brauchen, liebe Wissen Sie, was die Bürger nicht mehr nachvollzie- Kollegen von der FDP, sind keine Kommissionen. hen können? Wenn es um Ihren Schutz geht, dann wer- (Benjamin Strasser [FDP]: Sie schlagen eine den die Grenzen massiv kontrolliert. Beim G‑20-Gipfel Maßnahme vor, Herr Kollege! Eine einzige! 2017 wurde die Grenze durch die Bundespolizei massiv Das ist doch kein Konzept!) kontrolliert. Ergebnis: In fünf Tagen nahm die Bundes- polizei 744 per Haftbefehl gesuchte Straftäter fest. Das Wir brauchen auch keine Politiker wie von beweist doch ganz eindeutig: Grenzkontrollen bringen der SPD, der uns vor geraumer Zeit darüber aufklären Sicherheit; sie schützen unsere Bürger vor Gewaltver- wollte, dass Terror ein Lebensrisiko des 21. Jahrhunderts brechern und Terroristen. Deshalb muss jeder Politiker, sei. Wir brauchen auch keinen Herrn de Maizière, der be- dem die Sicherheit unseres Landes wirklich am Herzen hauptet: Wir werden lernen müssen, mit dem Terror zu liegt, dieser Regierung laut und klar sagen: Wenn Sie die leben. Sicherheitslage in diesem Land wirklich verbessern wol- len, dann schützen Sie endlich unsere Grenzen! Weisen (Benjamin Strasser [FDP]: Die AfD brauchen Sie Personen ohne Einreiselegitimation konsequent zu- wir auch nicht!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9135

Martin Hess (A) Denn genau das Gegenteil ist richtig: Im Namen unse- 2012 bei der schwarz-gelben Koalition in der Diskussion (C) rer Bürger, unserer Kinder und unserer Enkel dürfen und waren und man das alles hätte machen können. werden wir nicht mit diesem Terror leben. So ist es nämlich mit Ihnen, meine Damen und Herren (Beifall bei der AfD) von der FDP: Wir wollen endlich wieder ein sicheres Deutschland ohne (Konstantin Kuhle [FDP]: Wie kleinlich muss Betonpoller und ohne Frauenschutzzonen. man sein?) Deshalb sage ich Ihnen: Was wir jetzt wirklich brau- Sie suggerieren an dieser Stelle, dass Sie die Lösung chen, das sind Politiker, die fest entschlossen sind, den hätten, und wollen bei dieser Frage gleichzeitig davon islamistischen Terrorismus wirksam zu bekämpfen, und ablenken, dass dahinter ein nicht handlungsfähiger Staat diesen Kampf jetzt endlich zur Chefsache machen, die steht, wofür Sie die Verantwortung tragen, sich nicht hinter irgendwelchen rechtlichen Regelungen verstecken und sagen: Das können wir nicht machen; (Beifall bei Abgeordneten der SPD) denn da spricht geltendes Recht dagegen. – Aufgabe von weil Sie mit Ihrer falschen Marktgläubigkeit und Ihren Politik ist es, immer zu prüfen, ob mit den geltenden Steuersenkungsparolen selbst dafür gesorgt haben, dass Rechtsgrundlagen die Probleme unseres Landes gelöst es den Nachtwächterstaat gibt, der Polizistinnen und Po- werden können. Und wenn wir feststellen, dass wir die lizisten nicht vernünftig bezahlt hat bzw. nicht genug Po- Sicherheitsprobleme mit geltendem Recht nicht lösen lizistinnen und Polizisten eingestellt hat. können, dann müssen wir unsere Rechtsgrundlagen mo- difizieren, ergänzen und gegebenenfalls neue schaffen. (Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: (Beifall bei der AfD) Nehmen Sie doch Mövenpick noch mit dazu! Das ist so billig! – Weitere Zurufe von der Denn das Recht ist für die Menschen da; die Menschen FDP) sind nicht für das Recht da. Sie sind selbst dafür verantwortlich, dass wir in dieser Mit unseren Vorschlägen wird die Sicherheit zeitnah Lage sind, meine Damen und Herren. Und jetzt lenken und nachhaltig verbessert. Deshalb kann ich nur an Sie Sie ab, indem Sie eine Zuständigkeitsdebatte führen. appellieren: Stimmen Sie unseren parlamentarischen Ini- tiativen zu, damit Deutschland wieder sicher wird! Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: (Beifall bei der AfD – Benjamin Strasser Herr Kollege Hartmann, der Kollege Strasser würde [FDP]: Auf keinen Fall!) (B) gerne eine Zwischenfrage stellen. (D)

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: Sebastian Hartmann (SPD): Nächster Redner ist Sebastian Hartmann, SPD. Gerne. (Beifall bei der SPD) Benjamin Strasser (FDP): Sebastian Hartmann (SPD): Vielleicht kommen wir mal zur Sachdebatte zurück. Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Wenn Sie mir zugehört hätten, wüssten Sie, dass ich Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vorhin gesagt habe, dass wir nicht alle Vorschläge von Freiheit ist unmöglich, wenn sie nicht durch den Staat Thomas de Maizière teilen. Ihre Vorwürfe kann ich des- gesichert wird. – So formulierte es Karl Popper. halb nicht nachvollziehen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Ich will Ihnen mal vorhalten – ich weiß, Ihre Kollegin Högl denkt anders als Ihr Kollege Lischka –, was Herr Das ist ein guter Anlass, sich den FDP-Antrag mal zu Ge- Lischka am 24. April 2015 in einer Bundestagsrede ge- müte zu führen und zu schauen, wie Sie klagen, dass aus sagt hat: der Werthebach-Kommission oder aus den Vorschlägen von Thomas de Maizière nichts geworden ist. Gerade föderale Strukturen verlangen beim Antiter- rorkampf klare Führung und Verantwortung sowie Es gab tatsächlich Politiker, die damals reflexartig einen schnellen Daten- und Informationsaustausch sagten: „Das ist kompletter Nonsens. Noch mehr Kon- auch über Ländergrenzen hinweg. Ich weiß, dass zentration führt zu noch mehr Fehlern. Wir haben doch sich einige Bundesländer mit der Stärkung der Zen­ schon ein FBI; es heißt nur Bundeskriminalamt.“ Man tralstellenfunktion des Bundesamtes sehr schwer- solle doch nur klären, was besser zu machen ist. – Das tun. Aber ich sage auch: Für Behördenegoismen sagte Ihr , darf es nach dem NSU-Skandal keinen Platz mehr (Zuruf von der FDP: Guter Mann!) geben. der die Vorschläge von Thomas de Maizière sofort ab- Ist das jetzt Ihre Haltung, oder ist es die Haltung von Frau lehnte. Högl, die das alles für Nonsens hält? Auch Christian Lindner ließ kein gutes Haar an den (Burkhard Lischka [SPD]: Frau Högl denkt Vorschlägen. Er wies selbst darauf hin, dass sie schon genauso!) 9136 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

(A) Sebastian Hartmann (SPD): Gefährliche an der Debatte über die innere Sicherheit. (C) Aber lieber Herr Kollege, wenn Sie Frau Kollegin Sie könnten sich ein Beispiel an den Kollegen der Union Högl zitieren und fragen, ob das ihre Meinung ist, kann hier im Plenum nehmen, die sich etwas zurückgehalten ich Ihnen relativ einfach sagen: Wenn Sie zitieren, was haben, weil sie wissen, dass sie seit 2005 auf Bundesebe- Frau Högl gesagt hat, dann ist das ihre Meinung. ne den Innenminister stellen. Das ist das Problem. Jedes Mal, wenn etwas passiert ist – und absolute Sicherheit (Benjamin Strasser [FDP]: Es geht um Ihre gibt es nicht –, ruft die Union nach noch härteren, noch Meinung, nicht um die von Frau Högl!) schärferen Gesetzen. Dann muss man sich aber auch die Ich habe darauf hingewiesen: Sie wollen hier davon Frage gefallen lassen: Was haben Sie denn vorher selbst ablenken, dass es nicht um eine Frage der Zuständigkei- gemacht, liebe Kolleginnen und Kollegen? Insofern muss ten geht, sondern um eine Frage der Leistungsfähigkeit man selbstbewusst zu der Verantwortung stehen, die man des Staates. Sie verkennen auch, dass wir in der vergan- übernommen hat. Wir müssen zu dem stehen, was wir genen Legislaturperiode über das Datenaustauschverbes- auf den Weg gebracht haben, und zum Beispiel loben, serungsgesetz einen föderalen Zusammenhang geschaf- dass wir gestern den Pakt für den Rechtsstaat beschlos- fen haben, indem die Daten von den Kommunen, von sen haben, dass wir beschlossen haben, dass es endlich den Ländern und vom Bund ausgetauscht und abgegli- mehr Richter und Staatsanwälte gibt, dass 2 000 Perso- chen werden. nen eingestellt werden. (Benjamin Strasser [FDP]: Funktioniert alles (Beifall bei der SPD) wunderbar!) Dass wir 7 500 Polizistinnen und Polizisten einstellen, Aber selbst das wird nicht dazu führen, dass Sie das ist unsere Verantwortung. Darum haben wir uns geküm- zugrundeliegende Problem lösen können. Weil Sie es mert, und wir lenken nicht durch eine Debatte über Zu- aufgrund Ihrer Ideologie und Verkennung der Problema- ständigkeiten ab. tik aus Sicht der FDP nicht lösen können. Wir haben erkannt, dass innere Sicherheit und öffent- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) liche Sicherheit untrennbar verbunden sind. Das ist Ge- sellschaftspolitik. Wir reagieren darauf, indem wir dafür Sie müssen dafür sorgen, dass der Staat handlungsfähig sorgen wollen, dass sich die sozialen Verhältnisse in al- ist. Sie müssen die Leute vernünftig bezahlen. len Stadtvierteln dieses Landes verbessern, in allen Tei- len dieses Landes. Der große Sprengstoff in unserer Zeit (Benjamin Strasser [FDP]: Was schlagen wir sind die zunehmende Ungleichheit und das Gefühl, dass vor? Genau das schlagen wir vor!) es nicht gerecht zugeht. Auch deswegen ist es im Übri- (B) Sie müssen für eine vernünftige Besteuerung sorgen, da- gen wichtig – jetzt komme ich auf den Punkt Terrorismus (D) mit dieser Staat über Einnahmen verfügt. Sie sollten in zu sprechen –, dass man dem Terrorismus die Grundlage Ihrer Marktgläubigkeit nicht in eine Steuersenkungsde- entzieht. Auch der Finanzstrom muss stillgelegt werden. batte verfallen. In einem Nachtwächterstaat müssten Sie Insofern müssen wir auch die Finanzierung von Terro- vor allen Dingen eine Sache verantworten: dass sich nur rismus in den Mittelpunkt rücken. Aber passt das damit die Reichen einen armen Staat leisten können. zusammen, dass Sie die Mittel für die Steuerfahndung zurückfahren wollen, dass Sie nicht mehr dafür sorgen (Konstantin Kuhle [FDP]: Setzen, sechs!) wollen, dass der Zoll leistungsfähig ist? Die SPD hat demgegenüber klar erkannt: Sicherheit ist (Benjamin Strasser [FDP]: Wer hat die Zoll- ein soziales Recht, und Freiheit ist nur durch einen star- fahndung ins Finanzministerium geholt?) ken, handlungsfähigen Staat möglich. Insofern geht es nicht ausschließlich um eine Frage der (Beifall bei der SPD) föderalen Zuständigkeit, sondern es geht darum, dass Meine Damen und Herren von der FDP, es hat Sie dieser Staat insgesamt leistungsfähig ist. niemand dazu verurteilt oder gezwungen, diese Debatte (Benjamin Strasser [FDP]: Oje, oje, oje!) aufzumachen. Aber wenn Sie eine Debatte über födera- le Zuständigkeiten führen wollen, dann müssen Sie sich Wir verweigern uns nicht einzelnen Vorschlägen. Wir auch harte Kritik gefallen lassen. Es waren Ihre Kürzun- können an der einen oder anderen Stelle über Zuständig- gen in der Zeit von Schwarz-Gelb. Sie haben Stellen bei keiten sprechen. Aber Sie werden es innerhalb kürzester der Polizei eingespart. Sie sorgen konkret dafür, dass in Zeit nicht schaffen, diesen Staat nur durch eine Diskussi- Nordrhein-Westfalen die Steuerfahndung zurückgestellt on über Zuständigkeiten leistungsfähiger zu machen. Sie wird. müssen sich darum kümmern, dass viele Menschen be- reit sind, Verantwortung im Staatsdienst zu übernehmen. (Benjamin Strasser [FDP]: Es war Ihr Innen- Wir haben die Weichen gestellt. Das werden wir auch in minister!) der nächsten Zeit tun. Sie sind dafür verantwortlich. Übernehmen Sie dafür die Noch ein letzter Punkt ist herauszustellen. Es geht Verantwortung, und lenken Sie nicht ab! nicht ausschließlich darum, wie wir über den Föderalis- (Beifall bei der SPD) mus bestimmte Fragen regeln. Wir müssen anerkennen, dass Länder und Kommunen in einem föderalen Staat Sie machen noch etwas anderes: Sie wecken Erwar- auch Verantwortung übernehmen. Im Vergleich zu an- tungen, die Sie nachher nicht erfüllen können. Das ist das deren Staaten sind wir da wesentlich besser aufgestellt, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9137

Sebastian Hartmann (A) indem wir nämlich geteilte Verantwortung übernehmen. nen oder kleinen Gruppen. Ich füge hinzu: Der Staat darf (C) An dieser Stelle ist zu betonen: Wer organisiert denn die auch nicht den Anschein erwecken, dass es eine solche Extremismusaussteigerprogramme? Hier ist viel über absolute Sicherheit vielleicht doch geben könne, schon den islamistischen Terror gesprochen worden. Aber wer gar nicht um den Preis eines immer weiter gehenden Ab- kümmert sich denn darum, dass der NSU-Skandal aufge- baus von Grund- und Freiheitsrechten der Bürgerinnen klärt wird, dass der Rechtsextremismus bekämpft wird, und Bürger. dass auch in diesem Bereich Aussteigerprogramme an- geboten werden? (Beifall bei der LINKEN) (Zuruf des Abg. Karsten Hilse [AfD]) Dabei wird Die Linke definitiv nicht mitmachen. Ich fin- de es schon einigermaßen befremdlich, dass gerade die An dieser Stelle geht ein Dank auch an die Länder, angeblich so liberale FDP nun offenbar genau in diese die sich im Rahmen der föderalen Sicherheitsarchitektur Richtung marschieren will. darum kümmern, dass eine bessere, dass eine besser or- ganisierte Sicherheit angeboten werden kann als in ande- (Benjamin Strasser [FDP]: Wo denn? An wel- ren, stärker zentralisierten Staaten, in denen auch – wie cher Stelle des Antrags?) in Frankreich oder Großbritannien – Anschläge stattge- Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch zwei Jahre funden haben. nach dem furchtbaren Anschlag auf dem Berliner Breit- Lenken Sie also nicht ab mit Scheindebatten, in denen scheidplatz, bei dem 12 Menschen getötet und mehr als Sie glauben machen, dass man nur über eine Föderalis- 70 verletzt worden sind, sind viele Fragen unbeantwortet. musreform etwas tun kann. Wir sorgen für einen starken, (Benjamin Strasser [FDP]: So ist es!) handlungsfähigen Staat. In diesem starken, handlungsfä- higen Staat wird Freiheit nicht gegen Sicherheit ausge- Im Kern geht es darum, warum der Attentäter Amri, der spielt. Freiheit ist nur durch Sicherheit und in einem leis- geradezu umstellt war von V-Leuten unterschiedlicher tungsfähigen Staat möglich. Weil wir das wissen, sorgen Sicherheitsbehörden, nicht rechtzeitig gestoppt werden wir dafür, dass die Freiheit so gesichert wird, dass alle konnte. Menschen daran teilhaben können und nicht eine Grup- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- pe gegen die andere ausgespielt wird; denn sonst können neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE sich nur die Reichsten der Reichen diese Sicherheit leis- GRÜNEN) ten. Ganz offensichtlich bestehen innerhalb der Sicher- (Benjamin Strasser [FDP]: Unfassbar! Sie heitsbehörden und bei deren Zusammenarbeit unterei- müssen ja froh sein, wenn Sie noch über (B) nander eklatante Abstimmungs- und Vollzugsdefizite. (D) 5 Prozent kommen beim nächsten Mal!) Brauchen wir deshalb aber eine neue Föderalismusre- Meine Damen und Herren, wir werden Ihre Vorschlä- form, wie es die FDP-Fraktion in ihrem Antrag nahelegt? ge im Innenausschuss beraten. Ich weiß, dass es Ihnen Würden neue, zentralisierte Sicherheitsstrukturen wirk- nicht gepasst hat, dass ich Ihnen die Zitate von Christian lich helfen, dass unsere Polizeibehörden besser arbeiten? Lindner und Wolfgang Kubicki vorgehalten habe. Ich habe da erhebliche Zweifel, zumal die beiden letzten Föderalismusreformen alles andere als eine Erfolgsge- (Benjamin Strasser [FDP]: Geschenkt!) schichte waren. Aber es ist Ihre Verantwortung, wenn Sie diese Debatte (Beifall bei der LINKEN – Benjamin Strasser aufmachen. Sie müssen sich zurechnen lassen, dass Sie [FDP]: Na ja!) die Allerersten waren, die diese Vorschläge zurückgewie- sen haben, als Sie nicht mehr im Bundestag waren. Das Entscheidend ist doch wohl eher, dass die Polizei ist widersprüchlich. Wir handeln, und wir tragen Verant- die ihr vorliegenden Informationen richtig bewertet so- wortung für die öffentliche Sicherheit in diesem Land. wie Gefahrensituationen und Verdächtige zutreffend einschätzt. Auf diesem Gebiet lagen doch die zentralen Danke. Versäumnisse im Fall von Anis Amri. Deshalb ist es un- (Beifall bei der SPD) zweifelhaft notwendig, dass wir uns Gedanken machen, wie wir zu einer verbesserten Arbeitsweise der Sicher- heitsbehörden kommen können. Ich denke, dass wir vor

Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: allem eine Reform der inneren Strukturen und der Kom- Dr. André Hahn, Die Linke, ist der nächste Redner. munikationswege in der Polizei und mit ihren Partnern (Beifall bei der LINKEN – Christoph Bernstiel benötigen. [CDU/CSU]: Verfassungsschutz abschaffen!) Am Anfang einer solchen Reform muss aus Sicht der Linken die Erkenntnis stehen, dass Fehler gemacht wur- Dr. André Hahn (DIE LINKE): den, und es muss der ernsthafte Wille vorhanden sein, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lassen Sie aus diesen Fehlern zu lernen. mich für meine Fraktion, Die Linke, eines gleich zu Be- (Beifall bei der LINKEN) ginn festhalten – damit schließe ich an die Ausführungen des Kollegen Hartmann an –: Es gibt keine absolute Si- Und da, meine Damen und Herren, bin ich doch sehr cherheit vor terroristischen Anschlägen, schon gar nicht verwundert über die bei den Behörden vorherrschende bei mehr oder weniger spontanen Taten von Einzelperso- Wagenburgmentalität, mit der wir immer wieder kon- 9138 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Dr. André Hahn (A) frontiert sind. Es ist ein Unding, dass zahlreiche Sach- Die FDP-Fraktion möchte, dass die Zuständigkeiten (C) verhalte auch zwei Jahre nach dem Anschlag auf dem zwischen den Polizeibehörden des Bundes und der Län- Breitscheidplatz immer noch nicht vollständig aufgeklärt der neu geregelt werden. Der Antrag verkennt jedoch, sind. Für die Hinterbliebenen der Opfer und die Verletz- dass diese bereits klar festgelegt sind: Im BKA-Gesetz ist ten des Anschlags ist dies ein unhaltbarer Zustand. Hier eindeutig beschrieben, in welchen Fällen das Bundeskri- muss die Bundesregierung endlich liefern. minalamt bei der Strafverfolgung oder bei der Gefahren- abwehr tätig wird und in welchen Situationen ein Selbst- (Beifall bei der LINKEN) eintrittsrecht besteht. Unser Problem, meine Damen und Ich war als Mitglied des Parlamentarischen Kontroll- Herren, ist nicht ein Mangel an Gesetzen; unser Problem gremiums für die Geheimdienste gestern Nachmittag im sind Mängel im Vollzug. Bundesinnenministerium, um die beim Militärischen Abschirmdienst und beim Bundesamt für Verfassungs- (Beifall bei der LINKEN) schutz vorliegenden Akten zu möglicherweise existie- An die Adresse der AfD gerichtet füge ich hinzu: Die renden rechtsextremen gewaltbereiten Netzwerken in von Ihnen geforderte Bundesbehörde für Gefahrenab- der Bundeswehr sowie in anderen Sicherheitsbehörden wehr existiert bereits: Das Bundeskriminalamt gibt es durchzusehen. Ich selbst hatte dazu mehrfach parlamen- seit 1951. tarische Anfragen gestellt, auch in der Fragestunde die Bundeskanzlerin damit konfrontiert. Sie erklärte, davon Mit dem zweiten AfD-Antrag, der mehr ein rassisti- nichts zu wissen, und der Verfassungsschutz behauptete, sches Pamphlet dazu keine relevanten Erkenntnisse zu haben. (Lachen bei Abgeordneten der AfD) Gestern im Innenministerium kam ich in einen Raum als eine parlamentarische Initiative ist, will ich mich ei- mit über 60 Aktenordnern zu diesem Thema, für deren gentlich gar nicht auseinandersetzen. Studium ich Wochen, wenn nicht Monate bräuchte, zu- mindest dann, wenn uns Oppositionsfraktionen nicht die (Martin Hess [AfD]: Dann tun Sie es nicht!) Möglichkeit eingeräumt wird, dass auch unsere sicher- heitsüberprüften Mitarbeiter diese Akten lesen und uns Nur so viel: Wer schützt eigentlich die Bevölkerung vor zuarbeiten können. Aber es stellt sich natürlich grund- den Gefährdern aus Ihren Reihen? sätzlich die Frage, wie es sein kann, dass die Bundes- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- regierung seit Monaten behauptet, keine Kenntnis von neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) rechtsextremen Netzwerken in der Bundeswehr und in anderen Sicherheitsbehörden zu haben, Sie und Ihre Hilfstruppen sind aktuell eine der größten Gefahren für die öffentliche Sicherheit und den inneren (B) (Christoph Bernstiel [CDU/CSU]: Weil es die (D) Frieden in diesem Land. nicht gibt! Meine Güte!) wenn die eigenen Dienste bereits Tausende Seiten dazu (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- zusammengetragen haben. Es ist völlig inakzeptabel, wie neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – man hier mit dem Parlament umgeht. Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Ich finde – letzte Bemerkung –, wir müssen insgesamt neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) zu einer sachlichen Kriminalpolitik zurückfinden, Kein Zweifel, die Regierung muss endlich ein deut- (Lachen bei der AfD) lich stärkeres Engagement bei der Aufklärung an den in der der Rechtsstaat, in der die Grund- und Freiheits- Tag legen. Vor allem sollte sie nicht länger diejenigen rechte nicht als Hindernis für polizeiliche Arbeit wahrge- behindern, die zum Beispiel in Untersuchungsausschüs- nommen werden, sondern endlich wieder als das eigent- sen herausfinden wollen, was tatsächlich schiefgelaufen lich zu schützende Gut. ist. Es ist ein dunkles Kapitel deutschen Behördenver- sagens, das dort ans Licht kommt. Die Bundesregierung Herzlichen Dank. blockiert bis heute, auch im Amri-Untersuchungsaus- schuss, wo sie kann: Akten werden verweigert, Seiten (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- werden geschwärzt, und zu Befragungen kommen Zeu- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) gen, die nichts zu sagen haben. Linke, FDP und Grüne müssen vor dem Bundesverfassungsgericht klagen, weil Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: die Bundesregierung sich weigert, die Befragung von Jetzt erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Konstantin V-Mann-Führern zuzulassen. von Notz, Bündnis 90/Die Grünen. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) GRÜNEN]: Das stimmt!)

Das ist mit Sicherheit die falsche Lehre aus den Fehlern Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- im Zusammenhang mit dem Attentat. NEN): (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- neten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren disku- GRÜNEN) tieren wir hier über unsere föderale Sicherheitsarchitek- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9139

Dr. Konstantin von Notz (A) tur, ohne dass es zu den dringend notwendigen Reformen Analyse der FDP teilen wir durchaus, meine Damen und (C) gekommen wäre. Herren. ( [FDP]: Ja!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Einige der zentralen Fragen werden in der FDP-Initiative und bei der FDP) sehr zutreffend angesprochen. Aber etwas mehr inhaltliche Substanz, lieber und ge- (Beifall bei Abgeordneten der FDP) schätzter Herr Kollege Strasser, hätte Ihrem Antrag gut- getan. Dafür danke ich, und das finde ich gut. (Benjamin Strasser [FDP]: Ihr könnt doch ein Ich will dem Missverständnis vorbeugen, dass die Mal zustimmen!) Punkte eigentlich vom Kollegen Schuster sind. Nehmen Sie die Forderung zum Trennungsgebot: (Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP) (Beifall des Abg. Armin Schuster [Weil am Frau Mihalic und ich Rhein] [CDU/CSU]) (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Da heißt es schlicht, die Kommission solle SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Stephan Regeln für das Trennungsgebot zwischen Polizei Thomae [FDP]: Eine schwierige Dreiecksbe- und Nachrichtendiensten erarbeiten, mit denen die ziehung entsteht gerade!) Balance zwischen Freiheit und Sicherheit … ge- bringen das seit vielen Jahren hier; das lassen wir uns wahrt wird … nicht raubkopieren, Herr Schuster. (Benjamin Strasser [FDP]: Gibt es die denn Es geht unter anderem um die uneinheitlichen Defi- im GTAZ, Herr Kollege?) nitionen, zum Beispiel zu der relevanten Frage, wer ei- gentlich ein Gefährder ist. Es geht um unklare Vorgaben – Aha! Das sind spannende und rechtliche Fragen. Aber zum Daten- und Informationsaustausch. Es geht um das Sie bleiben jede Konkretisierung, wie das funktionieren offenkundig hochproblematische Fehlen verlässlicher könnte, leider schuldig. Rechtsgrundlagen in den Gemeinsamen Abwehrzentren. (Benjamin Strasser [FDP]: Das soll die Kom- Bis heute haben wir im Bereich der Innenpolitik eine Un- mission doch klären, Herr von Notz!) verbindlichkeit und auch ein Kompetenzchaos, das unse- (B) ren Bedrohungslagen nicht gerecht wird Dazu kommt, dass die Hälfte Ihres Forderungskatalo- (D) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ges – das ist eigentlich der Hammer – Formalitäten be- des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) züglich der Kommissionszusammensetzung, wer da was bezahlen soll und so, enthält. Das ist leider etwas dünn, und unsere Sicherheit gefährdet. Dagegen müssen wir meine Damen und Herren. was tun, meine Damen und Herren. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Wir haben es bei der Aufklärung des Anschlags auf sowie bei Abgeordneten der SPD – Benjamin dem Breitscheidplatz gerade gestern wieder im Untersu- Strasser [FDP]: Können Sie ja was ergänzen!) chungsausschuss erlebt bezüglich der Abläufe: Wie das im GTAZ läuft, ist organisierte Unverantwortlichkeit, Auch konnten Sie der Versuchung nicht widerstehen, und die besteht bedauerlicherweise bis heute fort. Horst Seehofer hinterherzuschleichen bezüglich der neu- en Zuständigkeit für die Abschiebung von Gefährdern – (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- wenig konkret, wenig liberal. SES 90/DIE GRÜNEN und der FDP) (Christoph Bernstiel [CDU/CSU]: Aber rich- Das sind die echten Sicherheitslücken, meine Damen und tig!) Herren. Auch im Bereich der Nachrichtendienste und ihrer Um es kurz zu machen: Sie sprechen drängende Pro- parlamentarischen Kontrolle ist der Reformbedarf weiter bleme an und finden mit der Begrifflichkeit „Föderalis- extrem hoch. Entsprechende, sehr konkrete Vorschläge muskommission III“ auch eine hübsche Überschrift, haben meine Fraktion und ich hier eingebracht. Doch (Konstantin Kuhle [FDP]: Nicht wahr?) statt diese Probleme anzugehen, hat die Große Koalition die letzten Jahre Scheindiskussionen geführt: aber es ist eben etwas zu dünn. (Linda Teuteberg [FDP]: Ja!) (Benjamin Strasser [FDP]: Ach?) über die Fußfessel, über die Burka, über die Chimäre der Statt nach 55 Kommissionen des Koalitionsvertrages der sicheren Herkunftsstaaten. GroKo – 55 Kommissionen! – jetzt noch eine 56. hinzu- (Benjamin Strasser [FDP]: Na ja!) zufügen, Die Große Koalition ist offenkundig nicht in der Lage (Benjamin Strasser [FDP]: Die macht den oder nicht willens, diese Probleme zu lösen, und diese Kohl auch nicht fett!) 9140 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Dr. Konstantin von Notz (A) lassen Sie uns konkret hier im Parlament die Dinge um- Landesämter, bis hin zu „weniger extrem“, mehr Verant- (C) setzen. wortung des Bundes. Ganz herzlichen Dank. Das heißt: Was soll eine Kommission erreichen? Ich könnte Ihnen noch zahlreiche weitere Beispiele nennen, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wo es eine reflexartige Ablehnung gibt, wenn Bund und sowie bei Abgeordneten der SPD) Länder ihre Zuständigkeiten verändern. (Benjamin Strasser [FDP]: Also wollen Sie es Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: ohne die Länder machen!) Nächste Rednerin ist die Kollegin Andrea Lindholz, CDU/CSU. Also brauchen wir doch zunächst mal – das ist wichtig – einen Konsens bei den Behörden, bis hin zu Mitarbeitern (Beifall bei der CDU/CSU) bei den Ländern und dem Bund und auch in der breiten Politik, welche Maßnahmen hier überhaupt gewünscht sind. Andrea Lindholz (CDU/CSU): Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten (Benjamin Strasser [FDP]: Dann schieben Sie Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! es aber auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, Frau Liebe FDP, lieber Herr Kollege Strasser, es ist gut und Lindholz!) richtig, dass wir uns in diesem Haus über die Sicherheits- – Ich will gar nichts schieben. – Ich meine, es ist un- architektur in Deutschland unterhalten. Ihr Antrag trägt sere Aufgabe – Konstantin von Notz hat es vorhin auch dazu bei, dass wir dies – auch heute Morgen – tun. gesagt –, zum Beispiel auch beim Trennungsgebot Ent- Ob allerdings dann am Ende die Einrichtung einer scheidungen zu treffen: Wollen wir das auflösen? Wollen Kommission stehen muss, daran habe auch ich meine wir das verändern? In welcher Art und Weise? Zweifel. Warum? Grundsätzlich ist es richtig, dass wir (Benjamin Strasser [FDP]: Aber wir brauchen in Deutschland einen föderalen Rechtsstaat haben, der doch die Länder! Sie können doch nicht über bei der inneren Sicherheit die Verantwortung vorrangig die Köpfe der Länder hinweg entscheiden!) bei den Ländern ansiedelt. Um die äußere Sicherheit hat sich nach unserer Verfassung der Bund zu kümmern. Im Genau darum geht es auch bei der Frage, ob man zum Zusammenhang mit organisierter Kriminalität, Extremis- Beispiel beim Verfassungsschutz etwas ändern will. Wir mus und Terrorismus macht diese klassische Trennung können einseitig eine Kommission beschließen und sa- nicht immer Sinn, und sie wird zunehmend schwieriger; gen: Die Länder sollen sich daran beteiligen. – Wenn (B) kleine Bundesländer sind überfordert. Insofern ist es aber überhaupt keine Bereitschaft da ist, (D) richtig, dass wir uns hier immer wieder die Frage stel- (Benjamin Strasser [FDP]: Das wissen Sie len: Wie können wir uns besser vernetzen, und wo kann doch gar nicht!) der Bund auch mehr Verantwortung übernehmen? Auch Europa bringt viele neue Herausforderungen und erfor- dann muss ich mir die Frage stellen: Was soll so eine dert, dass wir über Landesgrenzen hinausdenken. Diese Kommission uns dann eigentlich bringen? Diskussionen werden daher zu Recht seit vielen Jahren (Beifall der Abg. [CDU/ geführt, und es hat sich auch vieles verändert. CSU]) Ob es allerdings sinnvoll ist, eine weitere Kommissi- Das heißt, ein Gremium macht nur dann Sinn, wenn es on einzusetzen, so wie Sie es in Ihrem Antrag fordern? aus den Ländern heraus – von den Ministerpräsidenten, Das ist, glaube ich, der verkehrte Weg. Wir hatten die von den Innenministerkonferenzen – Anstöße gibt und Werthebach-Kommission, aus der der eine oder andere wenn die Politik im Bundestag – und zwar breit, nicht nur Vorschlag übernommen worden ist, aber eben nicht alles. so, wie ich es heute Morgen erlebe: ein ständiges Aufei- Wir hatten eine Regierungskommission zur Überprüfung nandereinschlagen – der Auffassung ist, dass ein breiter der Sicherheitsgesetzgebung in Deutschland, gemeinsam Konsens über die notwendigen Veränderungen herrscht. von Union und FDP 2013 eingesetzt. Auch hier ist man nicht zufrieden damit, dass grundsätzliche Dinge nicht (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) umgesetzt wurden. Und warum ist das so? Weil man im- Wenn ich mir als Bürger das heute hier anschaute, mer wieder auf die Zuständigkeiten des Bundes bzw. der dann würde ich mir tatsächlich die Frage stellen: Was Länder stößt, aber auch von Behörden untereinander. ist denn mit unserer Sicherheitsarchitektur? Ist die gut? Ist die schlecht? Sind wir überhaupt sicher? – Und Herr Lieber Herr Kollege Strasser, Sie sitzen ja im Unter- Hess hat sogar die Frage der Sicherheitsarchitektur heute suchungsausschuss zum Anschlag am Breitscheidplatz. Morgen einzig auf die Themen „Gefährder“ und „Gren- Thomas de Mazière hatte danach weitreichende Reform- ze“ verengt; dabei wissen Sie, Herr Hess, doch genau, vorschläge vorgelegt; wir haben das heute Morgen schon dass das Thema viel, viel umfangreicher ist. Da würde gehört. Allein wenn man nur die Überlegung anstellt: ich mir auch von Ihnen wünschen, dass Sie Ihren Blick- „Wie ist das eigentlich mit unseren Verfassungsschutz- winkel mal etwas über die Frage der Grenzöffnung hi- ämtern, übernimmt der Bund hier mehr Verantwortung, naus ausweiten. bis hin zur vollständigen Auflösung einzelner Landes- ämter für Verfassungsschutz?“, erlebt man sofort einen Wir haben im Gutachten von Professor Wolff, das großen Aufschrei: Das geht von „extrem“, Auflösung der Sie, Herr Kollege Strasser, sicherlich auch kennen, weil Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9141

Andrea Lindholz (A) Sie im Ausschuss sitzen, dargelegt bekommen, wie viele re in Deutschland und Europa den Sicherheitsbehörden (C) Gesetzesänderungen es vom Jahr 2011 an bis 2017 ge- längst bekannt gewesen sind. geben hat. Er hat die Reformen wunderbar aufgelistet: beim BKA-Gesetz, beim Verfassungsschutzgesetz, beim (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE BND-Gesetz. Und die Reform „Polizei 2020“ – das steht GRÜNEN]: So ist das!) nicht im Gutachten; das sage ich jetzt – wurde in Gang Deswegen wird die FDP nicht müde werden, in diesem gesetzt. Haus darauf hinzuweisen: Wir brauchen keine neuen (Benjamin Strasser [FDP]: Und trotzdem Überwachungsmaßnahmen, keine neuen Einschnitte in funktioniert es nicht!) die Privatsphäre und in die informationelle Selbstbestim- mung, sondern eine strukturelle Reform bei den Aufga- Es ist so unglaublich viel passiert. Da ist es die Aufgabe, ben der Sicherheitsbehörden und der Datenweitergabe. sich zuvorderst zu fragen: „Was haben wir in den letz- Da muss was passieren, und da machen wir Ihnen heute ten zehn Jahren alles getan? Was hat sich positiv wei- ein Angebot. terentwickelt?“ – das alles kann man prima aus diesem (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ Gutachten herauslesen –, dann eine Bestandsaufnahme DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der zu machen und zu sagen, wo es tatsächlich noch Din- CDU/CSU) ge gibt, die wir verändern wollen, und zwar mit einem breiten gesellschaftlichen Konsens. Dazu gehört es am Wir machen Ihnen heute ein Angebot für eine Födera- Ende im Übrigen auch, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lismuskommission III. Ich hätte mich ja schon gefreut, in den Behörden, die davon betroffen sein würden, mit- lieber Kollege Hartmann, wenn auch die SPD da mit- zunehmen. machte. Ich könnte jetzt auf Ihre Rede erwidern, Wir haben den Etat des Innenministeriums in den letz- (Sebastian Hartmann [SPD]: Machen Sie das ten fünf Jahren in einem unglaublichen Ausmaße erhöht. doch!) Wir haben neue Stellen geschaffen bzw. bewilligt. Das alles muss man erst mal bewerten; erst dann kann man indem ich darüber spreche, was für ein Segen für die in- sagen, was hier zum Schluss tatsächlich noch geändert nere Sicherheit in Nordrhein-Westfalen es ist, dass Ralf werden muss. Wir haben ja eine Lücke, und das ist die Jäger nicht mehr Innenminister ist. Schnittstelle, die Verknüpfung zwischen Bund und Län- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten dern; wir brauchen da eine bessere Vernetzung. Hier der CDU/CSU) haben wir einen echten Bedarf. Das sehen wir auch an den vielen gemeinsamen Zentren, die eingerichtet wor- Ich lasse das aber, (B) den sind, wie zum Beispiel dem GTAZ. Hier müssen wir (D) (Sebastian Hartmann [SPD]: Haben Sie doch noch besser werden. Ich glaube, darauf müssen wir uns gerade gemacht!) konzentrieren. weil ich glaube, dass unsere Polizeibeamtinnen und Po- Insofern, Herr Strasser, freue ich mich auf die Debatte. lizeibeamten und auch die Menschen in unserem Land Aber ich wünsche mir tatsächlich von allen bei der Si- es erwarten, cherheitsarchitektur einen breiteren Konsens, als ich ihn heute Morgen hier erlebe. (Sebastian Hartmann [SPD]: Also Ihre Ant- wort ist Herbert Reul! Dann herzlichen Glück- Vielen Dank. wunsch!) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- dass wir vor der nächsten Gefährdungslage, vor dem ordneten der SPD) nächsten Anschlag mal darüber sprechen, wie die Sicher- heitsarchitektur verbessert werden kann, und nicht im- Präsident Dr. Wolfgang Schäuble: mer nur im Nachhinein. Nächster Redner ist der Kollege Konstantin Kuhle, Armin Schuster macht ja gute Vorschläge; FDP: (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der FDP – Armin Schuster [Weil der CDU/CSU) am Rhein] [CDU/CSU]: Oh je!) so hat er zum Beispiel im Nachgang zu dem, was in Straßburg passiert ist, vorgeschlagen, eine europäische Konstantin Kuhle (FDP): Antiterrordatei zu schaffen. Aber wie wollen wir denn Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gehört eine europäische Antiterrordatei schaffen, in der Daten zu den wichtigsten Aufgaben des Staates, die Sicherheit weitergegeben werden, wenn Deutschland nicht mal der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Aber leider seine eigenen Hausaufgaben macht, wenn nicht mal in zeigen uns schreckliche Ereignisse wie der terroristi- Deutschland klar geregelt ist, dass es ein Trennungsgebot sche Anschlag am Berliner Breitscheidplatz, dass es dem gibt und wann es Ausnahmen davon gibt und wann wel- deutschen Staat nicht immer gelingt, die Sicherheit der che Daten weitergegeben werden können? Deutschland Menschen zu gewährleisten. Das muss uns zum Nach- muss auf europäischer Ebene auch klar sagen, was es will denken bringen, vor allen Dingen angesichts der Tatsa- bei einer europäischen Antiterrordatei. Und deswegen ist che, dass alle islamistischen Attentäter der letzten Jah- die vorgeschlagene Föderalismuskommission III auch 9142 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Konstantin Kuhle (A) eine Vorbereitung für eine bessere Antiterrorarbeit auf Helge Lindh (SPD): (C) europäischer Ebene, meine Damen und Herren. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! (Beifall bei der FDP) Werte Kollegen, bitte verzeihen Sie mir das, was ich jetzt sage – es ist auch sehr wertschätzend gemeint –, aber bei Lieber Kollege von Notz, lieber Kollege Schuster, ich einigen Vorträgen von Kollegen aus unterschiedlichen würde gerne hier im Parlament darüber sprechen, wie wir Fraktionen bekam ich den Eindruck, dass es doch Ar- das ohne eine solche Kommission machen können. Je- gumente dafür gibt, dass die Politik weiblicher werden doch frage ich mich schon, warum kein einziger Vertreter muss. des Bundesrates oder der Länder hier anwesend ist, wo (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Was?) wir doch über die Frage des Föderalismus und der föde- ralen Sicherheitsarchitektur sprechen. Denn viele haben hier eben das erklärt, was sie schon im- mer gewusst haben bzw. dass sie eigentlich die Idee hat- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten ten, es immer schon besser wussten und es gut gewesen der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE wäre, wenn man bloß auf sie gehört hätte. Ich glaube, es GRÜNEN – Dr. Franziska Brantner [BÜND- geht doch um die Frage der Sicherheit dieses Landes und NIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! – Christoph nicht darum, wer wann welche Idee hat und wie furchtbar Bernstiel [CDU/CSU]: Da sind doch FDP-Mi- die anderen waren. nister! – Sebastian Hartmann [SPD]: Wo ist NRW?) (Beifall bei der SPD – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat Das kann doch wohl nicht wahr sein. Da brauchen wir einen Scherz gemacht!) doch neue Dialogformate; man kann das nicht einfach so abtun. Es geht, denke ich, auch nicht darum, die Ausfüh- rungen von Herrn Hess betrachtend, zu sagen, dass wir Und wenn Sie es mir und der FDP nicht glauben, dann kurz vor der Apokalypse stehen. Ich glaube nicht an die glauben Sie es vielleicht Lorenz Caffier, dem Innenmi- Methode, Ängste damit zu bekämpfen, dass man dieses nister von Mecklenburg-Vorpommern, Land möglichst unsicher zeichnet. Aber das ist ja auch (Philipp Amthor [CDU/CSU]: Was? Nichts gar nicht die Strategie. Die Strategie ist, Ängste zu schü- gegen ihn!) ren, aber das Land kein bisschen sicherer zu machen. Ich halte das für eine perfide Methode. der in einem anderen wichtigen Bereich, nämlich der Be- kämpfung des Rechtsextremismus, über die Zusammen- (Beifall bei der SPD) (B) arbeit von Bund und Ländern angesichts der Beobach- Herr Strasser, Sie meinten ja am Anfang Ihrer Rede, (D) tung der AfD durch den Verfassungsschutz die föderale Struktur stamme aus einem Land vor unse- (Dr. [AfD]: Keine Beobach- rer Zeit. Ich habe eine andere These. Ich würde behaup- tung! Das ist ein Prüffall! Was erzählen Sie ten, das ist das Land unserer Zeit. Denn diese föderale denn?) Struktur ist aus den Folgen des Nationalsozialismus er- wachsen. Es gibt gute Gründe, auch rechtspolitische und Folgendes am 18. Januar 2019 gegenüber dem Redakti- innenpolitische, für eine hoheitliche Teilung der Gewal- onsnetzwerk Deutschland sagt – ich zitiere –: ten auf horizontaler Ebene zwischen Ländern und Bund, auch in Erinnerung dessen, dass wir in diesem Land ein- Die Länder sind nicht die Sklaven des BfV mal eine Zentralisierung und eine Geheime Staatspolizei – des Bundesamtes für Verfassungsschutz –, hatten, mit all den dramatischen Folgen, die wir kennen. die Material zusammensuchen und anschließend in (Christoph Bernstiel [CDU/CSU]: Stasi!) die Röhre schauen. Wir sind ein Verbund und keine Es gilt also, durchaus in wertschätzender und akzeptie- Einbahnstraße. render Weise über den Föderalismus zu sprechen und ihn Außerdem beschwert er sich darüber, von der Beobach- nicht als etwas Anachronistisches abzutun. tung nur aus der Presse erfahren zu haben. Wenn es noch (Beifall bei der SPD) irgendeines Beweises bedurft hätte, dass bei der Zusam- menarbeit von Bund und Ländern im Sicherheitsbereich Ich teile durchaus einige Ihrer kritischen Beobachtun- der Wurm drin ist: Dieses Zitat hätte den Beweis er- gen. Aber in der Form, in der Sie diese vortragen, ist das bracht. Stimmen Sie unserem Antrag zu! Und lassen Sie überall nur ein bisschen: ein bisschen wahr, ein bisschen uns eine Föderalismusreform III auf den Weg bringen! falsch. Und „immer ein bisschen“ ist eben ein bisschen zu wenig. Vielen Dank. (Benjamin Strasser [FDP]: Wenn ich so viel (Beifall bei der FDP) Redezeit hätte wie Sie, könnte ich auch mehr sagen!) Vizepräsidentin : – Sie können ja mit einer Kurzintervention Ihre Redezeit Das Wort hat Helge Lindh für die SPD-Fraktion. erweitern. (Beifall bei der SPD) (Benjamin Strasser [FDP]: Ach!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9143

Helge Lindh (A) Das Ganze soll dann auch noch in Form einer Kommissi- Es reicht doch nicht, dass wir eine Kommission ein- (C) on erfolgen. Die Kommission erledigt nicht die Aufgabe, richten und uns gut dabei fühlen, zu kritisieren, wie konkrete Fragen zu adressieren. Es wäre doch vielleicht furchtbar alle Sicherheitsbehörden arbeiten. Es wäre, gut, wenn wir einmal angucken, welche Dynamik und glaube ich, viel sinnvoller, im Sinne eines ganz altmo- Fülle von Gesetzgebung es in den letzten Jahren gab: dischen, aber genauso radikal modernen Vorschlags da- Es geht immer weiter. Es ist eine Form des Alarmismus, für zu sorgen, dass überall, in allen Gemeinden, wieder gleichzeitig verbunden mit Verzögerungstaktik, wenn der Polizist, die Polizistin vor Ort ist und auch wieder wir weitere Kommissionen gründen, anstatt mal etwas im traditionellen Sinne eine Gemeindeschwester oder ein ganz Simples, fast schon Naives zu tun: nämlich die be- Gemeindebruder, also jemand, der sich um das Soziale stehenden Gesetze umzusetzen und uns anzugucken, wie kümmert, sich austauscht und im Gespräch mit Bera- sie funktionieren. Wie wäre dieser Ansatz? tungsstellen ist. Die Sicherheit vor Ort ist entscheidend und nicht abstrakte Debatten, die wir hier führen. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. André Hahn [DIE LINKE]: Ja, so ist das!) (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Sie selber haben doch aufgezählt, welche verschie- Der Aspekt der Prävention kommt aber viel zu kurz. denen Einrichtungen wir haben: GTAZ, GETZ, GASIM Öffentliche Sicherheit ist eben nur dann gegeben, wenn usw. Das ist doch schon komplex genug. Warum wollen wir nicht Privatisierung, zum Beispiel an Flughäfen, Tür wir noch eine Meta-Struktur und eine Meta-meta-Struk- und Tor öffnen. Sicherheit im Privaten können sich nur tur machen, Reiche leisten. Aber einen starken Rechtsstaat brauchen gerade diejenigen, die sich das nicht leisten können. Wir (Benjamin Strasser [FDP]: Das habe ich nicht wollen eben nicht das Recht des Stärkeren in diesem behauptet! Weniger Behörde, mehr Sicher- Staat, sondern einen funktionierenden Rechtsstaat. Inso- heit!) fern dürfen wir mit solchen Strukturreformdebatten In- nenpolitik nicht isoliert betrachten, sondern wir müssen um uns anzugucken, wie die Strukturen funktionieren? uns um die konkreten Verbesserungen vor Ort und die Ich bin davon nicht überzeugt. Stärkung der Beamtinnen und Beamten kümmern. (Benjamin Strasser [FDP]: Das hat auch kei- Abschließend erlaube ich mir, noch etwas zu den ja hier ner gefordert! Ich habe gesagt: Weniger Be- heute auch zu debattierenden Anträgen der AfD-Fraktion hörde, nicht mehr!) zu sagen. Um die Details ging es schon in der ersten Be- ratung; das brauche ich nicht zu wiederholen. Vieles ist Weiterhin scheint es mir auch nicht zwingend sinn- dabei nicht verfassungsgemäß. Die Verhältnismäßigkeit voll, dass wir wiederum eine Kommission einsetzen und wird nicht eingehalten, das Übermaßgebot vielfach ge- (B) die gesamte Struktur in einer Situation entwickeln, in (D) brochen. Aber eine entscheidende Frage haben Sie über- der tatsächlich Gefährdungen der Sicherheit bestehen, haupt nicht beantwortet: Sie richten den Fokus immer wir jedoch andererseits dabei sind, die Personalsituati- auf Gefährder, Sie richten ihn aber nicht auf zweifelhaf- on zu konsolidieren, Personalaufwuchs zu betreiben. In te und verfassungsferne Kräfte in den eigenen Reihen, so einer Situation, in der es darauf ankommt – Kollege und Sie geben keine Antworten auf die Gefährdung von Hartmann hat es erwähnt –, Personal zu stärken, unser Deutschen durch Deutsche und auf die Gefährdung von BKA zu stärken, den Verfassungsschutz personell zu ausländischen Bürgern durch Deutsche, zum Beispiel in stärken, die Bundespolizei zu stärken, halten wir dies Sachen NSU. Das war ein ganz extremer Rassismus, Ex- letztlich auf, indem wir wieder eine Strukturdebatte füh- tremismus und Terrorismus in diesem Land, der längst ren und nicht konkret die Fragen angehen. nicht aufgearbeitet ist. Deshalb würde ich mir wünschen, (Beifall bei der SPD) dass Sie auch zu diesen Themen einmal entsprechend substanziellere Anträge schreiben würden. Ich verwies gerade auf historisches Denken. In den Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. 70er-Jahren, danach auch noch im Nachwirken großer und damals noch liberal wirkender Liberaler, (Beifall bei der SPD) ( [FDP]: Da sind Sie ge-

boren!) Vizepräsidentin Petra Pau: Das Wort hat Dr. Irene Mihalic für die Fraktion Bünd- gab es extreme Herausforderungen durch linksextreme nis 90/Die Grünen. Gewalt. Genau in dieser Zeit führte man aber auch De- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) batten zu einer Liberalisierung der Kriminalpolitik,

(Konstantin Kuhle [FDP]: Es geht hier nicht Dr. Irene Mihalic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): um das materielle Recht!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Lindh, wenn Sie sich einen funktionie- fragte man sich zum Beispiel: Was machen wir mit Men- renden Rechtsstaat wünschen, dann kommen wir an den schen, die inhaftiert waren und wieder freikommen? Wie für Sie langweiligen Strukturdebatten nun mal nicht vor- resozialisieren wir sie? Gerade das ist auch eine Frage bei. im Zusammenhang mit Extremismus. Es kommt nämlich völlig zu kurz in Ihrem Ansatz: Was ist mit Prävention? (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Was sind die Ursachen des Extremismus? und bei der FDP) 9144 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Dr. Irene Mihalic (A) Denn die Placebogesetze, die Sie hier reihenweise mit Das kann man auch ganz konkret miteinander verein- (C) der Union auf den Weg bringen, lösen die realen Pro- baren. Da gibt es Verwaltungsvereinbarungen, die man bleme unserer Sicherheitsarchitektur nicht. Insofern sind zum Beispiel aufschreiben kann und durch die man ganz wir uns, was das Ziel Ihres Antrags betrifft, Herr Strasser, konkret zu Verbesserungen kommen kann. Das wäre aus Herr Kuhle, im Kern auch einig, nämlich dass wir drin- unserer Sicht auch zwingend notwendig. gend eine Reform der Sicherheitsarchitektur brauchen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Allein in der letzten Wahlperiode hatten wir hier im Bun- destag drei Parlamentarische Untersuchungsausschüsse, Bevor wir Ihrem Vorschlag folgen und eine Kommis- die sich mit den Aufgaben bzw. mit der Funktionsweise sion einsetzen, müssen wir uns doch hier erst mal auf der Sicherheitsbehörden befassen mussten. Das allein Bundesebene darauf verständigen, was wir eigentlich zeigt doch schon, wo im Kern die Probleme liegen und wollen und worüber wir uns mit den Ländern ganz kon- dass wir sie dringend angehen müssen. kret ins Benehmen setzen wollen. Aufgaben und Kompetenzen von Sicherheitsbehörden (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – müssen dringend neu aufeinander bezogen und natürlich Sebastian Hartmann [SPD]: Dazu sollte man voneinander abgegrenzt sowie auch in unserem födera- eine Kommission einsetzen!) len System neu geordnet werden. Aber, liebe FDP, Vor- schläge dazu liegen bereits seit Jahren auf dem Tisch, Wie gesagt: Die Vorschläge, was man an unserer Si- cherheitsarchitektur konkret verändern muss, liegen seit (Benjamin Strasser [FDP]: Das waren doch Jahren auf dem Tisch, auch dazu, was wir hier im Haus die Länder!) konkret miteinander beschließen könnten. Diese Schritte gilt es jetzt auf den Weg zu bringen. Wir brauchen eine und die hätten wir auch schon komplett umsetzen kön- Sicherheitsarchitektur, die hält, was sie verspricht, und nen. Sie haben die Probleme beim GTAZ, dem Gemein- die vor allen Dingen so aufgebaut ist, dass man sie auch samen Terrorabwehrzentrum, angesprochen, auch die reformieren kann, ohne dass die Gefahr besteht, dass das bei den anderen gemeinsamen Zentren. Da brauchen wir Kartenhaus jederzeit einstürzt. selbstverständlich eine gesetzliche Grundlage, aber dafür brauchen wir keine Kommission. Das können wir hier Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. sofort machen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Es gibt drei Bereiche, um die wir uns kümmern müs- Vizepräsidentin Petra Pau: sen, wenn es uns um eine funktionierende Sicherheitsar- Das Wort hat der Kollege Marian Wendt für die CDU/ (B) chitektur geht. CSU-Fraktion. (D) Der erste Bereich betrifft den Analysefaktor. Da brau- (Beifall bei der CDU/CSU) chen wir dringend mehr Wissenschaftlichkeit. Meine Fraktion hat einen Gesetzentwurf zur Einführung eines Marian Wendt (CDU/CSU): periodischen Sicherheitsberichts auf den Weg gebracht. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Demnächst findet dazu im Ausschuss eine Anhörung Der Antrag der FDP enthält viele sinnvolle Ansätze. Wir statt. Damit schaffen wir schon einmal die Grundlagen. haben uns in dieser Debatte bereits eingehend dazu aus- Der zweite Bereich, um den wir uns kümmern müssen, getauscht. ist der Bereich des Gefahrenvorfelds. Da sind natürlich in (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE erster Linie die Nachrichtendienste gefragt, aber auch der GRÜNEN]: Aber man tut nichts!) gesamte Bereich der Radikalisierungsprävention. Ich finde es gut, dass unsere föderal aufgebaute Sicher- (Benjamin Strasser [FDP]: Das können Sie ja heitsarchitektur verbessert werden soll. Ehrlich gesagt, ergänzen!) ich hätte mich gefreut, wenn wir auf dieser Basis eine Das fehlt leider völlig in Ihrem Antrag. Dabei beklagen Koalition eingegangen wären. wir da seit Jahren einen wirklich dysfunktionalen Fli- (Benjamin Strasser [FDP]: Genau! Daran ist ckenteppich, der dringend überwunden werden muss. das gescheitert!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Leider haben Sie sich ja gegen eine Regierungsbeteili- Der dritte Bereich – hier wird ja immer über die Um- gung entschieden. setzung von Gesetzen gesprochen – ist der Bereich der (Widerspruch bei der FDP – Zurufe von der konkreten Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung. Na- SPD: Oh!) türlich mangelt es da auch an einem guten Vollzug der Gesetze. Sie haben ja auch die mangelnde Kommunikati- – Ja, daran müssen wir ab und zu mal erinnern; denn ich on zwischen den Sicherheitsbehörden und den verschie- finde es immer besser, zu regieren, als nur zu nörgeln. denen Ebenen angesprochen. Ich stimme Ihnen überall (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- zu. Woran es aber fehlt in Ihrem Antrag und was wir drin- ordneten der SPD) gend brauchen, sind gemeinsame Standards zwischen Bund und Ländern, was zum Beispiel den Personalbe- Ich sage Ihnen auch ehrlich: Im Bereich der inneren reich, die Ausbildung, aber auch die Ausstattung angeht. Sicherheit haben Sie aus meiner Sicht als Partei eine po- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9145

Marian Wendt (A) sitive Entwicklung vollzogen. Sie sind weg vom Miss- sungsschutz hat, soll er mit den Polizeibehörden teilen (C) trauen gegenüber den Sicherheitsbehörden, das Sie in können und umgekehrt. Es ist für keinen Bürger verständ- den 1990er- und 2000er-Jahren wirklich mantrahaft lich, dass Daten, Informationen, die staatliche Behörden vorgetragen haben. Nun liegen wir sachlich beieinander. vorhalten, nicht miteinander geteilt werden dürfen. Aber, wie bereits erwähnt, wollen Sie lieber Serviceop- position sein, (Beifall bei der CDU/CSU) (Stephan Thomae [FDP]: Also Sie überneh- Diese Informationen müssen allen zur Verfügung stehen. men unsere Position?) Das stärkt die innere Sicherheit in unserem Land. statt Verantwortung für unser Land zu tragen. Wie gesagt, es braucht eine enge Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsbehörden. Wir müssen aufhören Aber nun konkret zum Thema. Wie wir heute wissen, mit den alten Erbhöfen und mit Abgrenzungen, wenn es auch aufgrund des Untersuchungsausschusses der letzten darum geht, wer für was zuständig ist. Denn ich glau- Wahlperiode, konnte der Attentäter vom Breitscheid- be und bin der festen Überzeugung, dass es dem Bürger platz, Anis Amri, mit seinen 15 Identitäten vollkommen egal ist, welche Behörde zuständig ist. Der (Benjamin Strasser [FDP]: 14!) Bürger fragt am Ende des Tages uns Abgeordnete: Löst du den Fall? Organisierst du, dass es weniger Straftäter nur unerkannt agieren, weil mehrere Behörden von gibt, dass die Gefährdungslage sinkt, ja oder nein? Wie Bund, Ländern und Kommunen nach- und nebeneinan- das geschieht – ob mit Europa, der Kommune, dem Land der zuständig waren. oder dem Bund – und wie die Behörde heißt, ist dem (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Bürger vollkommen egal. Das verstehe ich auch. Unsere GRÜNEN]: Nein! Das stimmt nicht!) Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die Probleme gelöst werden, dass die Menschen sich in Deutschland gut und Dieses Zuständigkeitswirrwarr muss endlich aufhören. sicher fühlen und dass es vor allen Dingen zu keinen An- Wir arbeiten daran, und ich denke, wir sind uns alle ei- schlägen mehr kommt. nig, dass das beendet werden muss. Am Ende war es bei Amri doch so, dass jede Verfassungsschutzbehörde und (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE jede einzelne Polizeibehörde im jeweiligen Bundesland GRÜNEN]: Wie lange müsst ihr noch regie- froh war, wenn er mal wieder umgezogen war. ren, bis ihr es angeht?) (Dr. Irene Mihalic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Wir als Unionsfraktion stehen dafür bereit, uns kon- NEN]: Ach, Sie wissen schon, wie es war? struktiv und zügig in diesen Dialog einzubringen. Die Dann können wir den Untersuchungsaus- (B) entsprechenden Vorschläge liegen alle auf dem Tisch. Da (D) schuss ja abschließen!) brauchen wir auch keine umfangreichen Kommissionen Jeder fragte doch zunächst: Bin ich überhaupt noch zu- mehr. Es braucht nun Taten und Entscheidungen. Wir ständig? Das ist die allererste Frage eines Verwaltungs- sind dafür bereit. beamten, bevor er eine Akte überhaupt anfasst. (Sebastian Hartmann [SPD]: Allzeit bereit!) Die Bekämpfung des modernen Terrorismus kann aus meiner Sicht und aus Sicht der CDU/CSU-Fraktion nur Ich hoffe, Sie auch. bei klaren Zuständigkeiten in den entsprechenden Behör- Vielen Dank. den und mit einem abgestimmten Datenaustauschverfah- ren gelingen. (Beifall bei der CDU/CSU – Sebastian Den Austausch von Daten sehe ich bisher ungenügend Hartmann [SPD]: Es wird Zeit, dass die Union gelöst. Wir haben mit dem Datenaustauschverbesse- den Innenminister stellt!) rungsgesetz eine Voraussetzung geschaffen, um insbe- sondere bei Asylbewerbern und damit teilweise auch bei Vizepräsidentin Petra Pau: Gefährdern zu klaren Identitätsstrukturen zu kommen. Ebenfalls für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Philipp Aber wir müssen dort noch besser werden. Ich erinnere Amthor das Wort. hier – es gibt natürlich auch deutsche Terroristen – an eine einheitliche Datenbank alleine für deutsche Einwoh- (Beifall bei der CDU/CSU) ner. Das mag banal klingen; aber wenn ich als Staat nicht einmal bundesweit weiß, wo meine Einwohner wohnen (CDU/CSU): und wie ich auf sie Zugriff habe, und ich das über Län- Philipp Amthor derzuständigkeiten regeln muss, dann habe ich ernste Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Probleme. Ich muss doch sagen: Ich bin ein bisschen erstaunt, weil ich jetzt das zweite Mal in dieser Sitzungswoche hier ste- Ich denke, zum Zweiten müssen wir uns klar über das he und sage: Die FDP hat einen ganz guten Antrag vor- Thema Trennungsgebot unterhalten. Ich halte dieses his- gelegt. torisch begründete Trennungsgebot, das sich aufgrund unserer Geschichte so entwickelt hat – das ist nicht in (Beifall bei Abgeordneten der FDP – Dr. André unserer Verfassung festgeschrieben, sondern aufgrund Hahn [DIE LINKE]: Zweimal zu viel! – unserer Geschichte nur einfachgesetzlich geregelt –, für Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE nicht mehr zeitgemäß. Informationen, die der Verfas- GRÜNEN]: Was ist denn da los?) 9146 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Philipp Amthor (A) Da findet jetzt anscheinend wirklich eine Umorientie- jetzt vorschlagen wollen, dass wir dort mehr Führung (C) rung von der Serviceopposition zum Nachdenken über bekommen sollen, dann ist es etwas, worüber wir disku- Regierungsverantwortung statt. Ich bin wirklich begeis- tieren können. tert. (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Aber man sollte immer dazusagen: Der Ausgangs- GRÜNEN]: Sie verweigern eine Rechtsgrund- punkt ist sicherlich richtig. Wir sehen natürlich – das ha- lage, Herr Amthor!) ben auch die Redner aller Fraktionen betont –, dass die größten Herausforderungen für unseren Rechtsstaat – der Das, was Armin Schuster immer wieder gesagt hat – Füh- Terrorismus, die Gefahren aus dem Cyberraum – keine rungsrolle des Generalbundesanwalts, zum Beispiel im Rücksicht nehmen auf die Grenzen von Ländern und erst GTAZ –, sind Punkte, über die wir diskutieren können. recht nicht auf die Grenzen von Bundesländern. Deswe- gen ist es auch notwendig, dass wir uns für ein Update (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE unserer Sicherheitsbehörden und unserer Sicherheits- GRÜNEN]: Das trifft die Sache überhaupt strukturen entscheiden. nicht! – Benjamin Strasser [FDP]: Wir neh- men Sie beim Wort!) (Beifall des Abg. Benjamin Strasser [FDP]) – Klatschen Sie nicht zu früh, Herr Strasser. Ich will deutlich sagen: Wenn man über Zuständig- keiten redet, muss es auch um die Frage gehen, ob man Es geht aber nicht nur um Zuständigkeiten; es geht wirklich für die Sicherheit in unserem Land ist. Da wer- auch um Befugnisse. Und da muss ich mich dann doch den wir – jenseits von irgendwelchen Kommissionen – ein bisschen darüber wundern, dass jetzt so etwas vielleicht in dieser Legislaturperiode schon vor der Frage Schlaues und Sachdienliches von der FDP kommt. Denn stehen, wer hier Lippenbekenntnisse abgibt und wer sich beim Thema Befugnisse sind unsere Sicherheitsbehörden wirklich zu Zuständigkeitsanpassungen bekennt. wirklich mit ihren Fähigkeiten auf der Höhe der Zeit. Be- züglich dieses Punktes muss ich feststellen, dass die FDP (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE in Ländern wie Bayern, wo die CSU mit dem bayerischen GRÜNEN]: Nämlich?) Polizeiaufgabengesetz die richtigen Akzente gesetzt hat, Denn im Bereich der Cyberabwehr ist es notwendig, (Benjamin Strasser [FDP]: Das ist verfas- dass wir unsere Behörden auf einen Stand bringen, damit sungswidrig!) sie gleichwertige Befugnisse sowohl in der digitalen als Hand in Hand mit der Antifa linke Fake News verbreitet. auch in der analogen Welt haben. (B) (D) (Beifall bei der CDU/CSU – Lachen bei der (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Zurufe von der FDP)

Das, muss man sagen, ist sicherlich nicht die beste Ein- Wir reden darüber, dass wir bei hinreichender Gefahr stellung zur Sicherheitsarchitektur. Sie hetzen gegen die schon heute in der analogen Welt in Wohnungen eindrin- Vorratsdatenspeicherung, und Sie verunglimpfen die On- gen können, um Gefahren abzuwenden, und dass wir linedurchsuchung als Staatstrojaner. Dinge beschlagnahmen und nötigenfalls zerstören kön- (Benjamin Strasser [FDP]: Das sagt der nen. Ich glaube, diese Befugnisse brauchen wir auch im EuGH! – Stephan Thomae [FDP]: Das kam digitalen Raum, im Cyberraum. vom obersten Gericht!) (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Das ist alles kein Beitrag zur Sicherheitsarchitektur. GRÜNEN]: Warum machen Sie es dann nicht, wenn es so einfach ist? Wer hält Sie denn ab?) (Beifall bei der CDU/CSU – Widerspruch bei der FDP – Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE Dafür werden wir uns die Verfassung genau anschauen GRÜNEN) müssen. Dafür werden wir auch über eine Verfassungs- änderung nachdenken müssen. Dann kann sich jeder, der Bei Befugnissen ist mit der FDP im Moment noch sich hier mit Lippenbekenntnissen hervortut, auch tat- nicht viel zu retten; aber vielleicht gibt es da auch Besse- sächlich dazu bekennen. rung. Aber beim Thema Zuständigkeiten – das muss man sagen – sprechen Sie gute Punkte an. Wenn wir über das (Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum, das GTAZ, GRÜNEN]: Wo ist denn der Innenminister? reden, dann ist es ja durchaus diskutabel, zu fragen: Ist der im Cyberraum?) Braucht man eine gesetzliche Grundlage? (Benjamin Strasser [FDP]: Hört! Hört!) Denn dann geht es darum, wie wir wirklich wehrfähig und wehrhaft werden. Das wäre das Beste. Aber ich sage: Wenn man über gesetzliche Grundlagen redet, muss man sich auch bewusst sein – Stichwort: Ge- Ich kann sagen: Über die Fragen, die Sie anstoßen, setzesvorbehalt –, dass man nur dann ein Gesetz braucht, werden wir reden. Dafür brauchen wir keine Kommis- wenn damit auch Eingriffsbefugnisse korrespondieren. sion all-inclusive im Innenausschuss. Dafür braucht man Diese hat das GTAZ im Moment nicht. Wenn Sie uns nicht unbedingt eine Serviceopposition; das kann auch Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9147

Philipp Amthor (A) eine Serviceregierungsfraktion. Das sind wir – für die Si- Axel Schäfer (Bochum) (SPD): (C) cherheit in unserem Land. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herzlichen Dank. Wir diskutieren heute über das Arbeitsprogramm der EU-Kommission 2019; aber wir bewerten auch politisch (Beifall bei der CDU/CSU – Benjamin Strasser die Arbeit der Kommission seit 2014. Das ist aus folgen- [FDP]: Zeigen Sie es mal! Ich warte noch da- den Gründen so wichtig: rauf! – Stephan Thomae [FDP]: Ja, zeigen Sie es! Seit zwölf Jahren kommt nichts!) Diese Kommission mit dem Kommissionspräsidenten Juncker ist nur ins Amt gekommen, weil sich im Europä- ischen Parlament – dort wurde sie nach einer Investitur Vizepräsidentin Petra Pau: gewählt – sowohl Christdemokraten, Christsoziale, Sozi- Ich schließe die Aussprache. aldemokraten, Liberale und Grüne als auch die meisten Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Linken nach der Wahl an das gehalten haben, was sie vor Drucksache 19/7424 an die in der Tagesordnung aufge- der Wahl den Wählerinnen und Wählern versprochen ha- führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein- ben, nämlich: Der Kommissionspräsident wird aus der verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung Mitte des Europäischen Parlaments von den Abgeordne- so beschlossen. ten gewählt. Er wird also nicht von den Staats- und Re- gierungschefs oktroyiert. Das ist ein wichtiger demokra- Zusatzpunkt 8 a. Wir kommen zur Abstimmung über tischer Fortschritt. Wir im Bundestag sollten stolz darauf den Gesetzentwurf der Fraktion der AfD zum Schutz sein, dass wir das parlamentarisch und in unseren Par- der Bevölkerung vor ausländischen Gefährdern. Der teifamilien an entscheidender Stelle mit vorangebracht, Ausschuss für Inneres und Heimat empfiehlt unter befördert und auch umgesetzt haben. Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa- che 19/2226, den Gesetzentwurf der Fraktion der AfD auf (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Drucksache 19/931 abzulehnen. Ich bitte diejenigen, die Deshalb ist die heutige Diskussion so wichtig. Auf der dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei- einen Seite muss der Deutsche Bundestag in der Euro- chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der papolitik natürlich seine eigene Regierung kontrollieren, Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stimmen unterstützen, manchmal korrigieren, befördern; auf der der Koalitionsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Frakti- anderen Seite handeln wir aber auch in solidarischer Zu- on Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen sammenarbeit mit unseren Kolleginnen und Kollegen im gegen die Stimmen der AfD-Fraktion abgelehnt. Damit Europäischen Parlament. Das ist gut, da wir beim Mitei- entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Be- (B) nanderarbeiten auch voneinander lernen. (D) ratung. Das, was wir hier machen, könnte man bei bestimm- Zusatzpunkt 8 b. Wir kommen zur Abstimmung über ten Regierungsdiskussionen natürlich auch auf die natio- die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Inneres nale Ebene übertragen. Könnte! Man sollte aber auf alle und Heimat zu dem Antrag der Fraktion der AfD mit Fälle vom Europäischen Parlament und aus der Debatte dem Titel „Zuständigkeit des Bundes für die Abwehr von mit der Kommission lernen, dass auch unsere Ausschüs- Gefahren“. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b se hier im Bundestag öffentlich tagen sollten; das ist in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 19/2226, Europa der Fall. Man könnte zum Beispiel auch die par- den Antrag der Fraktion der AfD auf Drucksache 19/932 lamentarische Informationspflicht – man könnte sagen: abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh- Rechenschaftspflicht – einführen, wie sie der Präsident lung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die der Europäischen Zentralbank gegenüber dem Europäi- Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koaliti- schen Parlament hat. Das wäre für uns im Bundestag so onsfraktionen, der FDP-Fraktion, der Fraktion Die Linke etwas wie eine Revolution, wenn Herr Weidmann alle und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stim- Vierteljahre kommen müsste und sich unserer Diskussi- men der AfD-Fraktion angenommen. on hier stellen müsste. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf: (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Vereinbarte Debatte Ich rege an, dass wir nicht nur über bestimmte Dinge Arbeitsprogramm 2019 der Europäischen in der Europäischen Union reden, sondern miteinander Kommission schauen, wie wir hier demokratisch mit unseren eigenen europapolitischen Strukturen besser vorankommen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- (Beifall bei der SPD) nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Das Arbeitsprogramm der Kommission hatte ja eine Ich bitte, die Umgruppierungen in den Fraktionen zü- außergewöhnliche Bandbreite. Wir wissen, dass die Um- gig vorzunehmen. setzung nicht nur von dem Willen und den Möglichkeiten Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abge- des Parlamentes abhängt, sondern auch mit den nationa- ordnete Axel Schäfer für die SPD-Fraktion. len Regierungen zu tun hat. Da sehen wir zum Beispiel bei einem der Themen, nämlich beim Thema Migration, (Beifall bei der SPD) dass die Schwierigkeiten an den nationalen Regierungen 9148 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Axel Schäfer (Bochum) (A) und auch an einer Reihe von Parteikonstellationen gele- ner der wenigen Kommissare in der EU dem nationalen (C) gen haben. Parlament gestellt. Er hat das fünf Jahre später wieder gemacht, sogar in einer öffentlichen Debatte. Ich möchte Wir wissen auch, dass die zehn Punkte, die Jean-Clau- für meine Fraktion erklären: Genau das werden wir nach de Juncker avisiert hat, am Ende dieser Legislaturperiode dem 27. Mai auch machen. Der Kandidat oder die Kan- eben nicht in Gänze umgesetzt worden sind, dass es bei didatin für das Amt eines Kommissars muss auch hier bei diesen Punkten angesichts ihrer Bandbreite – von Inno- uns Rede und Antwort stehen in vollem Respekt davor, vationen, Arbeitsplätzen, Gerechtigkeit, Digitalisierung dass die Investitur und auch die Wahl die Aufgabe des bis hin zur Rolle Europas in der Welt – noch sehr viele Europäischen Parlaments ist. Lücken gibt. (Beifall der Abg. Dr. Franziska Brantner Aber wir müssen auch deutlich machen, was uns als [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten besonders fehlt, und das ist die soziale Säule. Da ist entschieden So wollen wir es mit der Zusammenarbeit halten. So wol- zu wenig gemacht worden. Das gilt auch für das Thema len wir sie auch verbessern. Nachhaltigkeit. Vor allen Dingen fehlt es aber an Mut, beim Thema Steuergerechtigkeit voranzugehen. Für das (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten gemeinsame Europa, aber auch für das Empfinden der des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Bürgerinnen und Bürger ist es so wichtig, dass es hier vo- Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird aber auch rangeht. Da ist Europa ein wichtiger Handlungsrahmen. ganz klar darauf ankommen, dass wir in Zusammenarbeit Deshalb sollten wir hier im Bundestag und sollte auch mit der Kommission mit Blick auf die Gestaltungsmög- die Koalition genau da am Ball bleiben. lichkeit des Deutschen Bundestages sagen: Wenn wir auf (Beifall bei der SPD) dieser Seite des Parlaments um Europa streiten – wir um ein möglichst soziales Europa, manche auch eher um ein Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir über die konservatives, liberales, grüneres oder auch linkeres Eu- Kommission und unsere Positionierung als Parlament ropa –, dann streiten wir aber ganz klar für dieses Europa reden, müssen wir natürlich auch über unsere eigenen und positionieren uns gegen diejenigen, die dieses Euro- Grundlagen sprechen. Ich will deshalb an dieser Stelle päische Parlament abschaffen wollen. daran erinnern, dass man im Koalitionsvertrag von SPD, CDU und CSU das Thema Europa auf Platz eins ge- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten setzt hat. Das zeigt, dass wir sowohl erkannt haben, wie der CDU/CSU) wichtig diese Handlungsebene ist, als auch, dass wir uns (B) selbst verpflichtet haben, dort initiativ zu werden, was Vizepräsidentin Petra Pau: (D) ja auch heißt, besser zu werden. Das betrifft die großen Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Harald Weyel für Kapitel, nämlich Demokratie und Solidarität, Innovation die AfD-Fraktion. und Wettbewerbsfähigkeit, Chancen und Gerechtigkeit und natürlich auch die Stärkung des Zusammenhaltes der (Beifall bei der AfD) EU und ihrer Rolle in dieser Welt. Dr. Harald Weyel (AfD): Ich halte es deshalb für wichtig, dass wir auch in un- serer nationalen Gesetzgebung immer den Blick auf das Geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Gäste, Zuschauer richten, was europäisch möglich wie notwendig ist. Wir und Abgeordnete! Wir diskutieren heute ein Arbeitspro- müssen das mit Überzeugung immer wieder tun und auch gramm. Arbeitsprogramm, das klingt nach Fleiß, das hier kundtun, dass unser wichtigstes Interesse als Deut- klingt nach Entbehrung, das klingt nach Fortschritt. sche die europäische Einigung ist und dass es uns nur (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- dann gut gehen kann, wenn es unseren Nachbarn nicht NEN]: Nach Spaß!) schlecht geht. Das klingt aber vor allem auch nach einem konkre- (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Michael ten Plan. Und genau das ist das Arbeitsprogramm der Georg Link [FDP]) EU-Kommission nicht. Es löst keine Probleme, nicht das Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe über die italienische, nicht die Wirkungslosigkeit des EU-Tür- letzte Europawahl geredet. Lasst uns jetzt über die nächs- kei-Deals te Europawahl reden, aber über den 27. Mai, nicht über (Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜND- den 26. Mai. Ich gucke gerade auf den Kollegen Link NIS 90/DIE GRÜNEN]) von der FDP. Es gab – unabhängig voneinander – schon vor über zehn Jahren eine Initiative der beiden Fraktio- und nicht die praktische Nichtigkeit des Schengen- und nen der SPD und der FDP, die gesagt haben: Wir wollen Dublin-Abkommens. Das ist kein Arbeitsprogramm, nach der Europawahl den Kandidaten oder die Kandi- sondern lobbyinduzierte Versprechungspolitik von Leu- datin für das Amt eines Kommissars, der oder die aus ten, die sich vielfach der Geschäftsführung ohne Auftrag Deutschland dem Europäischen Parlament präsentiert befleißigen, wird, vorher hier im Parlament hören, anhören, mit ihm (Beifall bei der AfD) oder ihr diskutieren. Man muss Richtung CDU/CSU sa- gen: Ja, der Kollege Oettinger wurde – insbesondere von einer Kommission, die neben irreführendem Aktionis- der SPD – überzeugt, das zu machen. Er hat sich als ei- mus vor allem Eigenwerbungsbroschüren produziert. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9149

Dr. Harald Weyel (A) Da lesen Sie dann – Zitat –: und das mit zunehmender und vielschichtiger Negativdy- (C) namik. Dazu sage ich Ihnen eines ganz klar: Wir als AfD Der digitale Binnenmarkt hat den Europäern bereits wollen Schluss machen mit unbewährtem Tischleindeck- einige Vorteile gebracht: die Roaming-Gebühren dich und all den Anachronismen, die immer wieder neu wurden abgeschafft, die Bürgerinnen und Bürger erfunden werden. Dann bilden endlich wieder die Inte- haben nun Zugang zu Film-, Sport-, Musik-, Video- ressen des eigenen Landes und des eigenen Volkes die spiel- und E-Book- Abonnements … Grundlage aller Entscheidungsprozesse. Und einen anderen Höhepunkt Brüsseler Bürgernähe Danke schön. haben wir letztes Jahr als Sonder-Bonus erfahren: die Inaussichtstellung des etwaigen Endes der Sommerzeit­ (Beifall bei der AfD – Axel Schäfer [Bo- umstellung, die dann doch jedem Land wieder selbst chum] [SPD]: AfD – Deutschland über alles!) überlassen bleiben muss. Dies ist übrigens eine höchst unfreiwillige Reminiszenz daran, wie viel Anachronis- Vizepräsidentin Petra Pau: men, also Fortschritte von Vorgestern, hier mitgeschleppt Das Wort hat der Kollege Gunther Krichbaum für die werden; denn die Zeitumstellung wurde erstmals von CDU/CSU-Fraktion. Deutschland und Österreich-Ungarn im Frühjahr 1916 eingeführt – und dann auch von den Kriegsgegnern über- (Beifall bei der CDU/CSU) nommen. Gunther Krichbaum (CDU/CSU): (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! NEN]: Damals war alles besser, oder was?) Herr Professor Weyel, das, was Sie gerade hier vom Sta- Nächstes Beispiel. Die Investitionsoffensive – schon pel gelassen haben, ist die typische demagogische Hetze, wieder militärischer Jargon – für Europa, der sogenann- die mit dem Einzug Ihrer Partei leider auch Einzug in den te Juncker-Plan, hat bereits zusätzliche Investitionen in Deutschen Bundestag gehalten hat. Höhe von 344 Milliarden Euro generiert. Es heißt: Sie (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem hat damit ihr ursprüngliches Ziel übertroffen und wird BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- voraussichtlich 1,4 Millionen Arbeitsplätze schaffen – geordneten der LINKEN – Beatrix von Storch Wie tickt jemand, der als Kommissionspräsident einem [AfD]: Hören Sie doch auf! Lächerlich!) Investitionsvehikel, das von manchen als „Renditegaran- tie für Finanzhaie“ bezeichnet wurde, seinen eigenen Na- Ich will nicht meine ganze Redezeit damit verschwen- men aufdrückt? Das zeugt von Allmachtfantasien einer den, dem entgegenzutreten. Aber wir müssen uns nur die (B) freischwebenden Politikerkaste nach dem Motto: Wenn Terminologie anschauen: Zwergstaaten. Es gibt nur klei- (D) es ernst wird, muss man lügen. ne Staaten in Europa und solche, die noch nicht begriffen haben, dass sie klein sind. Dieses Zitat stammt im Übri- (Beifall bei der AfD) gen von Jean-Claude Juncker. Das ist in der Geschichte immer schiefgegangen. (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie Dann ist alles naturgemäß noch nicht einmal vernünf- bei Abgeordneten der LINKEN) tig validierbar – Zitat –: Die Angaben zu den tatsächlich angestoßenen Investitionen seien womöglich überhöht, Sie können versuchen, mit Ihrer Hetze Wirkung zu erzie- teilt der EU-Rechnungshof am letzten Dienstag mit. Laut len. Aber allein das geht fehl. Schätzungen sind die zusätzlich mobilisierten Investi- Als Beispiel nenne ich die Bilanz der Kommission, tionen und der gigantische Hebel darum fraglich. Mit zu der gerade Kollege Axel Schäfer ausgeführt hat. Ja, Herrn Juncker unterstützen Sie zudem einen Mann, der es gab Megathemen wie beispielsweise Migration und 500 Millionen Europäern als Vorbild dienen soll bzw. Außengrenzenschutz. Aber dass es nicht funktionierte, diese repräsentiert und Frauen auf Staatsempfängen un- lag doch nicht an Europa. Wir haben doch nicht Krisen, kontrolliert durch die Haare wuschelt. Zudem wurden die weil wir ein Zuviel an Europa gehabt hätten. Wir hatten meisten aus dem sogenannten Juncker-Plan finanzierten Krisensituationen, weil wir ein Zuwenig an Europa hat- Investitionen in Griechenland, Estland, Portugal, Spa- ten. Genau das muss korrigiert werden. Das liegt nicht nien, Litauen, Lettland etc. angestoßen. Es ist ein altes an der Europäischen Kommission, sondern daran, dass Muster, dass Vertreter von Zwergstaaten – zurzeit der die nationalen Mitgliedstaaten nicht bereit sind, auf ihre Hobbycoiffeur aus Luxemburg bzw. Brüssel – in eine Kompetenzen zu verzichten. So wird ein Schuh daraus. verantwortungsvolle Position gehievt werden und dann von dort aus munter das Steuergeld anderer Leute vertei- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- len. In Deutschland müssen aber viele Anrainer etwa die ordneten der SPD und der FDP) Straßensanierung selbst bezahlen, trotz aller Rekordsteu- Das sieht man besonders gut beim Außengrenzen- ereinnahmen des EU-Landes Deutschland! schutz. Ja, mit Schengen haben wir unsere Außengrenze Sehr vieles in der EU ist eben Blendwerk oder Ein- gewissermaßen an die Außengrenze der Europäischen bahnstraße, eine von klammen Staaten ersonnene Trick- Union verlegt. Aber es wäre nun auch erforderlich, dass serei, um die Geldbörsen anderer Leute anzuzapfen, wir die Außengrenzen der Europäischen Union verge- meinschaften, das heißt, unter gemeinsame Verantwor- (Beifall bei der AfD) tung stellen, damit wir einen effektiven Schutz gewähr- 9150 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Gunther Krichbaum (A) leisten können. Das ist aber bislang noch nicht der Fall, chen Vorschlag es präsentiert, damit die Wirkungen eines (C) weil genau die Staaten, die über eine Außengrenze in der harten Brexit vermieden werden. Das liegt im Interesse Europäischen Union verfügen, dafür Kompetenzen abge- der Bürger nicht nur in Deutschland und in Großbritanni- ben müssten. Da sind wir dran en, sondern in ganz Europa. Wir diskutieren heute über das Arbeitsprogramm, das Herzlichen Dank. die Europäische Kommission schon im Oktober 2018 vorgelegt hat. Nur ein Hinweis: Das Europäische Par- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- lament hat noch am selben Tag über dieses Arbeitspro- wie der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜND- gramm debattiert. Wir tun das nun drei Monate später. NIS 90/DIE GRÜNEN]) Der Bundesrat wird nach uns erst in 14 Tagen darüber diskutieren. Es wäre gut, wenn wir uns als Deutscher Vizepräsidentin Petra Pau: Bundestag frühzeitiger diesen Dingen widmeten und da- Für die FDP-Fraktion hat nun Michael Link das Wort. mit auseinandersetzten. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Michael Georg Link (FDP): Dieses Arbeitsprogramm weist die Besonderheit auf, Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! dass wir uns mehr oder weniger mit dieser Kommission Da die Kommission kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit und dem Europäischen Parlament quasi im Landeanflug steht, ist klar, dass vieles – Stichwort: Arbeitsprogramm befinden; denn Mitte Mai wird das Europäische Parla- der Kommission – nur deklaratorisch ist. Deshalb ist es ment gewählt, und die Kommission wird ihre Arbeit wichtig, dass wir den Blick eher auf das Grundsätzliche einstellen müssen, weil sie danach neu zusammenge- lenken. Es ist eine gute Gelegenheit vor der Wahl einer setzt wird. Die Bilanz dieser Kommission ist beachtlich. neuen Kommission und vor allem der Wahl eines neuen Jean-Claude Juncker hatte mit dem Projekt Erfolg, diese Europäischen Parlaments, einige grundsätzlichere Über- Kommission a) politischer werden zu lassen und b) ihr legungen zum Beispiel zur Struktur der Kommission und zum ersten Mal eine echte Struktur zu geben. Zuvor gab zur Struktur des Haushalts, aber auch zur Kompetenzver- es 28 Kommissare mit 28 verschiedenen Dossiers. Kam teilung anzustellen. ein neues Mitgliedsland hinzu, wussten wir eigentlich gar nicht, welches Dossier wir dem Kommissar geben soll- Struktur der Kommission. Gunther Krichbaum hat ten, den das betreffende Land berechtigterweise stellte. gerade erklärt, die Struktur habe sich bewährt. Hier Die Struktur aus einem ersten Vizepräsidenten, weiteren muss ich in aller Kollegialität klar widersprechen. Der (B) Vizepräsidenten und den Kommissaren hat sich bewährt EU-Vertrag sieht – dafür haben die damals Beteiligten (D) und sollte auch in der nächsten Legislaturperiode Platz hart gekämpft – eine Verkleinerung der Kommission vor. greifen. Ist das nicht mehr unsere Meinung? Das steht aber im Vertrag. Seit dem 1. November 2014 hätte das auch so Auch rein inhaltlich hat diese Kommission sehr viel sein müssen, wenn nicht einige wenige Staaten dem wi- bewirken können. Ich darf darauf hinweisen, dass am dersprochen hätten. Wir als Freie Demokraten erwarten, heutigen Tag, am 1. Februar, das JEFTA-Abkommen in dass man hier noch einmal rangeht. Eine Kommission Kraft tritt, ein Freihandelsabkommen zwischen der Euro- mit 28 Kommissaren – wie auch immer strukturiert – ist päischen Union und Japan, quasi Prȇt-à-porter. 650 Mil- zu groß, zu kompliziert und zu schwerfällig. lionen Verbraucher bilden nun gewissermaßen einen einheitlichen Markt und stellen damit eine glaubwürdi- (Beifall bei der FDP) ge Antwort auf den Protektionismus dar, mit dem man Deshalb wäre es richtig und hilfreich, an die betreffen- in anderen Ecken der Welt versucht zu antworten. Nein, de Passage des Vertrages zu erinnern, die wir aus guten freier Handel hat Europa immer gutgetan, hat für uns Ar- Gründen aufgenommen haben. Wir brauchen eine effi- beitsplätze und Wohlstand geschaffen. Genau an diesem zientere Kommission. Es stimmt, dass der amtierende Punkt müssen wir weitermachen. Kommissionspräsident dafür einiges getan hat. Aber es Mit Blick nach vorne glaube ich, dass große Heraus- reicht uns noch nicht. forderungen auf die Kommission warten. Zuallererst geht es um die Abwicklung des Brexit. Dieses Thema wurde Vizepräsidentin Petra Pau: viel zu sehr zu einer Nabelschau und hat über lange Zeit Kollege Link, gestatten Sie eine Frage oder Bemer- viele Ressourcen bei uns gebunden. kung des Kollegen Krichbaum? Das soll noch als Fußnote in der verbleibenden Re- dezeit gesagt werden, um Schieflagen in der Diskussion Michael Georg Link (FDP): zu beseitigen: Das Austrittsabkommen, das nun auf dem Gerne. Tisch liegt, wird nicht erneut aufgeschnürt. Nachverhand- lungen sind ausgeschlossen; denn dieses Austrittsabkom- men stellt bereits einen Kompromiss dar. Auch von unse- Gunther Krichbaum (CDU/CSU): rer Seite wurden enorme Zugeständnisse gemacht; Frau Verehrter Kollege Link, ich weiß natürlich nicht nur Kollegin Brantner weiß, wovon ich rede. Das heißt, wir um den Vorschlag der FDP, die Kommission zu verklei- müssen selbstbewusst auftreten und sagen: Hier gibt es nern, sondern auch, dass es so tatsächlich im Vertrag von keinen neuen Deal. Großbritannien muss schauen, wel- Lissabon steht. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9151

Gunther Krichbaum (A) Aber: Hat man sich in der FDP einmal damit ausei- nach der Wahl die Initiative ergreifen könnte, noch mal (C) nandergesetzt, dass wir Irland bei dem damaligen Re- darüber zu reden. Ich weiß, das ist schwierig, aber Sie ferendum in die Hand versprochen hatten, dass dieses kriegen so etwas, wenn überhaupt jemals, nur nach einer Land seinen Kommissar wird behalten können? Es klingt Wahl und in der Phase einer neuen Kommissionsbildung zwar vordergründig gut, die Kommission zu verkleinern, durch, ansonsten ist die Chance für fünf Jahre wieder und häufig wird mit Einsparungen argumentiert. Aber vorbei. Es ist schwierig; das wissen wir, völlig klar. Aber wir müssen auch wissen, dass der Kommissar gerade für es wäre jetzt eine wichtige Gelegenheit. vermeintlich kleinere Mitgliedstaaten eine enorme Bin- Es wäre auch eine Gelegenheit, das Thema „gemein- dungskraft zwischen Brüssel und den jeweiligen Haupt- sames Verständnis von Rechtsetzung“ anzugehen. Der städten – um nicht zu sagen: dem jeweiligen Land – hat. sehr spannende Bericht der Taskforce für Subsidiarität, Das wird von unserer Seite oft unterschätzt, zumal wir die Kommissar Timmermans und Kommissionpräsident in Deutschland aufgrund unserer geografischen Lage Juncker eingesetzt hatten, ist leider viel zu wenig gelesen verwöhnt sind. Wir befinden uns mitten in Europa und worden. Er beinhaltet spannende Ausführungen über die relativ nah an Brüssel, aber es gibt Länder, die geogra- Frage, wie das, was auch im Vertrag drinsteht – nämlich fisch ganz woanders liegen, für die Brüssel weit weg ist. Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit –, eigentlich ge- Da fungiert ein Kommissar gewissermaßen auch als Bot- lebt werden soll. schafter eines Landes. Uns fehlt – auch darauf ist hingewiesen worden – ein Ich glaube, genau diese Dinge darf man nicht unter- gemeinsames Verständnis von Subsidiarität. Wenn Sie so schätzen, auch wenn ich weiß, dass ein solcher Vorschlag wollen: Es fehlt uns auch ein gemeinsames Prüfraster für zur Verkleinerung der Kommission innerhalb der Bun- die juristischen Feinheiten und die Anwendung. Das ist desregierung auf große Gegenliebe stößt. ein Punkt, den wir angehen müssen, auch als Bundestag. (Beifall der Abg. Dr. Franziska Brantner Es wäre wichtig, wenn wir die Anregungen, die aus [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) Politik und Wissenschaft kommen, aufgreifen und den Versuch unternehmen würden, uns als Bundestag zum Michael Georg Link (FDP): Beispiel zu einem Prüfraster für Subsidiarität und Ver- Herr Kollege Krichbaum, natürlich würden sich sehr hältnismäßigkeit zu positionieren. Das erleichtert uns, viele Mitgliedstaaten wünschen, einen nationalen Kom- ein gemeinsames Verständnis für diesen wichtigen Punkt missar zu entsenden. Nur: Es ist zum Glück nicht so, dass zu finden. Denn wir wollen ja gerade nicht, glaube ich, der Kommissar das Eigentum eines Staates ist oder dass dass wir in den Bereichen, in denen die Kompetenzen auf er der offizielle Vertreter ist. Es ist gut, dass das nicht der Ebene der Mitgliedstaaten besser aufgehoben sind, (B) so ist. Wir wollen eigentlich dahin kommen, dass die eine Überregulierung haben. Gleichzeitig wollen wir (D) Kommission nicht mehr aus rein nationalen Vertretern, aber eine bessere Regulierung. Es geht bei Subsidiarität die sich nur ihrer nationalen Herkunft verpflichtet fühlen, und Verhältnismäßigkeit nicht um Kompetenzen, es geht zusammengesetzt ist, sondern dass die Kommissare das vielmehr um bessere Rechtsetzung. gesamte Europa vertreten. Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen: Das (Beifall bei der FDP – Zuruf der Abg. Beatrix große inhaltliche Thema dieses Jahres wird trotz der von Storch [AfD]) Wahlen – Sie werden das wahrscheinlich rund um den Gipfel von Hermannstadt noch mal sehr deutlich sehen – Das ist für uns ein entscheidender Punkt. die Debatte über den EU-Haushalt sein. Ich glaube, dass Wir treten auch weiterhin für die Verkleinerung der die Bundesregierung vorsichtig sein sollte, hier zu früh Kommission ein – nicht, weil wir sparen wollen, son- zu viel Geld zu versprechen. Niemand ist dagegen, dass dern weil wir es für wesentlich effizienter halten – danke wir die EU besser und stärker finanzieren. Niemand für die Frage –, in diesem Zusammenhang über bessere ist dagegen, insbesondere weil wir in vielen Bereichen Rechtsetzung zu reden. Mehr Kommissare heißt auch: neue Aufgaben für die EU haben, gerade im Bereich des mehr Kommissare, die im eigenen Bereich Richtlinien Schutzes der Außengrenzen, der Außen- und Sicherheits- erlassen wollen. Das führt, offen gesagt, zu mancher politik, im Bereich der Forschung, der künstlichen Intel- Richtlinie, die vielleicht besser dort geblieben wäre, wo ligenz, HORIZON usw. usf. Wir wollen dafür mehr tun, sie herkommt, nämlich im Ideenpool eines Kommissars. aber dann müssen wir vorher eine vernünftige Ausgaben- kritik durchführen. Je mehr Portfolios Sie haben, desto mehr wird der Wunsch wachsen, auch im eigenen Bereich Recht zu set- Es lohnt sich, mal genau in den letzten Bericht des Eu- zen. Und das führt uns wieder zu den vielen Problemen, ropäischen Rechnungshofes reinzuschauen. Dort werden bei denen wir dann – Stichwort „Subsidiarität und Ver- detailliert die Fehlausgaben und extremen Probleme im hältnismäßigkeit“ – Überregulierung haben. Also: Weni- Bereich der Strukturfonds, im Bereich der Gemeinsamen ger ist mehr. Das ist für uns ein ganz wichtiges Prinzip. Agrarpolitik aufgeführt. Gleichzeitig wird die Tatsache Deshalb bleiben wir bei unserer Forderung, dass diese sichtbar, dass wir zu wenig Geld haben für die anderen Passage des Lissabonner Vertrags umgesetzt wird. Bereiche, die ich erwähnt habe, wie zum Beispiel inter- nationales Handeln. Hier müssen wir ran. (Beifall bei der FDP) Wir können das Thema nicht angehen, indem wir Die Kommission wäre gut beraten, dieses Thema einfach sofort neues Geld bereitstellen, sondern wir anzugehen. Es wäre schön, wenn die Bundesregierung brauchen eine solide Ausgabenkritik. Dann können wir 9152 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Michael Georg Link (A) im EU-Haushalt für diese neuen Aufgaben Spielräume innerhalb der Union, für unterschiedliche Stimmungen in (C) schaffen. den Mitgliedstaaten. Bei den Vorschlägen zur Steuerpoli- tik fehlt die Bekämpfung der wachsenden Verteilungsun- Vielen herzlichen Dank. gleichheit in Europa und in den Mitgliedstaaten. (Beifall bei der FDP) In vielen Ländern der Union sind Bürgerinnen und Bürger Verlierer dieser Entwicklung. Daraus resultiert Vizepräsidentin Petra Pau: der Unmut, dass die EU viel unternommen hat, um Wäh- Das Wort hat der Abgeordnete Thomas Nord für die rung und Banken zu retten, aber wenig für sozialen Frie- Fraktion Die Linke. den und Zusammenhalt getan hat. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall bei der LINKEN) Die jüngsten Proteste in Frankreich sind nur ein Beispiel Thomas Nord (DIE LINKE): dafür, die aktuellen Wahlergebnisse für Konservative und Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Sozialdemokraten in vielen Mitgliedstaaten ein anderes. Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir reden heute Das gilt auch für Deutschland. über das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommissi- Bedauerlicherweise flüchten sich viele Wählerinnen on für 2019. Sie unterrichtet uns darüber, welche Priori- und Wähler in die Illusion, dass ein abgeschotteter Nati- täten sie noch vor der Europawahl umsetzen will. Dies onalstaat eine Lösung dieser Probleme brächte. Die Zahl gilt für den Beschluss des mehrjährigen Finanzrahmens nationalistischer Abgeordneter kann sich nach Progno- bis 2027, für den Ausbau des ESM zur Krisenbewälti- sen in der Europawahl 2019 verdoppeln. Die politischen gung und das Europäische Semester. Kräfteverhältnisse im Parlament werden sich stark ver- Das Wachstum in der Europäischen Union erreicht ändern und in die Neubildung der europäischen Institu- demnach den höchsten Wert seit zehn Jahren, und die tionen einfließen. Beschäftigungszahlen sind wieder auf Vorkrisenniveau. Die jetzige Kommission hat vor fünf Jahren ihre „Alles ist oder wird gut“ ist der Subtext. Arbeit aufgenommen. Ihre Mitglieder wurden von den Gar nicht gut liest sich aber der Absatz zur Migrati- damaligen Regierungen vorgeschlagen. Seitdem haben onspolitik. Angesichts der Todesdramen auf dem Mittel- alle Mitgliedstaaten neu gewählt. Wo Regierungen be- meer ist die Aussage – Zitat – „Auf der zentralen Mittel- stätigt wurden, haben sie oft starke Veränderungen ihrer meerroute war ein erheblicher Rückgang“ der Migration Programmatik vorgenommen; in vielen Ländern haben „zu verzeichnen“ ein blanker Zynismus. Regierungen vollständig gewechselt oder sich in ihrer (B) Zusammensetzung stark verändert. Die Veränderungen (D) (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. bedeuten in der Konsequenz: Die jetzigen Kommissare Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- haben am Ende ihrer Amtszeit nur noch geringe Unter- NIS 90/DIE GRÜNEN]) stützung in ihren Herkunftsländern, im Rat und im zu- Auch an anderen Stellen kollidiert der Text der Kommis- künftigen EU-Parlament. sion mit der sozialen und politischen Realität in den Mit- Auch das zeigt, warum das Arbeitsprogramm 2019 gliedstaaten. Diese Realität ist jedoch entscheidend für aus meiner Sicht ein zweckoptimistischer Text ist, der den Zusammenhalt der Europäischen Union. wiederholt auf den EU-Gipfel in Sibiu zwei Wochen vor Es stimmt: Die allgemeine Arbeitslosigkeit in der EU der Wahl im Mai verweist. Das aber ist kein Treffen der liegt im Durchschnitt bei unter 7 Prozent. Allerdings Kommission unter der Leitung von Jean-Claude Juncker, liegt die Jugendarbeitslosigkeit in der EU bei 15 Prozent, sondern eines der Staats- und Regierungschefs. Ratsprä- in Griechenland bei 40 Prozent, in Spanien und Italien sident Tusk trifft auf Sebastian Kurz, der mit der rechts- bei 30 Prozent, in Frankreich bei über 20 Prozent, in extremen FPÖ koaliert. Er trifft auf Giuseppe Conte, der Deutschland bei nur 6 Prozent. 2008 lag sie in Griechen- ein Platzhalter für die rassistische Politik von Matteo land, Italien und Spanien bei knapp über 20 Prozent. Das Salvini ist. heißt: Sie ist in diesen Ländern massiv gestiegen. Nur Er trifft Mateusz Morawiecki, in Deutschland, Polen und Ungarn ist sie aus sehr unter- schiedlichen Gründen signifikant gesunken. Diese Zah- (Beatrix von Storch [AfD]: Wahlen sind echt len zeigen entgegengesetzte Entwicklungen zwischen schlimm! Ja!) den Mitgliedstaaten. Das ist auch ein Grund für massive Mitglied der rechtspopulistischen PiS, und auf Herrn Stimmungsunterschiede in diesen Staaten. Orban, den „kleinen Diktator“ – wie Herr Juncker sagt – Die Folgen der Finanzkrise mögen auf dem techni- und Freund der CSU, die künftig den Kommissionspräsi- schen Level bearbeitet sein, die Währungsunion durch denten stellen will. die Niedrigzinspolitik der EZB stabilisiert, die Haushalte (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE der Euro-Mitgliedstaaten entlastet. Auch die Bankenuni- GRÜNEN]: Wer sagt denn das? Ja, „will“ ist on ist weit vorangetrieben. Aber: In dem Text fehlt unter richtig!) anderem jede Thematisierung der Vertragsverletzungen wegen makroökonomischer Ungleichgewichte, zum Bei- Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Regierungen spiel durch uns, durch Deutschland. Auch diese sind ein haben das Recht, die Kommissare vorzuschlagen, die wesentlicher Grund für das politische Auseinanderdriften vom neuen EU-Parlament bestätigt werden müssen. Zu- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9153

Thomas Nord (A) sammen macht das wenig Hoffnung, dass wirklich alles bremst denn da? Das ist doch die Bundesregierung, das (C) gut wird. Und damit das klar ist: Darüber kann man nicht ist doch Herr Scholz, der die Digitalsteuer kleingehäck- erfreut sein. Ein Europa der Vaterländer und eine Rück- selt hat, sodass am Ende davon nichts mehr übrig war. kehr ins 19. und 20. Jahrhundert ist eben keine Lösung Das ist tragisch, es ist wirklich schade, dass Deutschland der Probleme, auch wenn das hier einige glauben. hier auf der Bremse stand. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) neten der SPD) Das Gleiche gilt für den Umweltbereich, Klimabe- Die EU braucht heute eine sozial gerechte, ökologi- reich, die CO2-Grenzwerte, für Lkw, Green Finance, al- sche, friedliche, nachhaltige Politik, sowohl in den Mit- les, was es da gibt. Wir wissen, da ist Deutschland weder gliedstaaten als auch in Gänze. Nur dann wird sie eine Motor noch Antreiber und steht nicht hinter der Kommis- Zukunft haben. sion, sondern auf der Bremse. Das gilt es jetzt endlich aufzuheben. Sie müssen da in Bewegung kommen und Herzlichen Dank. die Kommission unterstützen. (Beifall bei der LINKEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Petra Pau: Immer die gleiche Masche: sonntags schön über Euro- Das Wort hat Dr. Franziska Brantner für die Fraktion pa reden und montags weiter blockieren. Das muss jetzt Bündnis 90/Die Grünen. endlich ein Ende haben, sonst geht dieses Projekt Europa wirklich vor die Hunde. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Bei der anstehenden Europawahl – das wurde er- wähnt – geht es um viel; nach der Wahl werden die Kom- Dr. Franziska Brantner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- missare bestimmt. Ich freue mich schon darauf, wenn die NEN): FDP mit in der Regierung ist und Deutschland dann auf Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Damen und den Kommissar verzichtet. Das, Herr Link, ist die Konse- Herren! Es sind noch 114 Tage bis zur Europawahl, also quenz Ihrer Forderung nach weniger Kommissaren. Das nicht mehr viel Zeit, um laufende Verhandlungen auf werden wir dann sehen. Ich kann sagen: Es geht hier um EU-Ebene abzuschließen. Deshalb ist es auch richtig, sehr viel, und wir werden mit dafür kämpfen, dass es kei- dass die EU-Kommission evaluiert hat, was sie prioritär nen Kommissionspräsidenten von Orbans Gnaden gibt. noch fertig machen möchte und was sie noch neu auf den Das ist eine der Entscheidungen, die bei der Europawahl Weg bringen will. Es ist zum Beispiel grundsätzlich gut, anstehen. Wir sind ganz klar für ein liberales, proeuropä- (B) dass die Kommission die Debatte um Mehrheitsentschei- isches Europa und für einen Kommissionschef, der auch (D) dungen in der Steuerfrage vorangebracht hat. Wenn wir dafür steht, und das garantiert. es nicht schaffen, die kreative Steuergestaltung endlich zu unterbinden, bei der sich einige aus dem Gemeinwohl Ich danke Ihnen. verabschieden und Steuern in Höhe von Milliardenbeträ- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) gen uns allen hier de facto rauben, dann haben wir in Europa ein großes Problem für die Zukunft, dann fehlt die Finanzierung der Daseinsvorsorge vor Ort, der Schu- Vizepräsidentin Petra Pau: len, der Hallenbäder. Darauf kommt es jetzt an: dass wir Für die SPD-Fraktion spricht nun Christian Petry. gemeinsam die Steuerfrage angehen. (Beifall bei der SPD) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Aber die Kommission hat dafür leider den falschen Christian Petry (SPD): Weg gewählt. Sie hat vorgeschlagen, dass einstimmig Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und beschlossen werden muss, dass in Zukunft mit Mehrheit Herren! 25 Jahre Binnenmarkt, und die Bilanz der Euro- beschlossen wird. Das ist absurd, das wird nicht funktio- päischen Union fällt durchweg positiv aus. Axel Schäfer nieren. Es gibt eine andere Rechtsgrundlage, die sie hätte ist einer derjenigen, der von 1994 bis 1999 quasi den nutzen können, nämlich Artikel 116; er führt zum glei- Startschuss des Binnenmarktes im Europäischen Par- chen Ergebnis, aber ohne Einstimmigkeit. Liebe Kom- lament begleiten konnte. Er kann viel besser berichten, mission: Das war Augenwischerei, da fehlte eindeutig dass das alles nicht ganz einfach und selbstverständlich der Mut. war, was wir heute als einfach und selbstverständlich empfinden. Dass Europa zusammengewachsen ist, hat (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Deutschland sehr nach vorne gebracht. Wir sind volks- In ihrem Arbeitsprogramm hat die Kommission die wirtschaftlich gesehen die Nettogewinner der Europäi- prioritären Vorhaben aufgelistet, bei denen es momentan schen Union. hapert. Wenn man sich die Punkte anschaut, dann weiß ( [DIE LINKE]: Auf Kosten man, dass es etwas mit dieser Bundesregierung zu tun der anderen!) hat, warum es hier hapert. Herr Schäfer, Sie haben vorhin die Steuerfrage angesprochen – das ist absolut richtig –, – Nicht auf Kosten von anderen, Andrej Hunko. – Insge- aber wenn man sich die Digitalsteuer, Mehrwertsteuer, samt hat die Europäische Union in den 25 Jahren einen Körperschaftsteuer anschaut, dann fragt man sich: Wer deutlichen Freiheits-, Wohlstands- und Sicherheitsbonus 9154 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Christian Petry (A) für die Menschen in diesem Europa gebracht. Darauf Die technischen Dinge sind alle schon in der Diskus- (C) können und müssen wir stolz sein. sion: die Plastiksteuer, die Digitalsteuer oder die Ver- einheitlichung der Basis bei der Körperschaftsteuer. All (Beifall bei der SPD) diese Dinge sind europäisch besser lösbar. Das ist einer Franziska Brantner hat eine Öko-FDP-Rede gehalten; der politischen Ansätze für die Zukunft, über den wir uns das fand ich ganz interessant, das scheint eine Neuorien- in den nationalen Parlamenten, hier im Deutschen Bun- tierung zu sein, oder vielleicht ist es nur so rübergekom- destag, gerne im Diskurs miteinander auseinandersetzen men. Ich glaube, man muss erwähnen, dass Olaf Scholz werden, um einen tragbaren Vorschlag für die Ausfinan- in seiner Amtszeit im Bankensektor in Europa mehr in zierung der wirklich notwendigen zusätzlichen Aufgaben Bewegung gebracht hat als Herr Schäuble, sein Vorgän- der Europäischen Union zu erreichen. ger, in fünf Jahren. (Beifall bei der SPD) (Beifall bei der SPD) Die Arbeitsstandards werden im Kommissionsbericht Auch das ist ein Erfolg, der hier einmal genannt werden genannt. Der Verbraucherschutz – ein ganz wichtiger muss. Aspekt – wird genannt. Er ist europäisch durchsetzbar. Auch die Verbandsklage wird als Ziel genannt. Bei der Ich freue mich, dass wir in den Zielen der Kommis- Vertiefung der Währungsunion ist ein weiterer Schritt sion klargelegt haben, wie die Position Europas ist: dass beim letzten Treffen des Ecofin gemacht worden. Den- wir auf dem Weg ins digitale Zeitalter eine starke Euro- noch muss hier noch weitergearbeitet werden. päische Union brauchen, auch im Bereich Umweltschutz und CO2-Reduzierung. Das geht nicht mehr allein auf Ziel ist auch eine faire Handelspolitik. Gunther nationaler Ebene. Ich freue mich, dass die soziale Säule Krichbaum hat ein Abkommen genannt. Die Europäische stärker in den Mittelpunkt rücken soll. Dazu hat Frans Union schließt Handelsabkommen und legt Wert auf fai- Timmermans deutliche Aussagen gemacht. Er sagt, er re Handelsabkommen. Auch zum Dialog mit Afrika und will dies bei der Europawahl in den Mittelpunkt der Aus- dem Aufbau in Afrika liegt ein ganz still und leise be- einandersetzung stellen. Ich glaube, das ist genau richtig; schlossener Kommissionsbeschluss vor, der besagt, dass denn da besteht in der Tat deutlicher Nachholbedarf. Die die Volkswirtschaften Afrikas bis 2063 aufgebaut werden Freiheiten, die wir in Europa haben – mindestens drei sollen. Auch das ist eine Superaufgabe der Europäischen davon – konzentrieren sich zunächst einmal auf den wirt- Union, die wir unterstützen müssen, liebe Kolleginnen schaftlichen Bereich. Die Stärkung der sozialen Säule – und Kollegen. das hat Frans Timmermans angekündigt – ist ein Ziel, dem wir uns gerne anschließen. Der Kommissionsbericht (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten (B) gibt es auch her, sie zu stärken, und dafür lohnt es sich der CDU/CSU) (D) zu kämpfen. Das Rechtsstaatsprinzip soll gestärkt werden. Auch in (Beifall bei der SPD) der Migrationspolitik – das ist genannt worden – muss weitergearbeitet werden. Axel Schäfer hat darauf hingewiesen: Dafür ist viel Geld notwendig. Wir haben schon oft darüber diskutiert, Ich möchte zum Ausdruck bringen, dass wir hier auf welches Anforderungsprofil – Gunther Krichbaum hat einem wirklich guten Weg sind und die Bilanz besser ist, es genannt – die Europäische Union erfüllen muss. Des- als sie bisweilen öffentlich diskutiert wird. Wir müssen wegen müssen wir uns über eine ausreichende Finanzie- das positiv begleiten. Ich glaube, wir brauchen keine Par- rung der Europäischen Union unterhalten. Wir müssen teien und Menschen, die im Europawahlkampf den Blick selbstverständlich auch schauen, was schiefgelaufen ist zurück, ins letzte Jahrtausend, werfen und in alte Zeiten und wo man Veränderungen im System vornehmen kann. wollen, die wesentlich schlechter waren, die Krieg und Ich glaube, wir werden am Ende nicht umhinkommen, Leid gebracht haben. Wir brauchen aufrechte Europäe- tatsächlich zu sagen – wie wir es im Koalitionsvertrag rinnen und Europäer, die nach vorne schauen und Euro- vereinbart haben –, dass wir zu einem höheren Beitrag pa auf einen wirklich guten Weg in das digitale Zeitalter bereit sind. bringen werden, in dem mehr Wohlstand, Sicherheit und die Stärkung der sozialen Rechte für unsere Bevölkerung (Beifall der Abg. Dr. Franziska Brantner im Mittelpunkt stehen werden. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]) In diesem Sinne freuen wir uns auf eine spannende Die Frage ist nur: An welcher Stelle und wie? Da Zeit im Europawahlkampf. Dafür sind wir bereit. kommen wir sehr schnell zur Debatte über die Eigenmit- tel; das wurde genannt. Wenn man aus den nationalen Glück auf! Haushalten die Beiträge nicht unendlich erhöhen kann, müssen wir uns fragen, ob die Eigenmittelausstattung der (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Europäischen Union angemessen ist oder ob es da Spiel- der CDU/CSU) räume gibt. Da sind wir sehr schnell bei der Steuerdebat- te und zum Beispiel der Frage: Kann ein nationales Steu- Vizepräsidentin Petra Pau: errecht internationale Konzerne bändigen, oder ist auch Das Wort hat der Abgeordnete Martin Hebner für die hier ein internationaler Ansatz vonnöten und damit auch AfD-Fraktion. die Kompetenz der Europäischen Union gefragt? Auch diese Frage möchte ich in den Raum stellen. (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9155

(A) Martin Hebner (AfD): Leistungsstand erschreckend niedrig ist. Hier fehlt es (C) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und ganz klar an Anreizen. Herren! Die Mitteilung des Arbeitsprogramms der Schauen wir uns auch einmal an, wer in die EU eintre- EU-Kommission für 2019 besteht aus 14 Seiten Prosa. ten will. Starke Länder wie die Schweiz oder Norwegen Das ist ein – man könnte fast sagen – Besinnungsaufsatz werden darauf verzichten; aber Länder wie Montenegro, mit wenig Zahlen, aber mit dem Titel „Versprechen ein- Mazedonien oder Albanien stehen vor der Tür. Das zeigt lösen und unsere Zukunft gestalten“. doch ganz klar, was hier die Anziehungskraft ist: eine (Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE Querfinanzierung. GRÜNEN]: Haben Sie den Annex nicht gele- (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- sen?) NEN]: Was für ein dummes Zeug!) Meine Damen und Herren, wenn man den Titel „Ver- Auch die neuen Pläne für eine große Arbeitsbehörde sprechen einlösen“ hört, dann sollte man sich und insbe- in der EU bedeuten nichts anderes, als dass auch hier sondere die Regierungskoalition fragen: Was haben die wieder eine Transferleistung von Deutschland an andere EU-Kommissare für die letzten Jahre versprochen? EU-Länder erfolgen wird. Wenn man wie ich aus der Wirtschaft kommt, dann (Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜND- fragt man natürlich grundsätzlich nach einem Soll-Ist- NIS 90/DIE GRÜNEN]: Setzen Sie sich mal Vergleich. Was ist in diesem Falle bisher versprochen mit den Inhalten auseinander!) worden, und was wurde umgesetzt? Herr Schäfer hat Meine Damen und Herren, wir müssen uns doch fra- gesagt – ich zitiere wörtlich –: Es hat noch sehr viele Lü- gen: Wenn immer mehr Aufgaben und Kompetenzen in cken. die EU verlagert werden, dann – das ist in der Wirtschaft Machen wir einfach einen Vergleich und sehen uns auch so – baut man diese an anderer Stelle ab. Wenn an, was von der EU-Kommission im letzten Jahr von die EU-Kommissare weitere Kompetenzen bekommen, den zehn politischen Prioritäten der Juncker-Kommissi- frage ich mich: Wozu wird Ihre Anwesenheit dann über- on umgesetzt worden ist. Darunter findet sich unter an- haupt noch benötigt? Schauen Sie doch mal in den Spie- derem der Punkt „mehr Wachstum“. Das Wachstum im gel! Wozu braucht man Sie denn noch, wenn die Kompe- Euro-Raum fiel jedoch von 2,8 Prozent Mitte 2017 auf tenz an die EU geht? 1,8 Prozent Ende 2018. (Beifall bei der AfD – Christian Petry [SPD]: Die Arbeitslosigkeit wurde hier schon thematisiert. Dann fangen wir mal mit Ihnen an! Warum (B) Gerade in den Mittelmeerländern stehen wir vor einem kandidiert ihr für das EP, wenn ihr es abschaf- (D) Fiasko. Dort ist die Jugendarbeitslosigkeit hoch. Die fen wollt? Was soll das?) junge Generation wird bereits als verlorene Generation Wozu braucht man diese große Zahl an Abgeordneten bezeichnet. Eine Vertiefung des Binnenmarkts wurde in noch? Überlegen Sie sich doch einmal, wohin die Ent- diesem Fall als Ziel ausgegeben. Doch der Brexit hat eine wicklung in den nächsten Jahren gehen wird! genau konträre Wirkung; mit dem Brexit verlässt das Land, das die gleiche Wirtschaftskraft hat wie die zwölf (Christian Petry [SPD]: Geben Sie doch Ihr zuletzt aufgenommenen Länder, die EU. Mandat ab! Prima!) Der deutsch-französische Freundschaftsvertrag zeigt, Wir werden im Endeffekt hier immer mehr Abgeordnete dass wir einem Zerfall der EU in eine EU der verschie- haben, die eigentlich keine Aufgaben haben und nur da- denen Geschwindigkeiten gegenüberstehen. Das ist ganz rauf verweisen, dass die EU alles regelt. Meine Damen klar ein Signal insbesondere an die osteuropäischen Län- und Herren, das ist keine sinnvolle Entwicklung und mit der, dass die EU sukzessive aus Mitgliedern erster und der AfD nicht machbar. zweiter Klasse bestehen wird. Das hat also eine komplett Vielen Dank. konträre Wirkung. (Beifall bei der AfD – Auf die technischen Herausforderungen der Digitali- [SPD]: Es geht nicht um vernünftige Politik, sierung hat die EU keinerlei Antworten. Bei dem Thema sondern um den eigenen Sessel!) „künstliche Intelligenz“, bei dem die Cluster interna- tional angesiedelt sind, ist die EU komplett außen vor.

Dafür bekommen wir aber von der EU ein tolles Mach- Vizepräsidentin Petra Pau: werk, das sich Datenschutz-Grundverordnung nennt und Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Florian Hahn das ein Bürokratiemonster ist. Auch die aktuelle Diskussion Wort. über Upload-Filter, die von der EU-Kommission mit ini- (Beifall bei der CDU/CSU) tiiert worden sind, zeigt, dass diese schlicht und ergrei- fend eine Einschränkung der Freiheit, sich im Netz zu informieren, für die Bürger zur Folge haben. Florian Hahn (CDU/CSU): Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! (Beifall bei der AfD) (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Kommen wir zum Thema PISA. Insbesondere in der NEN]: Unterstützen Sie Frau Merkel als Kom- Mathematik zeigt sich im EU-weiten Vergleich, dass der missionspräsidentin?) 9156 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Florian Hahn (A) Das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für Startschuss für ein Freihandelsabkommen mit Japan ge- (C) das Jahr 2019 fällt ja, betrachtet man den Umfang, ein ben wird. bisschen dürftig aus. Das ist keine Kritik an der Kom- mission; denn das ist dem Umstand geschuldet, dass mit Zurück zu dem Arbeitsprogramm. Getreu dem aus- Blick auf die Europawahl am 26. Mai dieses Jahres nach gerufenen Motto der Juncker-Kommission „Weniger ist Ostern die Räder in Brüssel erst einmal mehr oder weni- mehr“, wurde die Anzahl der Gesetzesvorhaben und -in- ger stillstehen. itiativen deutlich reduziert. Ich bin zuversichtlich, dass die neue Kommission diesen Kurs fortsetzen wird. Als Das wichtigste Vorhaben in 2019 kommt aber meiner Redner der CSU bin ich natürlich auch sehr stolz, dass Meinung nach trotzdem zu kurz, das ist nämlich die Vor- wir mit Manfred Weber einen ausgezeichneten und aus- bereitung auf den Brexit. Manchmal kann man es schon sichtsreichen Kandidaten für das Amt des neuen Kom- nicht mehr hören. Über den Brexit wird in den Medien missionspräsidenten ins Rennen geschickt haben. rauf und runter diskutiert. Im Deutschlandfunk war diese Woche zu hören, dass sich bereits zahlreiche Hörer be- (Beifall bei der CDU/CSU – Manuel Sarrazin schwert hätten, weil sie die andauernden Diskussionen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Abwarten! über den Brexit nicht mehr hören wollen. Ich verstehe Abwarten!) das. Er hat bereits angekündigt, dass er sich noch stärker Der Brexit ist aber zurzeit das beherrschende Thema. auf die großen und wichtigen Themen konzentrieren Er bindet nicht nur enorm viel Aufmerksamkeit, sondern möchte und Regulierungen nur dort vornehmen wird, wo auch ungeheure Arbeitskraft auf allen politischen Ebe- es wirklich notwendig ist. Das ist wichtig für die Bürge- nen. Es hilft aber alles nichts. Wenn wir keinen geordne- rinnen und Bürger; denn sie dürfen nicht den Eindruck ten Austritt schaffen, dann wird es für die Bürgerinnen haben, dass Europa nur lästig und regulierungswütig ist. und Bürger und für die Wirtschaft schwierig und teuer. Wir müssen das Gute, das Europa uns gebracht hat und bringt, noch viel mehr in den Vordergrund rücken und Tom Enders, der CEO von Airbus, hat in der letzten kommunizieren. Bis auf die AfD, die Europa bekanntlich Woche mit Blick auf die Folgen vor allem für das Ver- den Rücken kehren will, sind wir hier alle gefordert. einigte Königreich gesagt, der Brexit drohe ein Jahrhun- dert der Entwicklung auf der Grundlage von Bildung, Lassen Sie uns deshalb im Wahlkampf den Kampfan- Forschung und Humankapital zu zerstören. Deswegen zug für Europa anziehen gegen die Populisten, gegen die, kann ich an unsere Freunde auf der Insel, an die Briten, die immer nur sagen, was alles vermeintlich nicht funk- nur appellieren, endlich einen vernünftigen Lösungsvor- tioniert, gegen die, die Spaß an der Zerstörung Europas schlag zu liefern. Die Zeit ist sehr knapp, aber die EU der haben und nicht an der Gestaltung Europas, so wie wir. (B) 27 wird sich davon nicht unter Druck setzen lassen. Das (D) sei auch gesagt. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der SPD) Für uns ist klar, dass wir weder unseren EU-Binnen- markt schwächen noch die irische Insel im Stich lassen Denn neben den größten Errungenschaften wie Frieden werden. und Wohlstand, die leider viel zu oft als selbstverständ- lich hingenommen werden, sind es die ganz konkreten (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Dinge wie die europäische Freizügigkeit oder die Ein- ordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/ führung einer einheitlichen Währung, die wir uns ins Ge- DIE GRÜNEN) dächtnis rufen müssen. Wenn man einer Umfrage folgt, Das Karfreitagsabkommen darf nicht gefährdet werden. dann sind allein 75 Prozent der Bürger der Euro-Zone von dieser Währung positiv überzeugt. Meine Damen Das aktuelle Arbeitsprogramm ist das fünfte Pro- und Herren, diesen Trend müssen wir mit guter Euro- gramm der Juncker-Kommission. Es enthält nur 15 Ini- pa-Politik verstärken. tiativen. Unter den zu prüfenden Richtlinien findet sich auch die Wasserrahmenrichtlinie. Da kommen bei eini- In diesem Sinne, herzlichen Dank. gen vielleicht ein paar Erinnerungen an Diskussionen (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- hoch. Ich habe das noch gut im Ohr, wie wir hier im Bun- ordneten der SPD) destag darüber diskutiert haben. Ich erinnere mich an die Verhetzungen, als man vor Jahren bei der Beratung dieser Richtlinie eine Privatisierung der Wasserversorgung in Vizepräsidentin Petra Pau: Deutschland unterstellt und horrende Preise und furcht- Das Wort hat der Abgeordnete Gerald Ullrich für die bare Folgen prognostiziert hat. An dieser Stelle kann man FDP-Fraktion. nur sagen: Alles nicht eingetreten. (Beifall bei der FDP) Auch bei TTIP und CETA gab es ähnliche Kampa- gnen. Auch hier – das muss ich leider sagen – haben die Grünen und die Linken mit der Angst der Menschen ge- Gerald Ullrich (FDP): spielt, um diese Handelsabkommen zu verhindern. Das Sehr geehrte Präsidentin! Liebe Kolleginnen und ist bei TTIP dann leider gelungen, beim Abkommen mit Kollegen! Liebe Gäste! Im Eurobarometer vom No- Kanada, CETA, Gott sei Dank nicht. Und siehe da, nach vember 2018 haben die EU-Bürger angegeben, was sie einem Jahr CETA hört man keinerlei Beschwerden. Des- derzeit für die wichtigsten Probleme der EU halten. An wegen ist es auch gut, dass es heute im Übrigen einen diesen Problemen müssen sich sowohl die jetzige Kom- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9157

Gerald Ullrich (A) mission wie auch die zukünftige Kommission messen Zusammenfassend gesagt erringen bei diesen drei (C) lassen. wichtigen Problemen die Bundesregierung 0,5 von 3 Punkten und die EU-Kommission 1 von 3 Punkten. Die Auf Platz eins – wen wundert es? –: 40 Prozent der FDP ist eine Partei, EU-Bürger halten die Migration für das größte Problem, dem die EU gegenübersteht. Die EU-Kommission hat (Christian Petry [SPD]: Echt?) deshalb vorgeschlagen, die für Frontex-Einsätze abge- die Europa liebt. Und wenn man eine Sache liebt, dann ordneten nationalen Grenzschützer bis 2020 auf 10 000 muss man versuchen, sie zu erhalten und vor allen Din- zu erhöhen. Und was macht unser Minister Seehofer? gen sie zu verbessern. Wir werden dies tun. Er erklärt, die Erhöhung sei nur bis 2025 zu schaffen. Gleichzeitig baut er aber eine 1 000 Mann starke bayeri- (Christian Petry [SPD]: Das ist aber nur ein sche Grenzpolizei auf, die leider sehr wenig zum Schutz Teil der FDP!) der Außengrenzen beiträgt und auch nur sehr geringe Wirkungen im Inland hat. Zu dem Problem der vielen Kommissare. Vielleicht – geschätzter Kollege Krichbaum, nur ein Vorschlag – (Beifall bei der FDP und dem BÜNDNIS 90/ könnten sich Deutschland und Frankreich vorstellen, sich DIE GRÜNEN sowie des Abg. Christian gemeinsam einen Kommissar zu teilen. Es würde den Petry [SPD] – Christian Petry [SPD]: Prima Druck auf alle anderen deutlich erhöhen, sich ebenfalls Beschreibung!) zusammenzuschließen. Ein Punkt für die EU-Kommission, leider kein Punkt für (Beifall bei der FDP – Marianne Schieder die Bundesregierung. [SPD]: Das ist nicht Ihr Ernst!) Auf Platz zwei: Terrorismus. 20 Prozent der EU-Bür- Dann haben wir vielleicht in Zukunft nur noch die übli- ger halten dies für ein sehr wichtiges Problem. Wir Freien chen 16 Kommissare. Demokraten fordern deshalb schon lange, Europol zu ei- Ich danke Ihnen. nem europäischen Kriminalamt mit eigenen Ermittlungs- befugnissen weiterzuentwickeln. Ich denke, der Fall von (Beifall bei der FDP) Anis Amri im Jahr 2016 hat die Notwendigkeit gezeigt. Die Einzelheiten dazu sind wahrscheinlich jedem von Vizepräsidentin Petra Pau: Ihnen bekannt. Außerdem brauchen wir so schnell wie Manuel Sarrazin hat für die Fraktion Bündnis 90/Die möglich eine EU-weite Gefährderdatei. Die CDU fordert Grünen das Wort. zwar beides, wir warten aber seit 2016 darauf. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) (Beifall bei der FDP) (D)

Halber Punkt für die Bundesregierung, kein Punkt für die Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): EU-Kommission, auf deren Vorschläge wir noch immer Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolleginnen und Kol- warten. legen! Herr Amthor hat den Begriff der Serviceoppositi- Auf Platz drei: 19 Prozent der EU-Bürger zählen die on aufgegriffen. Ich möchte dem auch gerecht werden. öffentlichen Finanzen der Mitgliedstaaten zu den wich- Ich möchte nämlich den Blick auf Südosteuropa wer- tigsten Problemen in der EU. Der faule Kompromiss zwi- fen. Die Europäische Kommission wird noch in ihrer schen der italienischen Regierung und der EU-Kommis- Amtszeit, höchstwahrscheinlich im Rahmen der Erwei- sion vom 19. Dezember zum italienischen Haushalt 2019 terungsstrategie, wieder vorschlagen, die Erweiterungs- verletzt laut allen Expertenmeinungen die Kriterien des verhandlungen mit Mazedonien und Albanien zu eröff- Stabilitäts- und Wachstumspakts deutlich. Die Bundes- nen. Deswegen möchte ich, dass wir auf diese Region regierung hat zu meiner schriftlichen Anfrage mitgeteilt, blicken und uns vor Augen halten, dass vor genau einer sie sei juristisch nicht zuständig, um zu prüfen, ob Italien Woche zwei Regierungschefs Geschichte geschrieben gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt verstößt. Das haben. Sie haben gezeigt, dass in Zeiten von Populismus, mag sein. Das impliziert aber auf der anderen Seite, dass von Spaltungsrhetorik mit Mut, Weitsicht und politischer sich die Bundesregierung politisch nicht für zuständig Verantwortung gehandelt werden kann. Ja, Alexis Tsipras erklärt, wenn es darum geht, die nächste Staatsschulden- und Zoran Zaev haben das Prespa-Agreement durchge- krise im Euro-Raum zu verhindern. setzt, den Namensstreit beendet. Nordmazedonien und Griechenland können jetzt künftig gemeinsame Freunde (Marianne Schieder [SPD]: Das stimmt doch auf dem Weg Richtung NATO und EU werden. Ich finde, nicht! Das wissen Sie doch selber, dass das das sollten wir hier auch würdigen. zweierlei Stiefel sind!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Wir Freien Demokraten fordern deshalb, dass die Ein- bei der CDU/CSU und der SPD) haltung der europäischen Verschuldungsregeln von einer politisch unabhängigen Institution geprüft wird und dass Das ist eine historische Leistung. Aber sie zeigt auch, bei einem Bruch dieser Regeln automatisch Sanktionen dass sich die historische Leistung erst dann wirklich erfolgen. Kein Punkt für die Bundesregierung und auch auszahlt, wenn wir in der Lage sind, auf die historische nicht für die EU-Kommission. Leistung einzugehen. Im letzten Juni hat die Bundesre- gierung, haben alle Staaten der Europäischen Union im (Beifall bei der FDP) Rat für Allgemeine Angelegenheiten versprochen, für 9158 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Manuel Sarrazin (A) Albanien und Mazedonien im nächsten Jahr die Verhand- nicht auf die Kleinigkeiten, auf das Klein-Klein zu kon- (C) lungen zu eröffnen. Bis heute ist unklar, ob das wirklich zentrieren, sondern auf die großen Herausforderungen, stattfinden wird. Ich finde, vor dem Hintergrund des Mu- auf die Herausforderungen, die mit echtem Nachdruck tes von Zoran Zaev und Alexis Tsipras, vor dem Hinter- vorangetrieben werden müssen, auf die Herausforderun- grund des Erfolgs in der Lösung des Namensstreits sind gen, die Europa einen Mehrwert bringen. wir jetzt in der Pflicht, diese Verhandlungen zu eröffnen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Herausforderun- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen sind wirklich zahlreich. Wenn man sich fragt, was sowie bei Abgeordneten der SPD) eigentlich die größten Aufgaben sind, vor die die Euro- päische Union jetzt gestellt ist, dann ist es gut, darauf Wir müssen verhindern, dass 2019 ein weiteres ver- zu schauen, warum die Europäische Union gegründet lorenes Jahr für den Westbalkan wird. Ich sage das ganz wurde. Man hat die Europäische Union nämlich nicht ernsthaft: Viele verlorene Jahre werden wir uns in dieser gegründet, um zuallererst Sozialtransfers durchzuführen, Region nicht mehr leisten können. Es ist eine Situation, sondern man hat die Europäische Union gegründet, um in der beispielsweise die politische Lage in Albanien auf einen funktionierenden Binnenmarkt zu errichten, um der Kippe steht. Wir müssen den Menschen zeigen, dass Wirtschaft zu fördern und um einen Beitrag zur Sicher- man mit Reformen, mit Aussöhnung und auch in Zusam- heit unseres Kontinents zu leisten. menarbeit mit der Zivilgesellschaft bei uns auch erfolg- reich sein kann und dass wir, die Europäische Union, zu (Beifall bei der CDU/CSU) unseren Versprechen stehen, die wir gemacht haben. Deswegen ist es mir als Innenpolitiker wichtig, im (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Rahmen dieser Debatte den Blick ein wenig auf die Si- cherheitsthemen zu richten, vor denen die Europäische Auch in Albanien ist der Reformprozess bemerkens- Union in den nächsten Monaten steht. Das ist zweierlei: wert angelaufen. Die laufende Korruptionsüberprüfung Es ist zum einen die Weiterentwicklung der europäischen von Richtern und Richterinnen und Staatsanwältinnen Sicherheitsunion, es ist aber natürlich zum anderen auch und Staatsanwälten ist in der gesamten Region beispiel- der weitere Umgang mit der Frage der Steuerung und Be- los. Es wäre meiner Ansicht nach ein schwerer Rück- grenzung der Migration. schlag für diese positive Entwicklung Albaniens, wenn wir jetzt nicht bereit sind, den nächsten Schritt zu gehen. Was die Sicherheitsunion angeht, so will ich anknüp- Ganz klar: Die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen ist fend an den Kollegen Florian Hahn sagen: Die größte in keiner Weise ein Automatismus für einen EU-Beitritt. Bewährungsprobe für unsere Sicherheitsunion ist der Wenn es danach mit Reformen nicht weitergeht, wird es Brexit, durch den wir einen schweren Verlust hinnehmen (B) auf diesem Weg auch nicht weiter vorangehen. Wir ha- müssen. Deswegen ist es wichtig, dass wir als Deutscher (D) ben genügend Gelegenheiten, in diesem Prozess weiter- Bundestag das Zeichen senden: Trotz Brexit wünschen hin zu verlangen, dass genügend passiert. wir uns eine enge Sicherheitskooperation mit Großbri- tannien. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der CDU/CSU) Geben wir deswegen diesen Ländern die Chance, ih- Wir werden auch selbst einiges tun müssen. Die Euro- ren Transformations- und Reformwillen mit unserer Un- päische Kommission hat sich dazu bekannt, die Europäi- terstützung noch besser unter Beweis zu stellen. Lassen sche Staatsanwaltschaft weiterzuentwickeln, ihr Mandat wir Tsipras und Zaev nicht am ausgestreckten Arm ver- auf die Terrorismusbekämpfung zu erweitern. Sie hat hungern, weil wir nicht bereit sind, unsere europäische sich dazu bekannt, die Interoperabilität, den Austausch Verantwortung zu übernehmen. Frieden und Demokratie von Daten zwischen den Sicherheitsbehörden innerhalb in unserer nächsten Nachbarregion des westlichen Bal­ der Europäischen Union zu verbessern. Das ist notwen- kans werden auch Voraussetzung dafür sein, dass die Eu- dig, und das werden wir auch unterstützen. ropäische Union an sich erfolgreich sein kann. Anknüpfend an die innenpolitische Debatte des Vor- Danke sehr. mittags will ich aber auch noch einmal sagen: Genauso wie in unserem Land geht es auch in Europa nicht nur um (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die Frage, wie wir Informationen zwischen den Sicher- sowie bei Abgeordneten der SPD) heitsbehörden austauschen können, sondern es geht auch um die Frage, wie wir Informationen erheben können. Vizepräsidentin Petra Pau: Deswegen wird für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion Das Wort hat der Kollege Philipp Amthor für die die Vorratsdatenspeicherung und anderes auch in Zu- CDU/CSU-Fraktion. kunft ein wichtiges Thema sein, und es wird wichtig sein, wehrhafte Befugnisse der Europäischen Union gerade im (Beifall bei der CDU/CSU) Cyberraum auf der Agenda zu haben. Das muss auch die Europäische Kommission umsetzen. Philipp Amthor (CDU/CSU): (Beifall bei der CDU/CSU) Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist gut, dass die Europäische Kommission sich in ih- Wir wollen Sicherheit auf der Höhe der Zeit. Aber wir rem Arbeitsprogramm an einem Grundsatz orientiert, den wissen auch: Die größte Herausforderung und die größte sich viele Menschen in Europa wünschen, sich nämlich Erschütterung in Bezug auf das Vertrauen in die Sicher- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9159

Philipp Amthor (A) heit in der Europäischen Union verbinden sich mit dem vorschriften ohne Beeinträchtigung ihrer Ziele entspre- (C) Thema Migration. Das ist nicht wegzuwischen. Richtig chend anpassen. ist – auch das muss man sagen –: Die Zahl der illegal nach Europa gekommenen Migranten hat sich drastisch So behauptet Juncker, die Bürger interessierten sich reduziert; das ist auch gut so. Wir sagen trotzdem: Es sind für Vorschriften, die ihnen Rechte verleihen. Aber diese noch zu viele. Wir müssen besser werden bei der Steue- Rechte scheinen schon lange nicht mehr für alle gleicher- rung und Begrenzung der Migration. Dafür brauchen wir maßen zu gelten, schaut man auf den zig-fachen Bruch die Vollendung des Gemeinsamen Europäischen Asyl- der Verträge von Lissabon und Maastricht ohne irgend- systems. Aber dafür brauchen wir nicht nur neue Rege- welche Konsequenzen für die Verantwortlichen. Ganz im lungen, sondern wir brauchen zum Teil einfach besseren Gegenteil: Juncker will den Rahmen für die Rechtsstaat- Vollzug und bessere Umsetzung. lichkeit des Euros weiter stärken. Mit anderen Worten: Was vorher illegalerweise einfach wieder und wieder In diesem Zusammenhang hat Jean-Claude Juncker gemacht wurde, wird jetzt einfach für legal erklärt. Ja, in seiner Rede zum State of the Union vorgeschlagen, wahrscheinlich könnte Juncker recht haben, solche Mög- dass wir 10 000 neue Stellen für Frontex schaffen. Das lichkeiten finden bestimmt auch die Bürger toll – allein, ist ambitioniert, und das ist ein Thema, das uns künftig für diese wird es so etwas niemals geben. Manche sind begleiten wird. Aber ich will in aller Deutlichkeit auch eben gleicher als andere. sagen: Grenzschützer für Frontex kann man nicht im Ex- pressversand bestellen, sondern Grenzschützer müssen Die Europäische Kommission verfolgt aktuell zwei aus den nationalen Mitgliedstaaten kommen. Da ist für Ziele, wie immer vor einer Wahl: Handlungswillen zu uns das Wichtige – das sage ich auch aus der Perspek- suggerieren und vor den zu erwartenden Mehrheitsver- tive des Innenpolitikers –: Wir stehen zu Frontex, aber änderungen schnell noch Entscheidungen durchzudrü- wir können nicht hinnehmen, dass wir unsere Bundespo- cken, die dann ohne größere Debatten wohl nicht mehr lizisten in Einsätze schicken, bei denen sie nicht besse- möglich wären. re Kompetenzen haben als in unserem Land. Deswegen Im Hinblick auf die Europawahlen finden wir von der müssen wir nicht nur dafür arbeiten, dass neue Stellen blauen Partei, dass es in der Tat ein guter Zeitpunkt für geschaffen werden, sondern wir müssen auch das Thema eine offene Diskussion über grundlegende Reformen des Befugnisse bei Frontex voranbringen. Nur dann kann der Europäischen Parlaments und der Kommission sei. Für Grenzschutz in der Europäischen Union auch wirklich klare Entscheidungsverantwortlichkeiten könnten wir funktionieren. einmal darüber nachdenken, künftig gewählte Vertreter (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) nationaler Parlamente zu entsenden. Dieses neu gestal- tete Europäische Parlament erhält das Gesetzesinitiativ- (B) Ich will deutlich sagen: Wir müssen es schaffen, für recht der Kommission übertragen, die ihrerseits zu einer (D) das Thema Migration Lösungen zu finden, um den Blick Dienstleistungsbehörde verkleinert wird. Das spart zu- wieder frei zu machen für proeuropäische Themen, für sätzliche Wahlen, Unmengen an Geld und verbessert die das, was die Europäische Union zusammenhält. Das Parität gemäß der Mitgliedsgröße der Staaten. Wichtige ist das Motto des Arbeitsprogramms der Kom- mission, über das wir heute reden, und das ist das Motto: ( [SPD]: Völliger Quatsch!) Versprochenes liefern und Vorbereitungen auf die Zu- Für die Zukunft unseres so wichtigen europäischen kunft treffen. – Ich kann sagen: Versprechen gehalten, Wirtschaftsverbunds hätten wir auch gleich eine Aufgabe: das wollen wir nach der Europawahl sagen, und dafür Für einen einfacheren Freihandel könnte man evaluieren, werden wir arbeiten. ob sich nicht europäische und deutsche DIN-Normen mit Herzlichen Dank. amerikanischen UL- und kanadischen CSA-Zulassungen harmonisieren lassen. Unserem Mittelstand würde dies (Beifall bei der CDU/CSU – Gerald Ullrich endlich einmal eine vernünftige Entlastung bieten. [FDP]: Kein Versprechen gehalten!) Vielen Dank. Vizepräsidentin Petra Pau: (Marianne Schieder [SPD]: Ganz neue Ide- Das Wort hat der Abgeordnete Mario Mieruch. en!)

Mario Mieruch (fraktionslos): Vizepräsidentin Petra Pau: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun Dr. Christoph und Herren! Die Pressemitteilung der Europäischen Ploß das Wort. Kommission bezüglich des Arbeitsprogramms 2019 lässt so manche Wahrheit zwischen den Zeilen ans Licht (Beifall bei der CDU/CSU) kommen. REFIT, das Programm zur Gewährleistung der Effizienz und Leistungsfähigkeit der Rechtsetzung der Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): Europäischen Kommission, soll sicherstellen, dass die Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! EU-Rechtsvorschriften ihre Ziele für die Bürger wirk- sam, effizient und kostengünstig erreichen. REFIT soll Die großen Herausforderungen, vor denen wir ste- die EU-Rechtsvorschriften einfach halten, unnötigen hen, zwingen uns alle zur Zusammenarbeit. Sie Verwaltungsaufwand abbauen und bestehende Rechts- können nicht im Sinne des alten nationalstaatlichen 9160 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Dr. Christoph Ploß (A) Denkens von den einzelnen Ländern allein bewäl- Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): (C) tigt werden. Gerne doch. Diese Sätze sagte der damalige Bundeskanzler und (Florian Hahn [CDU/CSU]: „Gerne“ ist ge- Ehrenbürger Europas, Helmut Kohl, im Jahre 1996. logen!) Auch heute, mehr als 20 Jahre danach, sind diese Sätze aktueller denn je; denn wenn wir über das Programm der Dr. Harald Weyel (AfD): Europäischen Kommission diskutieren und uns anschau- Danke für die Zulassung der Frage, lieber Dr. Ploß. – en, vor welchen Herausforderungen wir heute stehen, Es ist ja generationsübergreifend so, dass immer die glei- ist vollkommen klar, dass wir diese als Bundesrepublik che Rhetorik die europäische Angelegenheit begleitet, Deutschland nicht alleine bewältigen können. Wir brau- (Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- chen dafür starke europäische Partner und ein starkes NEN]: Das, was Sie erzählen, hören wir auch Europa. seit Jahrzehnten, den ganzen Müll!) Das zeigt schon ein Blick auf die bloßen Einwohner- von wegen: Jedes Land ist einzeln zu klein, selbst das zahlen: Die Chinesen sind mehr als 1 Milliarde Bürger relativ große Deutschland usw. usf. – Auf der anderen auf der Welt. Auch Indien hat deutlich mehr als 1 Milliar- Seite sehen wir aber, dass Norwegen oder die Schweiz de Einwohner. Die USA haben immerhin noch 330 Mil- durchaus direkt mit China und sogar mit den USA Ver- lionen Einwohner. Staaten in Afrika und Asien wachsen träge schließen. rasant. Allein der afrikanische Staat Nigeria wird nach (Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜND- UNO-Schätzungen im Jahr 2050 vermutlich 450 Millio- NIS 90/DIE GRÜNEN]) nen Einwohner haben. Das entspricht der Zahl der Bürger der gesamten Europäischen Union. „Small is beautiful“, hat mal Hermann Lübbe, ein Phi- losoph, der sich von der Schweiz aus des Ganzen ange- Deutschland hat heute circa 80 Millionen Einwohner nommen hat, gesagt. und ist damit das größte Land der Europäischen Union. (Zuruf der Abg. Dr. Barbara Hendricks Aber – darauf haben auch meine Vorredner richtigerwei- [SPD]) se hingewiesen – wir sind im Weltmaßstab und im Ver- gleich zu den anderen Staaten klein. Deswegen werden Zunächst eine Korrektur: Wir wollen eine Substanz- wir in der Weltpolitik nur als vereintes Europa eine Rolle reform; der Dexit ist kein Selbstzweck, kein L’art pour spielen und unserer Stimme dort Gehör verschaffen kön- l’art. Um das zu bewirken, muss man eventuell einen nen. anderen Ansatz verfolgen, nachdem es jetzt über 60 Jah- (B) re nichts mit einer Substanzreform geworden ist. Wir (D) Daher sind auch die Angriffe, die wir hier immer wie- müssen auch feststellen, dass der Binnenmarkt eigentlich der vom linken und rechten Rand dieses Hauses hören, so nicht realisiert wurde. Der Cecchini-Report hat Ende der gefährlich – wenn die Europäische 80er-Jahre festgestellt, dass in den damals vier Jahrzehn- Union als Projekt der Ausbeuter bezeichnet oder wir bei ten noch nicht mal der Binnenmarkt verwirklicht wurde. der AfD sogar Stimmen hören, die mit dem Dexit lie- (Zuruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜND- bäugeln und einen Austritt Deutschlands aus der Europä- NIS 90/DIE GRÜNEN]) ischen Union vorantreiben wollen. Die wohlwollendste Kritik – der können Sie sich viel- (Beifall bei Abgeordneten der AfD – Zuruf leicht anschließen – ist doch, dass wir es bei der EU mit der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD]) einer Versicherung zu tun haben, mit einer Überversiche- rungsgesellschaft. Das ist der absolut falsche Weg. (Marianne Schieder [SPD]: Wo ist die Fra- Meine Damen und Herren, deswegen ist es so wich- ge?) tig, dass wir die vernünftigen Kräfte im Deutschen Bun- Die Kommission agiert als Vorstand einer solchen Versi- destag stärken und uns Europa nicht durch Angriffe von cherung. Es wird mit einem grellen Prospekt gearbeitet. links und rechts kaputtmachen lassen. (Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Das ist die (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Ideologie der Reichsbürger, die Sie da vertre- ordneten der SPD) ten! – Weiterer Zuruf von der SPD: Was für ein seltsames Weltbild, Herr Professor!) Denn Europa ist letztlich wie ein Haus, in dem wir leben Es gibt Leistungsversprechen, die im Fall des Falles nicht und das wir auch zum Leben brauchen, das Generationen eingehalten werden. vor uns erbaut haben, das wir aber in Zukunft weiterbau- en und auch immer wieder renovieren müssen. (Johannes Schraps [SPD]: Was wollen Sie uns sagen?) Würden Sie die Leistungsversprechen von Schengen Vizepräsidentin Petra Pau: und Dublin, die uns ja dahin geführt haben, zu sagen, Herr Ploß, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung dass wir den großen Rahmen, die gemeinsame Außen- des Abgeordneten Weyel? grenze haben wollen, als erfüllt ansehen? Wenn nein, was Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9161

Dr. Harald Weyel (A) ist Ihr Ansatz, um zu erzwingen, dass das, was im Klein- Meine Damen und Herren, damit es so bleibt, müssen (C) gedruckten steht, auch geliefert wird? wir jetzt handeln. Denn die Aufgabe unserer Generation ist es – das hat der Kollege Philipp Amthor eben voll- Danke schön. kommen zu Recht dargelegt –, Europa zu einem außen- und sicherheitspolitischen Akteur zu formen, einem Ak- Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): teur, der auch in der Weltpolitik handlungsfähig ist, zum Das Niedermachen und Schlechtmachen der Europä- Beispiel beim Syrien-Konflikt, bei handelspolitischen ischen Union und Europas teile ich in keiner Weise, und Konflikten oder natürlich auch bei den großen Migrati- ich habe ja am Anfang meiner Rede hier auch energisch onsfragen. widersprochen. Das beste Beispiel, das wir in der jüngeren Vergangen- (Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP heit erlebt haben, war doch der Handelsstreit zwischen und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den USA und der Europäischen Union, bei dem wir als Europäische Union die Verhandlungen mit Donald Denn wenn man sich die Geschichte der letzten Jahr- Trump am Ende erfolgreich abgeschlossen haben, weil zehnte anschaut, dann erkennt man, dass unsere Vorfah- wir mit einer Stärke von 500 Millionen Europäern im ren das Friedensprojekt Europa begründet haben. Es ist Rücken auftreten konnten. Das dürfen wir uns nicht ka- alles andere als selbstverständlich, dass wir hier auf dem puttmachen lassen. europäischen Kontinent in Frieden leben. (Johannes Schraps [SPD]: So ist es! – Beatrix Wir werden aber nur dann eine Rolle als starker au- von Storch [AfD]: Das war die NATO, nicht ßenpolitischer Akteur in der Weltpolitik spielen, wenn die EU!) wir das Einstimmigkeitsprinzip aufgeben und die euro- päischen Nationalstaaten den Mut haben, Kompetenzen In allen Jahrhunderten gab es in Europa Krieg. Es mag auf die europäische Ebene zu verlagern. für die jüngeren Generationen eine Selbstverständlich- keit sein, dass kein Krieg herrscht; das war es aber jahr- (Zuruf des Abg. Karsten Hilse [AfD]) hundertelang nicht. Deswegen ist Ihr Zündeln auch so gefährlich; denn es kann am Ende den Frieden in Europa Da unterstützen wir als Unionsfraktion die Ansätze der gefährden. Kommission,

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem (Beifall bei Abgeordneten der SPD) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Ab- (B) geordneten der FDP) weil es anders nicht gehen wird, wie es auch der Kollege (D) Sie haben wirtschaftliche Punkte angesprochen. Da- Gunther Krichbaum in seiner Rede hier dargelegt hat. Da rauf möchte ich kurz eingehen. Man muss doch sagen: möchte ich ihn mit Nachdruck unterstützen. Europa ist einer der attraktivsten Wirtschaftsräume der Wenn wir über die Übertragung von Kompetenzen auf Welt. Wir sind doch nicht umsonst in der ganzen Welt die Europäische Union sprechen, dann möchte ich aber so angesehen. Das ist doch ein Grund dafür, dass viele auch hervorheben, dass es natürlich nicht sinnvoll ist, au- Menschen nach Europa wollen. tomatisch alle Kompetenzen auf Europa zu übertragen. (Beatrix von Storch [AfD]: Ja! – Weiterer Die Entscheidungskompetenz über den Bau von örtli- Zuruf von der AfD: Leider!) chen Straßen, von Radwegen, von Marktplätzen Viele Menschen auf anderen Kontinenten sagen: Wir (Zuruf der Abg. Beatrix von Storch [AfD]) wollen Demokratie, Menschenrechte, Meinungsvielfalt und Toleranz wie in Europa haben. soll natürlich weiterhin bei den Nationalstaaten oder bei den Kommunen verbleiben. Das soll nicht auf die eu- (Beatrix von Storch [AfD]: Diese Phrasendre- ropäische Ebene verlagert werden. Das entspricht dem scherei ist nicht auszuhalten! Ehrlich!) häufig zitierten Subsidiaritätsprinzip, für das wir uns als Ich möchte, dass wir diese europäischen Werte bewahren CDU/CSU-Fraktion mit besonderer Leidenschaft einset- und stärken. Deswegen ist das, was Sie hier machen, so zen. gefährlich. Ich kann Ihnen nur sagen, auch im Namen meiner Fraktion und aller Demokraten hier im Hause: (Beifall bei der CDU/CSU) Wir werden das in den nächsten Wochen deutlich ma- chen, damit bei der Europawahl die Menschen Europa Das Subsidiaritätsprinzip gilt auch bei den Steuersät- stärken und am Ende das friedens-, wirtschafts- und si- zen. Wenn wir es ernst nehmen, dann brauchen wir natür- cherheitspolitische Projekt Europa neue Kraft bekommt. lich nicht von Lissabon bis Tallinn einheitliche Steuersät- ze. Im Gegenteil: Da muss es Unterschiede geben. Das (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- befeuert auch den Wettbewerb der Staaten untereinander. wie bei Abgeordneten der FDP und des Deswegen sehen wir die Ansätze, die auf einheitliche BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Johannes Steuersätze zielen, kritisch. Schraps [SPD]: Das hat Herr Weyel nicht ver- standen! – [AfD]: Phrasendre- Am Ende brauchen wir eine schlanke, effiziente Euro- scher!) päische Union, die sich um die großen Fragen kümmert. 9162 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Dr. Christoph Ploß (A) Nur so kann Europa in Zukunft erfolgreich und das euro- Mikroplastik findet sich auf dem gesamten Planeten – (C) päische Haus sturmfest sein. in der Antarktis, in allen deutschen Flüssen, in Bergtä- lern, in Salz, Honig, Wasser, in unserer Atemluft, auch Herzlichen Dank. in diesem Raum hier. Die Folgen für die menschliche (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- Gesundheit sind bisher nicht erforscht. Ich halte es für ordneten der SPD) ein gravierendes Defizit, dass wir nicht wissen, was Mi- kroplastik im menschlichen Organismus verursacht. Wir wissen aber, dass der menschliche Körper permanent Mi- Vizepräsidentin Petra Pau: kroplastik aufnimmt. Die meisten von Ihnen dürften rele- Ich schließe die Aussprache. vante Mengen davon im Körper tragen. Wir wissen, dass sich Schadstoffe an Mikroplastik anlagern, und wir wis- Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf: sen, dass Mikropartikel, Nanopartikel Zellmembranen a) Beratung des Antrags der Abgeordneten und die Blut-Hirn-Schranke durchdringen können. – So Dr. Bettina Hoffmann, Steffi Lemke, Lisa weit die Problemlage, kurz und knapp geschildert. Badum, weiterer Abgeordneter und der Fraktion Verursacher ist die weltweite Plastikproduktion, die BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN inzwischen bei knapp 400 Millionen Tonnen pro Jahr Strategie gegen Plastikmüll jetzt umsetzen liegt. Der größte Teil davon wird weder entsorgt noch recycelt, sondern reichert sich in der Umwelt an, und das Drucksache 19/6129 seit zig Jahren. Überweisungsvorschlag: Europa ist nach China der zweitgrößte Plastikprodu- Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (f) Ausschuss für Gesundheit zent weltweit. Und Deutschland ist innerhalb Europas ei- Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab- ner der Hauptverursacher – wenn nicht gar der Hauptver- schätzung ursacher – des Plastikproblems, und zwar in Produktion, Ausschuss für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung und Kom- in Verbrauch und als Exporteur. Deshalb hat Deutschland munen eine besondere Verantwortung, dieses weltweite Problem b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Steffi endlich in den Griff zu kriegen, Lemke, Dr. Bettina Hoffmann, Claudia Müller, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- und bei der LINKEN) NIS 90/DIE GRÜNEN insbesondere wenn man bedenkt – das kommt zur Pro- Verschmutzung der Meere – Plastikflut un- (B) blemlage hinzu –, dass Deutschland bis 2018 einen (D) verzüglich stoppen Großteil seiner Plastikabfälle nach China exportiert hat. Drucksache 19/5230 Das war schön, das war billig; das wurde auf die Recy- clingquote angerechnet. Man konnte mit dem Finger auf Überweisungsvorschlag: den Plastikstrudel im Pazifik zeigen und sagen: Guckt Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (f) Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- mal, die Asiaten! Das hat mit uns ja nichts zu tun; das lung betrifft ja die asiatischen Flüsse! Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für Seitdem China aus Umweltschutzgründen ein Im- die Aussprache 60 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- portverbot für Plastikabfälle verhängt hat, geht jetzt ein nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Großteil der Abfälle nach Malaysia, nach Bulgarien, nach Rumänien und nach Polen. Sie finden sich dort in Ich bitte, zügig die notwendigen Umgruppierungen in wilden Deponien wieder, werden abgefackelt und gelan- den Fraktionen vorzunehmen und Platz zu nehmen. gen in die Umwelt. Deshalb hat Deutschland eine beson- Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kollegin dere Verantwortung, sich des Plastikproblems endlich Steffi Lemke für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. anzunehmen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Steffi Lemke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Damit meine ich nicht den lächerlichen Fünf-Punkte- Plan, den Umweltministerin Schulze im letzten Herbst Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! vorgelegt hat. Damit meine ich definitiv nicht jahrelange Im Sommer des letzten Jahres strandete zwischen Thai- Verhandlungen über freiwillige Selbstverpflichtungen land und Malaysia ein Wal, erbrach fünf Tüten und ver- der Hersteller, Kosmetika und Waschmitteln wenigstens endete dann an diesem Strand. Ein Wissenschaftler kons- keine absolut überflüssigen Plastikprodukte beizumi- tatierte nach der Obduktion lapidar: „Mit 80 Plastiktüten schen. Das meine ich dezidiert nicht; denn das wird das im Magen stirbt ein Wal.“ Problem nicht lösen. Der NABU spricht davon, dass pro Jahr mindestens (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 1 Million Meeresvögel an Plastik verenden. In 90 Pro- und bei der LINKEN) zent der Nester von Basstölpeln auf Helgoland sind Plas- tikstricke oder andere Sachen verarbeitet, die dazu füh- Man kann nur sagen: Gott sei Dank haben wir Europa! ren, dass sich Jungvögel strangulieren. Gott sei Dank haben wir die Europäische Kommission, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9163

Steffi Lemke (A) die Europäische Union und das Europäische Parlament! Und auch das Thema Plastikabfälle haben wir mit (C) Denn diese haben im letzten Herbst eine Antiplastikstra- der Weiterentwicklung der Verpackungsverordnung zu tegie vorgelegt, die relevante Punkte zur Plastikreduktion einem Verpackungsgesetz einen wichtigen Schritt vor- enthält, und zwar ein Verbot von besonders umweltschäd- angebracht. Denn es ist richtig, dass ein großer Teil von lichen Produkten, die besonders leicht in die Umwelt ge- Abfällen aus Verpackungen resultiert. Genau deshalb ha- langen, und eine Produkthaftung der Hersteller, die die- ben wir höhere Sammel- und Verwertungsquoten für alle jenigen, die die Produkte produzieren, in die finanzielle Arten von Verpackungsabfällen festgeschrieben. Und Verantwortung nimmt. wir haben mit der Zentralen Stelle Verpackungsregister die Kontrolle im wettbewerblich organisierten System Mit den Anträgen, die meine Kollegin Hoffmann und verbessert. Das Verursacherprinzip findet jetzt deutlich ich Ihnen heute namens der Grünenfraktion vorlegen, ge- konsequenter Anwendung; das liegt uns besonders am hen wir darüber hinaus. Wir fordern die Bundesregierung Herzen. Genau das reduziert nämlich Verpackungen und auf: Gehen Sie voran! Setzen Sie – so wie andere europä- sorgt für besseres Recycling. ische Staaten, wie Frankreich, wie Schweden, wie sogar Österreich – in nationales Recht um, was heute bereits Meine Damen und Herren, wichtig ist es, mehr Ab- geht! Warten Sie nicht bis 2021, sondern tun Sie jetzt et- fälle stofflich zu verwerten. Hier müssen wir gerade bei was! Plastikabfällen besser werden. Dafür gibt es zwei we- sentliche Voraussetzungen: (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- SES 90/DIE GRÜNEN) Erstens. Recyclate, die aus den Abfallverwertungs- Und vor allem: Erlassen Sie ein Moratorium für den anlagen kommen, müssen stofflich möglichst homogen Export in diejenigen Staaten, bei denen die Müllent- sein. Mischabfälle oder Recyclate mit hohem Verschmut- sorgung und das Recycling einen niedrigeren Standard zungsgrad gehen häufig in die Verbrennung. Dazu sind haben als in Deutschland! Sorgen Sie dafür, dass diese sie zu schade. Deshalb haben wir mit dem Verpackungs- unsäglichen Exporte deutschen Plastikmülls weltweit ge- gesetz dafür gesorgt, dass für Verpackungen, die aus un- stoppt werden! terschiedlichen Kunststoffen bestehen, die Lizenzgebüh- ren höher sind. Eine weitere Voraussetzung für eine hohe Danke. Sortenreinheit der Recyclate sind moderne Sortieranla- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gen. Hier sehen wir durch erhebliche Investitionen der und bei der LINKEN) Entsorgungswirtschaft gute Fortschritte. Eine hohe Qualität der Recyclate ist aber nur die eine Vizepräsidentin Petra Pau: Seite. Wir brauchen zweitens Anreize für Hersteller, (B) Das Wort hat die Kollegin Marie-Luise Dött für die Recyclate für neue Produkte zu nutzen. Deshalb haben (D) CDU/CSU-Fraktion. wir die Lizenzgebühren für Verpackungen auch davon abhängig gemacht, ob Recyclat verwendet wird. (Beifall bei der CDU/CSU) Auch Europa hat das erkannt. Mit der Richtlinie über die Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunst- (CDU/CSU): Marie-Luise Dött stoffe auf die Umwelt wird vorgegeben, dass PET-Fla- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um es schen bis 2025 25 Prozent und bis 2030 30 Prozent recy- heute noch einmal klar und deutlich zu sagen: Deutsch- celtes Plastik enthalten müssen. land ist auf dem Gebiet der Kreislaufwirtschaft weltweit führend. Und auch die Wirtschaft handelt. Eine Reihe von Her- stellern und Handelsketten hat bereits konkrete Maßnah- (Beifall bei der CDU/CSU – Katrin Gö- men, zum Beispiel die Auslistung von Einwegprodukten ring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: oder den Verzicht auf Plastiktüten, umgesetzt oder ange- Ist ja toll! Dann ist ja alles gut!) kündigt. Die Reduzierung von Plastiktüten und Einweg- Abfallsammel- und Verwertungslösungen „Made in Ger- verpackungen oder die Selbstverpflichtung zur Reduzie- many“ sind weltweit ein Exportschlager. Die Bürger rung des Einsatzes von Mikroplastik bei Kosmetika und sammeln und trennen Abfälle, weil sie wissen, dass das Reinigungsmitteln sind Beispiele. Wir als Politik sollten für die Umwelt und den Ressourcenschutz gut ist. Unsere hier kooperative Lösungen unterstützen – gerade auch Unternehmen und die Beschäftigten im Bereich der Ab- bei der Abfallvermeidung. fallwirtschaft sind hochmotiviert, engagiert, verantwor- Meine Damen und Herren, Abfälle, gerade Plastikab- tungsbewusst und vor allem innovativ. Und wir haben in fälle, sind ein globales Problem. Deshalb ist es wichtig, unserem Land einen politischen Rahmen gesetzt, der die das Thema stärker in der Entwicklungszusammenar- Kreislaufwirtschaft weiter voranbringen wird. beit zu berücksichtigen. Wir haben im Haushalt 2019 (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) 250 Millionen Euro speziell dafür bereitgestellt. Wir soll- ten bei den Projekten Partner aus der Wirtschaft suchen, Aber, meine Damen und Herren, nichts ist so gut, dass die die Projekte mitfinanzieren und auch mit umsetzen. es nicht noch besser werden kann. Deshalb haben wir in Ich weiß, dass viele Unternehmen, gerade auch aus der der vergangenen Legislaturperiode wichtige Regelungen Entsorgungsbranche, dazu bereit sind. beschlossen. Dazu gehören das Elektro- und Elektronik- gerätegesetz, die Klärschlammverordnung und die Ge- Die Projektebene ist das eine. Wir brauchen aber auch werbeabfallverordnung. einen möglichst verbindlichen internationalen Rechts- 9164 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Marie-Luise Dött (A) rahmen zur Müllvermeidung und zum Schutz der Meere. Stattdessen ist der Umgang mit Plastik entscheidend. (C) Es war deshalb wichtig, dass Deutschland die Reduzie- Plastikabfälle, die eingesammelt und verwertet werden, rung der Meeresvermüllung im Rahmen der internatio- stellen kaum oder keine Probleme für die Meere dar. nalen Zusammenarbeit zum Beispiel bei den G-7- und Dass sich die Plastikvermüllung der Meere überhaupt zu G-20-Treffen auf die Tagesordnung gesetzt hat. Die Ent- einem großen Problem entwickelt hat, liegt vornehmlich wicklung eines internationalen Rechtsrahmens braucht an afrikanischen und asiatischen Staaten, die weltweit zu einen langen Atem – wir werden hier nicht nachlassen. den größten Verursachern gehören. Meine Damen und Herren von den Grünen, Ihr Antrag (Beifall bei Abgeordneten der AfD) zur Verminderung der Meeresvermüllung enthält durch- aus sinnvolle Ansätze. Verantwortlich ist unter anderem die fehlende Sensibi- lisierung der dortigen Bevölkerungen für die Umwelt. (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- Plastikabfälle werden einfach in die Flüsse entsorgt, SES 90/DIE GRÜNEN) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Leider hinkt aber eine Reihe von Forderungen der Wirk- NEN]: Sie haben keine Ahnung!) lichkeit hinterher. Zur Reduzierung von Plastikeinweg- produkten werden wir die europäischen Regelungen jetzt die wiederum entwässern direkt in den Meeren. Durch umsetzen. Auch mit Blick auf internationale Aktivitäten die Meeresströmungen werden die Plastikabfälle welt- tun Sie so, als würden wir bei null anfangen. Bereits in weit verteilt der vergangenen Legislaturperiode haben wir die Netz- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verluste in der Fischerei adressiert, wenn Sie sich erin- NEN]: Null Ahnung!) nern. und bleiben nicht das alleinige Problem der Verursacher. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Adressiert! Was soll das denn heißen?) (Beifall bei der AfD) Meine Damen und Herren von den Grünen, Ihr erster Daher ist es ja durchaus sinnvoll, eine internationale Antrag beinhaltet ein Sammelsurium an undifferenzier- Konvention zur Beendigung des Eintrags von Plastik­ ten Forderungen zu Produktverboten und natürlich auch abfällen einzusetzen. Ob man aber mit Sanktionen bei die Forderung nach einer Rekommunalisierung der Ab- Zuwiderhandlung ausgerechnet die weltweit größten fallentsorgung. Ihre Forderungen im zweiten Antrag zur Verursacher beteiligen kann, darf bezweifelt werden. Reduzierung der Meeresvermüllung sind vielfach in der Vielmehr muss die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Umsetzung. Deshalb werden wir beide Anträge ableh- Schwellen- und Entwicklungsländern stärker an umwelt- (B) nen. politische Bedingungen geknüpft werden. Nur mit dem (D) dortigen Einsammeln und Verwerten von Plastikabfällen (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke lässt sich die Plastikvermüllung der Meere im weltweiten [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn ihr Maßstab reduzieren. Dabei ist die Verbrennung von Plas- wenigstens etwas machen würdet, wäre das tikabfällen aus Kostengründen erfolgversprechender und okay!) daher dem Recycling vorzuziehen. Aber auch das will ich sagen: Der Antrag zur Vermüllung Im Vergleich zu den afrikanischen und asiatischen der Meere enthält auch eine Reihe sinnvoller Vorschläge Staaten ist die Plastikvermüllung der Meere durch die im internationalen Bereich, Staaten der Europäischen Union gering. Der Eintrag (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- von Makroplastik beispielsweise in die deutschen Nord- NEN]: Auch im nationalen!) see- und Ostseegewässer findet in der Regel illegal statt. Wegwerfartikel aus Plastik wegen mancher illegaler über die wir gerne diskutieren können. Eine erste Gele- Entsorgung grundsätzlich zu verbieten, würde einem genheit dazu haben wir beim Fachgespräch zum Thema grundsätzlichen Verbot des Autofahrens wegen Fahrens „Ocean Governance“ im Umweltausschuss am 13. Fe- mancher Bürger ohne Führerschein gleichkommen. Ein bruar 2019. Dann können wir zusammen weiter agieren. Verbot trifft rechtstreue und straffällige Bürger gleicher- Vielen Dank. maßen. Das ist aus unserer Sicht unverhältnismäßig. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der AfD) ordneten der SPD) Bezüglich Mikro- und Nanoplastik muss wissenschaft- lich belegt werden, ob und, wenn ja, welche gesundheit- Vizepräsidentin : lichen Auswirkungen sie auf lebende Organismen haben. Vielen Dank, Marie-Luise Dött. – Einen schönen Tag, Die Forschung dazu steckt in den Kinderschuhen. liebe Kolleginnen und Kollegen! – Der nächste Redner Alles in allem sind viele Forderungen der Grünen von der und für die AfD-Fraktion: Andreas Bleck. nicht gerechtfertigt. Stattdessen werden die Grünen wie- (Beifall bei der AfD) der einmal ihrem Ruf als Verbots- und Sanktionspartei gerecht. Eine Abgabe auf Wegwerfartikel aus Plastik folgt dem bewährten Motto „Dramatisieren, Drangsalie- Andreas Bleck (AfD): ren, Abkassieren“. Schönen guten Tag, Frau Präsidentin! Werte Kolle- ginnen und Kollegen! Plastik ist weder gut noch böse. (Beifall bei der AfD) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9165

Andreas Bleck (A) Der Einfallsreichtum der Grünen kennt dabei keine wenn man sich nicht hinter nationale Grenzen zurück- (C) Grenzen. Ob teure Energiewende nebst Ausstieg aus der zieht, sondern die Dinge international angeht. Kohle- und Kernenergie oder die geplanten CO2- und Plastiksteuern, letztendlich wird der Bürger zur Kasse (Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ gebeten. Darüber hinaus wird ein Tempolimit auf Auto- CSU, der FDP, der LINKEN und des BÜND- bahnen gefordert, um den Eintrag von Mikroplastik zu NISSES 90/DIE GRÜNEN – Karsten Hilse reduzieren. „Freie Fahrt für freie Bürger“ soll, wenn es [AfD]: In der Energiewende machen Sie ge- nach den Grünen geht, abgeschafft werden. Inwieweit nau das! Niemand folgt uns!) der Eintrag von Mikroplastik dadurch reduziert werden Das war die erste Bemerkung. – Wenn Sie eine Zwi- kann, ist wissenschaftlich ebenfalls nicht belegt; aber schenfrage stellen wollen, dann melden Sie sich halt. Hauptsache mal ein Tempolimit gefordert. (Beatrix von Storch [AfD]: Wollte er aber gar Tatsächlich wird der höchste Eintrag von Mikroplastik nicht!) nach Studien des Fraunhofer-Instituts vom Reifenabrieb verursacht. Daher setzen wir auf die Innovationsfähigkeit Die zweite Bemerkung. In Ihrer Rede war ein gewis- der Reifenhersteller zur Erforschung anderweitiger Ma- ser Widerspruch vorhanden. Zuerst haben Sie gesagt, terialien, die den Abrieb verringern und damit die Halt- die Verbrennung von Plastik sei günstiger und deswegen barkeit verlängern. vorzuziehen, und nachher sind Sie trotzdem für höhere Recyclingquoten eingetreten. Das habe ich nicht verstan- (Beifall bei der AfD) den. Auch die Erhöhung der Recyclingquote von Plastik­ Ich finde es richtig, dass man sagt – diesen Weg geht abfällen in Deutschland unterstützen wir als richtigen jetzt auch die Europäische Union –: Unsinniges Plastik, und wichtigen Schritt. Allerdings ist den Meeren, die dessen Einsatz ökologisch unverantwortlich ist, muss von der Plastikvermüllung bereits stark betroffen sind, verboten werden. – Das haben wir unterstützt, das wer- mit dieser Prävention nur bedingt geholfen. Aus diesem den wir weiter unterstützen. Das ist der richtige Weg. Grund müssen wir trotz Rückschritten, wie beim Projekt (Beifall bei Abgeordneten der SPD) „Ocean Cleanup“, innovative Projekte zur Säuberung der Meere fördern. Wenn Plastik zum Einsatz kommt – es gibt viele Berei- che, wo Plastik notwendig und auch ökologisch vorteil- Zu guter Letzt möchte ich noch auf Folgendes hinwei- hafter ist –, gehört es anschließend recycelt und nicht sen: verbrannt. Vor allem gehört es nicht in die Umwelt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (B) Vizepräsidentin Claudia Roth: (D) Aber kurz. Wir haben mit dem Verpackungsgesetz jetzt zum ersten Mal die Recyclingquoten spürbar angehoben. Ich finde das richtig, weil es ein Unding ist, dass viele Andreas Bleck (AfD): Menschen den Müll trennen und sich ökologisch verhal- Mit dem Ökologismus verhält es sich wie mit allen ten, doch zwei Drittel des gesammelten Plastiks, wie es anderen Tugenden: Man verpflichtet andere nicht dazu, so schön heißt, der thermischen Verwertung zugeführt sondern handelt selbst danach. Führung durch Vorbild, werden dürfen, was nichts anderes heißt, als dass es nur das ist glaubwürdig. verbrannt wird. Wir drehen künftig das Verhältnis um. Das setzt aber voraus, dass das Plastik, das gesammelt Vielen Dank. wird, recycelbar ist. Deswegen haben wir mit dem Verpa- (Beifall bei der AfD) ckungsgesetz eine entscheidende Wende vorgenommen: Wir bevorteilen ökologisch sinnvolle, leicht zu recy- celnde Verpackungen und pönalisieren die anderen aus Vizepräsidentin Claudia Roth: irgendwelchen Gemischen, die man nicht recyceln kann. Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner für die Das ist der richtige Ansatz, um zu effektiven und guten Bundesregierung: der Parlamentarische Staatssekretär Veränderungen zu kommen. Florian Pronold. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) CDU/CSU) Genauso wie Sie habe auch ich die Berichte über die Probleme, die mit dem Müllexport einhergehen, gesehen. Florian Pronold, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- Ich finde, wir können nicht einfach so tun, als gebe es ministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicher- das nicht. Da muss gehandelt werden. Aber, liebe Grü- heit: ne, ich weise Sie auf Folgendes hin: Die Gesetzeslage Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! haben wir in den letzten Jahren entsprechend verändert Liebe Kollegen! Ich bin ja froh, dass die AfD zumindest und verschärft. Das, was dort geschildert wird, sind il- beim Meeresschutz erkennt, dass internationale Zusam- legale Praktiken. Ich finde, wir sollten gemeinsam da- menarbeit wichtig ist. Es wäre gut, wenn man auch bei rauf schauen – denn das liegt in der Verantwortung der anderen Themen auf den Gedanken käme, dass man Länder –, dass auch kontrolliert wird. Ich habe den Ein- Probleme, die die ganze Welt betreffen, nur lösen kann, druck, dass es da große Defizite gibt. Ein gutes Gesetz 9166 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Parl. Staatssekretär Florian Pronold (A) hilft nichts, wenn seine Einhaltung nicht kontrolliert in die Weltmeere gelangt. Während die Kunststoffkreis- (C) wird. Ich finde, es wäre fair, in dieser Debatte darüber läufe in Deutschland mit über 97 Prozent fast vollständig zu reden – da sollten wir ansetzen –, wie wir tatsächliche geschlossen sind, Verbesserungen erreichen können. Es geht nicht nur um die richtigen Gesetze, sondern auch um den Vollzug. (Christian Dürr [FDP]: So ist es!) Eine letzte Bemerkung, die sich auf die internationale werden in Entwicklungs- und Schwellenländern Abfälle, Meeresvermüllung bezieht: Ich bin der früheren Umwelt- die keinen oder nur einen niedrigen Ressourcenwert ha- ministerin Barbara Hendricks sehr dankbar für ihre Ini- ben, in Flüssen entsorgt oder einfach ins Meer gekippt. tiative, die dazu geführt hat, dass wir auf internationaler So ist es nicht verwunderlich, dass 90 Prozent des Plas- Ebene, bei G 7 und G 20, das Thema Meeresvermüllung tikeintrags in die Weltmeere über Flüsse in Asien und an die erste Stelle gesetzt haben. Afrika erfolgt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der In Deutschland verstehen wir Müllentsorgung als Teil CDU/CSU) der Daseinsvorsorge und somit als staatliche Aufgabe. Ohne die Initiative Deutschlands wäre auf diesem Gebiet Zudem besitzen die Bürgerinnen und Bürger in Deutsch- weltweit so gut wie nichts passiert. Nun gibt es eine Viel- land ein hohes Umweltbewusstsein. Ungeachtet dessen zahl von Initiativen und Vereinbarungen. wird ihnen jetzt vorgespielt, dass mit dem Verzicht auf Plastiktüten, Trinkhalme oder Ohrenstäbchen die Welt (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) gerettet werden kann. Auch wir haben in unseren Haushaltsberatungen be- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten schlossen, dass wir im Rahmen der internationalen Zu- der AfD) sammenarbeit zukünftig 50 Millionen Euro aufwenden werden, um die Haupteintragsquellen für die Meeresver- Ich will ganz ehrlich sein: Ich warte eigentlich noch müllung anzugehen. darauf, dass jemand von Ihnen, von den Grünen, hier die Plastikwende ausruft; das fehlt eigentlich noch. Es tobt Eine allerletzte Bemerkung. Ich kann mich noch gut bereits der Kulturkampf ums Auto. Sie, liebe Kollegin- an die Debatte über das Wertstoffgesetz erinnern, liebe nen und Kollegen von den Grünen, nutzen das Thema Grüne. Ich hätte mich gefreut, wenn die Grünen damals und fordern hier wieder einen Ihrer Greatest Hits: ein nicht blockiert hätten. Wenn Sie nicht blockiert hätten, Tempolimit auf deutschen Straßen. Ich muss Sie leider hätten wir nicht nur Verpackungen, sondern auch andere enttäuschen: Nicht mit uns! Wertstoffe aus Plastik in dieses Gesetz einbeziehen kön- (B) nen. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (D) (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der AfD) der CDU/CSU) Wir Freien Demokraten verfolgen einen anderen An- satz. Statt die Bürgerinnen und Bürger mit immer neuen Vizepräsidentin Claudia Roth: Verboten, Quoten und staatlichen Abfallzielvereinbarun- Vielen Dank, Florian Pronold. – Nächster Redner für gen zu konfrontieren, bekämpfen wir die tatsächlichen die FDP-Fraktion: Frank Sitta. Ursachen. (Beifall bei der FDP) (Beifall bei der FDP – Katharina Dröge [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Langweilig!) Frank Sitta (FDP): Dabei setzen wir konsequent auf zwei Dinge: Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verschmutzung der Weltmeere durch Plas- Erstens setzen wir auf internationale Abkommen, aber tik ist ohne Zweifel eines der größten Umweltprobleme auch auf Know-how-Transfer, um Entwicklungs- und unserer Zeit und stellt uns vor eine globale Herausforde- Schwellenländer in die Lage zu versetzen, Abfall fach- rung. Hierzu hat meine Fraktion bereits im letzten Jahr und sachgerecht zu entsorgen. einen Antrag vorgelegt. Nun also haben auch die Grünen das Thema entdeckt Zweitens setzen wir auf Forschung und Erprobung innovativer Technologien: abriebfestere Reifen statt (Widerspruch bei Abgeordneten des BÜND- ideologisch motivierte Tempolimits, innovative Klär- NISSES 90/DIE GRÜNEN) anlagenfilter statt Mikroplastikverbote oder innovative und nutzen die Gelegenheit direkt, um auch uns das böse Kunststoffrecyclingsysteme in Schwellenländern statt Plastik auszutreiben. pauschale Exportverbote. (Christian Dürr [FDP]: So ist es! – Steffi (Beifall bei der FDP) Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen Sie selber lachen!) So und nur so werden wir unserer Verantwortung und unserem Anspruch als Forschungs- und Industrienation Um das Problem des Plastiks in den Weltmeeren zu gerecht. Meine Damen und Herren, das ist nachhaltig, lösen, müssen wir gezielt den Blick auf die tatsächlichen das ist zukunftsorientiert; immer neue Verbote, Strafzah- Ursachen und Regionen richten, aus denen derzeit Plastik lungen und willkürlich ausgewählte Produkte, staatlich Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9167

Frank Sitta (A) festgelegte Abfallmengen oder Quoten sind es jedenfalls Auch die Appelle an die Bürgerinnen und Bürger hel- (C) nicht. fen nicht, wenn einige achtlos Kippen, Abfälle und Tüten fallen lassen. Kenia, Ruanda, etliche afrikanische Länder Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. haben Plastiktüten verboten. In Singapur warten horren- (Beifall bei der FDP) de Strafen, wenn man Müll achtlos entsorgt. (Frank Sitta [FDP]: Das findet ihr gut!) Vizepräsidentin Claudia Roth: Deutschland ist schon lange kein Vorbild mehr. Des- Vielen Dank, Herr Kollege Sitta. – Nächster Redner wegen begrüßt Die Linke die Anträge der Grünen „Stra- für die Fraktion Die Linke: Ralph Lenkert. tegie gegen Plastikmüll jetzt umsetzen“ und „Verschmut- (Beifall bei der LINKEN) zung der Meere – Plastikflut unverzüglich stoppen“ als längst überfällig. Ralph Lenkert (DIE LINKE): (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geehrte Kolleginnen neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und Kollegen! Die Bilder von an Plastiktüten krepierten Wir freuen uns, dass viele Forderungen der Grünen de- Schildkröten gehen uns nicht aus dem Kopf, und jeder ckungsgleich mit Forderungen der Linken sind. von uns erschrickt, wenn er die riesigen Müllstrudel in den Ozeanen sieht. Doch was folgt daraus? Wie die Stru- (Frank Sitta [FDP]: Huch!) del drehen sich Gesellschaft und Politik in Deutschland Wir stimmen beispielsweise überein, dass die Pfand- im Kreis, wenn es um Müllvermeidung geht. Wir sind pflicht auf alle Einwegflaschen ausgedehnt werden muss. sehr gut bei Recyclingquoten, aber bei der Abfallmenge eben auch. Deutschland ist leider Europameister beim (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Auch auf die ro- Verpackungsmüll: 220 Kilogramm pro Einwohner und ten? – Heiterkeit bei Abgeordneten der AfD) Jahr. 70 Prozent werden zwar recycelt; trotzdem bleiben Wir sind der Meinung, sie muss auf alle Getränke ausge- 66 Kilogramm Abfall, und ein Teil geht über die Flüsse dehnt werden. ins Meer. Wir fordern, dass die Wertstofftonne kommunal wird. (Christian Dürr [FDP]: In Deutschland? Wo Diese Wertstofftonne erfasst dann mehr Abfälle, die Ge- denn genau?) winne kommen den Kommunen zugute und senken die Abfallgebühren; das ist ein richtiger Schritt. 600 000 Kubikmeter Müll liegen auf dem Grund der Nordsee; ein großer Teil stammt aus Deutschland. (Beifall bei der LINKEN) (B) (D) (Christian Dürr [FDP]: Es ist ja richtig, das Die Zielstellung, dass wir 2030 pro Kopf und Jahr Problem anzugehen! Aber Quatsch zu erzäh- unter 10 Kilogramm Verpackungsmüll erzeugen sollen, len, geht gar nicht!) ist vernünftig. Dafür brauchen wir auch Regelungen für mehr Mehrweg statt Einweg. All diese Forderungen un- Statt auf Plastikvermeidung und Verpackungsreduzie- terstützt Die Linke. rung setzt die deutsche Industrie auf Wettbewerbsfreiheit und weniger Vorschriften. Und die Regierung? Die spart Zusätzlich brauchen wir stärkere Umweltbehörden: beim Vollzug, verwässert Gesetze und Grenzwerte. Und Wir brauchen Personal, das gegen illegale Müllentsor- dann – scheinheilig – appelliert die Bundesregierung an gung vorgeht. Wir brauchen Personal in Zollbehörden, die Verbraucherinnen und Verbraucher, sie mögen doch die illegale Müllexporte verhindern. ein höheres Umweltbewusstsein entwickeln. Viele von (Zuruf von der AfD: Wir brauchen eher Per- uns trennen fleißig den Müll, bestellen aber gedankenlos sonal gegen Rauschgiftschmuggel!) online Produkte, die sie nicht selten wieder zurücksen- den. Und wir brauchen auch Personal, welches das achtlose Wegwerfen ein bisschen unterbindet; denn leider ist das (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Die werden in der Bewusstsein nicht bei allen da. gleichen Verpackung zurückgesendet!) Und wir brauchen natürlich auch längere Nutzungs- Wenn Handelskonzerne aus Logistikgründen einen zeiten für technische Geräte; das ist Ressourceneinspa- USB-Stick in ein 15 mal 20 Zentimeter großes Plastik- rung. teil einschweißen, wenn ein neu gekauftes Hemd in einer Kiste kommt, in die ein Staubsauger passen würde, wenn (Beifall bei der LINKEN) die neue Waschmittelverpackung nur zur Hälfte befüllt Als Techniker kann ich es nicht verstehen, dass man eine ist, dann ist das Verpackungsmittelverschwendung, und IKEA-Leselampe nach zwei Jahren wegwerfen muss, diese Verschwendung kann man durch Vorschriften än- weil es unmöglich ist, den kaputtgegangenen Leuchtkör- dern. Selbst ein umweltbewusster Bürger hat in diesem per zu ersetzen. So etwas muss verboten werden, Land keine Chance, Verpackungsmüll komplett zu ver- meiden. (Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- NEN]) neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) technische Geräte müssen reparierbar und upgradebar Verpackungen sind einfach zu billig. sein. 9168 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Ralph Lenkert (A) Wir fordern weiter regionale Kreisläufe; das spart Björn Simon (CDU/CSU): (C) Transporte, das spart Reifenabrieb. Und wenn hier je- mand sagt, er will die Reifen härter machen, dann soll er Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol- einmal einen Autoexperten in seiner Fraktion fragen, was legen! Etwas Positives hat das Thema ja: Anscheinend der dazu sagt. Dann verlängert sich nämlich der Brems- sind wir hier im Haus einer Meinung darüber, dass Plas- weg. Wenn bei härteren Reifen der Bremsweg gleich tikmüll in unseren Meeren nichts zu suchen hat. Trotz- lang bleiben soll, dann müssten Sie über ein Tempolimit dem debattieren wir hier über eines der größten globalen auf den Autobahnen nachdenken. Das wollen Sie nicht. Probleme unserer Zeit. Wir alle kennen die Videos und Also lassen Sie uns zumindest die Transportmengen re- Fotos von Stränden auf der ganzen Welt, die im Plas- duzieren; dann haben wir auch etwas gegen den Reifen- tikmüll versinken. Ein über 1 Million Quadratkilometer abrieb getan. großer Müllteppich treibt in unseren Ozeanen; das ent- (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- spricht der Fläche von Ägypten. Selbst in den entlegens- neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) ten Regionen – das wurde schon gesagt –, selbst in der Arktis wird man fündig. Ich kann auch nicht verstehen, warum man in der Bun- desrepublik kein Verbot von Tüten durchsetzen kann wie Daran sehen wir doch, dass unser Wissen über das in Ruanda oder Kenia. Sind wir denn so viel unfähiger, gesamte Ausmaß der globalen Umweltverschmutzung Ersatz dafür zu finden, als diese afrikanischen Länder? durch Plastikmüll begrenzt ist. Uns fehlen gesicherte Das sollte uns doch möglich sein. Wir sind schließlich Kenntnisse über die Herkunft von Kunststoffen in den ein Hochtechnologieland. Meeren, deren Verhalten in Meeren, in Binnengewäs- (Beifall bei der LINKEN) sern, aber auch im Boden sowie über die Auswirkungen auf Menschen, Tiere und die Pflanzenwelt. In der Fol- Natürlich sind wir der Meinung, dass wir keinen Müll ge beauftragen wir die Forschung nicht nur – das wurde mehr ins Ausland exportieren dürfen. Müll, der hier an- auch schon richtig gesagt –, um mehr über die Dimensi- fällt, muss hier beseitigt und entsorgt werden. onen der Vermüllung an sich zu erfahren, sondern auch, (Beifall bei der LINKEN) um konkret Gegenmaßnahmen zu entwickeln, um Plas- tikeinträge in die Umwelt substanziell zu verringern. Statt Müll zu exportieren, sollten wir Recyclinganlagen und Entsorgungssysteme in Entwicklungsländer und an- Eines der größten Forschungsprojekte weltweit in dere Länder liefern. Das schont die Umwelt und schützt diesem Bereich trägt den Titel „Plastik in der Umwelt – unsere Meere. (B) Quellen, Senken, Lösungsansätze“ und wird bereits seit (D) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Oktober 2017 durch das Bundesministerium für Bildung neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) und Forschung mit rund 35 Millionen Euro gefördert. Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, Umweltschäden (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) treffen immer zuerst die, die am wenigsten dafür kön- nen. Die Meeresverschmutzung trifft Wasserlebewesen Damit trägt Deutschland dazu bei, die biologische Ab- wie Fische und Meeressäuger, anschließend Fischer. Die baubarkeit bestimmter Kunststoffe signifikant zu verbes- Menschen in den ärmsten Ländern können sich dann sern, sodass ein vollständiger Abbau ohne Gefährdung Fisch nicht mehr leisten. In Folge steigen die Preise, es für Umwelt und Gesundheit erfolgen kann. Aber: Die gibt Hunger und Flucht. Vermüllung der Weltmeere ist globalen Ursprungs. Mee- Wir alle kennen die negativen Folgen der Politik, die resströmungen, Gezeiten, Winde tragen naturgemäß dazu die Plastikflut nicht eindämmt. Wir alle – fast alle – fin- bei, dass sich Plastikabfall weltweit verteilt. Einzelne den, es ist an der Zeit, zu handeln. Diese Zeit ist gekom- Staaten alleine haben beim Kampf gegen die Vermüllung men. Deswegen bitte ich Sie, die Anträge der Grünen keine Chance. zu unterstützen. Und ich bitte die Union – und Sie, Frau Dött –: Verlassen Sie den Kreisel der Selbstzufriedenheit Die europäische Plastikstrategie ist an dieser Stelle ein mit dem Erreichten und das Verstecken hinter internati- sehr wichtiger Schritt. Natürlich gibt es umweltschonen- onal notwendigen Vereinbarungen! Handeln Sie hier in dere Alternativen zu Einweggeschirr, Plastikbesteck oder unserem Lande; es ist bitter nötig. beschichteten Pappbechern. Es bringt uns jedoch nicht Vielen Dank. weiter, einen europäischen Wettlauf um Produktverbote zu starten, um einzelne Produkte zu verbieten. Unsere (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Aufgabe ist es, Anreize zu schaffen. Was wir brauchen, neten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) sind ökologisch bessere und für den Verbraucher auch bezahlbare Alternativen, damit er oder sie sich beim Vizepräsidentin Claudia Roth: nächsten Einkauf auch entscheiden kann. Vielen Dank, Ralph Lenkert. – Nächster Redner: (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke Björn Simon für die CDU/CSU-Fraktion. [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müs- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) sen Sie Plastiksubventionen abschaffen!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9169

Björn Simon (A) Liebe Grüne, wir brauchen uns übrigens beim Um- – Doch. Natürlich widersprechen sich verschiedene Stu- (C) weltschutz nicht zu verstecken. Deutschland nimmt in dien; wir können uns gerne zusammensetzen und die vielen Bereichen eine Vorreiterrolle ein; wir sind ganz verschiedenen Studien übereinanderlegen. Aber jetzt hier vorne mit dabei. eine Studie zu nennen, die das Gegenteil beweisen soll, ist nicht fair, nein. (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! – (Beifall bei der CDU/CSU) Helin [DIE LINKE]: Das ist nicht so!) Also noch einmal: Unser Pfandsystem für Mehrweg- Das hören Sie zwar nicht gerne; aber auf diese Vorreiter- flaschen ist weltweit einmalig. Unsere Verpackungsver- rolle dürfen wir ruhig auch einmal stolz sein. ordnung ist Grundlage für ein sehr effizientes System der flächendeckenden Sammlung, des Verwertens und des Recyclings. Wir arbeiten stetig daran, die Kreislaufwirt- Vizepräsidentin Claudia Roth: schaft weiterzuentwickeln und den Kreislauf weiter zu Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder schließen, um durch recyclingfähiges Design, effizienten Bemerkung von Herrn Krischer, Fraktion Bündnis 90/ Materialeinsatz, verstärkten Recyclingeinsatz und um- Die Grünen? fassende Sortiersysteme auf Plastik zu verzichten. Am Ende muss gelten: Vermeiden ist besser als Wiederver- Björn Simon (CDU/CSU): wenden, Wiederverwenden ist besser als Recycling, und Herr Krischer, bitte. Recycling ist besser als Verbrennen. (Karsten Hilse [AfD]: Na bitte! Das wollen Genau dieses Bewusstsein im Umgang mit Kunststoff- wir doch hören!) müll fehlt den meisten Schwellen- und Entwicklungslän- dern; sie verfügen schlicht über kein Entsorgungssystem, Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): teilweise weil sie es nicht besser wissen, teilweise weil sie andere Prioritäten setzen. Als Deponien dienen oft- Herr Kollege, Sie haben gerade gesagt, Deutschland mals Flüsse. hätte eine Vorreiterrolle. Eben gab es auch schon Bemer- kungen, zum Beispiel von Herrn Sitta, 97 Prozent des (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Suchen verwendeten Plastiks befänden sich im Recyclingkreis- Sie doch keinen Sündenbock dafür!) lauf. Ich habe eine aktuelle Studie des Wuppertal Ins- titutes gelesen, zu der es keinen Widerspruch aus dem Dem Kollegen von den Linken, der gerade gesagt hat, (B) Umweltministerium gab. Darin kommt man zu dem Er- dass in Deutschland viel Abfall und viel Plastik in den (D) gebnis, dass 94 Prozent des bei uns eingesetzten Plastiks Flüssen landet, kann ich nur sagen: Das ist in den großen entweder verbrannt oder exportiert wird – im Moment Industrienationen, gerade in Asien, aber auch in afrikani- im Wesentlichen nach Malaysia; wo es dann landet, kann schen Staaten, der Fall. Der Abfall wird ins Meer gespült, man sich ja vorstellen – wo sich dieser durch die Meeresströmung weiter verteilt. (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Ja, die kaufen das, Hier müssen wir ansetzen. um es dann in die Meere zu schmeißen!) Liebe Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen, mit den und nur 6 Prozent tatsächlich recycelt werden. Meine vorliegenden Anträgen machen Sie es sich in unseren Frage an Sie: Wie können Sie angesichts dieser Tatsa- Augen viel zu einfach, nicht nur, dass die beiden Anträge che, dieser eindrucksvollen Zahlen hier behaupten, dass in ihrer Grundforderung quasi deckungsgleich sind. Deutschland ein Vorbild beim Thema „Umgang mit Plas- tik“ ist? Das würde ich einfach mal gerne hören. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Nein, sind sie nicht! Dann haben Sie (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sie nicht gelesen! Das ist ganz offensichtlich!) sowie bei Abgeordneten der SPD) Mit dem umfangreichen Maßnahmenkatalog werden Sie Björn Simon (CDU/CSU): Ihrem Ruf als Verbots- und Regulierungspartei leider Sehr geehrter Herr Kollege, ich kann das unterstrei- wieder einmal gerecht. Dabei übersehen Sie die vielen chen, was der Kollege Sitta schon gesagt hat. Gerade bei positiven Entwicklungen und Anstrengungen in unserem PET-Flaschen besitzen wir eine Vorreiterrolle, und das Land in Gänze. Bestehenden und gerade anlaufenden international gesehen. Die Ziele, die die Europäische Maßnahmen geben Sie erst gar nicht die Chance, ihre Union jetzt für die nächsten Jahre fordert, übertreffen wir Wirkung zu entfalten. schon heute über die Maßen. (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ NEN]: Welche denn? Was ist denn angelau- CSU]) fen?) Wir sind bei einer Recyclingquote von 98 Prozent. Was mich dann doch sehr irritiert und sogar verärgert (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hat bei der Lektüre Ihrer beiden Anträge, vor allem bei NEN]: Nein, das ist falsch! Was ist die Quelle der Lektüre des Antrags „Strategie gegen Plastikmüll für die Zahlen?) jetzt umsetzen“, ist: Hier fordern Sie eben mal so unter 9170 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Björn Simon (A) Punkt 17, „ein deutschlandweites Tempolimit auf Bun- können Sie mir glauben – an unterlassener Hilfeleistung, (C) desautobahnen einzuführen“, und zwar weltweit. (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Keine schlech- (Beifall bei der AfD) te Idee! – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie nicht verstanden! Was haben Sie hier im Haus in den letzten 20 Jahren ge- Herr Lenkert hat es doch eben erklärt!) gen diese Verschmutzung der Meere unternommen? was der Debatte widerspricht. Unter dem Deckmantel Der Antrag der Grünen bezieht sich auf Deutschland der Plastikvermüllung der Weltmeere wird hier wieder und die EU. Die Europäer sind aber nur für circa 2 Pro- einmal versucht, das Autofahren in Deutschland unat- zent des Plastikmülls in den Weltmeeren verantwortlich. traktiver zu machen und den Menschen in ihrem Land Circa 80 Prozent des weltweiten Plastikmülls werden aus vorzuschreiben, wie sie sich zu verhalten haben. zehn Flüssen in die Weltmeere geschwemmt; acht die- ser Flüsse sind in Asien, vier davon in China. In vielen Ländern Asiens sind für große Teile der Bevölkerung nur Vizepräsidentin Claudia Roth: Produkte aus Plastik bezahlbar. Man kennt das aus Thai- Denken Sie bitte an Ihre Redezeit. land: Schuhe aus Plastik, Möbel aus Plastik, Jacken, Ge- schirr aus Plastik – alles aus Plastik. Gleichzeitig gibt es dort keine geregelte Müllentsorgung, wie wir sie in Euro- Björn Simon (CDU/CSU): pa kennen. Der Müll landet dann in den Flüssen oder auf Das ist nicht die Art und Weise meiner Fraktion, mit dem Festland. Und genau diese Zustände können wir von den Menschen in unserem Lande umzugehen. Wir bauen Berlin aus nicht ändern. auf eine funktionierende Kreislaufwirtschaft, eine ausge- dehnte Forschung und eine zielgesteuerte Entwicklungs- (Beifall bei der AfD) hilfe. Ein positives Beispiel für internationale Zusammen- Herzlichen Dank. arbeit ist die Handelsschifffahrt. Alle Schiffe führen mittlerweile Tagebuch über Müllabgaben entsprechend (Beifall bei der CDU/CSU) den Vorschriften der International Maritime Organiza- tion, kurz IMO. Jedes Einleiten von Müll mit umwelt- Vizepräsidentin Claudia Roth: schädlichen Stoffen ist verboten und wird strengstens Vielen Dank, Herr Kollege Simon. – Nächster Redner bestraft. Mehr kann man in der Seeschifffahrt momentan in der Debatte: Andreas Mrosek für die AfD-Fraktion. auch nicht tun. Ein noch ungelöstes Problem sind jedoch (B) Zehntausende von Fischerbooten in allen Küstenländern (D) (Beifall bei der AfD) der Erde. Ein nicht unbeträchtlicher Teil des Plastikmülls stammt aus der Fischerei. Andreas Mrosek (AfD): Meine Damen und Herren, eine Welt ohne Kunst- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Hohes Haus! Die Ver- stoffe ist nicht vorstellbar. Es gibt aber Lösungsansät- schmutzung der Meere mit Plastik ist eine globale Kata- ze. Wir brauchen neue Kunststoffe, die sich im Wasser strophe. Es wäre schön, wenn Politiker weltweit dieses oder durch UV-Strahlung zersetzen. Solche Kunststoffe Problem anpacken würden. Die AfD unterstützt alle Initi- gibt es bereits, aber sie sind im Vergleich mit Erdölpro- ativen zum Schutz der Umwelt, wenn diese auch wirklich dukten noch zu teuer. Wir brauchen hierzu eine gezielte sinnvoll sind. Forschung, damit die langlebigen Kunststoffe aus Erdöl schnellstens ersetzt werden können. (Beifall bei der AfD) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Der Plastikmüll im Meer ist aber kein neues Problem. Als Seemann habe ich schon in den 80er-Jahren feststel- (Beifall bei der AfD) len müssen, dass die Weltmeere wie eine gebührenfreie Müllkippe behandelt werden. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Haben Vielen Dank, Andreas Mrosek. – Nächster Redner für Sie sich mit Ihrer Fraktion abgestimmt? Ihr die SPD-Fraktion: Michael Thews. Kollege hat was ganz anderes gesagt!) (Beifall bei der SPD) Ich war erschüttert, als ich mit eigenen Augen sehen musste, wie verschmutzt die Flüsse und Seegebiete in anderen Regionen der Welt sind. Das liegt bereits einige Michael Thews (SPD): Zeit zurück; aber in vielen Regionen ist es noch schlim- Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- mer geworden. Seit 40 Jahren berichten die Medien legen! Plastikmüll im Meer, das ist eine globale Heraus- über die Verschmutzung der Ozeane. Im Jahr 1988 ha- forderung, das ist eine Gefahr für unsere Ökosysteme, ben deutsche Meeresbiologen auf den Plastikmüll in der für Tiere, für Menschen, für unseren Planeten. Deswegen Nordsee aufmerksam gemacht. Der große Pazifik-Müll- macht es mich auch wütend – das wurde vorhin schon fleck ist ein gigantischer Strudel aus treibendem Plastik; angesprochen –, dass wir Hausmüll auf einer Deponie in er wurde bereits 1997 entdeckt. Die Meere leiden – das Malaysia wiederfinden. Ich will das an dieser Stelle ein- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9171

Michael Thews (A) mal ganz klar sagen: Das darf nicht sein. Solche Dinge Das hat Auswirkungen. Herr Lenkert hat gesagt, wir (C) müssen wir beenden. sollten uns nicht ausruhen. Nein, wir müssen beobach- ten, was jetzt passiert. Die Industrie investiert wieder in (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU so- bessere Sortier- und Recyclinganlagen. Das ist lange Zeit wie bei Abgeordneten der LINKEN und des in Deutschland nicht geschehen. Auf der Grünen Woche BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) habe ich gesehen, dass die Handelskonzerne jetzt anfan- gen. Jeder merkt das ja in seinem Laden vor Ort: Es gibt Nun gibt es aber auch ganz klare Gesetze. Es wurde jetzt Netze, in die ich mein Gemüse packen kann. Es gibt gerade schon angesprochen: Wir haben das Basler Über- Produkte, die per Laser gekennzeichnet werden, damit einkommen, wir haben die Abfallverbringungsverord- sie nicht mehr in Plastikfolie eingeschweißt werden müs- nung, und die klären, was überhaupt in andere Länder sen. Das sind gute Entwicklungen, die auch durch das transportiert werden darf. Darin steht, dass man Kunst- Verpackungsgesetz in Gang gebracht wurden. stoffabfälle transportieren darf. Diese müssen aber sau- ber sein; es müssen saubere Fraktionen sein. Man muss (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der sich aber auch mit der Frage auseinandersetzen, ob diese CDU/CSU) Länder in der Lage sind, diese Abfälle zu entsorgen. Die- se Regelungen haben wir heute schon. Der Vollzug ist Das Ganze geht noch weiter. Wir werden dieses Jahr durch die Länder zu regeln. die größte Kunststoffmesse in Deutschland haben. Auch die Hersteller von Extrudern, die Kunststoffprodukte Wenn die Grünen hier jetzt ein Moratorium fordern, herstellen, stellen sich auf recyceltes Material ein. Das dann sage ich: Lassen Sie uns doch eine Initiative star- heißt, dass das, was wir wollen, nämlich dass diese Mate- ten, damit in den Ländern, in denen Sie Verantwortung rialien im Umlauf bleiben, dass sie recycelt werden, viel tragen, diese Kontrollen durchgeführt werden. Firmen stärker stattfindet. Wir werden im Auge behalten, ob das, müssten dann Verträge vorlegen, wenn sie Abfälle ins was wir jetzt in Gang gesetzt haben, wirkt. Wir werden Ausland bringen. Sie müssten klarstellen, dass diese das kontrollieren und gegebenenfalls auch nachschärfen. Abfälle gereinigt sind und dass sie dort entsorgt werden. Lassen Sie uns doch eine solche Initiative starten! Dann (Beifall bei der SPD) brauchen wir das Moratorium nicht. In der EU – wir haben es gerade gehört – kommt jetzt (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der die Einwegplastikrichtlinie. Es ist gut, dass die EU das CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/ macht. Ich finde das genau richtig; denn es gibt genü- DIE GRÜNEN]: Sie wissen, dass die nicht zu gend Alternativen zu diesen Produkten, und die sollten reinigen sind, Herr Kollege!) wir dann auch nutzen. Lange wurde Deutschland zum (B) Beispiel für die Pfandpflicht belächelt. Mittlerweile wird (D) Wir haben in der letzten Legislaturperiode das Verpa- anerkannt, dass wir dort den richtigen Weg gehen. Aber ckungsgesetz verabschiedet, das jetzt in Kraft getreten natürlich wird das nicht reichen. Wir brauchen auch in- ist. Sie haben leider dagegen gestimmt. Ich fand das da- ternationale Initiativen – Barbara Hendricks wird gleich mals sehr schade; denn Sie haben damit gegen stärkere noch einiges dazu sagen –, weil wir wissen, dass gera- Recyclingquoten gestimmt. Das Verpackungsgesetz sieht de im asiatischen Raum viele Länder große Mengen an eine klare Kennzeichnung von Mehrweg und Einweg im Plastik in die Weltmeere emittieren. Regal vor. Der Verbraucher kann also entscheiden, ob er Mehrweg oder Einweg will. Auch dagegen haben Sie Ich bin sehr froh, dass wir im Haushalt 50 Millionen gestimmt. Die Rechte der Kommunen wurden gestärkt; Euro bereitgestellt haben, um die Bekämpfung des Plas- denn sie können die Einführung der Wertstofftonne jetzt tikmülls in den Weltmeeren voranzutreiben. Ich glaube, gegen die dualen Systeme durchsetzen. Das steht in Ih- es geht in die richtige Richtung, wenn wir auf internati- rem Antrag, ist aber auch Bestandteil des Verpackungs- onalen Konferenzen weiter daran arbeiten. Viele Kolle- gesetzes. gen haben ja damals an der Ocean Conference in New York teilgenommen. Es war sehr gut, dass viele Länder Wir haben die Zentrale Stelle Verpackungsregister ins dort freiwillige Vereinbarungen getroffen haben. Mehr Leben gerufen, die Kontrollen durchführt. Inzwischen als 1 300 Selbstverpflichtungen wurden auf dieser Kon- liegen bei der Zentralen Stelle Verpackungsregister schon ferenz eingegangen. Ein guter Weg! Deutschland muss mehr als 120 000 Anmeldungen von Inverkehrbringern dort Vorbild sein; das sehe ich genauso. Wir müssen ge- von Verpackungsabfällen vor. Das gab es vorher nicht. meinsam daran arbeiten. Genau das werden wir auch in Vorher waren nur halb so viele bekannt. Wir wissen jetzt Zukunft tun. überhaupt erst einmal, wer Verpackungen in Umlauf bringt. Diese Firmen zahlen eine Lizenzabgabe, und die Vielen Dank. wird jetzt ökologisch. Das heißt: Derjenige, der Mate- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten rialen in Umlauf bringt, die nicht recycelbar sind, zahlt der CDU/CSU) mehr als derjenige, der Materialien in Umlauf bringt, die gut recycelbar sind. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall der Abg. Dr. Barbara Hendricks Vielen Dank, Michael Thews. – Nächste Rednerin für [SPD] und Marie-Luise Dött [CDU/CSU] – die FDP-Fraktion: Judith Skudelny. Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Das ist eine gute Sache!) (Beifall bei der FDP) 9172 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

(A) Judith Skudelny (FDP): Damit kann eine nachhaltige Finanzierung der Abfallent- (C) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir re- sorgungssysteme in den Schwellen- und Entwicklungs- den heute über zwei Anträge der Grünen. Der erste Antrag ländern erreicht werden. behandelt das Problem auf nationaler bzw. europäischer (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Ebene. Der zweite Antrag behandelt die Verschmutzung NEN]: So ein Blödsinn!) der Weltmeere. Der erste Antrag enthält viele Punkte, die ich als Humbug bezeichnen würde. Ich möchte heute Das ist ein innovativer technischer Ansatz, der zehnmal meine Redezeit darauf verwenden, mich dem wichtigen mehr bringt als alles, was Sie in Ihrem Antrag vorge- Thema der Verschmutzung der Weltmeere mit Plastik zu schlagen haben. widmen. (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Matern Sie haben mit Ihrer Darstellung den Istzustand wirk- von Marschall [CDU/CSU]) lich gut getroffen: Die Weltmeere werden als globale Müllhalde missbraucht. Sie haben das wunderschön dar- Ich möchte es noch mal sagen: Wer nicht den Mut hat, gestellt. Das hat Konsequenzen für die Natur, und es hat die Probleme zu benennen, hat nicht die Kraft, Lösungen natürlich auch Konsequenzen für den Menschen. Was ich zu schaffen. Dass unsere Ideen zum Schutz der Meere nicht nachvollziehen und auch nicht verstehen kann, ist: origineller, mutiger und global wirksamer sind, sollte ge- Warum stellt eine Partei den Istzustand so gut dar und rade Ihrer Partei zu denken geben. versagt vollkommen bei der Analyse der Probleme? (Beifall bei der FDP sowie des Abg. Andreas Mrosek [AfD]) (Beifall bei der FDP)

Tatsächlich ist es so, dass Europa nach den von Ihnen Vizepräsidentin Claudia Roth: zitierten Studien gerade mal für 1 Prozent der jährlichen Danke schön, Frau Skudelny. Ich war jetzt ein biss- Emissionen von Plastik in den Weltmeeren verantwort- chen überrascht, weil Sie früher aufgehört haben, aber lich ist. das macht nichts. (Dr. Rainer Kraft [AfD]: Richtig! Genau!) Nächste Rednerin in der Debatte: Dr. Bettina Die Regionen China, Südostasien und Afrika sind für Hoffmann für Bündnis 90/Die Grünen. rund 90 Prozent verantwortlich. Das wird im ganzen An- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) trag nicht ein einziges Mal erwähnt. (B) (D) (Beifall bei der FDP und der AfD sowie bei Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Abgeordneten der CDU/CSU) NEN): Verehrte Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Wer sich nicht traut, die Probleme zu benennen, wird haben jetzt eine Menge darüber gehört, was in Deutsch- es nicht schaffen, diese Probleme zu lösen. Dabei sind land gegen Plastikvermüllung gemacht wird. Das Pro- die Probleme klar. Übrigens ist auch in der Fachwelt völ- blem wächst auch hier, und wenn wir diese Art von lig klar, wo das Problem liegt. Auch der WWF hat in sei- Konsum nicht endlich drastisch einschränken, wird es ner neuesten Studie das Problem ganz deutlich benannt. für uns unlösbar. Wenn wir weitermachen wie bisher, Der wichtigste Faktor dafür, dass Plastik in die Weltmee- wird sich der Müllberg bis 2050 vervierfachen, und zwar re kommt, ist, dass in den Schwellen- und Entwicklungs- von 6 Millionen Tonnen auf 25 Millionen Tonnen. Es ist ländern entweder nur mangelhafte oder gar keine Abfall­ schon jetzt so, dass pro Minute ein Lkw Richtung Meer entsorgungssysteme sind fährt und diesen Dreck darin ablädt. Diese Zahlen stim- (Beifall des Abg. Andreas Mrosek [AfD]) men. und die Menschen deswegen ihren Müll in die Flüsse und (Christian Dürr [FDP]: In Deutschland?) die Meere verbringen. – Insgesamt betrachtet. (Beifall bei der FDP und der AfD sowie des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Abg. Matern von Marschall [CDU/CSU]) Lachen bei Abgeordneten der FDP – Christian Dürr [FDP]: So erreicht man keine Ziele! Ist Wenn man dieses Problem ernsthaft lösen will, dann Ihnen das klar?) muss man bei einer nachhaltigen Finanzierung der Ab- fallentsorgungssysteme in diesen Ländern ansetzen. Da Sie müssen zugeben, dass Deutschland bei der Ver- gibt es neue, innovative Ansätze. Nehmen wir das Unter- meidung von Verpackungsmüll das Schlusslicht in Eu- nehmen „The Plastic Bank“ auf Haiti. Da werden Plastik­ ropa ist. Sie müssen auch langsam zugeben, dass Ihre artikel im Blockchainverfahren gekennzeichnet und mit Recyclingquoten schöngerechnet sind; das ist Ihnen einem Wert belegt, sodass es sich lohnt, das Plastik zu x-mal nachgewiesen worden. sammeln, anstatt es wegzuwerfen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Andreas Bleck [AfD]: Das ist jetzt ein um- NEN]: Sind Sie mal dort gewesen?) weltpolitischer Offenbarungseid!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9173

Dr. Bettina Hoffmann (A) Was aber viel wichtiger ist: Sie missachten das Grund- Alles ist machbar. Sie haben den Rückhalt der Bevöl- (C) prinzip der Abfallgesetzgebung. kerung. Schauen Sie sich einmal an, wie viele Initiativen es in Deutschland gegen die Vermüllung mit Plastik gibt. (Christian Dürr [FDP]: Sie missachten das Grundprinzip der Logik!) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Das erste Ziel ist nämlich immer die Vermeidung. Die Regierung lässt den ernsten Willen vermissen, dieses Thema anzugehen. Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Dr. Bettina Hoffmann. – Nächster Red- Liebe FDP, Sie haben keine Vorschläge vorgelegt. Sie ner: Matern von Marschall für die CDU/CSU-Fraktion. haben Ihren Antrag noch nicht in aller Ernsthaftigkeit eingebracht. (Beifall bei der CDU/CSU)

(Judith Skudelny [FDP]: Doch! Der ist schon Matern von Marschall (CDU/CSU): da!) Herzlichen Dank, verehrte Frau Präsidentin. – Es ist – Der liegt noch bei Ihnen. Der ist so schlecht, dass Sie viel gesagt worden über die nationalen Verpflichtungen, ihn noch gar nicht eingebracht haben. die sich aus diesem großen Thema ergeben. Ich möch- te als Entwicklungspolitiker und auch als Mitglied des (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Nachhaltigkeitsbeirats ein wenig auf die internationalen Judith Skudelny [FDP]: Nein, nein! Er ist Pflichten, die Deutschland in diesem Bereich hat, ein- doch schon durchs Parlament!) gehen; Kollege Thews, wir waren ja gemeinsam auf der Ocean Conference. – Wenn Sie das originell und gut finden: wunderbar. Das Thema, Kollegin Hendricks, ist im Wesentlichen (Christian Dürr [FDP]: Kennen Sie unseren unter Ihrer Arbeit in den globalen Fokus geraten, zum ei- Antrag überhaupt? Haben Sie ihn überhaupt nen durch den G-7-Gipfel auf Schloss Elmau, zum ande- gelesen? – Andreas Bleck [AfD]: Sie haben ren durch Aufnahme in die globalen Nachhaltigkeitsziele sich ja überhaupt nicht vorbereitet!) unter Punkt 14 und schließlich auch durch die G-20-Prä- Wir machen auf jeden Fall konkrete Vorschläge: sidentschaft Deutschlands. Die internationale Gemein- schaft ist also auf einem guten Weg, diese wesentliche Erstens. Setzen Sie endlich ehrgeizigere Ziele! Hal- Aufgabe gemeinsam zu lösen. bieren Sie den Verpackungsmüll bis 2030 auf 110 Kilo (B) pro Kopf! Das ist machbar. Auch unser Entwicklungsministerium ist im Augen- (D) blick dabei, eine die unterschiedlichen Akteure einbe- Zweitens. Kümmern Sie sich dringend um das viele ziehende Aktion insbesondere in den Schwellen- und Einwegplastik, das nicht vom EU-Verbot betroffen ist! Entwicklungsländern auf den Weg zu bringen, die – das Das Beispiel Einwegkaffeebecher zeigt: Hier ist noch ist hier bereits gesagt worden – für etwa 80 Prozent der viel zu tun. Einträge in die Meere verantwortlich sind. Ich denke, Deutschland hat viele gute Chancen, dort einen Beitrag (Christian Dürr [FDP]: Aber Sie kennen den zu leisten. Antrag meiner Fraktion schon, Frau Kollegin Hoffmann, oder?) Wir haben, was die Administration angeht, hervorra- gende Erfahrungen. Wenn wir von einem Multiakteur­ Die Bundesregierung will nur Styroporbecher verbieten. ansatz ausgehen, müssen wir einerseits die Verwaltung, Doch schon heute ist klar, dass die meisten Coffee-to-go- insbesondere die kommunale Verwaltung, einbeziehen, Becher aus Papier bestehen, das mit Plastik beschichtet andererseits aber auch die Wirtschaft. Wir haben in ist. Wenn wir etwas bewirken wollen, dann brauchen wir Deutschland einige der weltweit führenden Recyclingun- eine Einwegabgabe. ternehmen, von denen ich aus Gesprächen weiß, dass sie sehr wohl bereit wären, ihre unternehmerische Experti- Drittens. Machen Sie etwas für den Verbraucherschutz se in die Schwellen- und Entwicklungsländer zu tragen. und gegen die Müllberge! Verbieten Sie Schummelver- Das sollten sie, wie ich glaube, auch in Zukunft machen. packungen. Es ist unsäglich, dass noch immer erlaubt ist, Dazu braucht es aber vielleicht Zuschüsse, um einen An- mehr Luft als Produkt in die Verpackung zu tun. reiz für diese Investitionen zu setzen, die vielleicht auch aus dem Haushalt des BMZ zu bestreiten sind. Was aber Vizepräsidentin Claudia Roth: wichtiger ist: Es muss auch eine Risikoabsicherung ge- Denken Sie bitte an die Redezeit? ben. Ich meine, solche Investitionen müssen durch Her- mesbürgschaften abgesichert werden.

Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Beifall der Abg. Marie-Luise Dött [CDU/ NEN): CSU]) Letzter Satz. – Viertens. Stellen Sie das Verpackungs- Dann, glaube ich, können wir mittelfristig eine diese gesetz scharf! Entwickeln Sie Lizenzentgelte zur Res- zehn größten Flussläufe betreffende deutliche Minderung sourcenabgabe! Die Hersteller brauchen den Anreiz, bei der Einträge erzielen. Ich glaube, das ist der wesentliche unnötiger Verpackung einzusparen. Weg. Deutschland kann durch das, was man allgemein 9174 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Matern von Marschall (A) „Good Governance“ und „Capacity building“ nennt, also dass diese Tüte alle Kriterien erfüllte und entsprechend (C) durch die administrative Stärkung, einen Beitrag leisten. zertifiziert war. Nein, Resch führte aus, man habe Kom- Da ist natürlich die GIZ der wesentliche Arm, der da postierungsanlagenbetreiber gefragt, wie sie diese Tüte helfen kann. Es kann vor allen Dingen aber mit seiner später behandeln, und da hätten 98 Prozent geantwortet, hervorragenden Wirtschaft einen Beitrag leisten, die in dass es keine separate Kompostierung dafür gäbe – so diesem Bereich Weltmarktklasse und auch Weltmarkfüh- weit wären sie noch nicht – und sie diese wie alle anderen rerschaft hat. Taschen der Verbrennung zuführen. Das muss man erst einmal sacken lassen. Eines will ich zum Abschluss sagen: Wir haben auch im Bereich der erneuerbaren Energien Weltmarktführer- Das ist ein tolles Beispiel dafür, wie umweltbewusstes schaft durch eigene Investitionen erreicht und können Engagement von selbsternannten ökologischen Mark- diese Technologie nun zu Marktpreisen in die Weltmärk- tüberwachern regelrecht verhindert wird. Denn mit der te exportieren. Ich finde, das ist etwas, was wir durchaus Kompostierung sind wir heute, knapp ein Jahr später, auch im eigenen Interesse sehen dürfen, wenn es gleich- nicht wirklich weiter. Aber jetzt gibt es plötzlich über 20 zeitig dem gemeinsamen, dem globalen Ansatz nützt. solcher Anbieter auf dem Markt in Europa, und gestern Denn dadurch können wir dieses gewaltige Problem, Abend haben wir hier erleben dürfen, wie die Grünen al- welches gegenwärtig eben die Verschmutzung der Mee- len Ernstes beantragten, dass man solchen Organisatio- re ist, gemeinsam lösen. Dafür möchte ich werben. Ich nen nicht eingehend auf den Zahn fühlen sollte. Das wirft hoffe, dass wir das fraktionsübergreifend auf den Weg dann zwangsläufig die Frage auf, ob es Ihnen wirklich bringen können. um ambitionierte globale Ziele geht oder doch nicht ein- fach nur schlicht um Lobbyismus. Herzlichen Dank. Vielen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)

Vizepräsidentin Claudia Roth: Vizepräsidentin Claudia Roth: Danke schön. – Nächste Rednerin: Dr. Barbara Vielen Dank, Matern von Marschall. – Nächster Red- Hendricks für die SPD-Fraktion. ner: Mario Mieruch. (Beifall bei der SPD) Mario Mieruch (fraktionslos): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen Dr. Barbara Hendricks (SPD): und Herren! Die Reduzierung von Plastik begrüße ich Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) ebenso sehr wie das sinnvolle Ersetzen von Einwegpro- Ich will kurz auf die internationalen Aspekte unseres (D) dukten durch Mehrwegprodukte. Als jemand, der selber Themas eingehen; auch Sie haben dies schon getan, Herr sehr viele Tiere hält, macht es mich jedes Mal sehr, sehr Kollege von Matern. betroffen, wenn ich die Bilder sehe, auf denen sich die Tiere nicht nur verfangen, sondern sogar deformiert ha- Die Meeresvermüllung ist sicherlich als eines der gro- ben. ßen weltweiten Probleme im allgemeinen Bewusstsein angekommen. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die Mit dem vorliegenden Antrag gehen die Grünen wie- internationale Staatengemeinschaft tatsächlich erst seit der einmal global aufs Ganze. Und ja, es ist völlig richtig, etwa dreieinhalb Jahren, nämlich seit dem Jahr 2015, dass sich Deutschland in der Staatengemeinschaft füh- auf unsere Initiative hin zum ersten Mal überhaupt rend für einen verantwortungsvollen Ressourceneinsatz mit dem Thema befasst. Wir haben das in der G 7 als und für sinnvolles Recycling einsetzt. eines der wesentlichen Themen auf die Tagesordnung gesetzt. Infolgedessen hat es zwei Jahre später die ers- Aber bleiben wir vor der Haustür und vergleichen te UNO-Konferenz zu diesem Thema gegeben, die UN einmal Worte und Taten: Nicht weit von Berlin gibt es Ocean Conference in New York 2017, die der Kollege einen Tragetaschenhersteller, der kompostierbare Tra- schon angesprochen hat. getaschen anbot. Diese waren nach entsprechender DIN zertifiziert und erfüllten alle benötigten EU-Kriterien zur Ja, die damaligen Staats- und Regierungschefs ha- Kompostierung. Dennoch startete ein außerparlamenta- ben sich 2015 verpflichtet, dem Problem ihre Aufmerk- rischer Arm unserer grünen Fraktionskollegen, nämlich samkeit zu schenken. Klar war aber, dass damit noch die DUH, eine Kampagne gegen diese Tüte, sodass die längst nicht alles erledigt ist. Infolgedessen haben wir beiden größten Kunden des Herstellers, Aldi und Rewe, das in unserer G-20-Präsidentschaft zwei Jahre später, absprangen und die Tüte aus dem Programm nahmen. im Jahr 2017, wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Das Der Hersteller verklagte daraufhin die Umwelthilfe auf- ist insbesondere deswegen wichtig – es wurde eben da- grund seiner Umsatz- und Imageverluste – und verlor. rauf hingewiesen –, weil gerade aus Entwicklungs- und In letzter Instanz im letzten Frühjahr lieferte das Gericht Schwellenländern ein großer Eintrag dieses Mülls in die die abenteuerliche Begründung, DUH-Chef Resch kön- Meere erfolgt. Eigentlich ist es für uns alle erfreulich, ne nicht am Maßstab journalistischer Sorgfalt gemessen dass in den Schwellenländern langsam, aber sicher Wohl- werden, weil die DUH eben kein Presseunternehmen sei stand und damit natürlich auch der Konsum wächst. Die und Resch kein Journalist. Das heißt im Klartext: Der Müllentsorgungs- oder Recyclingsysteme sind aber nicht Wahrheitsgehalt der Kampagne spielt überhaupt keine in gleicher Weise mitgewachsen. Das ist der entscheiden- Rolle mehr, ebenso wenig, dass völlig unstrittig war, de Grund dafür, dass wir jetzt im Kreis der G 20 langsam, Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9175

Dr. Barbara Hendricks (A) aber sicher vorankommen. Da sind alle Schwellenländer Das Gegenteil ist doch der Fall, sowohl international (C) vertreten, und es ist entscheidend, dass dort anerkannt als auch auf europäischer, nationaler und auch regionaler wird, wie wichtig dieses Thema ist. Ebene. Allein durch die dramatische Schilderung des Zu- standes kommen Sie einer Lösung kein Stück näher. Es Die Staats- und Regierungschefs haben im Jahr 2017 ist Ihr gutes Recht als Opposition, Probleme möglichst einen G-20-Aktionsplan zum Meeresmüll verabschie- deutlich und auch möglichst krass darzustellen. Das ist det und ihren Willen zum Schutz der Meeresumwelt ein probates politisches Mittel. Aber es ist auch unser bekräftigt. Der Aktionsplan behandelt den landseitigen Recht, darauf hinzuweisen, wie viel wir hier bereits getan wie auch den seeseitigen Eintrag von Müll in die Meere, haben und auf wie vielen Ebenen diese Bundesregierung konzentriert sich auf Maßnahmen zur Abfallvermeidung, in den letzten Jahren bereits tätig war. zum Abfallmanagement und zur Ressourceneffizienz und bezieht dabei auch sozioökonomische Aspekte wie (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Bewusstseinsbildung und Forschung mit ein. Das heißt, an dieser Stelle haben die wichtigsten Akteure das seit Es ist vollkommen unbestritten, dass wir noch nicht da dem Jahr 2017 als ihre Aufgabe anerkannt. sind, wo wir hinkommen müssen. Aber wir alle – auch Sie von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – wissen: Jetzt sind wir noch einen Schritt weiter. In diesem Es erfordert Geduld, bis wir Maßnahmen im Umweltbe- Jahr, vom 11. bis 15. März, findet in Nairobi die UN-Um- reich, die wir heute ergreifen, weltkonferenz statt, die sich unter anderem auch mit die- sem Thema auseinandersetzen wird. Es ist natürlich nicht (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- das einzige Thema, aber sie wird sich auch dem Thema NEN]: Welche ergreifen Sie denn heute?) Meeresmüll nähern. Dieser UN-Umweltkonferenz liegt anhand von Ergebnissen messen können. Das gilt auch ein Resolutionsentwurf von Norwegen und Sri Lanka für die Maßnahmen, die schon etwas älter sind. Das ist vor, in dem sie fordern, dass die Staatengemeinschaft der erste Punkt. prüfen möge, ob es machbar und effizient ist, eine recht- lich bindende internationale Vereinbarung zu Meeres- Der zweite Punkt ist: Wir können nicht immer die müll und Mikroplastik auf den Weg zu bringen. Damit Institutionen, Verbände und Unternehmen mit Verbo- ist eine solche Entscheidung noch nicht gefallen. Aber es ten überziehen, die wir auf der anderen Seite brauchen, ist sinnvoll, dass die internationale Staatengemeinschaft um ein Problem zu lösen. Es ist wesentlich sinnhafter, prüft, ob wir ein rechtlich bindendes Übereinkommen in wenn wir uns darauf konzentrieren, bei all diesen Ak- die Wege leiten sollen. Ich denke, die Bundesregierung teuren einen Bewusstseinswandel herbeizuführen. Dass wird sich sicherlich aktiv an dieser Prüfung beteiligen. dies durchaus bereits der Fall ist, zeigt die Initiative von (B) Ich bin jedenfalls sicher, dass die Koalitionsfraktionen an 30 Konzernen, unter denen übrigens auch deutsche Un- (D) ihrer Seite stehen. ternehmen sind. Sie haben eine Globale Allianz gegen Kunststoffabfall gebildet und investieren1,3 Milliarden Herzlichen Dank. Euro, um Themen wie Recycling, Wiederverwertung, Reinigungsaktionen und Bürgerinformation in Entwick- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten lungs- und Schwellenländern anzugehen. der CDU/CSU) (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Vizepräsidentin Claudia Roth: Insofern möchte ich schon darauf hinweisen, dass es zu Vielen Dank, Barbara Hendricks. – Letzte Rednerin in einfach ist, hier ständig nur Schwarz und Weiß oder Gut dieser Debatte: Astrid Damerow für die CDU/CSU-Frak- und Böse zu postulieren. Wir müssen vielmehr partner- tion. Frau Kollegin, Sie haben das Wort. schaftlich mit allen zusammenarbeiten. Das gilt auch für den Tourismussektor. Auch dort bewegt sich eine ganze (Beifall bei der CDU/CSU) Menge. Die 50 Millionen Euro, die die Bundesregierung im Astrid Damerow (CDU/CSU): kommenden Jahr investieren wird, sind bereits mehrfach Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! erwähnt worden. Ich möchte aber die Gelegenheit nut- Nun bin ich die letzte Rednerin nach einer Stunde, und zen, mich an dieser Stelle auch einmal bei allen priva- wir haben eine Vielzahl an Programmen und Initiati- ten Initiativen zu bedanken, die wir hier in Deutschland ven von der Regierung bzw. den Regierungsfraktionen haben, was ja auch etwas über den Bewusstseinswandel vorgetragen bekommen. Das zeigt ganz deutlich, dass aussagt. Gerade in meinem Wahlkreis, einem Anrainer- es mitnichten so ist, dass nichts getan wird. Die beiden wahlkreis der Nordsee, erlebe ich das tagtäglich. Sie alle Anträge der Grünen-Fraktion erwecken nämlich genau leisten in den Umweltverbänden, aber auch rein privat diesen Eindruck. Sie tun ja gerade so, als hätte diese Bun- einen nicht zu unterschätzenden Beitrag, nicht um Plastik desregierung in den letzten zehn Jahren die Hände in den in unseren Meeren zu verhindern, aber um aufzuräumen. Schoß gelegt und sich um das Thema „Plastik in unseren Meeren“ schlicht nicht gekümmert. Damit sind wir bei einem anderen Thema, zu dem wir noch deutlich mehr forschen müssen. Wir müssen näm- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- lich auch gute Ideen entwickeln, wie wir mit dem Müll NEN]: Wir tun nicht nur so! So ist es! Frei- umgehen, der bereits in unseren Meeren liegt und – wir willige Selbstverpflichtungen der Wirtschaft!) wissen es alle – Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhun- 9176 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Astrid Damerow (A) derte braucht, bis er sich abbaut. Auch das ist eine Auf- besonders lange aufhalten, gilt ein 50 Prozent höherer (C) gabe, die diese Bundesregierung angeht. Grenzwert als an der Straßenkreuzung. Das versteht kein Mensch. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) (Beifall bei der AfD) Ich halte also fest: Diese Bundesregierung handelt sowohl national als auch international. Das Bewusstsein Wenn ich dann genauso wie 45 Millionen andere unserer Bürger und unserer Wirtschaft für die Problema- Menschen in unserem Land jeden Tag zur Arbeit gehe, tik müssen wir auch in Zukunft weiter schärfen; das geht bin ich angeblich sogar erst ab 950 Mikrogramm, also nur partnerschaftlich. Erfolge brauchen Geduld. Verbote dem 24-Fachen, gefährdet, und das, obwohl ich dort acht allein reichen nicht. Ich denke, damit sind wir mit dieser Stunden am Tag, fünf Tage die Woche, 45 Jahre, ein gan- Bundesregierung auf einem guten Weg. zes Arbeitsleben lang bin. Das versteht dann wirklich kein Mensch mehr. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- (Beifall bei der AfD) ordneten der SPD) Wenn ich dann nach der Arbeit schön bei Kerzen- schein zum Abendessen im Restaurant meine auf dem Vizepräsidentin Claudia Roth: Gasherd gekochten Spaghetti Carbonara genieße und da- Vielen Dank, Frau Kollegin Damerow. – Damit schlie- bei Tausenden Mikrogramm Stickstoffdioxid ausgesetzt ße ich die Aussprache. bin, dann ist das alles kein Problem. Kein Problem? Ganz offensichtlich ist es immer nur dann problematisch, wenn Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf man den Grenzwert dazu missbrauchen kann, den Men- den Drucksachen 19/6129 und 19/5230 an die in der Ta- schen ihr Auto und damit ihre Freiheit wegzunehmen. gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da ich nichts Gegenteiliges höre, gehe ich davon aus, (Beifall bei der AfD) dass Sie damit einverstanden sind. Dann sind die Über- Jeder, der noch ein bisschen gesunden Menschenver- weisungen so beschlossen. stand besitzt, kann selbst nachvollziehen, wie absurd die Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 9 auf: Argumente der Umwelthysteriker sind. Über 100 führen- de Lungenfachärzte und klinische Forscher protestieren Beratung des Antrags der Abgeordneten Marc gegen diesen Unsinn. Warum tun sie das? Weil es keine Bernhard, Wolfgang Wiehle, Karsten Hilse, wei- wissenschaftlich ernstzunehmende Begründung für den terer Abgeordneter und der Fraktion der AfD Grenzwert von 40 Mikrogramm gibt. Alle klinischen (B) Vorfahrt für wissenschaftliche Erkenntnisse – Studien der WHO, den Grenzwert zu bestätigen, sind (D) Keine Fahrverbote bis zur Neuüberprüfung krachend gescheitert, ich betone: krachend gescheitert. der Stickstoffdioxid- und Feinstaubgrenzwerte (Beifall bei der AfD) Drucksache 19/7471 Wir fordern daher in unserem Antrag endlich die so- Überweisungsvorschlag: fortige, erstmalige wissenschaftliche Überprüfung des Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (f) Grenzwerts. Die Menschen draußen haben ein Recht da- Ausschuss für Verkehr und digitale Infrastruktur rauf, vor diesem ideologischen Wahnsinn geschützt zu Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für werden. die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- (Beifall bei der AfD) nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Selbst in Kalifornien mit den strengsten Umweltvor- Würden Sie bitte Platz nehmen oder die Gespräche schriften der Welt gelten 100 Mikrogramm, also das woanders führen, damit ich den ersten Redner aufrufen Zweieinhalbfache des Grenzwerts in Deutschland. Die kann? – Das tue ich jetzt: Das ist Marc Bernhard für die US-amerikanische Umweltbehörde hat diesen Grenzwert AfD-Fraktion. 2018 noch einmal ausdrücklich bestätigt, da dieser – so (Beifall bei der AfD) wörtlich – einen angemessenen Schutz der öffentlichen Gesundheit gewährleistet und insbesondere eine aus- reichende Sicherheitsmarge gerade für ältere Personen, (AfD): Marc Bernhard Kinder und Menschen mit Asthma berücksichtigt. Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegen! 40, 60 oder 950 Mikrogramm, was ist denn nun der gesundheitlich So langsam scheint sich der Protest der Menschen ge- relevante Grenzwert? Wann ist meine Gesundheit denn gen diesen Grenzwertwahnsinn auch auf die ersten Poli- nun wirklich gefährdet? An einer Kreuzung bin ich an- tiker anderer Parteien auszuwirken. Der grüne Oberbür- geblich schon bei 40 Mikrogramm gefährdet, auch wenn germeister Palmer hält sogar ein Verbot von Coca-Cola ich mich dort nur wenige Minuten am Tag aufhalte. für sinnvoller als Dieselfahrverbote. Wenn ich dann zu Hause bin und die Wohnungstür hinter (Beifall bei der AfD) mir zumache, bin ich aber erst bei 60 Mikrogramm ge- fährdet, und das, obwohl sich die Menschen den größten Selbst Verkehrsminister Scheuer fordert nun endlich eine Teil der Zeit innen aufhalten. In Kindergärten, Kranken- Überprüfung des Grenzwerts. Recht haben sie; denn häusern und Altenheimen, also genau dort, wo sich die Frau Merkel hat 1998 den völlig aus der Luft gegriffenen Risikogruppen Kinder, ältere Menschen und Asthmatiker Grenzwert mit beschlossen und 20 Jahre nichts unter- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9177

Marc Bernhard (A) nommen, diesen wissenschaftlich überprüfen zu lassen. rungen deswegen auch nicht richtig sind. Dann fordert (C) Seit einem Jahr sind die Menschen konkret von Fahrver- Herr Bernhard – das ist der erste Punkt – eine erstmalige boten bedroht. Seit einem Jahr reden wir hier im Bundes- Untersuchung durch unabhängige Wissenschaftler. Was tag in unzähligen Debatten ohne jegliches Ergebnis dazu. für ein Witz! Weil: Zum Schluss seiner Rede sagt Herr Bernhard, er sei sich sicher, dass es keine Fahrverbote Die AfD hat im Bundestag mehrfach beantragt, den geben wird, weil bei einer solchen Untersuchung nur he- Grenzwert erstmals wissenschaftlich überprüfen zu las- rauskommen könne, dass die Grenzwerte Quatsch sind. sen. Unsere Anträge wurden durch alle anderen Fraktio- nen hier in diesem Haus abgelehnt. Hätten Sie unserem (Dr. Bernd Baumann [AfD]: Das sagt er über- Antrag vor einem Jahr zugestimmt, hätten wir heute haupt nicht!) schon die Ergebnisse der wissenschaftlichen Überprü- – Das ist die Schlussfolgerung, die er gezogen hat. – Ich fung, und in und anderswo könnten Fahrverbote frage mich, was Sie für eine Vorstellung von unabhän- vermieden werden. gigen Wissenschaftlern haben. Alle Studien, die sich (Beifall bei der AfD) bislang mit dieser Frage befasst haben – es gibt einige Hundert, die teilweise kleinere oder größere Aspekte un- Allein in Stuttgart sind 72 000 Menschen mit ihren Fami- tersuchen –, wurden von Wissenschaftlern verschiedens- lien von einem Fahrverbot betroffen. Hören Sie endlich ter Institutionen durchgeführt, denen man die Unabhän- auf, die Menschen auf Grundlage eines völlig willkürli- gigkeit nicht absprechen kann. Sie müssen im Einzelfall chen Grenzwertes zu gängeln, den Sie zu nichts anderem belegen, wenn Sie der Meinung sind, dass Wissenschaft- nutzen, als Millionen Dieselbesitzer kalt zu enteignen, ler nicht unabhängig sind. indem Sie ihnen das Auto und damit ihre Freiheit weg- nehmen. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- (Beifall bei der AfD) NEN) Wir fordern, dass der Grenzwert endlich erstmalig Von „erstmalig“ kann überhaupt keine Rede sein; denn wissenschaftlich überprüft wird und dass es bis zum Vor- es gibt seit Jahren – in den USA seit den 30er-Jahren – liegen entsprechender Ergebnisse zu keinen Fahrverbo- Untersuchungen in größerem Umfang. Die Grenzwerte, ten kommen darf. auf denen der Beschluss der EU beruht, sind zahlreich (Beifall bei der AfD) und wurden spätestens 2008 auf ihre Wirkung überprüft, weil man damals 40 Mikrogramm als Durchschnittswert Vizepräsidentin Claudia Roth: festgelegt hat. (B) Danke schön. – Nächster Redner für die CDU/ Nun haben Sie als Beispiel die Stickoxidbelastung (D) CSU-Fraktion: Karsten Möring. durch Kerzen genannt. Sie verstehen noch immer nicht, dass es einen Unterschied zwischen einer Spitzenbelas- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- tung kurzzeitiger Art und einer Dauerbelastung gibt, die ordneten der SPD) niedriger ist. Für Letzteres gilt ein Durchschnittswert. Es ist ein Vorsorgewert, der auch empfindlichere Bevölke- Karsten Möring (CDU/CSU): rungsgruppen schützen soll und der nicht für jemanden Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! gilt, der in einer Küche an einem Gasherd kocht. Auf Wir haben uns in der letzten Sitzungswoche im Rahmen der Straße sind Emissionsspitzenwerte von 200 Mikro- der ersten Lesung des Gesetzentwurfs zur Änderung des gramm zulässig. Aber mit den 40 Mikrogramm wird die BImSchG über die sachlichen Zusammenhänge zwi- Dauerbelastung festgelegt. schen Emissionsgrenzwerten und den Maßnahmen, die wir ergreifen, intensiv ausgetauscht. Ich stelle aber fest, (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der dass die Kolleginnen und Kollegen aus der AfD-Fraktion SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- offensichtlich überhaupt keine Erinnerung daran haben; NEN – Dr. Bernd Baumann [AfD]: Niemand denn alles, was Herr Bernhard eben vorgetragen hat, war steht den ganzen Tag an einer Kreuzung!) bereits Thema. Er glaubt, dass das kein Mensch versteht. Wir haben überhaupt nichts dagegen, dass diese Dis- Die Gleichsetzung aller Menschen mit den AfD-Kolle- kussion noch einmal kritisch geführt wird. Wir glauben gen kann ich auch nicht nachvollziehen. Es gibt eine Rei- zwar nicht, dass dabei etwas anderes herauskommt. Aber he anderer Menschen, die anderer Auffassung sind, und Maßnahmen, die wir mit viel Geld unterlegen, brauchen zwar gut begründet. eine Begründung, die valide und belastbar ist. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Vizepräsidentin Claudia Roth: Ich will nicht alles wiederholen, worüber wir in der letz- Herr Möring, erlauben Sie eine Zwischenfrage oder ten Sitzungswoche diskutiert haben. So viel Zeit haben -bemerkung von Herrn Bernhard? wir nicht. Ich möchte aber die Gelegenheit nutzen, einen genauen Blick auf den Antrag der AfD zu werfen. Karsten Möring (CDU/CSU): Ja, bitte schön. In den ersten drei Punkten geht es darum – das war auch das Hauptthema von Herrn Bernhard –, dass die (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Grenzwerte nicht stimmen und dass die Schlussfolge- NEN]: Es wird dadurch aber nicht besser!) 9178 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

(A) Marc Bernhard (AfD): Das geht doch nicht. Sie können dann nur dafür sorgen, (C) dass sich das ändert – das können Sie politisch machen –, Danke schön, Herr Möring. – Ich habe folgende Fra- aber diese Werte gelten. ge: Sie reden von 40 Mikrogramm als Dauerbelastung. Wie erklären Sie dann den Unterschied zwischen 40 Mi- (Marc Bernhard [AfD]: Auf EU-Ebene dafür krogramm draußen und 60 Mikrogramm in Wohnungen? einsetzen!) Die Menschen sind den größten Teil ihres Lebens in In- Wir im Deutschen Bundestag befassen uns mit der Fra- nenräumen. Da gilt ein Grenzwert von 60 Mikrogramm, ge, mit welchen Maßnahmen wir diese Grenzwerte er- wie zum Beispiel in Kindergärten und Krankenhäusern. reichen. Solange sie gelten, gelten sie – schlicht und ein- Dort sind die Menschen doch einer Dauerbelastung aus- fach. gesetzt, während sie sich an einer Kreuzung, wo 40 Mi- krogramm gelten, nur wenige Minuten am Tag aufhalten. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Können Sie das einmal erklären? Sie reden von Spitzen- Dann kommt es für uns allerdings darauf an, dass wir und Dauerbelastungen. Die Dauerbelastung findet doch die Maßnahmen, die wir dafür ergreifen, in ein Verhältnis in Innenräumen genauso statt, wo die Menschen wohnen, zu der Gefährdung und zu der Belastung des Einzelnen leben und arbeiten. im gesundheitlichen Bereich setzen. (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Karsten Möring (CDU/CSU): Genau das tun wir mit unserem Gesetzentwurf zur Än- Ein Grenzwert für den Wohnbereich ist mir gar nicht derung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, das wir bekannt. Wenn Sie öffentliche Räume und Arbeitsplät- demnächst in zweiter und dritter Lesung behandeln wer- ze meinen, dann dürfen Sie nicht vergessen, dass es dort den. Das Ziel ist, dass wir hier die Verhältnismäßigkeit um andere Gruppen geht, während wir im öffentlichen genau abwägen. Darüber kann man dann streiten – wir Raum die Gesamtbevölkerung, von den Kleinkindern bis sind da politisch sicher nicht einer Meinung –, aber das zu den alten Menschen, von den Asthmatikern bis zu den ist der Weg, den wir gehen. Gesunden, im Blick haben müssen. Es handelt sich dabei Wenn Sie jetzt sagen: „Diese Maßnahmen machen wir um eine Vorsorgemaßnahme. alle“, dann kann ich nur antworten: Das ist ein fahrender Zug, auf den Sie aufspringen. Und wenn Sie auf einen Zurück zu dem zentralen Punkt. In den Punkten 2 und fahrenden Zug aufspringen wollen, dann müssen Sie auf- 3 Ihres Antrages gehen Sie auf die öffentliche Kritik von passen, dass Sie sich nicht verstolpern. Das, was Sie zu hundert Lungenärzten ein. Jetzt will ich natürlich nie- diesem Thema vorgelegt haben, ist eine totale Bruchlan- (B) mandem seine Meinungsfreiheit beschneiden, auch nicht dung. (D) hundert Lungenärzten, aber ein Beitrag zur Diskussion über die Validität verlangt eine inhaltliche Auseinander- (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD – setzung und keine Meinungsäußerung. Da hakt es an die- Marc Bernhard [AfD]: Ich ziehe die Not- ser Stelle. bremse!) Heute wurden in Düsseldorf und in Köln neue Noch einmal: Nichts dagegen, dass wir diese Grenz- Luftreinhaltepläne vorgelegt. Diese Luftreinhaltepläne werte kritisch untersuchen, aber wenn Sie sagen: „Erst- verzichten auf Fahrverbote. Sie können das nur, weil mals und überhaupt“, kann ich nur erwidern: Im Jah- sie darlegen, dass mit den ergriffenen Maßnahmen und re 2019 wird die EU diese Grenzwerte diskutieren und den Möglichkeiten, die wir haben, die Grenzwerte in ab- noch mal im Lichte der aktuell vorliegenden Studien un- sehbarer Zeit erreicht werden können. Das habe ich in tersuchen. Die Bundesregierung hat die Leopoldina be- der letzten Sitzungswoche schon einmal gesagt, und das auftragt, das für Deutschland ebenfalls zu machen. Wir sage ich auch jetzt wieder: Das wird uns gelingen. Damit sind uns aber im Klaren darüber, dass das eine Frage der werden wir die Möglichkeit haben, die Belastung durch Europäischen Union ist – schlicht und einfach. Fahrverbote weitestgehend zu vermeiden und mit ande- ren Maßnahmen unser Ziel zu erreichen. Das ist unsere Dann kommt es ganz hart in Ihrem Antrag. Sie ver- Aufgabe, und das werden wir machen. Deswegen lehnen stehen sich doch als Partei, die gerne Recht und Gesetz wir Ihren Antrag selbstverständlich ab. durchsetzen möchte. Was Sie aber in den Punkten ab (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD) Punkt 4 schreiben, ist Rechtsbruch, Rechtsbruch, Rechts- bruch und noch mal Rechtsbruch. Vizepräsidentin Claudia Roth: (Beifall bei der CDU/CSU und der SPD so- Vielen Dank, Karsten Möring. – Nächste Rednerin: wie bei Abgeordneten der LINKEN und des Judith Skudelny für die FDP-Fraktion. BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP) Sie können doch nicht hingehen und sagen: Weil ich an- derer Meinung bin, halte ich das gesetzlich festgesetzte Judith Skudelny (FDP): Maß nicht ein. Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen und Herren! So wie man Stickoxid und Feinstaub auseinan- (Ulli Nissen [SPD]: Sehr gut!) derhalten muss, muss man Richtwerte und Grenzwerte Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9179

Judith Skudelny (A) auseinanderhalten. Ein Richtwert ist ein wissenschaftlich ten wir, wenn man wirklich etwas tun wollte, einfach (C) festgesetzter Wert, bei dem sich Experten über das Risi- Cola verbieten. – Aber das trauen Sie sich ja nicht. ko eines einzelnen Stoffes Gedanken gemacht haben. Sie haben sich nicht Gedanken darüber gemacht: Kann man (Beifall bei der FDP – Ulli Nissen [SPD]: den Richtwert einhalten? Sie haben sich nicht Gedanken Jetzt geht das wieder los!) darüber gemacht: Was passiert, wenn wir Regelungen Meine Damen und Herren, ich sage es noch einmal: einsetzen, um ihn einzuhalten? – Der damals beteiligte Die Luft ist so sauber wie noch nie! Die Menschen ver- Professor Wichmann hat gesagt: Die sozioökonomischen stehen daher nicht, warum sie durch fragliche Grenz- Rahmenbedingungen der Einhaltung dieses Richtwerts werte aufgrund von falschen Messungen kalt enteignet wurden schlicht nicht berücksichtigt. – Deswegen hän- werden. gen an Richtwerten auch keine rechtlichen Konsequen- zen. (Beifall bei der FDP – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt Men- Es ist Aufgabe der Politik, aus Richtwerten Grenzwer- schen, die das verstehen!) te zu machen. Und es ist Aufgabe der Politiker, abzuwä- gen, unter welchen Bedingungen und wie diese Richt- Um die Menschen zu schützen, die darauf vertraut haben, werte – die Wunschvorstellung der Wissenschaft – in das ihr zu Recht zugelassenes, ehrlich erworbenes Fahrzeug wirkliche, in das echte Leben der Menschen, der Städte weiter benutzen zu dürfen, und Kommunen eingegliedert werden können. Da finden (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Sie wollen Abwägungsentscheidungen statt. Am Ende dieser Ab- die Autokonzerne vor Entschädigungszahlen wägungsentscheidungen entsteht ein Grenzwert, an den schützen, nicht die Menschen!) wiederum rechtliche Konsequenzen gebunden sind. In- sofern ist es natürlich immer ein Stück Willkür und Ent- müssen wir die Grenzwerte auf den Prüfstand stellen scheidungsfreiheit, wie hoch diese Grenzwerte sind. und schauen, dass wir zu vernünftigen, sozial angepass- ten und vor allem nachhaltigen Werten kommen, die die Jetzt haben wir schon seit mehreren Jahren einen Menschen auf dem Weg des Umweltschutzes mitneh- Grenzwert, und wir sehen, welche Auswirkungen er hat. men. Wir sehen, dass die Menschen kalt enteignet werden, ihr Fahrzeug nicht mehr nutzen können. Selbst wenn Sie (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten heute ein Neufahrzeug zulassen, kann sogar nach der von der CDU/CSU und der AfD) der Bundesregierung angestrebten Gesetzesänderung, die jetzt auf dem Weg ist, keine Mobilitätsgarantie für Vizepräsidentin Claudia Roth: Euro-6-Fahrzeuge gegeben werden. Das ist ein Zustand, (B) Danke, Frau Skudelny. – Nächster Redner: für die (D) der für einen Automobilstandort wie Deutschland nicht Bundesregierung der Parlamentarische Staatssekretär haltbar ist. Florian Pronold. (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) der CDU/CSU) Es werden durch Fahrverbote auch keine Stickoxide, keine Emissionen in irgendeiner Form eingespart. Wir Florian Pronold, Parl. Staatssekretär bei der Bundes- sehen doch, dass der Verkehr nur verdrängt wird, ministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicher- heit: (Ralph Lenkert [DIE LINKE]: Was für eine schiefe Diskussion!) Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Die Debatte scheint unabhängig von den und zwar von den Hauptstraßen in die Nebenstraßen, Grenzwerten zu Schnappatmungen zu führen. Es wäre, von den Autobahnen in die Ortschaften. Es wird auch glaube ich, ganz gut, wenn wir von der Propaganda, wie kein CO2 gespart. Die Menschen müssen länger fahren, wir sie gerade gehört haben, wegkommen und mal zu den weitere Strecken hinter sich bringen. Wir lassen mehr Fakten kommen. Benziner zu. Tatsächlich erhöhen wir unterm Strich die schädlichen Umwelteinwirkungen, und das hilft weder (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Ralph der Umwelt noch den Menschen und deren Gesundheit. Lenkert [DIE LINKE]) Und das Ganze für was eigentlich? Liebe Frau Skudelny, ich finde das schon ein starkes Unter den Top-Ten-Risiken der kardiovaskulären Stück. Im Ausschuss bezweifeln Sie die Wissenschaft- Erkrankungen, der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die lichkeit von den Untersuchungen zur Schädlichkeit von im Wesentlichen am Ende zum Tode führen, sind Rau- NOx und der Feinstaubbelastungen für die Gesundheit. chen, falsche Ernährung und zu wenig Sport. Tatsächlich Sie stellen eine einfache These auf, nämlich: Die ärme- ren Leute wohnen an den stark belasteten Straßen. Sie kommt das NOx erst auf Rang 9, weit abgeschlagen hin- tendran. rauchen mehr und sind deswegen kränker. Deshalb kann man nicht davon ausgehen, dass die NOx-Belastung (Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ durch die Fahrzeuge die Leute wirklich krankmacht. – DIE GRÜNEN) Das spottet im Übrigen jeglicher Beschreibung. Ich möchte mit den Worten des grünen Oberbürgermeis- (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem ters Palmer sagen: Anstatt Fahrverbote zu machen, soll- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) 9180 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Parl. Staatssekretär Florian Pronold (A) Jetzt behaupten Sie: Es sind die falschen Messungen Das ist der wirksamste Schutz für die Menschen, die von (C) gemacht worden. – Wir haben in Nordrhein-Westfalen diesen Sachen betroffen sind. alle Messstellen untersucht, ob sie den Vorgaben ent- sprechen. Und sie entsprechen alle den Vorgaben. Eine (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem ist wegen einer Baustelle einmal kurzfristig versetzt wor- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) den; die entspricht nicht den Vorgaben. Jetzt werden wir Zum Abschluss eine kleine Bemerkung in Richtung alle Messstellen überprüfen; das habe ich hier in einer des Bundesverkehrsministeriums: Bei der Änderung des der letzten Sitzungen angekündigt. Das wird unabhängig Bundes-Immissionsschutzgesetzes geht es nicht um die vom TÜV gemacht. Dann haben wir darüber Klarheit. Veränderung des Grenzwertes. Der Grenzwert beträgt natürlich 40 Mikrogramm pro Kubikmeter. „Wir verän- Aber Sie interessiert gar nicht, ob die Messstellen dern keinen Grenzwert“, richtig aufgestellt sind oder nicht, weil jetzt die nächste Debatte darüber geführt wird, dass die Wissenschaftlich- (Christian Dürr [FDP]: Das ist die Haltung keit bei der Festsetzung der Grenzwerte nicht gegeben der Großen Koalition? Gut zu wissen!) ist. Da werden Trauben mit Rüben verglichen. das ist nicht meine Aussage, das ist nicht die Aussage der (Christian Dürr [FDP]: Also, Sie sagen, es Umweltministerin, das ist die Aussage der Bundeskanz- gibt keinen Handlungsbedarf? Das ist ja span- lerin vom 18. Dezember 2018 hier an dieser Stelle. nend!) (Beifall bei der SPD – Frank Sitta [FDP]: Da wird übrigens die Anhörung, die wir im Umweltaus- Alles Wochen her! – Christian Dürr [FDP]: schuss sehr qualifiziert durchgeführt haben, völlig igno- Danke für die Ehrlichkeit! Das ist eine ganz riert. wichtige Information!) (Beifall bei der SPD) Vizepräsidentin Claudia Roth: Wissenschaftlichkeit heißt erst einmal, dass man mit Vielen Dank, Florian Pronold. – Nächster Redner in Fakten gegeneinander argumentiert und dass man Din- der lebendigen Debatte: Ralph Lenkert für die Fraktion ge mit Studien belegt. Keine der Tausenden von Studien Die Linke. kommt zu dem Ergebnis, dass NOx oder Feinstaub keine Erhöhung des Gesundheitsrisikos bedeuten. (Beifall bei der LINKEN – Christian Dürr [FDP]: Keine Änderung des Grenzwerts! Das (Frank Sitta [FDP]: Das sagt auch keiner! Es hat die Bundesregierung gerade erklärt!) (B) geht um Verhältnismäßigkeit!) (D) Es gibt nirgends einen Hinweis darauf, dass es hier kei- Ralph Lenkert (DIE LINKE): nen Wirkungszusammenhang gibt. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kol- legen! Bei Fahrverboten hört für viele der Spaß auf. Jetzt Selbstverständlich kann man über Grenzwerte disku- vergessen Sie einmal die Aussagen von der rechten Seite tieren, weil sie zum Schluss eine Entscheidung der Poli- dieses Hauses, und gehen Sie auf Ihr eigenes Gefühl ein. tik sind. (Frank Sitta [FDP]: Gefühl?) (Christian Dürr [FDP]: Das hat Frau Skudelny doch gesagt gerade!) Die meisten Autofahrer vergessen, wie sie sich fühlen, wenn vor ihnen ein alter Diesel im Stau steht und sie Auf Basis von wissenschaftlichen Voruntersuchungen schlecht atmen können und auf Umluft schalten. kann es aus unterschiedlichen Überlegungen heraus zu unterschiedlichen Grenzwerten kommen. In den USA (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) zum Beispiel ist zwar der Grenzwert für NOx höher, aber die Feinstaubgrenzwerte sind viel niedriger als bei uns. Tatsache ist – das ist klar –: Es ist ein Durchschnitts- Wollen Sie die auch übernehmen und sagen: „Da wäre es wert – erinnern Sie sich an den Spruch: der Teich war schön, wenn wir uns an den USA orientieren“? im Durchschnitt einen Meter tief, trotzdem ist die Kuh (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordne- ersoffen –, ten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/ (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- DIE GRÜNEN und des Abg. Karsten Möring neten der SPD) [CDU/CSU] – Ulli Nissen [SPD]: Gute Fra- ge!) und es ist ein Mischwert. Verschiedene Schadstoffe, Feinstaub und Stickoxide, wirken zusammen wesentlich Man kann sich nicht immer nur das heraussuchen, was stärker als einer alleine. Statt sich darum zu kümmern, einem passt, sondern man muss schon bei den Fakten nur NOx zu untersuchen, müssten Sie die Mischung un- bleiben. tersuchen. Das habe ich Ihnen schon mehrfach gesagt; Sie lernen es nicht, und Sie werden es nicht lernen. Mein Eindruck ist auch, dass es einige gibt, die ver- suchen, die tatsächlichen Verursacher hintanstehen zu (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- lassen. Das, was wir brauchen, ist, dass die Automobil- neten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE industrie endlich dafür bezahlt, dass nachgerüstet wird. GRÜNEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9181

Ralph Lenkert (A) Wir alle wissen, dass Rauchen Kinder schädigt. In An- können sie die 10 Milliarden Euro für die Nachrüstung (C) betracht von Fahrverboten gibt es diese schrägen Verglei- doch locker bezahlen. che, und es wird gesagt: Zigaretten schaden nicht mehr als Dieselabgase oder umgekehrt. Ich frage Sie: Was soll (Beifall bei der LINKEN und dem BÜND- denn das? Nur weil das eine vielleicht weniger schäd- NIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordne- lich ist als das andere, sollen wir unsere Kinder krank- ten der SPD) machen? Ich komme zu diesen 112 Ärzten. „Frontal 21“ hat un- tersucht (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- neten der SPD) (Marc Bernhard [AfD]: 118!) – dann sind es eben 118; es sind trotzdem nur 3 Prozent Ich bin Asthmatiker, und ich kann Ihnen sagen: Wenn der 4 000 Lungenärzte –, dass sich fast keiner von ihnen der Adventskranz bei mir zu Hause eine halbe Stunde mit NO -Studien befasst hat. Sie fordern hier Wissen- brennt, blase ich die Kerzen aus und mache das Fenster x schaftlichkeit für Studien ein. Der in Ihrem Antrag zitier- auf. te Professor Köhler hat nicht eine wissenschaftlich über- (Lachen bei der AfD und der FDP) prüfte Studie zu NOx-Werten veröffentlicht – nicht eine! (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem – Da können Sie lachen; seien Sie froh, dass Sie diese BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Krankheit nicht haben. Das ist keine wissenschaftliche Praxis; das ist einfach (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Betrug. Wer einen solchen Kronzeugen heranruft, um auf BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wissenschaftlichkeit zu pochen, dem kann ich nur eines sagen: Er ist wissenschaftsfrei. Raucherzimmer kann ich umgehen, ich kann die Kerzen ausblasen, aber ich kann nicht die Luft anhalten, wenn (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem ich an der Kreuzung stehe; das ist mir schlicht unmög- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Christian lich. Jung [FDP]: Im Gegensatz zu Ihnen hat er Medizin studiert!) (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem Wir Linke fordern die Nachrüstung der Pkws zulasten BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) der Autokonzerne. Dann werden Fahrverbote vermieden, dann wird unsere Gesundheit geschützt. Das ist auf je- Sorry, aber alle, denen es ähnlich geht, Ältere, Kinder den Fall ein besserer Weg, als sich zum Büttel der Kon- (B) und Kranke, haben ein Recht auf saubere Luft. (D) zernprofite zu machen, so wie es die rechte Seite dieses Jetzt komme ich zum eigentlichen Verursacher der Saales tut. Probleme. Seit drei Jahren ist der skandalöse Betrug von Vielen Dank. VW, Audi, BMW und Daimler bekannt – seit drei Jahren! In den USA ist es diesen Konzernen möglich, Pkws anzu- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und bieten, die die Emissionsgrenzwerte einhalten. dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Marc Bernhard [AfD]: Wir sind der Anwalt der Bür- (Ulli Nissen [SPD]: Hört! Hört!) ger, der 2 Millionen Dieselfahrer!)

Ich meine die Grenzwerte am Auspuff. Bei der Euro- Vizepräsidentin Claudia Roth: 6-Norm gilt am Auspuff ein Grenzwert von 80 Gramm NO pro Kilometer. In den USA gilt ein Grenzwert von Vielen Dank, Ralph Lenkert. – Nächste Rednerin: x Dr. Bettina Hoffmann für die Fraktion Bündnis 90/Die 43 Gramm NOx pro Kilometer im Flottendurchschnitt. Das ist deutlich weniger. Überraschung: Die deutschen Grünen. Autokonzerne können, nachdem sie 14 Milliarden Euro (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Strafe zahlen mussten, nach dem Zwang zur Rücknahme oder der Drohung, ohne Nachrüstung keine Autos mehr Dr. Bettina Hoffmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- verkaufen zu dürfen, plötzlich ihre Flotten so ausstatten, NEN): dass sie diese Grenzwerte einhalten. Sie schaffen es. Würden wir in Deutschland die Fahrzeuge nach ameri- Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist kanischen Zuständen zulassen, dann gäbe es hier keine jetzt das fünfte Mal hintereinander, dass wir hier über Fahrverbote; sie wären schlicht überflüssig. den Stickoxidgrenzwert diskutieren. Wir erleben hier nur Angriffe auf das Vorsorgeprinzip und auf den Gesund- (Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem heitsschutz. Sie halten NOx für ungefährlich? Dann un- BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) termauern Sie das doch bitte einmal mit wissenschaftli- chen Studien Ich frage mich, wieso in Deutschland die Autofahre- (Marc Bernhard [AfD]: Der Grenzwert ist das rinnen und Autofahrer und die Steuerzahler für die Über- Problem!) nahme der Kosten für die Nachrüstung herangezogen werden und nicht die Konzerne, die in den letzten zwei – darum geht es ja gar nicht; es geht um den Wirkstoff –, Jahren 55 Milliarden Euro Gewinn gemacht haben. Da doch genau das können Sie nicht. Die Studienlage ist ein- 9182 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Dr. Bettina Hoffmann

(A) deutig: NO2 ist gesundheitsschädigend, sogar in Spuren. Es ist nicht Ihre Aufgabe, die Schutzwerte für unsere Ge- (C) Auswirkungen von Stickoxiden auf die Gesundheit sind sundheit zu schleifen. Ihre Aufgabe ist es, die Luft für schon unter dem jetzigen Grenzwert nachweisbar. alle sauber zu machen. Setzen Sie Ihre Kraft doch dafür ein. (Marc Bernhard [AfD]: Wo ist denn die klini- sche Studie dazu?) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der – Die gibt es reichlich. LINKEN) Besonders kritisch ist der Cocktail aus Feinstaub, Stickoxiden und anderen Luftschadstoffen. Um es ein- Wir brauchen jetzt verpflichtende Hardwarenachrüs- mal klar zu sagen: Dieser Grenzwert war vor 20 Jahren tungen – wir haben es von Herrn Pronold eben gehört –, angemessen, als er von der damaligen CDU-Umwelt- und zwar auf Kosten der Hersteller, wir brauchen die ministerin Frau Merkel mit ausgehandelt wurde. Der blaue Plakette – das sorgt für saubere Luft und verhindert Grenzwert war vor zehn Jahren immer noch angemessen, Fahrverbote. Diese Scheindebatten über Grenzwerte hel- als er mit breiter Zustimmung des EU-Parlaments erneut fen jedenfalls kein Stück weiter. bestätigt wurde, auch mit den Stimmen der FDP, und der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Grenzwert ist auch heute ganz sicher nicht zu niedrig. sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Er wird kontinuierlich überprüft, derzeit gerade von der WHO, und – darauf können Sie sich einstellen –: Mögli- cherweise ist er noch zu hoch. Vizepräsidentin Claudia Roth: Es ist absurd, dass wir über die Aussetzung des Vielen Dank, Bettina Hoffmann. – Nächster Redner: Dr. Christoph Ploß für die CDU/CSU-Fraktion. NO2-Grenzwertes diskutieren, nur weil hundert Lungen­ ärzte diesen Grenzwert plötzlich nicht mehr nachvollzie- (Beifall bei der CDU/CSU) hen können. Kein einziger Wissenschaftler, der zu dieser Frage geforscht hat, gehört dazu. Selbst unter den Ärzten ist diese Gruppe eine absolute Minderheit. Die überwäl- Dr. Christoph Ploß (CDU/CSU): tigende Mehrheit fordert saubere Luft in unseren Städten. Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Gerade in dieser Woche haben Kinderlungenärzte noch Ein Verbot von Coca-Cola würde vieltausendfach mehr einmal explizit auf die Gefahren von Luftschadstoffen Leben retten als Fahrverbote für Dieselfahrzeuge. für besonders gefährdete Personen hingewiesen: Kinder, Schwangere, Asthmatiker. Für diese empfindlichen Men- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Was ist (B) schen machen wir diese Grenzwerte. Es geht darum, ein das für ein Vergleich? – Steffi Lemke [BÜND- (D) Recht auf saubere Luft zu haben, überall und zu jeder NIS 90/DIE GRÜNEN]: Suchen Sie sich eine Zeit, und es geht um körperliche Unversehrtheit. bessere Quelle! – Weitere Zurufe vom Bünd- nis 90/Die Grünen) (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) – Liebe Kollegin von den Grünen, dieser Satz ist keine Der eigentliche Skandal – das macht mir wirklich et- Erfindung von mir. Er kommt auch nicht aus irgendeiner was aus – ist aus meiner Sicht das Rechtsverständnis, das Quelle. Herr Scheuer zusammen mit FDP und AfD hier an den (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Tag legt. NEN]: Suchen Sie sich eine bessere Quelle als (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Herrn Palmer!) NEN]: So ist es!) Es ist ein Zitat vom grünen Spitzenpolitiker Boris Palmer Sie machen Stimmung gegen Gerichtsurteile. Sie ver- aus einem Gastbeitrag in der „Welt“ in dieser Woche. unglimpfen diejenigen, die die Einhaltung von Recht einklagen, und Sie tun so, als würden Sie Fahrverbote (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- per Gesetz überhaupt verhindern können. Damit führen NEN]: Deshalb sollen Sie sich eine bessere Sie die Dieselfahrer in die Irre. Der EuGH und das Bun- Quelle suchen als Herrn Palmer!) desverwaltungsgericht sagen klipp und klar: Ende 2019 Das zeigt, dass sich die ganze Debatte rund um das The- müssen diese Grenzwerte eingehalten sein. ma „Diesel, Stickoxidwerte und Fahrverbote“ von Ideo- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) logie in Richtung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und objektiven Kriterien bewegt. Mit diesem ganzen Grenzwerttheater, das Sie hier veranstalten, soll doch einfach nur davon abgelenkt wer- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- den, dass die Stickoxidgrenzwerte seit fast zehn Jahren NEN]: Ist Palmer eine gute Quelle dafür?) überschritten werden. Kein Verkehrsminister aus dieser Zeit – übrigens alle von der CSU – hat das in den Griff Deswegen bin ich Herrn Palmer und Spitzenpolitikern bekommen. Die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen, das der Grünen auch dankbar, dass sie diese Debatte mit an- ist die Aufgabe der Regierung. stoßen; denn die durch die Stickoxidgrenzwerte drohen- den oder teilweise sogar schon bestehenden Fahrverbote (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) haben doch bisher eines gezeigt: Sie sind eine Schikane Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9183

Dr. Christoph Ploß (A) für die Bürger. Sie schränken die Mobilität von Hand- Boris Palmer – ich muss ihn noch einmal zitieren – in (C) werkern, von Pendlern, von vielen Autofahrern ein. dieser Woche ebenfalls gesagt hat.

(Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Sie reden hier über Herrn Scheuer, NEN]: Sie sind wohl ein Palmer-Fan! Der nicht über uns!) letzte Palmer-Fan!) Er hat nämlich gesagt: Aber sie haben letztlich auf die Umwelt überhaupt kei- nen positiven Einfluss gehabt. Die Grenzwerte für einige Jahre etwas anzuheben, um Fahrverbote auf absolute Ausnahmen zu be- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) schränken, wäre vertretbar. In meiner Heimatstadt Hamburg, in der vom rot-grü- Dazu kann ich nur sagen: Ich hoffe, dass sich der Einfluss nen Senat schon Fahrverbote erlassen worden sind, ha- der baden-württembergischen Grünen und von Boris ben sich die Stickoxidwerte sogar erhöht und nicht ver- ­Palmer auf die Grünen in Deutschland ausbreitet. bessert. Deswegen ist das der falsche Ansatz. (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: (Beifall bei der CDU/CSU – Steffi Lemke Der Beifall ist mau! – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erklären Sie [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Boris Palmer das Herrn Scheuer und nicht uns!) ist nicht Baden-Württemberg!) Meine Damen und Herren, man muss hier noch mal Für uns ist klar: Wir verbessern die Luftqualität nicht etwas klarstellen. Man bekommt in dieser Debatte den durch Verbote und staatliche Gängelung und staatliche Eindruck, als würde sich die Luftqualität in Deutschland Bevormundung. Vielmehr müssen wir in Innovation, in immer weiter verschlechtern. Auch hier ist das Gegen- Hightech und in die Forschung investieren, teil der Fall; denn die Luftqualität wird seit Jahren immer besser. Seit dem Jahr 1990 haben sich die Werte um mehr (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- als 60 Prozent verbessert. Auch das Umweltbundesamt, NEN]: Das wird aber mit Herrn Scheuer das ja in dieser Woche neue Zahlen präsentiert hat, hat nichts!) mitgeteilt: Die Luftqualität in Deutschland hat sich im wie wir das auch schon in den vergangenen Jahren ge- Vergleich zum vergangenen Jahr wieder verbessert. – macht haben. Das wird der Weg sein. Aber bitte keine Das sind Fakten, die auch Sie von den Grünen hier mal grüne Ideologie! zur Kenntnis nehmen sollten. (B) Meine Damen und Herren, am Ende brauchen wir ei- (D) (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- nen Dreiklang. Wir brauchen – erstens – Investitionen in NEN]: Das haben wir schon vor Ihnen!) Elektromobilität. Da muss ich

Meine Damen und Herren, mittlerweile gibt es – das (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- hat mein Kollege Möring von der CDU/CSU eben schon NEN]: Palmer zitieren!) angesprochen – einige Ärzte und Wissenschaftler, die das von Ihnen gescholtene Bundesverkehrsministerium sagen, man müsse über die Grenzwerte diskutieren. Wir in Schutz nehmen. Es investiert in den vergangenen Jah- wissen: Es gibt auch andere Meinungen. Uns ist aber ren massiv. Die Zahl der Ladepunkte wird erhöht. Wir wichtig, dass es hin zu wissenschaftlicher Untersuchung wollen am Ende der Legislaturperiode 100 000 Lade- und weg von Ideologie geht und die Wissenschaftler am punkte in Deutschland haben. Ende das Wort haben. (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- (Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir wollten mal 1 Million Elektroau- NEN]: Das ist wissenschaftsbasiert! Ideologie tos! Was ist daraus geworden?) machen Sie!) Wir wollen die Zahl der Wasserstofftankstellen verdop- peln. Wir wollen im Übrigen auch die Entwicklung von Deswegen begrüße ich auch, dass der Bundesverkehrs- synthetischen Kraftstoffen politisch unterstützen; minister genau darum bittet und einen Brief an die Kommission geschrieben hat. Das ist der (Steffi Lemke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- Weg, den ein Großteil der Bürger in unserem Land be- NEN]: Nicht wollen, machen sollen Sie!) schreiten möchte. denn auch diese brauchen wir für den Klimaschutz und (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) eine bessere Mobilität. (Beifall der Abg. Dr. [CDU/ Meine Damen und Herren, vor diesem Hintergrund CSU]) ist es natürlich auch notwendig, das Bundes-Immissions- schutzgesetz zu ändern; denn dann könnten viele Fahr- Zweitens brauchen wir Investitionen in den öffentli- verbote, die, wie eben dargestellt, keinen Einfluss auf das chen Nahverkehr. Darüber haben Sie in dieser Debatte Klima und auf die Luftqualität haben, wieder abgeschafft kein Wort verloren. Auch das hat mit Luftqualität zu werden. Das würde die Mobilität in unserem Land deut- tun. Deswegen wollen wir als CDU/CSU zusammen mit lich erhöhen. Deswegen kann ich nur unterstreichen, was der SPD in der Koalition in dieser Legislaturperiode die 9184 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Dr. Christoph Ploß (A) Mittel für den öffentlichen Nahverkehr von 333 Millio- tal 21“ hingewiesen und habe ihn als manipulativ be- (C) nen auf 1 Milliarde Euro verdreifachen. Davon werden zeichnet. Wer das nicht verstanden hat, dem empfehle viele Projekte in Großstädten profitieren, zum Beispiel ich bei Google einfach mal „Mieruch“ und „BMW“ ein- die nordmainische S-Bahn von Frankfurt bis Hanau, die zugeben. Sie finden dort ein neunminütiges Video. Sehen zweite S-Bahn-Stammstrecke in München oder die neue Sie es sich an! Danach sind Sie schlauer. Das ZDF hat S-Bahn-Linie S 4 oder die U-Bahn-Linie 5 in Hamburg. mittlerweile auf Nachfrage schriftlich eingeräumt, dass Das sind doch die richtigen Ansätze. Aber bitte keine die im Beitrag gezeigten Fahrzeuge aus den USA und aus Fahrverbote und keine grüne Ideologie! Deutschland technisch nicht identisch sind. Man wollte nur zeigen, dass der Bauraum vorhanden ist. Man hat (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) ebenfalls eingeräumt, dass man in diesem Beitrag eine Wir brauchen – drittens – eine stärkere Digitalisierung ganze Reihe von weiteren Dingen, die zum Umbau erfor- des Verkehrs; denn auch damit kann man die Luftqualität derlich sind, einfach weggelassen hat. in Deutschland verbessern. Intelligente Verkehrsleitsys- teme haben oft einen viel größeren Effekt auf die Umwelt Vielen Dank. und die Sicherheit als zum Beispiel ein Tempolimit, das Sie fordern. Vizepräsidentin Claudia Roth: Deshalb werbe ich am Schluss noch mal für diesen Danke schön. – Die letzte Rednerin in der Debatte ist Dreiklang: Investitionen in neue Antriebstechnologien, Ulli Nissen für die SPD-Fraktion. Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr und auch in den Radverkehr und Investitionen in die Digitalisierung (Beifall bei der SPD) des Verkehrs. So werden wir es schaffen, die Luftqualität in Deutschland noch weiter zu verbessern. Ulli Nissen (SPD): Herzlichen Dank. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der AfD-Antrag fordert „Vorfahrt für wissen- (Beifall bei der CDU/CSU) schaftliche Erkenntnisse“. Wissenschaftliche Erkenntnis- se bei der AfD? Vizepräsidentin Claudia Roth: Vielen Dank, Christoph Ploß. – Nächster Redner: (Lachen bei Abgeordneten der AfD – Hansjörg Mario Mieruch. Müller [AfD]: Da können Sie gleich aufhören, wenn Sie nichts Gescheites sagen!) (B) Mario Mieruch (fraktionslos): „Spiegel Online“ hat zur Auswahl des AfD-Experten (D) Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen für die Anhörung zur Gefährlichkeit von Autoabgasen und Herren! Wie immer bei diesem Thema ist auch heute getitelt „AfD lädt Affentest-Professor in den Bundestag“. reichlich Stimmung im Haus: viel Geschrei statt Sach- Letztes Jahr wurde bekannt, dass Herr Greim an den aus lichkeit. meiner Sicht höchst verwerflichen Dieselabgastests an Affen beteiligt war. Einen ähnlich unseriösen Eindruck Der AvD hat sich diese Woche noch einmal damit be- hatte ich von ihm am Mittwoch bei der Anhörung. Es schäftigt, wie die WHO überhaupt zu diesen Ergebnissen hätte mich nicht gewundert, wenn er aus stark belasteten gekommen ist. Dabei kam heraus, dass die EU besonders Städten Luftkurorte hätte machen wollen. darauf gedrängt hat, dass die WHO sich dazu äußert. Die WHO wollte das eigentlich gar nicht. Sie sagte damals: (Beifall bei der SPD – Karsten Hilse [AfD]: Wir haben gar keine valide Datenbasis, auf der wir eine War ja ein richtiger Kalauer!) solche Aussage gesichert treffen können. – Nach fort- währender Intervention seitens der Europäischen Union International renommierte Forscher machen dagegen hat sich die WHO dann letzten Endes hinreißen lassen, deutlich, dass Luftschadstoffe die Risiken, Krebs, Herz­ diese Metastudie zu erstellen, auf der der geschätzte erkrankungen und Demenz zu bekommen, deutlich ver- Wert, um den es fast täglich geht, basiert. schärfen. Sie nennen Luftverschmutzung „stille Epide- mie“. Der Mediziner und Umweltbiologe Alexander Kekulé hat sich mit dieser Metastudie befasst und kam zu dem Gute Luftqualität wird auch in den SDGs gefordert, gleichen Ergebnis, das ich unlängst schon einmal vorge- auf die wir uns gemäß UN-Resolution 2015 verpflichtet tragen habe: Man legte Äpfel neben Birnen, um die Frage haben. In 3 von 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung ist zu beantworten, ob eine Banane gelb ist. Luftqualität ein Thema. Zwei führe ich aus. Ziel 3 will: Wir können gerne das Feinstaubthema aufgreifen. In Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters Berlin kommen mittlerweile nur noch 4 Prozent des vor- gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern. handenen Feinstaubs aus dem Auspuff. Selbst Stuttgart hat mittlerweile überhaupt kein Feinstaubproblem mehr. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Dazu können Sie die Wissenschaftler des Karlsruher KIT befragen, die das zurzeit sehr flächendeckend monitoren. Unterziel 3.9 fordert: Kommen wir zum Thema Nachrüstung: Vor zwei Bis 2030 die Zahl der Todesfälle und Erkrankungen Wochen habe ich schon kurz auf den Beitrag von „Fron- aufgrund gefährlicher Chemikalien und der Ver- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9185

Ulli Nissen (A) schmutzung und Verunreinigung von Luft, Wasser Gestern Abend durfte ich Lukas Schlapp aus Frankfurt (C) und Boden erheblich verringern. kennenlernen. Er war einer von zwei Jugenddelegierten zur UN-Generalversammlung. Er hat mir eines für die (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten heutige Debatte mitgegeben. Er sagt: Während Hunderte der LINKEN – Karsten Hilse [AfD]: Erheb- junge Menschen in ganz Deutschland für effektiven Kli- lich! Wir verringern Ihre Prozentzahlen erheb- maschutz auf den Straßen demonstrieren, lich!) (Karsten Hilse [AfD]: Bitte gehen Sie auch Ziel 11: freitags mit! Dann ist hier freitags Ruhe!) Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstands- zweifelt die AfD den gesundheitlichen Schaden von fähig und nachhaltig gestalten. Stickoxiden an. Ein Sinnbild, was passiert, wenn man Unterziel 11.6 präzisiert: nur alten, weißen und enttäuschten Männern die Politik überlässt. Bis 2030 die von den Städten ausgehende Umwelt- belastung pro Kopf senken, unter anderem mit be- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten sonderer Aufmerksamkeit auf der Luftqualität und der LINKEN – Karsten Hilse [AfD]: So alt bin der kommunalen und sonstigen Abfallbehandlung. ich nun auch nicht! Wenn wir nur alten, wei- ßen Frauen das Ruder übergeben, dann sind Für die SPD ist die Umsetzung der UN-Nachhaltig- Sie dran!) keitsziele ein sehr wichtiges Thema. Deshalb wollen wir die Luftqualität deutlich verbessern, liebe Kolleginnen Ja, lieber Lukas, das sehe ich genauso. Natürlich werden und Kollegen. wir den Autolobbyistenantrag der AfD ablehnen. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Ich bedanke mich bei meinem Frankfurter Schüler- der LINKEN) praktikanten. Er sitzt gerade auf der Tribüne. Dazu gehört natürlich auch die technische Nachrüs- (Karsten Hilse [AfD]: Um Gottes willen! Sie tung der Fahrzeuge. Leider habe ich das sehr böse Ge- haben sich wieder mal übertroffen! Super! fühl, dass dies der CSU-Verkehrsminister Scheuer nicht Ganz klasse!) will. Erst wurde im Anschreiben des Kraftfahrt-Bun- desamtes an die betroffenen Bürger nur auf Umtausch- Lieber Henri Hamacher, du hast mich bei der Recherche prämien mit Kontaktdaten von BMW, Daimler und VW zum Antrag super unterstützt. hingewiesen und eben nicht auf die Möglichkeit der tech- Ich danke dir und Ihnen für die Aufmerksamkeit. (B) nischen Nachrüstung. Was mich zutiefst empört: Jetzt (D) sind die Bedingungen für die technischen Nachrüstungen (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten bekannt. Die sind schärfer als für Neufahrzeuge. Herr der LINKEN – Karsten Hilse [AfD]: Was für Minister Scheuer, leider hat sich dadurch mein Verdacht eine populistische Rede! Eine Beleidigung für verschärft, dass Sie nur an einem Neuverkaufsförderpro- dieses Haus!) gramm für die Autohersteller interessiert sind. (Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe Vizepräsidentin Claudia Roth: von der CDU/CSU: Ui!) Vielen Dank, Ulli Nissen. – Ich schließe die Ausspra- che. Wir von der SPD wollen eine gute Lösung für die technische Nachrüstung, die natürlich von den Herstel- Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf lern bezahlt wird. Wir sind auf der Seite der Bürgerinnen Drucksache 19/7471 an die in der Tagesordnung aufge- und Bürger, die sich kein neues Fahrzeug kaufen wollen führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind einverstan- oder auch – das sind viele – nicht kaufen können. den? – Dann ist die Überweisung so beschlossen. (Marc Bernhard [AfD]: Wo denn? – Karsten Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Hilse [AfD]: SPD auf der Seite der Bürger! Da lache ich aber!) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hubertus Zdebel, Fabio De Masi, Jörg Cezanne, weiterer Ich persönlich bin für Tempo 130 auf den Autobah- Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE nen. Das bedeutet eine Reduzierung der Schadstoffe und einen geringeren Spritverbrauch und natürlich auch ein Dispozinsen deckeln – Verbraucherinnen und viel entspannteres Fahren. Verbraucher vor Überschuldungsfalle schützen (Beifall bei Abgeordneten der SPD) Drucksache 19/6525 Überweisungsvorschlag: Ich selber versuche, viel zur Reduzierung von Schad- Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz (f) stoffen, auch von Lärm, beizutragen. Seit fast zehn Jah- Finanzausschuss (f) ren bin ich in meinem Frankfurter Wahlkreis elektromo- Federführung strittig bil unterwegs. In Berlin erledige ich fast alles mit dem Fahrrad. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 38 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. 9186 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Vizepräsidentin Claudia Roth (A) Ich bitte, die Plätze zu tauschen oder einzunehmen Zweitens. Kunden sollten einfach die Bank wechseln. (C) oder beides, bevor ich den ersten Redner aufrufe. Mit Verlaub: Das ist weltfremd. Wie soll das laufen? Gu- ten Tag, ich bin Herr oder Frau Dispo und möchte gerne Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort an ein Konto bei Ihnen. – Das ist wie bei der Französischen Fabio De Masi für die Fraktion Die Linke. Revolution: Wenn die Armen kein Brot haben, sollen sie (Beifall bei der LINKEN) doch Kuchen essen. Die Linke fordert von daher einen gesetzlichen De- Fabio De Masi (DIE LINKE): ckel für den Dispo und auch für Überziehungskredite von Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! 5 Prozentpunkten über dem aktuellen Leitzins der EZB. Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Wenn man auf dem Konto ins Minus rutscht, dann drohen horrende (Beifall bei der LINKEN) ­Dispozinsen der Banken. Die Linke findet: Auf diese Auch die Schuldnerberatung der Länder und Kommu- ­Dispoabzocke muss der Deckel drauf. nen ist zu stärken. Mit unserem Antrag würden den Ver- (Beifall bei der LINKEN) braucherinnen und Verbrauchern von den 3 Milliarden Euro Zinsgewinn 1,5 Milliarden Euro wieder zurückge- Fast 10 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in geben. Die Banken laufen daher gegen den Dispodeckel Deutschland sind überschuldet. Das ist schlecht für die Sturm. Das zeigt: Wir machen etwas richtig. Leute, aber ein Geschäft für die Banken. „Money for no- thing“ – Geld für nichts – sangen die Dire Straits. Deut- Vielen Dank. sche Banken leihen sich derzeit bei der Europäischen (Beifall bei der LINKEN) Zentralbank Geld zu null Prozent, im Prinzip kostenlos; billiger geht nicht. Vor der Finanzkrise betrug der Unter- schied zwischen dem Leitzins der EZB und dem Dispo- Vizepräsidentin Claudia Roth: zins einer Bank im Durchschnitt 8 Prozentpunkte. Aktuell Vielen Dank, Fabio De Masi. – Nächster Redner: sind es 10 Prozentpunkte, bei der Volksbank Raiffeisen- Sebastian Steineke für die CDU/CSU-Fraktion. bank Oberbayern Südost sogar 14 Prozentpunkte. Seither ist es also schlimmer geworden. Für die Banken ist das (Beifall bei der CDU/CSU) ein lukratives Geschäft. Jeder Prozentpunkt Dispozins bereichert Kreditinstitute um 340 Millionen Euro. Das Sebastian Steineke (CDU/CSU): sind Zinsgewinne von 3 Milliarden Euro im Jahr. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! (B) Fast jeder zweite Bankkunde in Deutschland nutzt Liebe Gäste! Wir reden heute über einen Antrag der (D) den Dispo, 17 Prozent der Bankkunden sogar dauerhaft. Linksfraktion zu einem Thema, über das wir in den letz- Aber wer nutzt den Dispo? Sicher nicht Sie oder ich mit ten Jahren bereits häufiger im Plenum diskutiert haben. einem doch relativ komfortablen Auskommen hier im Auch von den Grünen gab es Anträge, die in eine ähnli- Bundestag, sondern Arbeitslose, Alleinerziehende, Rent- che Richtung zielten. ner, Familien mit Kindern, Geringverdiener und kleine Selbstständige. Sie alle werden ausgenommen wie eine Sie wiederholen, wie in den Vorjahren, die Forderung Weihnachtsgans. Das Argument der Bankenlobby, der nach dem Dispodeckel – das haben wir gerade gehört: Dispo sei ein unbesicherter Kredit ohne Rückzahlungs- 5 Prozentpunkte über dem Leitzinssatz der EZB – und pflicht, trägt nicht. Die Ausfallquote dieser Kredite liegt danach, dass die Banken an anderer Stelle Entgelte und unter 1 Prozent. Verbraucherinnen und Verbraucher rut- Gebühren nicht unangemessen erhöhen dürfen. Das schen so in die Verschuldungsspirale und häufig vom klingt auf den ersten Blick nach Wohlfühlpolitik – das ­Dispo in den geduldeten Überziehungskredit. Dann kom- ist, glaube ich, auch besonders populär –, aber so einfach men noch einmal 5 Prozentpunkte obendrauf. ist es am Ende des Tages nicht. Eine Schranke für Dispozinsen findet sich nur in (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Gut und po- § 138 des BGB: Sittenwidrigkeit und Wucher. Der Bun- poulär! – [DIE LINKE]: Es ist ein- desgerichtshof nimmt Sittenwidrigkeit aber erst bei einer fach in der Sache richtig!) Zinsrate von 12 Prozentpunkten über dem Marktzins an. – Eben nicht. Auch das Zahlungskontengesetz und strengere Bera- tungspflichten der Banken verhindern keine Wucherz- Zunächst einmal – das haben wir mehrfach betont, insen. Stiftung Warentest beklagt zum Beispiel, dass auch die Bundesregierung – können wir festhalten, dass Angaben der Banken oft irreführend sind oder trotz ge- wir das Verhalten der Kreditinstitute schon sehr genau setzlicher Vorschriften gänzlich fehlen. beobachten und feststellen müssen, dass es Kreditinstitu- te gibt – Kollege Ullrich wird dazu noch einige besonde- Die Bundesregierung beklagt in einer Mitteilung vom re Zahlen nennen; die habe ich gar nicht erfunden –, die 14. Januar mit dem Titel „Konto-Minus vermeiden“, die besonders hohe Dispo- und Überziehungszinsen nehmen. Dispozinsen seien – ich zitiere – „viel zu hoch“. Die Re- Das ist unbestritten. Ich glaube, wir sind uns auch alle ei- gierung wäre aber nicht die Regierung, wenn sie nicht nig, dass wir das nicht wollen und dass wir dann, wenn es gleich einen praktischen Vorschlag für die Bevölkerung notwendig ist, gesetzgeberisch vorgehen müssen. Genau hätte. Erstens. Vor dem Kauf von Weihnachtsgeschenken das haben wir vor einigen Jahren bereits getan. Das ist sollte die Bevölkerung eine eiserne Reserve aufbauen. hier heute unterschlagen worden. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9187

Sebastian Steineke (A) Wir haben mit der Umsetzung der EU-Wohnimmobili- die Homepages der einzelnen Banken gehen. Die Hin- (C) enkreditrichtlinie geregelt, dass die Banken den Kunden weispflichten sind da vielleicht nicht immer durchge- eine Beratung anzubieten haben, wenn er seine einge- hend erfüllt worden. Darüber sollten wir reden. Das ist räumte Überziehungsmöglichkeit ununterbrochen über auch der Weg, den wir gemeinsam beschreiten sollten. einen Zeitraum von sechs Monaten und durchschnittlich Deswegen lehnen wir diesen Antrag in der Form auch ab. in Höhe eines Betrages in Anspruch genommen hat, der 75 Prozent des vereinbarten Höchstbetrages übersteigt. Vielen Dank. Wir haben in der Vorschrift diese Beratungsleistung auch (Beifall bei der CDU/CSU) bei einer geduldeten Überziehung von 50 Prozent über drei Monate vorgesehen. Das Beratungsangebot ist sogar in Textform zu dokumentieren und vom Kunden entge- Vizepräsidentin Claudia Roth: genzunehmen. Die Verbraucher müssen frühzeitig ge- Vielen Dank, Sebastian Steineke. – Nächster Redner warnt werden, um eine dauerhafte Inanspruchnahme zu ist Stefan Keuter für die AfD-Fraktion. vermeiden. Die Banken sind inzwischen auch gesetzlich (Beifall bei der AfD) verpflichtet worden, die Verbraucherinnen und Verbrau- cher über preisgünstigere Alternativen zum Dispokredit zu informieren. Das haben wir alles bereits vor einiger Stefan Keuter (AfD): Zeit festgelegt. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolle- gen! Liebes Publikum! Liebe Zuschauer zu Hause an den Die Evaluierung der Vorschriften zur Wohnimmo- Fernsehgeräten! Liebes – leider immer noch unvollstän- bilienkreditrichtlinie steht noch in diesem Jahr an. Ich diges – Präsidium! Ich darf daran erinnern: Die AfD hat glaube, wir sind gut beraten, das Ganze abzuwarten und immer noch keine Bundestagsvizepräsidentin oder kei- zu schauen, ob sich daraus weitere Handlungsmöglich- nen -vizepräsidenten. keiten ergeben. (Dr. [SPD]: Das nicht Meine Damen und Herren, es gibt aber auch Institu- ohne Grund!) te, die einen sehr geringen Zinssatz anbieten. Man darf mitnichten alle Kreditinstitute über einen Kamm scheren. Die Linkspartei möchte wieder einmal in die Frei- In Brandenburg liegt die Spanne bei den Kreditinstituten heitsrechte der Marktteilnehmer unserer sozialen Markt- zum Teil deutlich über 6 Prozentpunkten. Wir haben In- wirtschaft eingreifen. stitute mit Zinsen deutlich unter 7 Prozent, und wir haben auch welche mit Zinsen deutlich über 12 Prozent. Das (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Frakti- ist übrigens ein Beweis dafür, dass der Markt durchaus on, nicht Partei!) (B) (D) funktioniert und dass einige gesetzgeberische Maßnah- Diesmal soll das eh schon darbende Bankgewerbe ge- men hier schon gefruchtet haben. troffen werden. Meine lieben Kolleginnen und Kolle- Ich kann zum Beispiel für die Sparkasse aus mei- gen der Linkspartei, lieber Fabio De Masi, das war ein nem Wahlkreis besondere Zahlen in Anspruch nehmen: ziemlich dünner verbaler Erguss, der da eben kam. Für Sie hat im Jahr 2018 einen durchschnittlichen Zins von einen Volkswirt müsste da ein bisschen mehr Substanz 6,95 Prozent; das nimmt sie auch weiterhin. Das ist im am Knochen sein. Übrigen ungefähr der Wert, den Sie sich vorstellen. Et- Ich gehe jetzt auf drei Themen ein, einmal auf die Sicht was darüber liegt er noch. der Banken, dann auf die Sicht der Verbraucher, und als Wir haben bereits in den Debatten in den Vorjahren Drittes rechnen wir zusammen gleich mal ein bisschen. darauf hingewiesen, was passiert, wenn man gesetzge- Meine Damen und Herren, die Linke will den Banken berisch einen solchen Deckel einführt. Dann wird näm- vorschreiben, dass der Dispozins für Kunden maximal lich genau das passieren, was wir alle nicht wollen, dass 5 Prozentpunkte über dem – wie sie es nennt – Leitzins nämlich die Banken, die besonders günstige Dispozinsen der EZB liegen soll. Das ist linke Gleichmacherei. Das anbieten, diese bis zur Höhe des vorhandenen Deckels ist Sozialismus pur, und das ist mit uns nicht zu machen. anheben werden, wenn der Leitzins wieder anzieht, und sie werden dann sagen: Wir haben doch den Deckel. (Beifall bei der AfD – Helin Evrim Sommer Dann können wir doch bis zu dieser Höhe gehen. – Ich [DIE LINKE]: Wäre ja schön, wenn es so ein- glaube, das hilft keinem einzigen Verbraucher und kann fach wäre!) auch nicht Sinn und Zweck unserer Politik sein. So, ich kündigte es Ihnen an: Punkt eins: Wir schauen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) uns die Bankenseite an. Das grundsätzliche Problem sehen wir. Wir verfolgen (Zurufe von der LINKEN) dabei aber einen anderen Ansatz. Banken müssen noch mehr verpflichtet und sensibilisiert werden, die Kunden – Dass man mit so wenigen Abgeordneten hier so einen angemessen zu beraten. Wir brauchen klare Prüfpflichten Krach macht, das kann nur die Linkspartei. für die Angemessenheit der Zinshöhe. Und wir brauchen Wir schauen uns die Bankenseite an. Haben Sie als noch mehr Transparenz. Vor allen Dingen – darauf müs- Antragsteller eigentlich schon mal eine Bank von innen sen wir schon hinweisen – brauchen wir effektive Kon- gesehen? trollen, ob denn das, was wir gesetzgeberisch festgelegt haben, auch umgesetzt wird. Da kann man gerne mal auf (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Ja!) 9188 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Stefan Keuter (A) – Ja, Dispozins beantragt; ich weiß. – Als gelernter Bank- So, ich sagte: Punkt drei: Wir rechnen mal zusam- (C) kaufmann und studierter Betriebswirt, Schwerpunkt men. Das „Handelsblatt“ hat eine Umfrage gemacht. Bankbetriebswirtschaftslehre, will ich Ihnen da mal ein Nur 11,8 Prozent der Dispositionskredite liegen über bisschen was erklären. Der Hauptrefinanzierungssatz der 1 500 Euro, das heißt über 88 Prozent unter 1 500 Euro. EZB dient der Beleihung von erstklassigen Wertpapie- Wir rechnen mal: Bei einem durchschnittlichen Dispo- ren, die die Bank zuvor erworben hat, also gute Bonitä- sitionszinssatz von 9,72 Prozent beträgt die Zinslast ten. Mit der Refinanzierung von Dispositionskrediten hat 138 Euro pro Kreditnehmer und Jahr. Was Sie mit der dieser Satz nichts, aber auch gar nichts zu tun. Deckelung erreichen wollen, wäre eine Ersparnis von 63 Euro. Das heißt, die Zinslast würde bei 75 Euro lie- Vielmehr kommt hier ein Mix aus Einlagen, ausste- gen. Meinen Sie wirklich, dass Sie mit diesem margi- henden Inhaberschuldverschreibungen und diversen nalen Betrag die Verbraucher entschulden können, dass Eigenkapitalprodukten zur Anwendung. Dazu kommen dies ein echter Beitrag dazu ist? Ich glaube das nicht. noch die Kreditmarge zur Abdeckung des Kreditausfall- risikos sowie die operativen Kosten, die die Bank hat, (Beifall bei der AfD – Karsten Hilse [AfD]: und ja, auch das gebundene Eigenkapital will verzinst Ich auch nicht!) werden. Überlassen Sie den Banken bitte ihre Produkt- und Kundenkalkulation selber. Sie müssen sich im Wett- Nein, es geht Ihnen um etwas ganz anderes. Ihnen sind bewerb behaupten. Da muss eine Linke überhaupt nicht privatwirtschaftlich geführte Banken ein Graus, und Sie eingreifen. wollen diese zerstören. Das ist im Kern ein Angriff auf unsere freiheitliche Grundordnung. Meine Damen und (Beifall bei der AfD) Herren, deshalb lehnt die AfD Ihren Antrag ganz vehe- Wir leben nicht in einer sozialistischen Planwirtschaft, ment und konsequent ab. und das ist auch gut so. Vielen Dank. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Oh (Beifall bei der AfD) nein!) So, wir kommen zu Punkt zwei: Vizepräsidentin Claudia Roth: (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Ich habe das Danke schön, Herr Keuter. – Nächste Rednerin: Sarah erste Argument noch nicht mitbekommen! Ryglewski für die SPD-Fraktion. Können Sie das noch mal wiederholen?) (Beifall bei der SPD) Wir schauen uns die Kundenseite an. Dispokredite dienen (B) dem Abpuffern von unregelmäßigen Zahlungen und soll- (D) ten idealerweise im Jahresverlauf zurückgeführt werden. Sarah Ryglewski (SPD): Dass zahlreiche Bankkunden auch über einen Disposi- Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und tionskredit hinaus vorgezogenen Konsum finanzieren, Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! An dem mag bedauerlich erscheinen, ist jedoch nicht im Einfluss- Beitrag des Herrn von der AfD wird deutlich, dass ei- bereich eines Staates, der auf die Freiheit des Einzelnen nes der Probleme dieses Antrags der Linken leider ein setzt, und politisch nicht zu verhindern. Dass Ihnen als Stück weit der irreführende Titel ist. Ich teile eigentlich Sozialisten das nicht passt, glaube ich gerne. Aber Sie Ihre Einschätzung und auch Ihre Meinung zum Dispo- wollen doch jetzt nicht ernsthaft einen Angriff auf unsere deckel, genauso wie die gesamte SPD. Auch wir haben freiheitlich-demokratische Grundordnung starten, oder? schon mehrfach den Dispodeckel gefordert. Wir konnten unseren Koalitionspartner bisher leider noch nicht über- (Beifall bei der AfD – zeugen. Aber vielleicht ändert sich das ja im Laufe der [DIE LINKE]: Wir reden über den Dispozins- Debatte. Wir haben auch noch ein paar Jahre in dieser deckel! – Weitere Zurufe von der LINKEN) Regierung vor uns. In der Praxis machen die Banken ihren Kunden An- gebote für Ratenkredite, ja, die Banken sind sogar ver- (Zuruf von der CDU/CSU: Hört! Hört!) pflichtet, zu beraten und im Zweifel auf Kredite umzu- Da haben wir auch noch Möglichkeiten, zu überzeugen. schulden, die mit dem Einkommen zu bezahlen sind. Dazu sind sie verpflichtet, und das wissen sie auch. Des- (Karsten Hilse [AfD]: Zwei Jahre noch!) halb ist dieser Antrag zusätzlich wieder einmal unnütz. Das Problem ist allerdings, dass man auseinandersor- Und hier kommt es darauf an, dass der Kunde die Ra- tieren muss, um was es denn bei der Frage „Dispositi- ten mit seinem Einkommen bezahlen kann. Das passiert onskredit und Dispodeckel“ geht. Das eine ist die Situa- dann auch. Von daher wird bereits vor der Bemessung tion, dass es viele Menschen gibt – das ist so –, die durch des Kreditrahmens auf die Bonität abgestellt. die wiederholte Inanspruchnahme des Dispo in die Über- Und ja, Banken lassen bisweilen auch Überziehun- schuldung geraten. Das Ausfallrisiko bei diesen Krediten gen zu. Das ist auch gut so. Sollen bei knapper Über- ist ja auch deshalb so gering, weil der Dispo im Grunde schreitung des Kreditrahmens der Dauerauftrag für die genommen eine Art Lohnpfändung ist; denn jemand, der Mietzahlung oder die Lastschrift für den Strom nicht aus- am Ende des Monats tief in den Miesen ist, steht, wenn geführt werden? Eher nicht. Aber wenn ein Kunde sein das Gehalt kommt, mit Glück wieder bei null. Wenn er Konto nicht im vorgesehenen Dispositionsrahmen führt, Pech hat, kommt er gar nicht aus den Miesen raus. Da- stellt er halt eine schlechtere Bonität dar. durch wird die Verschuldung immer höher. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9189

Sarah Ryglewski (A) Es wurde gesagt: Na ja, da gibt es Leute, die nur eine gen die ersten Erfahrungen leider, dass wir hier nicht so (C) Kreditsumme von 1 000 Euro haben. – Ich finde, das ist richtig vorangekommen sind. Das funktioniert nicht so, sehr dahingesagt. Auch das ist eine sehr hohe Summe. wie wir uns das vorgestellt haben. Das hat ein Stück weit Auf diese Summe 8 Prozent Zinsen zu zahlen, klar – das auch damit zu tun, dass der Bankberater oft nicht die da- haben Sie ja geschildert –, das sind jetzt keine Millionen- hinterliegende Problematik lösen kann. Insofern geht es beträge. Aber man fragt sich schon, warum man ausge- darum, die unabhängigen Schuldnerberatungsstellen zu rechnet bei einer Gruppe, die finanziell so verletzlich ist, stärken. so dick zuschlagen muss. (Beifall bei Abgeordneten der SPD) (Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) Wir hatten im Zuge der Diskussion um die Wohnimmo- bilienkreditrichtlinie auch mal überlegt, ob es nicht eine Das ist doch die eigentliche politische Diskussion, der Möglichkeit gäbe, die Kreditwirtschaft an deren Finan- wir uns hier stellen müssen. zierung zu beteiligen. Darüber kann man noch mal nach- Natürlich ist der Dispokredit nicht der einzige Grund, denken; denn es geht in der Tat darum, das Thema Ver- warum Leute in die Überschuldung geraten. Mir fallen schuldung grundsätzlich anzugehen. beim Thema Kreditvergabe übrigens noch eine ganze Die Problemlage ist aber auch ein wenig davon ge- Reihe anderer Dinge ein. Ich sage mal so: Wenn man bei prägt, dass viele der Leute, die im Dispo sind, gar keine Saturn bei dem Versuch, eine Waschmaschine zu kaufen, günstigeren Konditionen angeboten bekommen, weil sie nebenbei mit einem Kreditvertrag mit 0 Prozent Zinsen sich in einer Situation befinden, in der ihre Bonität so gelockt wird, kaufen die Leute am Ende in einem grö- schlecht ist, dass ihnen ein entsprechendes Angebot nicht ßeren Maße ein, als sie es sich eigentlich leisten kön- gemacht wird. Das ist der Grund, warum viele den Dispo nen. Dann muss umgeschuldet werden. Der neue Kredit überhaupt in Anspruch nehmen und nicht – wie wir es ist dann plötzlich teurer. Auch so geraten Leute in die möglicherweise machen würden – zur Bank gehen und Überschuldungsfalle. Wir müssen das Thema insgesamt sagen: Was können Sie mir anbieten? Ich habe absehbar betrachten. einen finanziellen Engpass. Die Frage ist tatsächlich, warum die darbenden oder Das andere Thema ist die Transparenz. Darauf setze spendablen Banken – ich konnte akustisch nicht verste- ich ganz stark, damit wir im Bereich der Zahlungskonten hen, ob Sie „darbend“ oder „spendabel“ gesagt haben, endlich mal einen echten Wettbewerb haben. Den haben aber beide Begriffe wären meiner Meinung nach falsch – wir derzeit nicht. Versuchen Sie mal – ich kann das nur (Dr. Daniela De Ridder [SPD]: „Spendabel“ empfehlen –, herauszufinden, wie hoch aktuell der Di- (B) hat er gesagt!) spozins Ihrer Hausbank ist. Ich sage Ihnen: Da haben Sie (D) einen Nachmittag lang gut was zu tun; das ist gar nicht so denn unbedingt ihre Gewinne mit dieser sensiblen Kun- einfach. Ich finde es richtig, dass man da rangeht. Eine dengruppe machen müssen. solche Information würde aber bei der Gruppe, über die (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der wir hier reden, nicht viel bringen. Von daher würde da LINKEN) mehr Transparenz nicht helfen. Wer schon mit seinem Konto im Minus ist, der hat auch gar nicht die Möglich- Ich weiß auch, dass das momentane Niedrigzinsumfeld keit, einfach so zu wechseln, weil er erst mal den Dispo für die Banken ein Problem ist. Ja, das wissen wir, das ablösen muss. diskutieren wir auch immer wieder. Man kann sich aber auch mal angucken, wie die Zinsentwicklung bei ande- (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der ren Krediten ist. Da gibt es nämlich einen Unterbietungs- LINKEN) wettbewerb. Die Problemlage ist dabei: Bei manchen Leuten reicht Wer heute halbwegs solvent ist, eine halbwegs ver- das laufende Einkommen nicht, um die entsprechenden nünftige Bonität aufweist, der kann sich gar nicht vor Zahlungen zu bestreiten. Banken retten, die einem Kredite anbieten. Ich bin sicher, Ich mache einen Strich drunter. Ich glaube, wir sollten Sie kriegen auch regelmäßig Angebote: 0-Prozent-Finan- an diesem Thema dranbleiben. Ich hoffe tatsächlich, dass zierung, 1-Prozent-Finanzierung. Beim Dispo werden wir die Evaluierung der Wohnimmobilienkreditrichtli- aber hohe Zinsen genommen. Da muss man sich doch nie dafür nutzen, an das Thema Dispozinsen ranzugehen mal fragen: Ist das etwas, was wir politisch wollen? und über Maßnahmen nachzudenken. Vielleicht hat das (Beifall bei der SPD und der LINKEN) eine oder andere Argument in dieser Debatte ja auch die Damen und Herren von unserem Koalitionspartner Und ich sage ganz klar: Ich möchte das nicht, die überzeugt. Ich würde mich auf jeden Fall freuen, darüber SPD-Fraktion möchte das nicht. Wir arbeiten an unserem noch mal ins Gespräch zu kommen. Wir stehen weiter Koalitionspartner. dahinter. Wir werden daran arbeiten und Überzeugungs- Noch mal zu den Punkten, die wir schon angegangen arbeit leisten. sind, um hier ein Stück weit voranzukommen. Das eine Vielen Dank. Thema sind die Beratungspflichten. Ja, das anzugehen, war ein richtiger Schritt. Ich glaube, um die Überschul- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten dungsproblematik zu lösen, ist es wichtig, dass die Leute der LINKEN und des Abg. Dr. Volker Ullrich eine vernünftige Beratung bekommen. Allerdings zei- [CDU/CSU]) 9190 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

(A) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Die Höhe des Dispozinses ist nicht das Problem. (C) Herzlichen Dank, Frau Kollegin. – Als nächste Red- Seit der letzten Zinssatzerhebung vor fünf Jahren ist er nerin erhält das Wort die Kollegin Katharina Willkomm, im Schnitt sogar gefallen, um 1,59 Prozentpunkte. Der FDP-Fraktion. Leitzins blieb derweil annähernd stabil. Zu dieser Zins- senkung haben auch verschärfte Transparenzpflichten (Beifall bei der FDP) beigetragen. Die Verbraucher können besser vergleichen. Sie gehen zu Banken mit besseren Konditionen; die ein- Katharina Willkomm (FDP): geführte Kontowechselhilfe macht es ihnen leicht. Die Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und zunehmende Digitalisierung wird den Wechseltrend wei- Kollegen! Kreditvergabe ist ein wichtiger Motor der ter stärken und damit die Zinsen weiter drücken. deutschen Wirtschaft. Mit großen Ratenkrediten werden Der schlaueste Ansatz aber, damit Geldprobleme gar Häuser gebaut und Träume verwirklicht. Im Kleinen er- nicht erst entstehen, ist Bildung. öffnen Dispokredite den Menschen Spielräume, um sich Wünsche frühzeitig zu erfüllen oder Angebote zu nut- (Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – zen, auch wenn auf dem Konto gerade Ebbe herrscht. Fabio De Masi [DIE LINKE]: Bildung gegen Durch ihre einfache Verfügbarkeit fördern Dispokredite den Dispo!) den Handel und helfen den Menschen, Geldengpässe zu überbrücken. Damit werden auch Folgeprobleme verhin- Wir müssen mit besserer Bildung dafür sorgen, dass be- dert, zum Beispiel, wenn die Waschmaschine kaputtgeht reits Kinder wirtschaftliche Zusammenhänge verstehen und schnell eine neue hermuss. und lernen, vernünftig mit Geld umzugehen. Wie bei einem jeden Kredit geben die Banken – gleich, (Beifall bei der FDP – Fabio De Masi [DIE ob Privatbank, Genossenschaftsbank oder Sparkasse – LINKE]: Abitur statt Dispo!) den Dispokredit natürlich nicht aus Nächstenliebe; sie Dementsprechend hat NRW auf Initiative von FDP-Bil- verdienen an den Zinsen. Beim Dispo sind sie höher, weil dungsministerin Gebauer ab diesem Jahr das Schulfach die Banken keine echten Sicherheiten erhalten. Wirtschaft eingeführt. Die Linke behauptet, mit 31 Milliarden Euro Dispovo- (Christian Dürr [FDP]: Sehr gute Entschei- lumen würden sich die Banken auf Kosten ihrer Kunden dung!) sanieren. Dass seit Jahren eine Bank nach der anderen dichtmacht, ist Ihnen aber offenbar entgangen. Bundesweit engagiert sich etwa die Deutsche Stiftung Verbraucherschutz mit dem Projekt Verbraucherschule (Christian Dürr [FDP]: Anscheinend!) dafür, Schüler bei den Themen Medien, Ernährung und (B) Aber große Zahlen machen noch keine großen Argumen- auch Finanzen kompetent zu machen. Damit erhalten sie (D) te. Setzen wir also die 31 Milliarden Euro Dispovolumen das Rüstzeug für ein selbstbestimmtes und schuldenfrei- in die richtige Perspektive: Deutsche Banken stellen es Leben. konstant rund 2 708 Milliarden Euro durch Kredite zur Vielen Dank. Verfügung. Dispokredite machen davon gerade mal gut 1 Prozent aus – schwerlich ein Riesengeschäft für die (Beifall bei der FDP) Banken. Die Verbrauchersicht kann eine andere sein. Natür- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: lich ist es ein Problem, wenn das Schicksal zuschlägt. Herzlichen Dank, Frau Kollegin Willkomm. – Als Wenn man die Arbeit verliert, einen Unfall hat oder die Nächste spricht zu uns die Kollegin Tabea Rößner, Bünd- schmale Rente hinten und vorne nicht reicht, dann rutscht nis 90/Die Grünen. man schnell in den Dispo. Wenn kein frisches Geld nach- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) kommt, beginnt die Überschuldungsspirale. Der Ausweg sind aber nicht staatlich festgesetzte Zinsen, sondern Schuldenberatungen. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! (Beifall bei der FDP) „Abzocke mit Dispozinsen“ titelte Stiftung Warentest Diese zu fördern, ist ein Punkt, den wir unterstützen kön- 2013, „Dreister Dispozins“ 2016, und kürzlich schrieb nen. sie: „Die Dispozinsen … sind teilweise … absurd hoch.“ Alle Jahre wieder! Und obwohl wir das Thema immer Laut dem SchuldnerAtlas Deutschland ist der Schuld- wieder auf die Tagesordnung gesetzt haben: Geschehen ner meistens unter 40, also eher jung, und nutzt den ist herzlich wenig. ­Dispo freiwillig und nur gelegentlich. So machen das laut Ihrem Antrag 83 Prozent der Bankkunden. Ein sol- Dabei geht es nicht nur um die schwarzen Schafe cher Schuldner möchte ein neues Smartphone kaufen, unter den Banken, die Verbraucher mit Dispozinsen in Preis 500 Euro, aber das nächste Gehalt kommt erst in Höhe von sagenhaften 13,7 Prozent abzocken. Auch der zwei Wochen – also rein in den Dispo. „Finanztest“ er- durchschnittliche Dispozins ist viel zu hoch: aktuell über hebt regelmäßig die Zinssätze. Beim aktuell höchsten 9,7 Prozent. Besonders beschämend finde ich, dass es zu Zinssatz von 13,75 Prozent kostet die Ungeduld unseren 2014 kaum einen Unterschied gibt, obwohl die Große Durchschnittsschuldner 2,70 Euro – keine weltbewegen- Koalition versprochen hatte, das Problem endlich anzu- de Summe. gehen. Gewundert hat mich das allerdings nicht. Denn Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9191

Tabea Rößner (A) was hat der damalige Verbraucherminister Maas unter- tragsschluss eingeführt. Aber auch das schafft nicht mehr (C) nommen? Statt, wie im Wahlkampf immer wieder ange- Klarheit. Die Branche zeigt sich erneut kreativ: Das kündigt, den geforderten Dispodeckel einzuführen, gab Informationsschreiben sieht wie ein Begrüßungsschrei- es: Warnhinweise. ben aus; so ist das sehr gut getarnt, und die Information kommt bei den Kunden gar nicht an. Wir fordern seit Jah- Was wir wirklich brauchen – ich glaube, das hat die ren ein „zweites Preisschild“, das den Effektivzinssatz Debatte hier deutlich gezeigt; da kommen wir zu einer jeweils mit und ohne Restschuldversicherung ausweist. anderen Einschätzung als FDP und Union –, ist eine ge- Auch der Wucherparagraf gehört auf den Prüfstand. setzliche Regelung, durch die die Dispo- und Überzie- Kopplungs- und Bündelungsgeschäfte, die dem Kunden hungszinsen endlich gedeckelt werden. schon objektiv nicht nutzen, müssen verboten werden. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Ich habe aber noch eine traurige Nachricht: Dispo- Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. zinsen sind nicht das einzige ungelöste Problem. Es gibt zahlreiche Beispiele, wo Banken den Verbraucherinnen Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): und Verbrauchern das Geld regelrecht aus der Tasche Bei all den Baustellen im finanziellen Verbraucher- ziehen. schutz frage ich mich: Wo ist denn die Verbrauchermi- Thema Kontoführungsgebühren. Klar, dass Banken nisterin? Schon in Brüssel? Fakt ist jedenfalls: Die Große für die Führung eines Kontos Gebühren verlangen dür- Koalition kuscht vor den Banken. fen. Aber die Kreativität, diese als neue Einnahmequelle umzumodellieren, hat zu einem Wildwuchs an verschie- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: densten Kontomodellen, Gebühren für Einzelleistungen Frau Kollegin! und absurden Entgelten geführt. Und da werden so selbst- verständliche Leistungen wie das Abheben von Bargeld Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): oder Onlinebanking gar nicht mal mit abgedeckt. Dabei ist es dringend an der Zeit, Verbraucherinnen Konten, die mit niedrigen Gebühren für die Konto- und Verbraucher endlich vor absurden Gebühren und führung attraktiv erscheinen, werden plötzlich zu Kos- Wucherpreisen zu schützen. tenfallen. Die Antwort der Bundesregierung darauf: eine Vielen Dank. Vergleichsplattform. Die sollte es eigentlich – nach dem Zahlungskontengesetz – schon seit Oktober geben. Da- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (B) von aber bisher auch keine Spur! Und die wird auch nicht (D) viel ändern. Stattdessen brauchen wir faire Bedingungen, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: damit Kunden einen echten Überblick über die Gebühren Vielen Dank, Frau Kollegin Rößner. – Als Nächster haben. erhält das Wort der Kollege Dr. Heribert Hirte, CDU/ (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) CSU-Fraktion. Weiteres Beispiel: Restschuldversicherung – eine ech- (Beifall bei der CDU/CSU) te Schuldenfalle für viele Verbraucherinnen und Verbrau- cher. Da schieben Banken den Kunden völlig überteuerte Dr. Heribert Hirte (CDU/CSU): und überflüssige Produkte mit hohen Provisionen unter, Herr Präsident! Liebe Schriftführer! Ich sehe hier drei ohne dass das den Verbrauchern klar ist. Ein Zins etwa, Leute im Präsidium – ein vollständiges Präsidium –, der mit 8 Prozent als angemessen erscheint, entpuppt sich anders als mein Vorredner von der AfD eben. Insofern: mit über 20 Prozent als Wucherzins – die Restschuldver- Wunderbar! sicherung wird nämlich nicht mitberechnet, und die Ver- braucherinnen und Verbraucher werden so getäuscht. Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Zuhörer, wir haben über einen Antrag der Linken zu beraten. Dieser (Beifall des Abg. [Heidel- Antrag ist – das wurde schon gesagt – ein zum wieder- berg] [SPD]) holten Male vorgelegter Antrag, ein Wiedergänger. Die BaFin fand übrigens heraus, dass Banken in über der (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Das ist doch Hälfte der Fälle mehr als 50 Prozent der Versicherungs- gut!) prämie als Provision erhalten. Ein Schelm, wer Böses da- bei denkt! Das Problem ist mittlerweile so groß, dass sich Und Ihre Rede, lieber Kollege, haben Sie auch in der letz- jetzt ein „Bündnis gegen Wucher“ gegründet hat, und das ten Legislaturperiode schon in ähnlicher Form gehalten. fordert – wie auch wir seit Jahren – endlich wirksame (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Nee, da war Maßnahmen. ich noch gar nicht da! – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Da war er noch gar nicht hier! (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Er war im Europaparlament!) sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN) – Nicht Sie persönlich, sondern Sie von der Linken. Auch hier hat die Bundesregierung nur eine weitere Deshalb fragt man sich natürlich erst einmal, ob das Informationspflicht über das Widerrufsrecht nach Ver- Anliegen berechtigt ist. Ja, das Anliegen ist berechtigt. 9192 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Dr. Heribert Hirte (A) Natürlich ist es ein wichtiges und zentrales Anliegen, die Und wenn Sie jetzt sagen, dass wir Regelungen brau- (C) Überschuldung privater Haushalte zu bekämpfen. Nur, chen, die dazu führen, dass die Preise nicht indirekt zum was Sie übersehen haben: An all den Punkten aus Ihrem Ausgleich erhöht werden, dann bin ich bei Ihnen. Aber Antrag haben wir unter anderem in der letzten Legisla- das AGB-Recht sorgt doch dafür! Wir haben Verbrau- turperiode intensiv gearbeitet. cherverbände, die dann klagen. Genau das wird auch durchgesetzt. Ihr Antrag ist auch da aus dem letzten Jahr- Ich fange einmal an: Wir haben das Zahlungskonten- hundert, könnte man fast sagen. gesetz in Kraft gesetzt – es ist seit dem 31. Oktober in Kraft. Das sieht Vergleichswebsites vor. (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Nein, so alt ist er noch nicht! – Helin Evrim Sommer [DIE (Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- LINKE]: Wir sind noch nicht so alt!) NEN]: Die sind nicht da!) In der Tat sind sie noch nicht in dem Maße vorhanden – Völlig übersehen haben Sie, dass die Hauptlösungs- da bin ich völlig bei der Kollegin Rößner, die das ange- möglichkeit für private Überschuldung die Restschuld- sprochen hat –, wie wir es uns wünschen. Diese Websites befreiung, die Privatinsolvenz ist. sind kompliziert, und deshalb gibt es ein Akkreditie- (Amira Mohamed Ali [DIE LINKE]: Aber die rungsverfahren. Wenn sie akkreditiert sind, bekommen bringt doch nichts!) sie ein wunderschönes Symbol. Aber das dauert natür- lich. Aber Sie können nicht sagen, dass der Markt nicht Die haben wir eingeführt. Auch die gerade in der Verab- funktioniert, nur weil Sie das nicht abwarten wollen. Wir schiedung begriffene Richtlinie über präventive Restruk- haben vielmehr marktmäßige Mechanismen geschaffen, turierungsrahmen auf der europäischen Ebene adressiert die genau das von Ihnen genannte Problem adressieren. ebenfalls genau dieses Problem. Sie sorgt für weitere Ich sage ganz deutlich: Das sind marktmäßige Mecha- Erleichterungen bei der Restschuldbefreiung, auch mit nismen. Das, was Sie fordern und was zu meiner Enttäu- der entsprechenden Möglichkeit für Verbraucher, dies schung auch die SPD fordert, sind sozialistische Preisre- Instrument zu nutzen. Wir haben die Bundesregierung geln, und das machen wir nicht mit. ermutigt, dieses Verfahren zu betreiben, und das wird (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- auch kommen. Deshalb ist Ihr Antrag überflüssig wie ein ordneten der AfD – Widerspruch bei der LIN- Kropf, und deshalb lehnen wir ihn ab. KEN – Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Vielen Dank. Quatsch!) (Beifall bei der CDU/CSU – Helin Evrim (B) Ich möchte aus diesem Gesetzesprogramm zitieren: (D) Die Entgeltinformation, die Transparenz wird verbessert. Sommer [DIE LINKE]: Also alles in Butter! Der Kontenwechsel wird erleichtert. Bei einem Kon- Dann können wir ja aufhören!) tenwechsel können Sie Überweisungsdaten und Einzie- hungsaufträge mitnehmen. Das ist die marktmäßige Ant- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wort auf das Problem, das Sie schildern. Herr Kollege Hirte, herzlichen Dank, auch für Ihren Der Kollege Steineke hat die Wohnimmobilienkredit- Hinweis darauf, was Sie sehen. Das Sitzungspräsidium richtlinie angesprochen – sie wurde in der letzten Legis- ist vollständig; wenn es nicht vollständig wäre, könnten laturperiode in deutsches Recht umgesetzt. Ich möchte wir gar nicht tagen. das hier fürs Protokoll sagen: § 504a BGB regelt das Problem, das Sie auch mit Ihrem Antrag regeln wollen, (Dr. Heribert Hirte [CDU/CSU]: Das hat die nämlich die Informationspflicht, die Beratungspflicht AfD eben anders gesehen, da waren Sie noch der Banken bei Inanspruchnahme von weiteren Über- nicht da!) ziehungsmöglichkeiten. Das, was Sie wollen, haben wir als Koalition in der letzten Legislaturperiode schon ge- – Herr Kollege Dr. Hirte, wir wollen nicht diskutieren. macht. Ich bin bei Ihnen: Wir werden uns in der Zukunft Ich war im Saal und habe es auch gehört und mit Ver- natürlich ansehen, ob das wirklich wirkt. wunderung zur Kenntnis genommen. (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Dann Als nächster und letzter Redner zu diesem Tagesord- haben Sie doch Sozialismus eingeleitet!) nungspunkt hat der Kollege Dr. Volker Ullrich, CDU/ CSU-Fraktion, das Wort. – Nein, wir machen keine Preisregulierung, sondern wir stellen Transparenz her. (Beifall bei der CDU/CSU) (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Im BGB?) Dr. Volker Ullrich (CDU/CSU): Transparenz der Preise ist wichtig, damit die Kunden, die Menschen entscheiden können, zu welcher Bank sie ge- Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Her- hen. Das darf nicht von oben, wie Sie sich das vorstellen, ren! Lassen Sie mich zum Ende der Debatte noch einmal vorgeschrieben werden. die Problematik der Dispozinsen sachlich einordnen. Die Spanne der Dispozinsen in Deutschland ist weit: Sie liegt (Lachen der Abg. Helin Evrim Sommer [DIE zwischen 6 Prozent bei Direktbanken und 13 Prozent bei LINKE]) einigen Genossenschafts- und Raiffeisenbanken. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9193

Dr. Volker Ullrich (A) Ja, wir haben festzuhalten, dass die Dispozinsen in Das geht durch eine Verbesserung der Schuldnerbera- (C) Deutschland noch vor wenigen Jahren wesentlich höher tung. waren. Das war übrigens das Ergebnis von Marktversa- gen. Aufgrund fehlender Aufklärung, mangelnder Wech- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Ach?) selmöglichkeit und fehlender Umschuldungsmöglichkeit Unsere Botschaft ist ganz klar: Wer in einem Schulden- sind oftmals Bankkunden in der Dispofalle gefangen ge- kreislauf ist, darf deswegen nicht stigmatisiert werden. wesen. Es darf heute nicht verschwiegen werden, dass Vielmehr müssen wir diesem Menschen Hilfe anbieten, bereits die Große Koalition der letzten Wahlperiode ge- Hilfe in Bezug auf das Finden einer neuen Beschäfti- handelt hat, und zwar nicht nur, indem sie den Banken gungsmöglichkeit, aber auch Hilfe, seine Schulden Stück die Verpflichtung auferlegt hat, transparent auf die Höhe für Stück loszuwerden. Ich glaube, das ist ganz konkrete, des Zinses aufmerksam zu machen, sondern auch, indem notwendige Hilfe zur Selbsthilfe. sie eine Verpflichtung ins Gesetz geschrieben hat, die Umschuldung vorzunehmen, damit Menschen spätestens Wir haben, meine Damen und Herren, einen ganzheit- nach drei Monaten zwingend aus dem Dispo herauskom- lichen Ansatz. Wir sagen nicht einfach: Wir deckeln die men können. Ich glaube, das dürfen Sie bei der Debatte Dispozinsen, und alles ist gut. nicht verschweigen. (Fabio De Masi [DIE LINKE]: Sagt ja auch Ja, es gibt Fälle, in denen die Zinsen heute zu hoch keiner!) sind. Auch ich finde, dass zweistellige Dispozinsen ein Ärgernis darstellen. Das Thema muss vielmehr grundsätzlich und umfassend angegangen werden. (Beifall bei Abgeordneten der LINKEN) Ein Grund ist beispielsweise, dass wir eine Bankenland- (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Das eine schaft haben, in der gerade kleine Institute aufgrund ih- kann man tun und das andere nicht lassen!) rer eigenen Refinanzierungskosten höhere Dispozinsen Aber ich sage Ihnen auch, die Banken sind genauso in nehmen müssen. Deswegen wäre die Frage, ob eine Um- der Pflicht, im Rahmen ihres Geschäftsgebarens dafür strukturierung innerhalb der Bankenlandschaft hier viel- Sorge zu tragen, dass es fair und gerecht zugeht. leicht eine Erleichterung bringen könnte. Herzlichen Dank. Wir müssen auch über die Frage sprechen, inwieweit Bankgebühren zu den Dispozinsen hinzutreten. Es wäre (Beifall bei der CDU/CSU) nichts gewonnen, wenn wir einen gesetzlichen Deckel (B) bei den Dispozinsen einführen und die Banken gleich- (D) zeitig das, was sie nicht mehr an Dispozinsen nehmen, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: bei den Bankgebühren draufschlagen. Ich glaube, hier ist Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Ullrich. – Damit schlie- eine ganzheitliche Sichtweise angemessen. ße ich die Aussprache. Wenn Sie die Frage stellen: „Wie können wir den Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf Menschen helfen, die in finanziellen Schwierigkeiten Drucksache 19/6525 an die in der Tagesordnung aufge- sind?“, dann sage ich ganz ehrlich: Bei den Menschen, führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist die am Ende des Monats schwer über die Runden kom- jedoch strittig: Die Fraktionen von CDU/CSU und SPD men, kommt es nicht allein darauf an, wie hoch die wünschen Federführung beim Ausschuss für Recht und Dispo­zinsen sind. Vielmehr kommt es darauf an, dass die Verbraucherschutz, die Fraktion Die Linke wünscht Fe- Menschen eine ordentliche Erwerbsarbeit haben, dass derführung beim Finanzausschuss. sich die Einnahmesituation der Menschen verbessert. Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs- (Dr. [DIE LINKE]: Höherer vorschlag der Fraktion Die Linke, Federführung beim Mindestlohn!) Finanzausschuss. Wer stimmt für diesen Überweisungs- In diesem Zusammenhang möchte ich etwas anspre- vorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Dann stelle ich fest, chen, was heute noch niemand gesagt hat: Wir haben im dass gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke Augenblick eine Rekordbeschäftigung in Deutschland. (Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Enthaltun- Diese Koalition hat einen Mindestlohn eingeführt. Wir gen!) erhöhen die Erwerbsminderungsrente. Wir kümmern uns also, damit die Menschen ganz konkrete Verbesserungen mit den Stimmen der übrigen Fraktionen des Hauses der bei ihrer Erwerbsarbeit erfahren. Das haben Sie, meine Überweisungsvorschlag abgelehnt worden ist. Kollegen von der Linken, tunlichst verschwiegen. Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungs- (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- vorschlag der Fraktionen der CDU/CSU und der SPD, ordneten der SPD) Federführung beim Ausschuss für Recht und Verbrau- Ja, wir müssen das Augenmerk auch auf die Menschen cherschutz. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor- legen, die in einer Schuldenfalle gefangen sind. schlag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch keine. Dann ist dieser Überweisungsvorschlag gegen die (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Ja, da- Stimmen der Fraktion Die Linke mit den Stimmen der rum geht es ja!) übrigen Fraktionen des Hauses angenommen. 9194 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Vizepräsident Wolfgang Kubicki (A) Ich rufe den Zusatzpunkt 10 auf: weisen Verständigung über diese Meinungsverschieden- (C) heiten ist unbegreiflich. Aktuelle Stunde ( [CDU/CSU]: Über 30-mal! Über auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE Jahre hinweg von den Russen ignoriert!) INF-Vertrag bewahren, atomare Aufrüstung Dabei stehen die damals bei Vertragsabschluss vereinbar- in Europa verhindern und US-Atomwaffen ten Verifikationsinstrumente heute noch zur Verfügung, aus Deutschland abziehen um die Einhaltung dieses Vertrages zu kontrollieren. Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red- Hiermit komme ich zu dem eklatanten Versagen der nerin der Kollegin Sevim Dağdelen, Fraktion Die Linke, deutschen Außenpolitik. Es ist wirklich ein Trauerspiel, das Wort. dass Herr Außenminister Maas mit anderen Ländern in Europa keine ernsthafte Vermittlungsinitiative ergriffen (Beifall bei der LINKEN) hat, (Beifall bei der LINKEN) Sevim Dağdelen (DIE LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In seiner um die Möglichkeiten eines gemeinsamen diplomati- Abschiedsrede am 17. Januar 1961 hat US-Präsident Ei- schen Handelns überhaupt zu eruieren, um eine aktive senhower eindringlich vor dem militärisch-industriellen Vermittlungspolitik zu betreiben, die beide Seiten, USA Komplex gewarnt. Heute, am 1. Februar 2019, scheint und Russland, dazu bewegen soll, die Konflikte über die es endgültig so zu sein, dass dieses Netzwerk aus Politik Verifikation des Vertrages in Gesprächen ohne Vorbedin- und Rüstungsindustrie die Agenda des US-Präsidenten gungen zu lösen. Stattdessen hat Herr Maas verbal seine bestimmt. Vermittlungsbereitschaft betont, sich aber sofort hinter US-Präsident Trump und seine Vorwürfe gegen Russland Die heutige Kündigung des Abkommens über die gestellt, Vernichtung landgestützter atomar bestückbarer Mittel- (Zuruf von der LINKEN: Pfui!) streckenraketen, den INF-Vertrag, der der Kern der Si- cherheitsarchitektur in Europa ist, ist eine katastrophale und das auch noch, wie die Bundesregierung auf meine Entscheidung von US-Präsident Trump. parlamentarische Anfrage antwortete, ohne eigene Er- kenntnisse zu haben. Ich finde, wer so auftritt wie Herr (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Maas, muss sich nicht wundern, dass er überhaupt nicht neten der AfD) (B) mehr ernst genommen wird. (D) Die Linke sieht in dieser Entscheidung eine Gefährdung (Beifall bei der LINKEN) der internationalen Sicherheit und von Frieden und Si- cherheit in Europa. Wir als Linke verurteilen diesen Mit Tony Blair gab es bereits einen Sozialdemokraten verantwortungslosen Akt von US-Präsident Trump aufs in Europa, der aufgrund seiner extremen Hörigkeit ge- Schärfste, meine Damen und Herren. genüber einem rechtskonservativen US-Präsidenten als „Bushs Pudel“ geschmäht wurde. Wenn ich mir die Per- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. formance von Ihnen, Herr Maas, anschaue, Marian Wendt [CDU/CSU]) (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Wo ist Aufs Schärfste, denn ohne diesen Vertrag geht es zurück der überhaupt?) in die 80er-Jahre, in die Zeit der Pershing II und der SS- 20, in die Zeit des atomaren Wahnsinns und Wettrüstens. muss ich fragen, ob Sie Tony Blair hier nacheifern wol- Das dürfen wir nicht akzeptieren, len. Ich rate es Ihnen jedenfalls nicht. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Bes- neten der AfD) ser als der Schoßhund von Putin!) und das darf man auch nicht einfach nonchalant hinneh- Ich will auch daran erinnern, dass dies nicht der erste men, wie es die Bundesregierung tut. wichtige internationale Vertrag ist, der von Trump aufge- kündigt wird. Jüngst wurde das Atomabkommen mit dem Zur Erinnerung: Der Abschluss dieses INF-Vertrags Iran aufgekündigt. Und jetzt soll auch die Verlängerung zwischen der Sowjetunion und den USA im Dezem- des New-START-Abkommens über die Obergrenze stra- ber 1987 demonstrierte der Welt die Möglichkeiten der tegischer Nuklearwaffen 2021 scheitern, weil dies nach friedlichen Koexistenz. Was damals, im Kalten Krieg, den Worten des US-Präsidenten – ich zitiere – nicht im möglich war, das sollte doch auch jetzt möglich sein. Es Interesse Amerikas sei. Ich frage mich natürlich: Was muss doch möglich sein, diesen Vertrag aufrechtzuerhal- muss dieser rechte US-Präsident eigentlich noch tun, ten. damit Herr Maas und Frau Merkel ihre blinde Gefolg- schaft beim Amoklauf von Trump einfach mal beenden (Beifall bei der LINKEN) und stoppen? Die Kündigung dieses so wichtigen Vertrags jetzt (Beifall bei der LINKEN – Dr. Volker Ullrich durch Trump ohne den wirklichen Versuch einer ansatz- [CDU/CSU]: Reden Sie mal über Putin!) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9195

Sevim Dağdelen (A) Wenn man nur etwas Rückgrat hätte und die Sicher- hung ausgeht. Es geht uns darum, dass wir sehr nüchtern (C) heit der Bevölkerung in Deutschland und in Europa im die Lage analysieren Blick hätte, müsste man Folgendes tun: Erstens müsste man die USA öffentlich dazu auffordern und Druck ma- (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: „NATO chen, dass sie in diesem Vertrag verbleiben. Zweitens first“, das ist das Motto der Großen Koaliti- müsste man gegenüber den USA klarmachen, dass die on!) Bundesrepublik Deutschland einer weiteren Stationie- und auf gar keinen Fall Sonderwege beschreiten. rung neuer US-Atomwaffen auf deutschem Boden nicht zustimmen wird. Meine Damen und Herren, damit ver- Das führt mich zum dritten Punkt. Was Die Linke for- träte man das Interesse der Bevölkerung in Deutschland dert, ist ein deutscher Alleingang, ein deutscher Sonder- und nicht Trumps Interesse. weg. (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. ( [DIE LINKE]: Wir wollen Karsten Hilse [AfD] – Dr. Volker Ullrich alle Europäer mitnehmen!) [CDU/CSU]: Reden Sie mal über die Ver- Sie verlangt nämlich die Aufgabe der nuklearen Teilha- tragsverletzungen durch Russland!) be. Man muss sich das einmal vorstellen: Russland füllt die Arsenale mit neuen Nuklearraketen, verweigert den Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Einblick, ob diese den INF-Vertrag verletzen oder nicht, und Die Linke möchte, dass der Westen, dass die NATO Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss. die Regale räumt. Was ist das für eine Abrüstungsdebat- te, wenn die einen aufrüsten und die anderen abrüsten Sevim Dağdelen (DIE LINKE): sollen? Und – dritter Punkt – der Abzug der US-Atomwaffen (Peter Beyer [CDU/CSU]: Gegen deutsche von deutschem Boden ist endlich einzuleiten, damit auch Sicherheitsinteressen!) die anderen europäischen Länder nachziehen können. Abrüstung ist das Gebot der Stunde. Einseitige Abrüstung hat noch nie zu Frieden geführt, Aufrüstung aber auch nicht. Es geht um sinnvolle, ge- Vielen Dank. meinsame Abrüstung; das ist die Position der CDU/CSU. (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- (Beifall bei der CDU/CSU) neten der AfD) Diese einseitigen Schritte führen mich zum vierten (B) Punkt. Für uns ist es von ganz besonderer Bedeutung, (D) Vizepräsident Wolfgang Kubicki: dass wir die Ausbreitung von Nuklearwaffen in Europa verhindern. Wenn die Bundesrepublik Deutschland auf Herzlichen Dank. – Als nächster Redner spricht zu uns die nukleare Teilhabe verzichtet, führt das automatisch der Kollege Roderich Kiesewetter, CDU/CSU-Fraktion. dazu, dass Länder östlich von uns ihrem Bedrohungsge- (Beifall bei der CDU/CSU) fühl freien Lauf lassen und mit den USA Sonderabkom- men erzielen wollen, um selbst Nuklearwaffen auf ihrem Boden stationiert zu bekommen, Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist doch Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema nicht rational!) „Mittelstreckenraketen und INF-Vertrag“ verdient eine weil in diesen Ländern aus der Geschichte heraus ein an- besonnene und sehr nüchterne Betrachtung. Warum un- deres Bedrohungsgefühl vorherrscht als bei uns. Ich war- terhalten wir uns heute darüber? Bereits vor zehn Jah- ne davor, dass mit diesem Vorschlag der Zusammenhalt ren hat Russland, hat Putin deutlich gemacht, dass der der NATO gespalten wird. Es kann weder im Interesse INF-Vertrag ein Relikt des Kalten Krieges ist. Seit 2014 der Linken sein, dass plötzlich in anderen NATO-Staaten haben die USA mit über 30 Gesprächsangeboten ver- der Ruf nach nuklearer Aufrüstung laut wird, noch kann sucht – noch unter der Obama-Administration –, es im Interesse anderer Parteien dieses Hauses sein. (Peter Beyer [CDU/CSU]: Sehr richtig!) (Beifall bei der CDU/CSU) mit Russland ins Gespräch zu kommen. Alles ohne Er- Worauf läuft es hinaus? Wir Europäer sollten einmal folg. die Lage analysieren, sollten analysieren, was Russland und die USA bewegt. Warum hat Russland aufgerüs- Für uns als CDU/CSU sind vier Punkte sehr wichtig: tet? Und warum sind die USA aus dem durch Russland Erstens der Schutz unserer Bevölkerung, unserer Bürge- gebrochenen Vertrag heute ausgestiegen? – Wir haben rinnen und Bürger vor dieser neuen nuklearen Gefahr der jetzt noch sechs Monate Zeit. – Weil sich in den letzten russischen Raketen. 30 Jahren die Welt erheblich verändert hat: Länder wie China, Nordkorea, Indien, aber auch Pakistan und der Zweitens ist es für uns ganz wichtig, dass wir uns in Iran sind im Besitz von Mittelstreckenraketen, der NATO nicht erpressen lassen, dass wir uns nicht spal- ten lassen, dass von dieser Debatte, die gerade in schril- (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Jetzt len Tönen anklang, kein Gefühl der Angst und Bedro- kommen wir dem Punkt näher!) 9196 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Roderich Kiesewetter (A) einige dieser Staaten auch von Nuklearwaffen. Wir soll- aus einer Pressekonferenz von Herrn Pompeo –, dass die (C) ten einmal nachvollziehen, dass das Sicherheitsgefühl USA den INF-Vertrag definitiv verlassen werden. von Südkorea und Japan angesichts dieser nuklearen Aufrüstung ein etwas anderes ist und dass die Ameri- (Peter Beyer [CDU/CSU]: Das war vor einer kaner eben nicht den Vertrag brechen wollen, indem sie Stunde!) dort solche Mittelstreckenraketen stationieren, und um- Das ist traurig. gekehrt Russland sicherlich auch nicht erfreut ist, dass China solche Raketen stationiert. Dabei hat der russische Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew, vor wenigen Tagen den INF-Vertrag – ich Deshalb sieht die Lösung etwas anders aus, als von zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten – als einen „Eck- Frau Dağdelen vorgeschlagen. Unser Außenminister pfeiler des europäischen Sicherheitssystems und einen Maas hat ja ein paar Punkte angesprochen. Ich möch- der wichtigsten Abrüstungsverträge der Welt“ bezeich- te das aus Sicht der Union bewerten und auch hier vier net. Punkte ansprechen: (Zuruf des Abg. Marian Wendt [CDU/CSU]) Erstens. Wir sollten im Rahmen einer Verhandlungs- initiative alles tun, dass der INF-Vertrag erhalten bleibt Die AfD-Bundestagsfraktion und ich ganz persönlich oder ein neues, überprüfbares System bekommt, in dem danken dem Botschafter für diese klare Position, da wir die Russen auch bestimmte Verifikationsleistungen er- diese Meinung teilen. bringen. (Beifall bei der AfD – Alexander Graf Zweitens. Ich finde es gut, dass das Auswärtige Amt Lambsdorff [FDP]: Ah!) im März eine entsprechende Konferenz einberuft, auf der – Ja. Wir glauben Botschafter Netschajew auch, wenn er diese Waffensysteme, aber auch Cyberwaffen und au- betont, dass Russland keine Konfrontation mit anderen tonome Waffensysteme erst mal analysiert werden. Wir Staaten sucht. Warum sollte Russland auch diese Art von müssen uns doch als Bundesrepublik Deutschland eine Konfrontation suchen? eigene Meinung und Haltung erarbeiten. Wenn Sie sich die Zeit nehmen und einfach mal eine (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Erst Weltkarte anschauen, dann werden Sie merken, dass die handeln, dann analysieren!) atomaren Mittelstreckenraketen – mit einer Reichwei- Ein weiterer Punkt ist, dass wir ein Verifikationssys- te von 500 bis 5 500 Kilometern – lediglich Teile von tem aufbauen, das überprüfbar ist, um dann in einem Alaska erreichen können; dort wohnen kaum Menschen. vierten Schritt eine Globalisierung zu ermöglichen. Umgekehrt wären die Nutznießer eines Austritts aus dem (B) Deutschland mit Sitz im Weltsicherheitsrat hat sich vor- INF-Vertrag eher die USA; denn sie könnten nicht nur (D) genommen, gemeinsam mit Frankreich die Agenda im von Westeuropa, sondern auch von fast 800 weltweit März und im April zu bestimmen. Ich hielte es für gut – verteilten Militärbasen russisches Territorium erreichen, aus Unionssicht würden wir es begrüßen –, wenn wir meine Damen und Herren. eine Initiative starten würden zur Erweiterung der inter- nationalen Abrüstung auf die Frage der Behandlung von (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Die Mittelstreckenraketen auch im Format mit China, Indien, Amerikaner haben diese Raketen gar nicht! Pakistan und Iran. Das ist ein Langfristthema. Sie haben sie einfach nicht!) Man muss kein guter Militärstratege sein – nicht so Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wie Sie –, um zu erkennen, dass die neue Militärdoktrin Herr Kollege, kommen Sie zum Schluss, bitte. der USA den Austritt aus dem INF-Vertrag geradezu nö- tig macht. Er ist nun vollzogen worden. Das ist einfache militärtaktische Logik, meine Damen und Herren. Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Kurzfristig müssen wir zusammenstehen, den Schutz (Zuruf der Abg. Dr. Marie-Agnes Strack-­ unserer Bevölkerung garantieren und den Zusammenhalt Zimmermann [FDP]) in der NATO bewahren. Hier noch mal zum Verständnis für die, die immer so Herzlichen Dank. reinquatschen müssen: Zur neuen Militärstrategie der USA gehören Elemente wie Prompt Global Strike mit (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. 32 000 Marschflugkörpern, Cyberwaffen und Drohnen- Dr. [SPD]) taktik mit zigtausend unbemannten Flugkörpern. (Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Wer hat denn die Rede geschrieben? Putins Vielen Dank. – Als nächster Redner hat das Wort der Büro? – Gegenruf des Abg. Dr. Volker Ullrich Kollege Dr. Robby Schlund, AfD-Fraktion. [CDU/CSU]: Die haben sich mit der Linken (Beifall bei der AfD) abgestimmt, die AfD!) Außerdem – falls Sie das noch nicht wissen – haben die Dr. Robby Schlund (AfD): USA in ihrer Militärdoktrin ausdrücklich das Führen ei- Herr Präsident! Liebe Kollegen! Werte Gäste auf den nes atomaren Erstschlags gegen einen beliebigen Gegner Rängen! Vor ungefähr zehn Minuten haben wir erfahren – nicht ausgeschlossen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9197

Dr. Robby Schlund (A) Dennoch war die russische Seite am 15. Januar in Dr. Karl-Heinz Brunner (SPD): (C) Genf bereit, offen und kompromissbereit auf die USA Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrtes Präsidium! zuzugehen. Aber sie wurden behandelt wie zu Zeiten des Meine Damen und Herren! Liebe Zuschauerinnen und Kalten Krieges, meine Damen und Herren. Das geht so Zuschauer! Selten ist eine Aktuelle Stunde so aktuell nicht. wie diese: Etwa vor einer Stunde hat Mike Pompeo in (Beifall bei der AfD) Washington die Erklärung abgegeben, dass die USA aus dem INF-Vertrag – ich sage bewusst – aussteigen wollen. Das Militärbudget der USA beträgt das Zehnfache des- Er hat die Kündigung ausgesprochen, einen Tag vor Ab- sen von Russland. Da erscheint es geradezu aberwitzig, lauf der Frist und eine halbe Stunde, nachdem die Kanz- eine von Russland ausgehende Bedrohungslage zu kon- lerin die Begründung in der „Frankfurter Allgemeinen struieren. Die US-Administration sollte, statt Porzellan Zeitung“ bereits geliefert hat. zu zerschlagen, auf andere Länder zugehen, zum Beispiel Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir könnten auf China. China unterliegt nämlich nicht den Regeln des an dieser Stelle von historischen Augenblicken sprechen. INF-Vertrages – wie auch weitere acht Länder. Wir könnten darüber sprechen, wie wichtig allein der Leider fällt unserem Außenminister nichts Besseres INF-Vertrag ist. Wir könnten auch darüber sprechen – ein, als unbewiesene Behauptungen über russische Ver- wie es die Linke und die AfD gern möchten –, dass das tragsverstöße zu repetieren – wobei ihm tatsächlich zu- Ende des INF-Vertrags womöglich der Anfang einer neu- gutezuhalten ist, dass er im Gespräch im Auswärtigen en Aufrüstungsspirale ist, Ausschuss diese Woche zugesichert hat – besonders im (Dr. [AfD]: Nein, gerade Fernsehen –, dass Deutschland keine Mittelstreckenrake- nicht!) ten der USA stationieren würde. Nehmen wir ihn beim Wort! Wie wäre es denn mit einem bilateralen Abkom- der Beginn von weniger Stabilität, der Beginn von mehr men mit Russland? Oder, besser noch: Folgen Sie dem Unsicherheit. Ich möchte aber auch darüber sprechen, positiven Beispiel von Österreich und treten Sie dem dass die Möglichkeit besteht, dass dieser Vertrag nach Atomwaffenverbotsvertrag bei – das wäre ein Zeichen der 60-Tage-Frist in kein neues Regelwerk einfließt, dass für unser Volk hier in Deutschland. dies auch eine Nichtverlängerung des New-START-Ab- kommens im Jahr 2021 zur Folge haben könnte oder dass (Beifall bei der AfD – Alexander Graf dies als das von dem einen oder anderen in der Diskus- Lambsdorff [FDP]: Russland tritt ihm dann sion noch nicht gehörte, aber bereits leise klingelnde To- auch bei?) tenglöckchen für den NVV, den Vertrag über die Nicht- Die AfD fordert die Bundesregierung und vor allem verbreitung von Kernwaffen, anzusehen ist. (B) (D) den Außenminister auf, sich nicht zum unkritischen Er- Warum sage ich das, meine sehr verehrten Damen und füllungsgehilfen amerikanischer Machtumsetzung zu Herren? Weil ich die Bemühungen unseres Außenminis- machen. Machen Sie endlich eigenständige Politik im ters und des Auswärtigen Amts in den vergangenen Wo- deutschen und europäischen Sicherheitsinteresse! Zwin- chen gesehen und gemerkt habe. gen Sie die Verhandlungspartner wieder an den Tisch! Und vergessen Sie bitte China nicht. Eine nun schier (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Ein unmöglich gewordene Erhaltung, Erweiterung und Mo- Totalausfall war das!) difizierung des INF-Vertrages im Dialog mit den USA, Ich habe aber auch ganz deutlich gesehen, dass wir mit Russland und China zu erreichen, einer deutschen Lösung, einer solitären Lösung der Bun- (Dr. Volker Ullrich [CDU/CSU]: Sagen Sie desrepublik Deutschland, keinen Erfolg haben werden. mal was zu den russischen Vertragsverletzun- Deshalb sage ich an dieser Stelle ganz deutlich: Unsere gen!) Antwort muss Europa sein! wäre in der Tat ein diplomatischer Erfolg und ein guter (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Peter Schachzug für unsere Sicherheit in Europa – gewesen; Beyer [CDU/CSU]) leider. Warum haben die Vereinigten Staaten von Amerika Eines sollten die Amerikaner wissen: Wir in Deutsch- und die Russische Föderation als Rechtsnachfolgerin der land wollen den Kalten Krieg nicht zurück. Zum Wohle Sowjetunion, zumindest in diesem Falle, kein Interesse unseres Volkes darf Deutschland nie wieder zwischen die mehr an diesem Vertragswerk? Das wurde bereits vom Fronten der Interessen der USA bzw. Russlands geraten. Kollegen Kiesewetter ausgeführt: weil China, Nordko- rea, Pakistan, Indien und auch andere Länder des Nahen Vielen Dank, meine Damen und Herren. und Mittleren Ostens an Atomwaffen arbeiten. Es hat (Beifall bei der AfD) aber auch damit zu tun, dass die beiden Protagonisten kein Interesse an den multilateralen Verträgen dieser Welt haben, sondern nur bilateral Entscheidungen und Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vereinbarungen treffen sowie Verträge schließen wollen. Vielen Dank, Herr Kollege. – Als Nächster spricht zu uns für die SPD-Fraktion der Kollege Dr. Karl-Heinz Dies, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist für Brunner. uns in Europa nicht weiter zu ertragen. Wir in Europa waren in den vergangenen Wochen und Monaten die- (Beifall bei Abgeordneten der SPD) ses Vorspiels bis zum heutigen Tage viel zu stumm, wir 9198 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Dr. Karl-Heinz Brunner (A) haben diese Eskalation zugelassen und nur zugeschaut, aus, und – eben ist es erwähnt worden – 2021 läuft New (C) weil in Europa der Spaltpilz und die Zentrifugalkräfte START aus, also ein Vertrag zur Reduzierung strategi- dieses Kontinents stärker sind. scher Nuklearwaffen. Mit anderen Worten: Große Ele- mente dessen, was unsere Sicherheit ausgemacht hat, Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich glaube, stehen infrage. dass wir einige wichtige Punkte berücksichtigen müs- sen. Wir müssen erstens die sechs Monate, die uns Zeit Unsere Gesellschaft ist auf eine solche Debatte kaum bleiben – also diesen Zeitgewinn –, dazu nutzen, Europa vorbereitet. Vielen kommt das wie ein fernes Echo der wieder ins Spiel zu bringen, ein gemeinsames Europa, 80er-Jahre vor. Aber warum ist die Gesellschaft nicht da- ein starkes Europa, ein Europa, das mit einer Stimme rauf vorbereitet? Weil sie systematisch verbal eingelullt spricht und als Player auf dem Spielfeld zurückbleibt. wird durch Äußerungen des Bundesaußenministers im „Spiegel“. Was müssen wir dazu tun? Wir müssen zweitens die Zweifel unserer östlichen Partner und Nachbarn ausräu- (Beifall bei der FDP sowie des Abg. men, dass die Bundesrepublik Deutschland als die wirt- Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]) schaftlich stärkste und militärisch zweitstärkste Kraft in Das ist verantwortungslos. Wir leben in einer Welt, in der Europa ein Satz von wie – ich zitiere – „Letztlich (Dr. Roland Hartwig [AfD]: Der war gut! – wollen doch alle eine Welt ohne Nuklearwaffen“ zwar [AfD]: Weiter, weiter, weiter! passend ist für den Juso-Ortsverein in Saarlouis, aber mit Mit drei Panzern!) der Realität der Welt nichts, aber auch wirklich gar nichts zu tun hat. das Schutzbedürfnis nicht sichert, und klarmachen, dass sie den Artikel 5 des NATO-Vertrags nicht nur unter- (Beifall bei der FDP sowie der Abg. Elisabeth zeichnet hat, sondern auch als Versprechen der Sicherheit Winkelmeier-Becker [CDU/CSU] und unserer Nachbarn ernst nimmt, nicht nur aus Gründen Dr. Harald Weyel [AfD]) historischen Zweifels, sondern auch aus der Notwendig- Wir wissen seit 2014, dass Russland diesen Vertrag keit unserer eigenen Sicherheit. massiv verletzt. Wo war denn das Auswärtige Amt, wo Wir müssen drittens die Wiederbelebung der soge- waren denn die sozialdemokratischen Außenminister nannten Verification Commission auf den Weg bringen, vorher? Warum hat es keine Debatte gegeben? Warum fängt, lieber Roderich Kiesewetter, das Auswärtige Amt (Dr. Fritz Felgentreu [SPD]: Sehr richtig!) fünf Minuten vor zwölf, nämlich erst im März diesen um auch dort den nuklearen Bereich miteinzubeziehen Jahres, an, eine „Analyse“ vorzunehmen, während wir (B) und die Möglichkeit zu bieten, über die Verifikation ei- heute Herrn Pompeo in Washington hören, wie er den (D) nen Schritt weiterzukommen. Denn unser Ziel, meine Vertrag bereits aufkündigt? sehr verehrten Damen und Herren, muss sein, wieder eine (Zuruf des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE verlässliche europäische Sicherheitsstruktur zu erhalten, LINKE]) eine Sicherheitsstruktur, bei der wir wissen müssen, dass, wenn es tatsächlich zu einer Nachrüstung käme, Europa Das ist alles zu spät. Die Gesellschaft muss darauf im Zentrum stehen würde. Die Chance für Europa liegt vorbereitet werden, dass wir eine Debatte führen müssen. aber nur darin, den Frieden dieses Kontinents zu sichern (Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Sehr und unsere eigene Sicherheit zu gewährleisten. wahr!) Vielen Dank. Denn die Realität, so unbequem sie auch ist, hört sich wie folgt an: Punkt eins. Auch mit dem Ende des Kalten Krie- (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten ges ist das nukleare Zeitalter nicht zu Ende gegangen. der CDU/CSU) Es gibt große Nuklearmächte auf der Welt, die, anders als Heiko Maas das vermutet, von diesen Waffen nicht Vizepräsident Wolfgang Kubicki: lassen wollen. Punkt zwei. Deswegen muss das westli- Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Brunner. – Als Nächster che Verteidigungsbündnis, die NATO, auch ein nukleares spricht zu uns der Kollege Alexander Graf Lambsdorff, Bündnis sein. Wir können nicht so tun, als gebe es um FDP-Fraktion. uns herum keine nukleare Bedrohung. Die NATO ist der (Beifall bei der FDP) Natur der Sache nach ein nukleares Bündnis. Jetzt stellt sich – Punkt drei – die Frage: Wie verhalten Alexander Graf Lambsdorff (FDP): wir uns als Deutsche? Wollen wir uns aus allen Diskus- Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und sionen abmelden, aus den ethischen Debatten über die Nukleardoktrin, ja oder nein? Wenn wir das nicht wollen, Herren! Wir haben uns heute hier zu einer Aktuellen dann müssen wir in der nuklearen Teilhabe unseres Bünd- Stunde versammelt, weil wir mit einer außerordentlich nisses bleiben. Dann geht es nicht, wenn Herr Mützenich bedauerlichen Situation konfrontiert sind. Es ist jetzt schon wieder den Pumuckl der Sozialdemokratie spielt für jedermann sichtbar, dass ein weiterer Baustein der und erklärt, wir könnten die nukleare Teilhabe durch eine Abrüstungsarchitektur, der Rüstungskontrollarchitektur Beschaffungsentscheidung für den F-18 nicht fortsetzen; kurz vor dem Ende steht. Nach der Aufkündigung des das ginge alles nicht, wir müssten da raus. Vertrages über antiballistische Raketen steht jetzt die Kündigung des Vertrages über Mittelstreckenraketen (Beifall bei der FDP) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9199

Alexander Graf Lambsdorff (A) Meine Damen und Herren von der Sozialdemokratie, Vizepräsident Wolfgang Kubicki: (C) Sie haben eine große sicherheitspolitische Tradition. Sie Als Nächster erhält das Wort der Kollege Omid sollten diese nur nicht aufgrund des durchsichtigen Ma- Nouripour, Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. növers der Linkspartei aufs Spiel setzen. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich glaube, dass die Debatte, ob wir in Deutschland Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich zitiere: jetzt nachrüsten müssen, ob wir hier stationieren müssen, eine Debatte ist, die wir führen müssen. Aber ich glaube, Mit einer einzigen Bombe wurde meine geliebte sie wird sich weniger dramatisch abspielen als diejeni- Stadt ausgelöscht. Jede Sekunde an jedem Tag be- gen glauben, die diese Aktuelle Stunde beantragt haben. drohen Atomwaffen jeden, den wir lieben, und al- Zum einen handelt es sich um landgestützte Systeme, die les, was wir wertschätzen. Wir dürfen diesen Irrsinn durch den INF-Vertrag verboten sind. Die Rolle seege- nicht länger tolerieren. stützter Systeme, die nicht verboten sind, ist in den letz- Dieser Satz stammt von Setsuko Thurlow, einer Über- ten Jahren immer wichtiger geworden. Ob es also über- lebenden der Katastrophe von Hiroshima, ausgesprochen haupt zu einer Stationierungsdebatte kommt, müssen wir letztes Jahr bei der berechtigten Verleihung des Friedens- mal abwarten. Wenn es aber zu ihr kommt, dann werden nobelpreises an ihre Internationale Kampagne für die wir sie im Rahmen der NATO zu führen haben. Abschaffung von Atomwaffen, ICAN. Dazu: Ich habe es außerordentlich begrüßt, dass der (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bundesaußenminister im Auswärtigen Ausschuss er- sowie bei Abgeordneten der SPD und der klärt hat, er wolle eine einheitliche Position der NATO LINKEN) in dieser Frage herbeiführen; das fand ich gut. Aber wie kann er denn dann im „Spiegel“ schon exakt sagen, was Knapp ein Jahr später reden wir darüber, dass das er alles nicht mitzumachen bereit ist? Das geht doch sowieso nicht besonders üppige Regelwerk für den nicht. Wir müssen das Ganze mit den Verbündeten in der Umgang mit Atomwaffen, unter anderem der INF-Ver- NATO doch erst mal diskutieren. trag, massiv bedroht ist und jetzt auch von einer Seite aufgekündigt wurde. Der Vertrag ist historisch; das kann (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten man gar nicht oft genug wiederholen. Es war der erste der CDU/CSU) Vertrag, der nicht nur Abrüstung und Rüstungskontrolle beinhaltete, sondern auch die Abschaffung einer ganzen Eines will ich auch noch sagen: Ein Placebo geistert Waffengattung. Es ist eine unglaubliche Leistung gewe- (B) durch die Debatte, und das ist die Multilateralisierung (D) sen, dass die Mittelstreckenarsenale der damaligen Sow- des Vertrages. Mit anderen Worten: Der Vertrag wird jetunion und der USA tatsächlich zerstört worden sind. nicht nur nicht gekündigt, nein, im Gegenteil, er wird er- Aber dieser Vertrag ist nicht nur ein Symbol, sondern halten, und gleichzeitig tritt China, tritt Frankreich, tritt dieser Vertrag betrifft auch uns und unsere Sicherheitsin- Großbritannien bei. Dummerweise ist das alles schon teressen in Mitteleuropa sehr direkt. mal versucht worden. Auch die Franzosen und die Briten wehren sich gegen eine Multilateralisierung. Lieber Herr Meine Damen und Herren, wir haben es heute mit sehr Brunner, mit Blick auf Europa lautet die Antwort leider: vielen jungen Menschen zu tun. Es ist ein Glück, zu se- Nein! Wir müssen mit der Realität umgehen, dass wir hen, dass sie sich daher an diesen permanenten Schre- Mittelstreckenraketen in Europa behalten. Deswegen ist cken der gegenseitigen nuklearen Auslöschung nicht er- unser zentrales Interesse als Deutsche, das strategische innern können. Es ist eine Kernaufgabe der Politik, alles Gleichgewicht zu erhalten und dadurch den Frieden zu dafür zu tun, damit das so bleibt. sichern. Und das bedeutet: Wir sollten alles daransetzen, den Vertrag zu erhalten. Wir müssen Moskau darum bit- (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ten, zur Vertragstreue zurückzukehren, – sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Deshalb können wir kein Interesse an einem Wettrüsten Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss. haben. Ich kann für meine Partei sehr klar sagen, dass wir die Stationierung von nuklear bestückbaren Mittel- streckenraketen in Deutschland ablehnen. Alexander Graf Lambsdorff (FDP): – und Washington darum bitten, zum Vertrag zurück- (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- zukehren. Das Verifikationsregime, das Sie angespro- SES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN – chen haben, Herr Brunner, ist eines, das wir unterstützen. Peter Beyer [CDU/CSU]: Was ist die Alterna- Wenn wir den Vertrag erhalten wollen, sind die nächs- tive?) ten sechs Monate der Zeitraum dafür, den wir ausnutzen Die Debatte ist ja nicht neu. Bei dem Versuch, darüber müssen. zu reden, sagt der eine das, der andere das. Dabei werden Herzlichen Dank. aber ein paar Indizien ausgeblendet. Die Amerikaner ha- ben beispielsweise 2014 den Russen sehr klar vorgewor- (Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten fen, dass sie neue Raketen gebaut hätten. Die Russen ha- der CDU/CSU) ben das drei Jahre lang dementiert, 2017 aber zugegeben. 9200 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Omid Nouripour (A) Jetzt wird diskutiert, ob diese Raketen 480, 490 oder über Es ist gut, dass Außenminister Maas nach Bukarest (C) 500 Kilometer Reichweite haben. Viel wichtiger ist aber, reist, aber ich habe noch nicht ganz verstanden, wie die dass da Vertrauen kaputtgegangen ist, dass da Glaubwür- dringend notwendige europäische Einigung dort erreicht digkeitsprobleme bestehen. Ebenso ist der permanente werden soll. Über Abrüstung zu sprechen und zu sagen, Bruch des Budapester Memorandums durch den Eingriff das sei wichtig, reicht alleine nicht. Es ist ganz dringend Russlands in der Ukraine ein massives Problem notwendig, auch Geld dafür in die Hand zu nehmen. Wir werden sehr genau hinschauen, wie der nächste Haus- (Christian Schmidt [Fürth] [CDU/CSU]: Sehr haltsentwurf der Großen Koalition in diesem Bereich wahr!) aussieht. Glaubhafte Abrüstung funktioniert nur, wenn für das Regelwerk im Umgang mit Atomwaffen. Das die Zielsetzung nicht ist, die Zahl von Atomwaffen zu kann man hier einfach nicht verschweigen, wenn man reduzieren, sondern die, deren Existenz zu beenden. Das darüber redet, dass Vertrauen kaputtgegangen ist. ist die Aufgabe, die wir heute haben, und zwar nicht nur für uns, sondern auch für viele Generationen nach uns. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) des Abg. Frank Müller-Rosentritt [FDP]) Das gilt aber auch für das Atomabkommen mit dem Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Iran; das darf man auch nicht vergessen. Wir reden über Vielen Dank, Herr Kollege Nouripour. – Als Nächs- eine sehr komplizierte Konstruktion des Vertrauens. Die- tes spricht zu uns der Kollege Nikolas Löbel, CDU/ se wird derzeit sehr beschädigt. Da reicht es nicht, wenn CSU-Fraktion. Russland auf den letzten Metern plötzlich eine Transpa- renzinitiative bringt. Da muss mehr kommen. (Beifall bei der CDU/CSU) (Peter Beyer [CDU/CSU]: Pseudotransparen- zinitiative!) Nikolas Löbel (CDU/CSU): Trotzdem ist es grottenfalsch, jetzt den INF-Vertrag auf- Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! zukündigen. Meine Damen und Herren! Dieser INF-Vertrag aus dem Jahr 1987 ist eine historische Errungenschaft. Ich bin Erstens. Auch aus amerikanischer Sicht: Jetzt könnten Jahrgang 1986. Ich kann mich an die Debatten über den die Russen entwickeln, bauen und stationieren, wie und NATO-Doppelbeschluss und an die ganzen Aufrüstungs- wo sie wollen. debatten gar nicht erinnern. Ich kenne sie nur aus dem Geschichtsbuch. Aber ich bin froh, dass dieser INF-Ver- (B) Zweitens. New START, quasi die andere Hälfte des (D) Regelwerks, ist massiv unter Druck. Es gibt bereits jetzt trag 1987 der Meilenstein für den Einstieg in den Aus- Ankündigungen, auch aus Moskau, die Verlängerung in- stieg aus der Aufrüstung war. frage zu stellen. Heute folgt wahrscheinlich ein nächster Meilen- Drittens. Eine neue globale Rüstungsspirale droht, stein, weil die Amerikaner angekündigt haben, aus dem weil, wie gesagt, das Vertrauen zerstört wird. INF-Vertrag aussteigen zu wollen. Liebe Frau Kollegin Dağdelen, Sie haben vorhin gesagt: Was damals möglich Viertens und letztens ist das Ende des INF-Vertrages war, müsste doch auch heute wieder möglich sein. – Da- auch ein potenzieller Riesenspaltpilz innerhalb der Euro- mals war das möglich, weil der Wille auf beiden Seiten päischen Union. Das richtige Interesse an einer Redukti- da war, gemeinsam abzurüsten. Dieser Wille ist nicht ein- on von Spannungen und neuen Initiativen für Abrüstung seitig aufgebraucht. Vielmehr müssen wir beide Seiten kann leicht gegen die ebenso legitime Bedrohungswahr- daran erinnern, dass sie den Willen aufbringen müssen, nehmung unserer östlichen Nachbarn ausgespielt wer- sich an diesen INF-Vertrag zu halten. den. Das können wir nicht wollen. Damit sind wir beim nächsten Punkt, Ihrem Vorwurf, (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wir würden bzw. die Bundesregierung würde den Ame- sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. rikanern blind Gefolgschaft leisten. Ich fordere Sie auf, Josip Juratovic [SPD]) erst einmal Ihre blinde Gefolgschaft gegenüber Wladimir Abrüstung braucht immer Vertrauen. Vertrauen kann Putin und Russland zu überdenken. man, auch wenn es gerade ein rares Gut ist, nicht errei- (Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das ist doch chen, wenn man nichts tut. Wir müssen jetzt weit mehr Quatsch!) Aktivitäten an den Tag legen. Ich wünschte mir, dass die Bundesregierung sich für gegenseitige Inspektionen Denn es war nachweislich Russland, das gegen den einsetzen würde. Es geht nicht nur um Russland. Wenn INF-Vertrag verstoßen hat. Das ist die Ursache für die wir wollen, dass die Russen Transparenz herstellen und heutige Ankündigung der USA, aus dem Vertrag auszu- Inspektionen zulassen, dann muss auch der Westen etwas steigen, und nichts anderes. bieten können. Deshalb geht es um ein gegenseitiges Ve- rifikationssystem, das nun erhalten werden muss. (Beifall bei der CDU/CSU – Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Frau Dağdelen (Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNIS- fehlt!) SES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE]) – Man wird ihr meine Grüße bestimmt ausrichten. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9201

Nikolas Löbel (A) Es geht aber nicht nur darum. Herr Kollege Nouripour, und entschlossen eine Antwort zu geben; denn die Hoff- (C) Sie haben gerade richtigerweise gesagt, Vertrauen sei ver- nung, dass der INF-Vertrag innerhalb dieser sechs Mona- loren gegangen. Dieser Vertrag war aufgebaut auf gegen- te bestehen bleibt, ist das eine. Aber dass vielleicht diese seitigem Vertrauen. Dieses Vertrauen ist verletzt worden. sechs Monate verstreichen und wir auch danach weiter- Nicht erst Donald Trump in einer gewissen intellektuel- arbeiten müssen, sodass es zu einem neuen INF-Vertrag len Kürze, sondern schon sein Vorgänger Barack Obama kommt, ist das andere. Dies sollten wir nicht von Beginn hat seit 2014 darauf hingewiesen, dass Russland gegen an vom Tisch wischen, indem wir mögliche Optionen au- den INF-Vertrag verstößt. Erst 2018 haben die Russen ßen vor lassen. stückchenweise zugestanden, dass es eine neue Mittel- streckenrakete gibt. Sie haben sich dann auf Detailfragen Wir nutzen diese Zeit auch als Mitglied des UN-Si- eingelassen, zum Beispiel, dass die Rakete weniger als cherheitsrates. Wir haben uns auf die Fahne geschrieben, 500 Kilometer Reichweite hat und damit keinen Verstoß dass wir die Abrüstung in den Mittelpunkt unseres Rats- gegen den Vertrag bedeutet. vorsitzes stellen wollen – gemeinsam mit Frankreich. Das ist das einzig Richtige, was wir in dieser Situation Was die Russen aber nicht getan haben, ist, sich auf tun können. Nutzen wir unsere Verantwortung; denn der die notwendige Schaffung von Transparenz einzulassen. INF-Vertrag ist der Meilenstein für die Sicherheit in Eu- Wo ist denn die Transparenz? Wo war sie denn in den ropa und damit auch für Deutschland. Insoweit sollten letzten 60 Tagen, als nochmals eine Ver- wir unserer Verantwortung gerecht werden. handlungsverlängerung herausgeholt hat? Wo war denn die notwendige und versprochene Transparenz, dass man Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit. sich dieses neue Waffensystem SSC-8 einmal anschauen konnte? Es wurde keine Transparenz geschaffen. Ohne (Beifall bei der CDU/CSU) Transparenz gibt es aber kein Vertrauen, und das ist der eigentliche Grund für die Aufkündigung dieses Vertra- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ges. Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächster Redner er- Was wir jetzt brauchen, ist Folgendes: Wir müssen hält das Wort der Kollege Jens Kestner, AfD-Fraktion. diese Sechs-Monats-Frist, die noch bleibt, nutzen; denn (Beifall bei der AfD) es geht um viel. Es geht um den Kernbestandteil der in- ternationalen Sicherheitsstruktur. Es geht um die Abrüs- tungskontrolle, die wir auf neue Füße stellen müssen. Jens Kestner (AfD): Wir müssen diesen Vertrag erhalten. Ich glaube schon, Sehr geehrter Herr Vorsitzender! Werte Kolleginnen (B) dass einer der Gründe, warum Russland diesen Vertrag und Kollegen, die Besucher auf den Tribünen und vor (D) infrage stellt und wieder aufrüsten will, ist, dass ande- allen Dingen auch die Damen und Herren, die zu Hause re Länder nicht an diesen Vertrag gebunden sind: China, vor den Bildschirmen sitzen! Die Ankündigungen der Pakistan, der Iran. Wir müssen für eine Erweiterung des USA waren hart. Ja, sie waren letztendlich sogar ultima- INF-Vertrages sorgen. Man würde wahrscheinlich sagen: tiv. Das Ergebnis steht nun fest: Die USA haben den Ver- einen INF-Vertrag 4.0. Aber ein einseitiger, ein bilate- trag einseitig aufgekündigt. raler Vertrag zwischen Russland und Amerika ist nicht mehr zeitgemäß. Wir müssen diesen Vertrag erhalten, Wenn man nun auf der Zeitleiste zurückgeht: Was war aber wir müssen ihn auch erweitern. passiert? Schon lange werfen die USA den Russen vor, den INF-Vertrag gebrochen zu haben und Raketensys- Einerseits geht es in den nächsten sechs Monaten da- teme durchaus nicht nur zu testen, sondern auch in Be- rum, dafür die Basis zu schaffen. Andererseits ist aber trieb zu haben; Raketensysteme, die eine Reichweite von auch klar, dass wir uns Gedanken machen müssen über deutlich über 500 Kilometern besitzen. Damit würden sie die Frage: Was tun wir eigentlich, wenn die sechs Monate den Vertrag verletzen. Die russische Seite wiederum ver- erfolglos verstrichen sind? neint dies und verweist auf eine maximale Reichweite Es ist richtig, sich an die Historie zu erinnern. Dieser ihrer Systeme von unter 500 Kilometer. Dieses wäre ver- INF-Vertrag kam nur durch gegenseitige Stärke und Ver- traglich erlaubt. Im gleichen Atemzug kritisiert die rus- handlungen auf Augenhöhe zustande. Deswegen dürfen sische Seite die provokative Einrichtung eines US-ame- wir von Beginn an keine Optionen vom Tisch wischen, rikanischen Raketenabwehrsystems nahe der russischen sondern wir müssen dafür Sorge tragen, dass wir als Grenze. NATO geschlossen agieren. Wir dürfen uns nicht ausein- anderdividieren lassen, sondern es braucht ein geschlos- Was ist nun das Problem? Was ist die Krux, meine Da- senes Handeln, aber auch eine entschlossene Antwort auf men und Herren? Die Krux ist, dass beide Parteien sich ein mögliches Stationieren neuer Mittelstreckenraketen nicht mehr vertrauen. Doch gerade Vertrauen und Zuver- durch Russland und die NATO. Deswegen müssen wir sicht haben damals Helmut Schmidt und Hans-Dietrich auch den Russen deutlich machen, wo wir die Stationie- Genscher in die Lage versetzt, den Grundstein für den rung solcher Mittelstreckenraketen nicht dulden: Stich- späteren INF-Vertrag zu legen. US-Präsident Reagan wort Kaliningrad und andere. und der sowjetische Generalsekretär Gorbatschow sind diesen Weg zu Ende gegangen und haben mit der Unter- Deswegen ist es wichtig, dass wir diese Frist von sechs zeichnung des INF-Vertrages 1987 ein klares Zeichen in Monaten nutzen, um die NATO zu stärken und, mögli- die Welt gesendet. Dieses Zeichen war der Anfang vom cherweise auch nach diesen sechs Monaten, geschlossen Ende des Kalten Krieges. 9202 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Jens Kestner (A) Selbstverständlich – das haben auch meine Vorredner gen Sie dafür, dass der Vertrag Bestand hat, oder setzen (C) schon gesagt – muss dieser Vertrag erhalten bleiben. Das Sie neue Zielmarken für einen neuen Vertrag. sollte der oberste Auftrag sein, gerade für uns Deutsche, für uns Europäer. Nach der Aussage der amerikanischen Vielen Dank. Seite verbleiben jetzt noch sechs Monate, bis der endgül- (Beifall bei der AfD) tige Schnitt, ja bis das endgültige Ende dieses Vertrages feststeht. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Aber ich sehe von unserer Bundesregierung und vor Vielen Dank. – Als nächster Redner hat das Wort der allen Dingen von unserem Minister, der heute hier nicht Kollege Christoph Matschie, SPD-Fraktion. unter uns weilt, kein Feuer, keine Leidenschaft, (Beifall bei der SPD) (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Er ist doch nicht gestorben!) Christoph Matschie (SPD): Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der diesen Vertrag zu verlängern und sich dementsprechend INF-Vertrag ist heute gekündigt worden. Ich finde, das einzubringen. Anstatt in die Rolle eines Maklers zu ist kein Moment für schrille Töne, wie wir sie von der schlüpfen, sehe ich ihn nur an der Außenlinie stehen, Linken gehört haben, mit dem ausgestreckten Finger in eine Richtung zeigend. Dann muss ich Herrn Maas sagen: Wer sich hinstellt und (Zuruf von der LINKEN: Ach!) nur in eine Richtung zeigt, und zwar mit dem Zeigefin- aber auch zum Teil von Herrn Schlund von der AfD. ger, der kann kein Vertrauen gewinnen, der kann nie- manden an einen Tisch holen, und der wird auch keine (Beifall des Abg. Marian Wendt [CDU/CSU]) Ergebnisse erzielen. Das ist eigentlich ein Moment für Nachdenklichkeit. (Beifall bei der AfD) (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Dann denken Sie mal nach! – Sevim Dağdelen [DIE Das Hauptziel der Diplomatie muss es sein, diesen LINKE]: Schlecht, wenn Sie erst jetzt anfan- Vertrag zu erhalten; darin sind wir uns alle einig, das sag- gen, nachzudenken!) te ich eben schon. Wenn uns das gelingt, dann müssen wir aber auch dafür sorgen, dass alle neuen Waffen- und Die Debatte über den INF-Vertrag führen wir ja schon Drohnensysteme, die bisher vielleicht den Vertrag un- seit langem. Seit Jahren gibt es die Debatte um die Verlet- (B) terlaufen, ein Bestandteil dieses Regelwerkes werden. zung dieses Vertrages. Seit Jahren gibt es Bemühungen (D) Sollte es doch zum endgültigen einseitigen Bruch kom- darum, wie dieser Vertrag eingehalten werden kann. men – momentan sieht es ja so aus –, dann muss alles Ich will gleich zu Beginn mit einer Legende aufräu- darangesetzt werden, die Beteiligten an einen Tisch zu men. Es war insbesondere die Bundesregierung, von bekommen. der Bundeskanzlerin bis zum Bundesaußenminister, die dafür gesorgt hat, dass zunächst eine Frist von 60 Tagen Wenn ich „Beteiligte“ sage, dann meine ich nicht nur vereinbart wurde, um die Einhaltung des Vertrages viel- Russland und die USA, sondern dann meine ich auch leicht doch noch zu ermöglichen. China und Indien. Alle zusammen müssen dann – der Kollege vor mir hat es eben INF 4.0 genannt – so etwas (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten wie einen INF-Plus-Vertrag machen, wie ich es nennen der CDU/CSU) würde, einen neuen Vertrag, mit dem alles abgedeckt ist und in dem alle Waffensysteme aufgeführt sind. Und: Ich bin sicher, dass sich die Bundesregierung, von der Kanzlerin bis zum Außenminister, auch in den kom- Gerade China – lassen Sie mich das sagen – spielt da- menden Monaten vehement dafür einsetzen wird, alle bei eine bedeutende Rolle. Wir leben nicht mehr in den noch verbleibenden Möglichkeiten zu nutzen, in den 80er-Jahren. Die Bedrohungslage auf der Welt hat sich nächsten sechs Monaten zu diesem Vertrag zurückzukeh- geändert. Damals gab es den Kalten Krieg. Da gab es die ren. beiden Blöcke: die USA und die Sowjetunion. Aber nun Jeder, der sich mit der politischen Situation auskennt, gibt es mehrere Hauptakteure auf dem Spielfeld. Diese weiß aber auch, wie schwer dieses Unterfangen ist. Am nicht zufriedenstellende Situation müssen wir nutzen, Ende ist auch klar: Das ist ein Vertrag zwischen zwei um alle Beteiligten an einen Tisch zu bekommen – zum Staaten, nämlich den USA und Russland. Wir können Wohle aller. aber auf die politische Debatte in diesem Zusammenhang einwirken, und das müssen wir auch tun. Wenn ich sage „zum Wohle aller“ und „an einen Tisch zu bekommen“, dann bin ich wieder bei der Bundesre- Ich glaube, vielleicht ist nicht einmal die Verschiebung gierung, dann bin ich wieder bei unserem Außenminister. so entscheidend, die sich durch eine mögliche Vertrags- Ich kann ihm nur ergänzend sagen: Machen Sie sich ge- verletzung durch Russland im militärischen Gleichge- rade! Bringen Sie sich ein! Springen Sie über Ihren au- wicht ergibt. Viel entscheidender ist, was politisch pas- ßenpolitischen Schatten, er ist ja klein genug. Reden Sie siert, weil hier Vertrauen zerstört wird, weil hier etwas auch mit den Leuten, mit denen Sie nicht reden wollen. aufgegeben wird, was wir schon einmal erreicht hatten, Bringen Sie diesen Menschen Vertrauen entgegen. Sor- nämlich Abrüstung und Rüstungskontrolle zu vereinba- Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9203

Christoph Matschie (A) ren, gegenseitige Transparenz möglich zu machen. Das Schritt für Schritt zu begrenzen, Vertrauen herzustellen, (C) ist der eigentliche schwierige Punkt an dieser Situation. Transparenz zu sichern. Dann sind wir auf dem richtigen Weg. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/ (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten DIE GRÜNEN) der CDU/CSU)

Werte Kolleginnen und Kollegen, man kann über die militärischen Implikationen lange streiten, über die Fra- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: ge, wie das Gleichgewicht hergestellt wird. Wir wissen Vielen Dank, Herr Kollege. – Als nächstem Redner auch, dass in den letzten Jahren die Frage der landge- erteile ich das Wort dem Kollegen Dr. Alexander S. Neu. stützten Mittelstreckenraketen im atomaren Bereich an Bedeutung verloren hat, weil ein Großteil dieser atoma- (Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der ren Mittelstreckenwaffen heute seegestützt und luftge- LINKEN: Von der Linken!) stützt ist. – Das muss gesagt werden: Fraktion Die Linke. Deshalb, glaube ich, sollten wir jetzt ganz und gar nicht in eine Rüstungslogik eintreten, in eine Nachrüs- tungsdebatte, sondern wir sollten überlegen: Welche po- Dr. Alexander S. Neu (DIE LINKE): litischen Instrumente haben wir in der Hand, um wieder Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen Vertrauen herzustellen, die Basis herzustellen, auf der der und Herren! Die Atomkriegsuhr steht seit zwei Jahren INF-Vertrag vielleicht fortgesetzt werden kann? Oder, auf weniger als zwei Minuten vor Mitternacht. Dieser wenn das nicht möglich ist: Wie kann mit neuen Verein- Zustand wurde erst einmal, nämlich im Jahre 1953, er- barungen für Transparenz, für gegenseitige Berechenbar- reicht; es ist also sehr ernst. Der einseitige Ausstieg aus keit und damit für Sicherheit gesorgt werden? dem INF-Vertrag seitens der USA, der heute verkündet wurde, verschlimmert diese Situation dramatisch. Eines ist doch auch in den 80er-Jahren klar gewor- den: Sicherheit kann es nicht nur gegeneinander geben. Worum geht es? Es geht darum, dass sich Russland Je höher wir die Rüstungsspirale schrauben, desto mehr und die USA gegenseitig einen Bruch des INF-Vertra- wächst natürlich das Risiko, dass Fehler passieren, desto ges vorwerfen. Die USA behaupten, Russland breche höher wird das Eskalationspotenzial. Das war der Grund, mit der Entwicklung des Marschflugkörpers SSC-8 den weshalb in den 80er-Jahren der Abrüstungsvertrag ge- INF-Vertrag. Russland wiederum behauptet, die USA (B) schlossen worden ist. Denn es war klar: Diese Aufrüs- verwendeten in Rumänien und Polen das System MK-41, (D) tungslogik führt nicht zu mehr Sicherheit. Sie führt zu welches nuklearbestückbare Marschflugkörper abschie- mehr Unsicherheit. Sie muss deshalb beendet werden. ßen könne.

(Beifall bei der SPD) Kommen wir zur Beweislage. Jede Seite verfügt über genau null Beweise; es sind lediglich Behauptungen. Vor Diese Erkenntnis muss uns auch heute leiten. Deshalb Weihnachten erhielten wir aus dem Auswärtigen Amt bin ich dagegen, dass wir heute schon darüber nachden- eine Zuleitung von drei Dokumenten, die angeblich als ken: Was wäre denn, wenn? Muss man jetzt neue Mit- Beweise dienen sollten. Das Problem: Alle drei Doku- telstreckenwaffen in Erwägung ziehen, die landgestützt mente beinhalten null Beweise. Weder konnte bewiesen sind und die vielleicht in Europa stationiert werden sol- werden, dass Russland einen Vertragsbruch macht, noch len? – Nein, dazu ist nicht die Zeit. Jetzt ist die Zeit poli- konnte bewiesen werden, dass sich die USA vertragstreu tischer Argumente und gegenseitiger Vertrauensbildung. verhalten. Erstaunlich ist am dritten Dokument, dass die USA darin selber zugeben – ich zitiere –: Ich persönlich glaube auch, wir sollten raus aus der Debatte „Wer hat was gemacht?“, sondern rein in die De- In Abwesenheit irgendeiner glaubhaften Erklärung batte: Wer kann was tun, um dieses gegenseitige Vertrau- von Russland zu der neuen Rakete würde die plausi- en und diese Sicherheit wiederherzustellen? belste Einschätzung sein, dass Russland den Vertrag verletzt. (Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU) Also Einschätzung statt Beweis. Kurzum, außer heißer Luft nichts gewesen. Gestatten Sie mir zum Schluss noch eine Bemerkung; manchmal sind wir ja sehr im Moment gefangen. Es ist (Beifall bei der LINKEN) erst gut acht Jahre her, dass ein amerikanischer Präsident öffentlich erklärt hat, seine Vision sei eine Welt ohne Ferndiagnosen, ob russische Ferndiagnosen oder Atomwaffen. Damals ist der New-START-Vertrag un- amerikanische Ferndiagnosen, ersetzen eben keine terzeichnet worden. Damals hat man eine umfangreiche Vor-Ort-Inspektionen inklusive Datentransfer und Test- Abrüstung vereinbart. Ich finde, wir müssen alles daran- flügen. Daher fordert Die Linke eine Erneuerung des setzen und unser politisches Gewicht einsetzen, um zu Verifikationsregimes. Herr Lambsdorff, hören Sie gut dieser Logik zurückzukommen – hin zu einer Dynamik zu! Was hindert die USA daran, was hindert Russland einer Welt ohne Atomwaffen. Das heißt, diese Waffen daran, ein Verifikationsregime im Rahmen des INF-Ver- 9204 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Dr. Alexander S. Neu (A) trages um die Komponente „Inspektionen bei aktuellen Die Linke fordert von der Bundesregierung auch eine (C) Verdachtsfällen“ zu erneuern? Nichts würde sie daran klare Aussage: Keine Stationierung von US-Mittelstre- hindern. ckenraketen in Deutschland. – Aber genau diese Aussage fehlte heute seitens der GroKo. Sie hat sie bis heute nicht (Alexander Graf Lambsdorff [FDP]: Das ver- gemacht. langen wir ja auch! Das wollen wir ja auch! Ist ja gut!) (Beifall bei der LINKEN) Russland hat vor wenigen Wochen eine Transparenz­ Abschließend, sehr geehrte Damen und Herren: Die offensive gestartet. Am 15. Januar 2019 bot Russland Linke fordert von der Bundesregierung, sich endlich den den USA in Genf die Inspektion genau dieses Waffensys- wirklichen Gefahren für die Menschheit zu stellen, näm- tems an. Was taten die USA? Sie lehnten es ab. „Spiegel lich Bekämpfung des Klimawandels, Bekämpfung der ­Online“ titelte daraufhin: Plastikflut und Bekämpfung der Armut, statt die Atom- kriegsuhr weiter voranzudrehen. USA verpassen Chance für Abrüstung. Vielen Dank. Und weiter: (Beifall bei der LINKEN) Deutsche und amerikanische Rüstungskontrollex- perten werfen der US-Regierung vor, eine Chance verpasst zu haben, den INF-Vertrag zum Verbot Vizepräsident Wolfgang Kubicki: landgestützter Atomwaffen zu retten. Vielen Dank, Herr Kollege Dr. Neu. – Als nächster Redner erhält das Wort der Kollege Christian Schmidt, Ein kurzer Exkurs: Wie ist das Verhalten der USA zu CDU/CSU-Fraktion. erklären? US-Sicherheitsberater John Bolton hat im Jah- re 2011 im „Wall Street Journal“ einen Artikel verfasst. (Beifall bei der CDU/CSU) Ich zitiere daraus die zentrale Aussage: Der INF-Vertrag hat sich schon lange überlebt. Er Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): sollte geändert oder gänzlich verworfen werden. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei der letzten Rede habe ich einen kurzen Moment gedacht, So Bolton, der aktuelle Sicherheitsberater von Trump. – ich sei irgendwie im falschen Film, es sei ja alles irgend- Exkurs beendet. wie Fiktion. Lieber Herr Neu, ich kann Sie beruhigen: Es Wenige Tage später setzte Moskau seine in der Tat ist trotz Ihrer mühseligen Zusammenführung von wider- (B) suboptimale Transparenzoffensive fort. Es wurden auch sprüchlichen Thesen nicht so. (D) westliche Militärattachés südlich von Moskau eingela- (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Eine den, inklusive des deutschen. Alle verweigerten die Teil- Faktendarstellung, Herr Kollege!) nahme. Warum eigentlich? Das Waffensystem 9M729 existiert. Wir durften es (Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. nicht sehen; wir dürften nur das Etui sehen. Okay, wenn Hansjörg Müller [AfD]) stimmt, was von Moskauer Seite gesagt wird – sie ha- Was ist denn die Rolle der Bundesregierung? Die ben es übernommen –, dann hat es keine Reichweite von Bundesregierung hat das getan, was sie immer tut: in 500 Kilometern – damit wäre es im Bereich der Verlet- sicherheitspolitischen Fragen komplett zu versagen und zung des INF-Vertrages –, sondern 480 Kilometer. Na, ohne Nöte auf die US-Linie einzuschwenken. Vasallen- das ist ja eine tolle Argumentation, zu sagen: Es ist doch treue statt Aufklärungswille. „NATO first“ ist die poli- gar nichts passiert. Es ist doch alles normal. tische Philosophie der GroKo, und das auf Kosten der (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: 480 ist we- europäischen Sicherheit. niger als 500!) (Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeord- Das heißt allerdings auch, dass ich schon überrascht neten der AfD) bin, wie auf der linken und auf der rechten Seite des Hau- ses argumentiert wird. Die Linke fordert daher von der Bundesregierung end- lich eine reale Verantwortungsübernahme. Deutschland (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Keine könnte Russland anbieten, ein deutsches Inspektionsteam Gleichsetzung! Immer die alte Leier!) aufzubauen. Da aber die Bundesregierung in dieser Frage nicht neutral ist, wäre es sinnvoll, wenn ein zweiter Staat Das Highlight lieferte ja Herr Dr. Schlund. sich dem anschließen könnte. Südafrika wäre genau ein (Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie sind solcher Kandidat. Südafrika wäre geeignet, da Südafrika doch rechts!) keinem Militärbündnis angehört und auch keine Interes- sen in Europa hat. Im Übrigen verfügt Südafrika über Er offenbarte eine interessante Zusammenfassung von das nötige Know-how. Zugleich müsste ein russisch-­ Ahnungslosigkeiten über Nuklearstrategien. Bei den südafrikanisches Inspektionsteam gegründet werden Linken war das genauso, sodass hier der Eindruck ent- zwecks Überprüfung des Systems MK-41 der USA. steht und entstanden ist – – (Beifall bei der LINKEN) (Zurufe von der LINKEN) Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9205

Christian Schmidt (Fürth) (A) – Herr Präsident, auf der linken Seite höre ich irgendwie Nun lasst doch mal Verifizierung und Inspektionen zu; (C) nur Gequassel. dann wissen wir, worüber wir reden, auch im Hinblick auf eure Grundlagen. – Darauf wurde leider nie reagiert, (Dr. Alexander S. Neu [DIE LINKE]: Das und deswegen ist es logisch, dass sich die USA auf die gehört dazu! – Helin Evrim Sommer [DIE Erkenntnisse, die durchaus sehr differenziert sind, stüt- LINKE]: Zwischenrufe gehören dazu! Das ist zen, die besagen: Ja, hier liegt eine evidente Verletzung parlamentarisch!) des INF-Vertrages vor.

Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Vielleicht hätten wir uns von europäischer Seite in den letzten sechs Jahren in diese Angelegenheit mehr einmi- Herr Schmidt, erlauben Sie mir eine kurzfristige Be- schen müssen. Tua res agitur, unsere Sache wird hier ver- merkung. handelt. Bei Mittelstreckenraketen geht es schließlich um unsere Sicherheit. Wir sollten mit Vorschlägen für eine Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Fortschreibung und Weiterentwicklung des INF-Vertrags Bitte. werben. Das bedeutet natürlich Verifikation. Wir müssen auch die anderen Länder, die 1987 noch nicht in nennens- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: wertem Umfang über Mittelstreckenraketen verfügten, einbeziehen. Im Vordergrund muss aber stehen, dass wir Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn sich einzelne gemeinsam eine Vertrauensbasis finden. In dieser Hin- Zwischenrufe zu einem Geräuschpegel entwickeln, ha- sicht halte ich die Äußerungen aus Russland für nicht ben wir ein Problem. sehr förderlich. Wir müssen agieren und handeln, weil im Erstens. Die meist klugen Zwischenrufe können wir Jahr 2021 der letzte Abrüstungsvertrag zur Verlängerung nicht verstehen. ansteht, nämlich der New-START-Vertrag von 2010, der auf dem Geiste des INF-Vertrags aufbaut. Zweitens. Sie können für die Ewigkeit nicht festge- halten werden, Es ist notwendig, dass wir eine nüchterne Agenda schaffen. Alle Erfahrungen mit solchen komplizierten (Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann [FDP]: Situationen zeigen: Wer sich zuvor aller seiner Optionen Was schade wäre! – Peter Beyer [CDU/CSU]: entäußert, hat wenige Optionen, zu einem gemeinsamen, Das ist das einzig Schöne!) vertrauenswürdigen Ergebnis zu kommen. weil die Protokollführer sie ebenfalls nicht verstehen (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) können. (B) Deswegen müssen in der Tat alle Optionen in der poli- (D) Drittens. Herr Schmidt weist zu Recht darauf hin: Das tischen Diskussion sowohl in Deutschland als auch in stört den Redner, der bestimmt auf den einen oder ande- Europa auf dem Tisch bleiben, mit dem Ziel, eine ausge- ren intelligenten Zwischenruf antworten würde. wogene Abrüstung und Reduzierung von Atomwaffen in Also, hören Sie Herrn Schmidt zu, selbst wenn es Ih- der Welt – Stichwort „Nuclear Balance“ – zu erreichen. nen schwerfallen sollte. Herr Kollege Schmidt, Sie haben das Wort. Vizepräsident Wolfgang Kubicki: Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen. Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): Herzlichen Dank, Herr Präsident, für die für uns alle Christian Schmidt (Fürth) (CDU/CSU): interessanten Hinweise. – Ja, Argumentation und Diskus- Wir sollten die Diskussion heute beginnen und nicht sion im Nuklearbereich erfordern Tiefe, erfordern – es beenden. ist gesagt worden – ruhige Diskussion und Überlegung. Herzlichen Dank. Ja, es war der INF-Vertrag. Es war der Waldspazier- (Beifall bei der CDU/CSU) gang von Paul Nitze und Julij Kwizinski, der einen Fort- schritt und einen Durchbruch gebracht hat, der Verifika- tion allerdings nicht in den Vordergrund des Vertrages Vizepräsident Wolfgang Kubicki: gerückt hat, weil ja alle Waffen abgeschafft worden sind. Vielen Dank, Herr Kollege Schmidt. – Als nächs- Jetzt sind wir in der Tat in einer bestimmten Situation, in ter Redner hat das Wort der Kollege Josip Juratovic, der wir sagen: Das Vertrauen, das zwischen Paul Nitze SPD-Fraktion. und Julij Kwizinsjki da war, ist nicht mehr vorhanden. Dieses Vertrauen ist durch Raketenentwicklungen im (Beifall bei der SPD) russischen Bereich kräftig gestört worden. Es muss ver- sucht werden, dieses Vertrauen wiederherzustellen. Josip Juratovic (SPD): Es gab, ich glaube, an die 30 Versuche in den letz- Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und ten sechs Jahren von amerikanischer, von internationaler Kollegen! Jetzt ist es so weit: Die 60-Tage-Frist, die Seite, zu sagen: Russland von den Vereinigten Staaten gegeben worden war, um den INF-Vertrag doch noch vor dem Scheitern (Peter Beyer [CDU/CSU]: Über 30 Versu- zu bewahren, ist abgelaufen. Russland hat versäumt, eine che!) glaubwürdige Transparenzoffensive zu starten. Die Ame- 9206 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

Josip Juratovic (A) rikaner haben den Abrüstungsvertrag gekündigt. In sechs nehmend von national-autokratischen Einzelstaaten do- (C) Monaten, im August 2019, ist er dann Geschichte. Was miniert und verunsichert wird. Nur als Vereinigte Staaten für ein unfassbarer Rückschritt! Wir reden hier über die von Europa können wir auf Augenhöhe mit Russland, wichtigste Vereinbarung zur atomaren Abrüstung für Eu- China und den USA verhandeln und künftig globale He- ropa, die nun vor dem Aus steht. Mit dem INF-Vertrag rausforderungen meistern. Dabei ist die Herausforderung zwischen Russland und den USA wurde damals eine gan- des Friedens die größte. ze Gattung nuklearer Waffen abgeschafft. Seine Unter- zeichnung war eine Sternstunde der Abrüstungsdiploma- Danke für Ihre Aufmerksamkeit. tie, vor deren Scherben wir jetzt möglicherweise stehen. (Beifall bei der SPD und der CDU/CSU) Warum? Ohne Gleichmacherei betreiben zu wollen, drängt sich der Verdacht auf, dass beide Länder die Fes- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: seln des INF-Abkommens sprengen wollen, um ungehin- dert aufrüsten zu können. Sie sind schon kräftig dabei. Vielen Dank, Herr Kollege. – Als letztem Redner in Die USA haben gerade erst ein neues Weltraumabwehr- dieser Aktuellen Stunde erteile ich dem Kollegen Frank system vorgestellt, und Putin prahlt mit seiner neuen Steffel, CDU/CSU-Fraktion, das Wort. Interkontinentalrakete mit 20-facher Schallgeschwindig- (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) keit, Töne, von denen wir gehofft hatten, sie nie mehr vernehmen zu müssen. Doch noch ist nicht alles verlo- ren. Noch sind sechs Monate Zeit, bevor der amerika- Frank Steffel (CDU/CSU): nische Austritt aus dem INF-Abkommen wirksam wird. Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich Das gibt uns Deutschen und Europäern die Möglichkeit, hätte mir 1987, als ich die historischen Bilder von der Diplomatie in unserem Sinne, in Richtung Frieden und Vertragsunterzeichnung gesehen habe und am Branden- Abrüstung zu betreiben. burger Tor stand und als der damalige amerikanische Präsident Reagan uns die Hoffnung gab, dass Mister (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten Gorbatschow irgendwann das Tor öffnet, und 1989, als der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNIS- wir die wahrscheinlich glücklichsten Stunden der deut- SES 90/DIE GRÜNEN) schen und der europäischen Geschichte nur wenige Me- Ich danke an dieser Stelle unserem Außenminister ter von hier entfernt erleben konnten, und 1994, als am Heiko Maas ausdrücklich für seine Pendeldiplomatie Brandenburger Tor Helmut Kohl und Boris Jelzin zusam- zwischen den USA und Russland, den Versuch, die bei- men mit vielen Tausend Menschen die russische Rote Ar- den wieder aneinander anzunähern. Ich bedanke mich mee aus Berlin freundschaftlich verabschiedeten, nicht (B) auch dafür, dass er dabei eine klare Sprache gesprochen vorstellen können, dass wir im Jahr 2019 die Debatte (D) hat und nicht müde wurde, die Wichtigkeit des Abrüs- führen, die wir heute im Wesentlichen sehr verantwor- tungsabkommens hervorzuheben. tungsvoll, nachdenklich und überlegt miteinander führen müssen. Wir müssen besonnen die richtige Antwort finden und ein neues gefährliches Säbelrasseln verhindern. Die Ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt, dass zwi- Devise lautet: Gemeinsam statt gegeneinander! Unser schen Linken und AfD in dieser Debatte inhaltlich kaum Ziel muss sein, in den kommenden sechs Monaten als ein Blatt passt. NATO-Partner über den INF-Vertrag weiter mitzuver- handeln und ihn zu einem multilateralen Abkommen zu (Helin Evrim Sommer [DIE LINKE]: Ach erweitern. Diesem Vertrag müssen auch all die Länder Mann, immer dieselbe Leier! Das stimmt ja beitreten, die gerade damit beschäftigt sind, ihre Mittel- gar nicht!) streckenarsenale auszubauen, sprich: China, Indien, Pa- Bei Ihrer historischen Parteigeschichte, meine Damen kistan, Nordkorea und Iran. So wird aus dem Abkommen und Herren von der Linken, verwundert das nicht. Ich ein zeitgemäßer Beitrag zu mehr Sicherheit weltweit. glaube, es ist für Sie gar kein Problem, gegen die NATO Um Ronald Reagans ehemaligen Außenminister Shultz zu sein, tiefempfundenen Antiamerikanismus im Herzen zu zitieren: Wir sollten den Vertrag in Ordnung bringen, zu haben und an den Lippen Moskaus zu hängen, fast anstatt ihm den Garaus zu machen. – Dieses Ziel müssen egal, wer dort Verantwortung trägt. wir Hand in Hand mit den europäischen Partnern und als starker Partner der NATO verfolgen. (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abge- ordneten der FDP – Helin Evrim Sommer Wir Deutsche und Europäer dürfen nicht in eine Nach- [DIE LINKE]: Bla, bla, bla!) rüstungsdebatte gestürzt werden. Deshalb müssen wir handeln. Dafür müssen wir nationale Egoismen hintan- Sie müssen das gar nicht kritisieren. Sie versuchen doch stellen. Wir müssen uns auch ehrlich machen, was wir auf diese Weise, Wählerinnen und Wähler zu gewinnen. brauchen. Wir brauchen eine gemeinsame europäische Sie können sich dazu ruhig offen bekennen. Bei der AfD Außenpolitik, eine gemeinsame europäische Verteidi- verwundert das mich noch immer ein Stück weit, aller- gung als festen Bestandteil der NATO, und wir brauchen dings bei Ihnen, Herr Schlund, weniger. Man spürte wäh- eine gemeinsame Wirtschaftspolitik mit sozialer Sicher- rend Ihrer Rede, dass Sie bis 1989 im Regiment „Ernst heit und ökologischer Verantwortung. Nur so umfassend Thälmann“ der NVA zu Hause waren. Das war auch der vereint, erreichen wir die Position, die Geschlossenheit Geist, mit dem Sie versucht haben, die aktuelle Situation und die Stärke, die wir in einer Welt brauchen, die zu- zu beurteilen. Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode – 78. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Februar 2019 9207

Frank Steffel (A) Der russische Präsident Putin hat vor wenigen Wochen Mittelstreckenwaffen in den Ländern Osteuropas zu sta- (C) zwischen Weihnachten und Neujahr den Jungfernflug tionieren. einer neuartigen Hyperschallrakete ganz selbstbewusst (Roderich Kiesewetter [CDU/CSU]: Das ist verkündet. Diese Rakete könne – so hat Putin gesagt – genau der Punkt!) mit 27-facher Schallgeschwindigkeit fliegen und durch russische Experten gesteuert werden. Das bedeutet – für Dass diese Auswirkungen nicht nur Osteuropa treffen, diejenigen, die das genauso wie ich nicht so schnell um- sondern natürlich auch uns im Herzen Europas und unse- rechnen können – 30 000 Kilometer pro Stunde. Berlin re westeuropäischen Nachbarländer, ist völlig klar. liegt 1 600 Kilometer von Russland, von Moskau ent- Wir müssen wohl auch zur Kenntnis nehmen, dass fernt. Das heißt: Diese Rakete braucht etwa drei Minu- Sigmar Gabriel, unser ehemaliger Außenminister, in ei- ten, um Berlin zu erreichen. Dass das viele Menschen nem sehr bemerkenswerten Artikel mit einem Satz recht ängstlich macht, dass das dazu zwingt, sich mit militäri- hat. Er hat geschrieben: Unsere osteuropäischen Nach- schen Fragen zu beschäftigen, das versteht jeder, der sich barn glauben eben nicht, dass Deutsche und Franzosen die Auswirkung einer solchen Rakete in etwa vorstellen „für ihre Freiheit zu sterben bereit wären“. Wenn wir kann – sie wird ja ungleich größer sein als die Auswir- dieser Logik folgen, dann sind die Kündigung und das kungen in Hiroshima und Nagasaki. Ergebnis nach sechs Monaten umso bedeutender. Davor sollte uns dieses INF-Abkommen schützen. Ich glaube, dass Berlin, Paris und London jetzt eine Die wesentliche Aufgabe dieses Abkommens ist, dass besondere Verantwortung haben, alles dafür zu tun, dass wir zumindest mit Blick auf die Vereinigten Staaten von es uns vielleicht doch noch gelingt, die nächsten sechs Amerika und Russland sagen: Ein großer Teil der europä- Monate zu nutzen, um eine stabile Sicherheitsarchitektur ischen Sicherheitsarchitektur ist durch dieses Abkommen in Europa hinzubekommen. gesichert. Russland verstößt seit vielen Jahren gegen das Ab- Vizepräsident Wolfgang Kubicki: kommen. Das ernsthaft zu bestreiten, tut zumindest nie- Herr Kollege, Sie müssten zum Schluss kommen. mand, den ich in der Debatte ernst nehme. Frank Steffel (CDU/CSU): (Zuruf des Abg. Dr. Alexander S. Neu [DIE Dass das eine außergewöhnlich große Herausforde- LINKE]) rung ist, spüren wir, glaube ich, heute alle. Übrigens: Die Russen selbst dementieren das auch gar In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen schö- (B) nicht, wie der Außenminister uns immer wieder sehr nen Feierabend, ein schönes Wochenende und eine gute (D) glaubwürdig in Gesprächen übermittelt. Heimreise. Jetzt haben wir also sechs Monate Zeit. Wir haben das (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP so- Gefühl – wahrscheinlich irren wir uns auch nicht –, dass wie bei Abgeordneten der SPD) Russland und die USA sehr gut damit leben können, dass es kein neues Abkommen gibt. Das hat unter anderem Vizepräsident Wolfgang Kubicki: mit China zu tun – einige Kolleginnen und Kollegen Vielen Dank, Herr Kollege Steffel. – Die Aktuelle haben darauf hingewiesen –, das hat auch mit anderen Stunde ist damit beendet. Supermächten zu tun, und das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Bedeutung und die Rolle Europas nicht Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung. mehr die ist, die wir zu Zeiten des Kalten Krieges in den Bevor ich Sie jetzt als die Übriggebliebene ins Wo- 80er-Jahren hatten. chenende entlasse, wünsche ich Ihnen ein schönes Wo- chenende, ein entspanntes Wochenende. Tanken Sie viel Dann haben wir die besondere Situation – das ist mir Kraft. abschließend besonders wichtig –, dass es in Europa vie- le Länder gibt, die ein stärker werdendes Angstgefühl im Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes- Zusammenhang mit der Aufrüstung Russlands empfin- tages auf Mittwoch, den 13. Februar 2019, 13 Uhr, ein. den, und dass wir sehr sicher sein können, dass unsere Die Sitzung ist geschlossen. osteuropäischen Nachbarn, wenn es kein Abkommen mehr gibt, sehr zügig bereit sein werden, amerikanische (Schluss: 16.33 Uhr)

Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019 9209

(A) Anlagen zum Stenografischen Bericht (C)

Anlage 1 Entschuldigte Abgeordnete

Abgeordnete(r) Abgeordnete(r)

Alt, Renata FDP Nolte, Jan Ralf AfD

Barley, Dr. Katarina SPD Otte, Henning CDU/CSU

Behrens (Börde), Manfred CDU/CSU Özoğuz, Aydan SPD

Bülow, Marco fraktionslos Petry, Dr. Frauke fraktionslos

Cotar, Joana AfD Remmers, Ingrid DIE LINKE

Droese, Siegbert AfD Schäfer (Saalstadt), Anita CDU/CSU

Feiler, Uwe CDU/CSU Schulz, Jimmy FDP

Fischer (Karlsruhe-Land), Axel E. CDU/CSU Strenz, Karin CDU/CSU

Gabriel, Sigmar SPD Tillmann, Antje CDU/CSU Töns, Markus SPD Held, Marcus SPD Wagenknecht, Dr. Sahra DIE LINKE Herdt, Waldemar AfD (B) Weber, Gabi SPD (D) Högl, Dr. Eva SPD Wellenreuther, Ingo CDU/CSU Irlstorfer, Erich CDU/CSU Werner, Katrin DIE LINKE Janecek, Dieter BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Wiehle, Wolfgang AfD

Katzmarek, Gabriele SPD Ziegler, Dagmar SPD

Kleinwächter, Norbert AfD Zimmermann (Zwickau), Sabine DIE LINKE

Kolbe, Daniela* SPD Zimmermann, Pia DIE LINKE

Konrad, Carina FDP *aufgrund gesetzlichen Mutterschutzes

Korte, Jan DIE LINKE Anlage 2 Künast, Renate BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Amtliche Mitteilungen ohne Verlesung Die folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass sie Leikert, Dr. Katja CDU/CSU gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen Liebich, Stefan DIE LINKE absehen: Maas, Heiko SPD Ausschuss für Wirtschaft und Energie – Unterrichtung durch die Bundesregierung Magnitz, Frank AfD Bericht nach § 3 des Energieleitungsausbaugesetzes Müntefering, Michelle SPD Drucksachen 19/4675, 19/4944 Nr. 5 Neumann, Christoph AfD – Unterrichtung durch die Bundesregierung 9210 Deutscher Bundestag – 19 Wahlperiode – 78 Sitzung Berlin, Freitag, den 1 Februar 2019

(A) Bericht zu den markt- und beschäftigungspoliti- Sportausschuss (C) schen Potenzialen sowie Risiken der Sharing Eco- Drucksache 19/910 Nr. A.21 nomy im Wirtschaftsraum Deutschland Ratsdokument 11723/17 Drucksachen 19/5100, 19/5647 Nr. 4 Drucksache 19/910 Nr. A.22 Ratsdokument 11724/17 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpo- litik für konventionelle Rüstungsgüter im ersten Finanzausschuss Halbjahr 2018 Drucksache 19/910 Nr. A.44 Drucksachen 19/5375, 19/5647 Nr. 10 Ratsdokument 12882/17 Drucksache 19/6537 Nr. A.3 Haushaltsausschuss ERH 26/2018 – Unterrichtung durch das Bundesministerium der Fi- nanzen Ausschuss für Wirtschaft und Energie Griechenland: Technische Umsetzung der mittel- Drucksache 19/1053 Nr. A.22 fristigen schuldenbezogenen Maßnahme EP P8_TA-PROV(2018)0019 Fortführung der Abführung des Gegenwerts der Drucksache 19/1252 Nr. C.34 SMP-Gewinne Ratsdokument 7621/17 Drucksachen 19/6365, 19/7140 Nr. 3 Drucksache 19/2233 Nr. A.12 ERH 8/2018 Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Drucksache 19/2233 Nr. A.21 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Ratsdokument 8367/18 Drucksache 19/2773 Nr. A.6 Bericht über die Situation unbegleiteter ausländi- Ratsdokument 8531/18 scher Minderjähriger in Deutschland Drucksache 19/2773 Nr. A.7 Drucksachen 19/4517, 19/4944 Nr. 2 Ratsdokument 8944/18 Drucksache 19/2773 Nr. A.8 Ausschuss für Gesundheit Ratsdokument 9254/18 – Unterrichtung durch die Bundesregierung Drucksache 19/3112 Nr. A.22 (B) Ratsdokument 9185/18 (D) Dritter Bericht der Bundesregierung über die Situ- Drucksache 19/3112 Nr. A.23 ation der Versorgung der Bevölkerung mit Gewebe Ratsdokument 9890/18 und Gewebezubereitungen Drucksache 19/3112 Nr. A.24 Drucksachen 19/5675, 19/5993 Nr. 5 Ratsdokument 9898/18 Drucksache 19/3112 Nr. A.25 Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit Ratsdokument 10167/18 und Entwicklung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Verteidigungsausschuss Mitteilung über eine geplante Änderung der Sat- zung der Internationalen Finanz-Corporation Drucksache 19/3318 Nr. A.11 EP P8_TA-PROV(2018)0258 Drucksachen 19/5099, 19/5647 Nr. 3 Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Uni- Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union onsdokumente zur Kenntnis genommen oder von einer Drucksache 19/910 Nr. A.135 Beratung abgesehen hat. Ratsdokument 15663/17

Satz: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH, Mainzer Straße 116, 66121 Saarbrücken, www.satzweiss.com Druck: Printsystem GmbH, Schafwäsche 1-3, 71296 Heimsheim, www.printsystem.de Vertrieb: Bundesanzeiger Verlag GmbH, Postfach 10 05 34, 50445 Köln, Telefon (02 21) 97 66 83 40, Fax (02 21) 97 66 83 44, www.betrifft-gesetze.de ISSN 0722-8333